Fassadentänzer - N. Warn - E-Book

Fassadentänzer E-Book

N. Warn

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Beschreibung

Eine Villa in der Nähe von Hamburg. Eine zerrüttete Familie. Ein Mord, der so manches erschütternde Familiengeheimnis ans Licht bringt. Mit gemischten Gefühlen reist Tess in die Spiegelburg zum 60. Geburtstag ihres Onkels Richard in die Nähe von Hamburg. Zu ihrer Familie hatte sie immer schon ein distanziertes Verhältnis. Einen Tag nach ihrer Anreise wird Richards Bruder tot in der Villa aufgefunden. Rasch ist klar, dass er ermordet wurde und der Täter innerhalb der anwesenden Familienmitglieder zu suchen ist. Könnte das Motiv sein Doppelleben sein, das er geführt hat oder liegt der Schlüssel in seinen Kindheitserfahrungen? Tess stellt eigene Nachforschungen an und glaubt bald zu wissen, wer der Mörder ist, doch sie täuscht sich und gerät in Lebensgefahr.

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Dieses Buch ist ein Kriminalroman. Etwaige Ähnlichkeiten zu Geschehnissen im realen Leben oder zu lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, jedenfalls aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfasst.

Für meine Schwester

Personen

Tess´ Familie:

Ihre Großeltern: Luise und Franz Wagner

Ihre Mutter und ihr Stiefvater: Vera und Clemens Matern

Ihr Halbbruder: Alex Matern

Ihr Onkel mit Ehefrau: Hannes und Conni Wagner

Ihr Cousin: Sebastian Wagner

Ihr Onkel mit Ehefrau: Richard und Eva Wagner

Ihre Cousine: Tina Wagner

Ihre Tante mit Ehemann: Renate und Lasith Nekpu

PROLOG

Ich muss es ihr endlich sagen. Und nicht nur sie soll endlich die Wahrheit erfahren, sondern auch alle anderen. Ich habe es endgültig satt, mit einer Lüge zu leben und allen etwas vorzumachen. Jemand zu sein, der ich in Wirklichkeit gar nicht bin. Es wird mich allerdings Überwindung kosten. Das ist mir bewusst. Zu lange schon halte ich es verborgen. Es ist schon normal, nicht ich zu sein. Besonders es ihr zu sagen, wird nicht einfach werden. Überhaupt nicht einfach. Ich kann nur hoffen, dass sie es akzeptiert. Das würde mir zumindest viel bedeuten. Warum?, wirst du fragen. Bei allem, was sie dir angetan hat. Und da hast du vollkommen recht. Dennoch … Richards Geburtstag liefert mir die perfekte Gelegenheit, endlich reinen Tisch zu machen. Noch nie habe ich einem Familientreffen so euphorisch entgegengesehen.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

1.Kapitel

2016

Tess hatte gerade einen tiefen Zug von ihrem Joint genommen und genoss den wohligen Schauer, der einem zu langen Entzug folgte, als ein gellender Schrei durch die Spiegelburg hallte. Sie schrak auf, wobei ihr der brennende Joint aus der Hand und auf den weichen grauen Badezimmerteppich fiel. Hastig hob sie ihn auf, bevor er ein Loch in das offensichtlich teure Stück hineinbrennen konnte, löschte die Glut, indem sie den Joint ein paar Mal gegen den Waschbeckenrand klopfte und ließ ihn in ihre braune Kunstledertasche gleiten. Dann ging sie eilig zur Tür. Sie öffnete sie einen Spaltbreit und spähte hinaus. Woher war der Schrei gekommen? In diesem Moment waren hektische Schritte auf der Marmortreppe zu hören und eines der Hausmädchen stieß die schwere braune Flügeltür zur Bibliothek auf, die gegenüber dem Badezimmer lag. Im Türrahmen blieb sie nach Atem ringend stehen und zeigte wild gestikulierend nach oben. Tess sah, wie ihr Onkel Richard zur Tür eilte und fürsorglich einen Arm auf die Schulter der kleinen rundlichen Frau legte. Was er dann von ihr erfuhr, ließ ihn erst ungläubig den Kopf schütteln, dann erbleichen. Das pummelige Hausmädchen hatte wohl nichts Positives zu berichten. Richard ließ die sehr durcheinander wirkende Frau einfach stehen und jagte die Treppe hinauf, die diese zuvor hinuntergeeilt war.

Was ging da vor? Eilig trat Tess von der Badezimmertür zurück und schloss sie, bevor der Geruch den ganzen Flur erfüllte, wedelte den Rauch weg und hielt dann ihre Nase prüfend in die Luft. In dem kleinen Raum roch es durchdringend nach Cannabis. Zu dumm, dass es hier kein Fenster gab. Sie hoffte, dass der Geruch sich verzogen hätte, bis jemand nach ihr das Badezimmer benutzen würde. Und wenn nicht, war das auch egal, dachte sie. Alle wussten, dass sie kiffte. Sie trat auf den Flur, schloss die Tür hinter sich und ging rasch auf die Bibliothek zu. Leises Stimmengewirr drang durch die geöffnete Tür. Das Hausmädchen war wohl wieder seiner Arbeit nachgegangen. Zumindest stand es nicht mehr im Türrahmen. Tess sah zur Treppe, die ihr Onkel hinaufgeeilt war. Alles ruhig. Dann ließ sie ihren Blick durch die Bibliothek schweifen, einen gemütlichen komplett mit cognacfarbenen Ledermöbeln eingerichteten Raum. Blickfang waren zweifelsohne die zwei deckenhohen Bücherregale rechts und links des mächtigen Kamins, in dem ein Feuer knisterte und eine behagliche Atmosphäre verbreitete. Tess sah ihre Großmutter Luise vor der gegenüber dem Eingang liegenden Fensterfront stehen und sich mit ihrer Mutter Vera und ihrem Bruder Alex unterhalten. Ihr Stiefvater Clemens stand auf seinen Stock gestützt alleine vor einem der Bücherregale und schien aufmerksam die große Auswahl an Büchern zu bewundern. Nur wer ihn kannte, wusste, dass er ein Buch auch dann nicht anrühren würde, wenn er dafür Geld bekäme. Leyla, die Freundin ihres Bruders, unterhielt sich mit einer der Kellnerinnen, die Onkel Richard eigens für seinen 60. Geburtstag eingestellt hatte. Sie blickte dabei immer wieder neugierig Richtung Tür, wohl in der Hoffnung, endlich zu erfahren, was das Hausmädchen so in Aufregung versetzt hatte. Kein Wunder, dass Leyla nicht entgangen war, dass etwas passiert sein musste, so widerlich sensationslüstern wie sie war. Eine Bewegung zog Tess` Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Cousine Tina, Richards Tochter, saß auf der Ledercouch neben dem Bücherregal und winkte hektisch.

„Weißt du, was hier los ist? Amira, das Hausmädchen, hat so schnell und leise gesprochen, dass ich kein Wort verstehen konnte. Bei dem Akzent muss man ohnehin genau hinhören. Wahrscheinlich hat sie Papa gesagt, dass sie Bettwanzen gefunden hat oder so. Die ist so pingelig“, plapperte sie und lachte über ihren lahmen Scherz. Tess lauschte der seltsam geschlechtslosen Stimme ihrer Cousine. Offenbar hatten die Hormone die einst männliche Stimme noch nicht zu einer weiblichen verändern können. Ob das überhaupt noch geschah? Sie setzte zu einer Erwiderung an, als jemand ihr auf die Schulter klopfte. Leyla stand schüchtern lächelnd hinter ihr und trat von einem Fuß auf den anderen.

„Hast du eine Zigarette für mich?“

„Hatte die nette Kellnerin etwa keine? Es wird Zeit, dass du dir mal ein Päckchen kaufst.“ Genervt zerrte Tess ein verknautschtes Päckchen Luckys aus ihrer Hosentasche und hielt sie der Freundin ihres Bruders hin. Leyla nahm sich eine, murmelte einen leisten Dank und strebte zur Terrassentür, wo sie einen missbilligenden Blick von Luise erntete. Tess Großmutter war der Meinung, dass nur schwache Menschen rauchten, die sich nicht im Griff hatten. Selbstverständlich war die alte Dame diesem Laster nie verfallen.

Tess wandte sich wieder Tina zu.

„Nach Bettwanzen hat dein Vater aber nicht ausgesehen.“

In diesem Moment wurde die Tür zur Bibliothek aufgestoßen und Richard erschien bleich und zitternd im Türrahmen, die obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet. Das volle immer noch blonde Haar stand in alle Richtungen ab. Er nahm seine Brille ab und drehte sie in seiner Hand. „Hannes ist tot“, sagte er dann unumwunden. „Sieht nach Selbstmord aus.“ Kurzes Zögern. „Die Polizei ist alarmiert und müsste in Kürze eintreffen. Ich halte mich mal im Eingangsbereich bereit.“ Ohne weitere Worte eilte er davon.

Es war, als hätte jemand einen Stecker gezogen. Plötzlich herrschte Totenstille, einzig das Knistern des Feuers war noch zu hören. Dann schwoll ungläubiges Gemurmel an. Luise war die Erste, die sich fasste und schritt ihrem ältesten Sohn auf ihren Stock gestützt entschieden nach, so schnell ihr stattliches Alter von 89 Jahren das noch zuließ. Tess war wie vor den Kopf gestoßen. Hannes tot? Gestern noch hatte er beim Abendessen sehr lebendig neben ihr gesessen. Geredet hatten sie aber kaum miteinander. Der jüngste Bruder ihrer Mutter war ihr immer fremd geblieben. Sie war nie so richtig warm mit ihm geworden, hatte ihn im Grunde kaum gekannt, da der Kontakt ihrer Mutter zu ihrer Ursprungsfamilie seit jeher alles andere als innig war. Tess konnte an einer Hand abzählen, wie häufig sie Hannes in ihrem 27-jährigen Leben begegnet war.

Neben ihr hob Tina entsetzt eine Hand zu ihrem in einem grellen Pink geschminkten Mund. „Mein Gott“, rief sie fassungslos aus, „Selbstmord?“ Das kann ja wohl nur ein geschmackloser Scherz sein!“

Das war es nicht. Kurze Zeit später erschienen zwei Beamte der Kriminalpolizei, ein Spurensicherungsteam und ein Krankenwagen, der unverrichteter Dinge wieder abfuhr, nachdem die Sanitäter bei Hannes nur noch den Tod hatten feststellen können. Richard hatte gebeten, die Familie möge in der Bibliothek bleiben, um die Ermittlungen nicht zu behindern. Das war vor über einer Stunde gewesen. Seitdem saßen sie größtenteils schweigend in dem großen Raum zusammen, das Entsetzen war immer noch greifbar. Tess lehnte an der Terrassentür und rang mit sich, ob sie sich noch einen Joint genehmigen sollte. Dabei beobachtete sie ihre Familie. Ihre Großmutter saß gedankenversunken auf einem Stuhl neben dem Bücherregal und starrte mit unergründlicher Miene ins Leere. Es war unmöglich zu sagen, ob sie nachdenklich, müde oder zutiefst entsetzt war. Ihre Mutter stand mit ihrem Mann nahe der Tür, immer wieder ungläubig den Kopf schüttelnd, wie das ihre Art war, wenn sie etwas nicht fassen konnte. Tina, Alex und Leyla standen auf der Terrasse und rauchten. Ihr Onkel und dessen Frau Eva waren nicht da, kümmerten sich als Hausherren vermutlich um alles in einer solchen Situation Erforderliche. Hannes Frau Conni war nirgends zu sehen. Lasith, der Mann ihrer Tante Renate, lehnte gelangweilt an der Wand, sah unbestimmt umher und drehte unablässig sein Handy in der Hand. Hin und wieder sah er auf den kleinen Bildschirm, als erwartete er eine Nachricht. Seine Frau war nicht da. Es hielten sich wohl nicht alle Familienmitglieder an die Bitte ihres Onkels, sich in der Bibliothek aufzuhalten.

Tess dachte darüber nach, dass sie zuerst nicht zu Richards Geburtstag hatte kommen wollen. Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben. Dann wäre ihr das ganze Drama hier erspart geblieben. Im gleichen Moment schüttelte sie über ihre wenig teilnahmsvollen Gedanken den Kopf. Wie konnte sie nur so kalt sein? Da war ihr Onkel tot und sie hatte nichts anderes im Sinn, als ihre Ruhe und einen Joint. Aber sie hatte nun einmal keinen Bezug zu Hannes gehabt, rechtfertigte sie sich vor sich selbst für ihre Emotionen. Das galt auch für den Rest ihrer Familie. Nahe standen sie sich alle nicht. Wie sollte sie also um jemanden trauern, mit dem sie nichts zu tun gehabt hatte? Interessieren würde es sie aber schon, was Hannes dazu bewogen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ihrem Drang nachgebend trat sie auf die Terrasse, als ihr Bruder gerade den letzten Zug von seiner Zigarette nahm. Er sah auf. „Alles ok bei dir?“ Tess nickte. „Wie man es nimmt. Fassungslos, aber ok.“

„So geht es mir auch. Ich seh mal nach Mama.“ Alex verschwand im Inneren und schloss die Terrassentür, damit der Rauch nicht reinzog.

Leyla erkundigte sich gerade bei Tina, was für ein Mensch Hannes gewesen war.

„Also um ehrlich zu sein, kann ich dazu nichts Großartiges sagen“, antwortete ihre Cousine. Ich habe ihn kaum gekannt. Ich weiß, dass er verheiratet ist …“ sie stockte, als ihr auffiel, dass sie im Präsens gesprochen hatte … „war“, korrigierte sie sich „und seine Frau Conni ist dir sicher aufgefallen. Die Dunkelhaarige mit einem Faible für die 20er Jahre. Kaum zu übersehen.“ Sie lachte. „Trägt meistens Charlestonkleider, egal bei welchem Wetter, und raucht ihre Zigaretten grundsätzlich mit einer Verlängerung. Ziemlich schräg, wenn ihr mich fragt, aber auch irgendwie ehrlich. Das ist Connie, wie sie leibt und lebt. Die beiden haben einen Sohn, der den Kontakt zu seinen Eltern vor vielen Jahren abgebrochen hat. Warum, weiß keiner so genau. Hannes arbeitete als Architekt, soviel ich weiß.“ Sie blickte erwartungsvoll zu Tess, dabei mit ihren stark getuschten Wimpern klimpernd, die mehr Ähnlichkeit mit Fliegenbeinen hatten. Tess war froh, dieses Problem nicht zu haben. Für Schminke hatte sie nie etwas übrig gehabt. Außer Wasser und Creme kam ihr nichts ins Gesicht. Das war gerade morgens und abends äußerst praktisch. Keine langen Schmink- und Abschminkprozesse, wie sie sie von ihren Freundinnen kannte.

„Mehr weiß ich auch nicht über ihn“, antwortete sie auf die stumme Bitte ihrer Cousine nach Ergänzungen zu ihrem Bericht. „Meine Mutter hat kaum jemals über ihn gesprochen. Ich hab aber auch nicht gefragt. Die beiden hatten so gut wie keinen Kontakt zueinander, das weiß ich wohl. Auf Familienfesten hab ich ihn ein paar Mal gesehen, aber das war´s dann auch. Zu Hause ist Mamas Familie grundsätzlich kein Thema. Es war ihr immer unangenehm, darüber zu reden.“ Tess schwieg nachdenklich, bevor sie dann fortfuhr. „Er hat meistens viel geredet, wenn man ihn gesehen hat, dabei aber kaum etwas von sich preisgegeben. Wisst ihr, was ich meine? Viel Gefasel ohne Inhalt. Man wusste nie so recht, mit wem man es eigentlich zu tun hatte.“

Tina nickte. „Geht mir auch so. Dass er oberflächlich gewesen ist, hat mein Vater auch mal angedeutet. Er kenne den Menschen hinter der Fassade gar nicht, obwohl es sein Bruder ist, hab ich ihn mal sagen hören. Die beiden hatten auch nur selten miteinander zu tun. Ist schon komisch, dass unsere Familie so wenig Kontakt zueinander hat, oder? Andere treffen sich regelmäßig und sind auch richtig … wie soll ich sagen? Herzlich miteinander. Wenn unsere Familie zusammen ist, habe ich meistens das Gefühl, jeder ist nur aus Pflichtgefühl da und alle sind froh, wenn sie wieder nach Hause fahren können. Die Geschwister haben keinen guten Draht zueinander und noch unterkühlter ist das Verhältnis zu Großmutter. Aber diese Farce wird trotzdem aufrechterhalten.“

„Komische Familie“, ließ sich Leyla vernehmen. Dann schlug sie sich verschämt die Hand vor den Mund. „Entschuldigt, ich wollte nicht …, das war keine Beleidigung. Tessa, du weißt, wie das gemeint war.“ Tess fixierte sie. „Nein, eigentlich weiß ich das nicht und nenn mich nicht Tessa.“

Leyla zuckte nur die Achseln und überging die Zurechtweisung einfach. Als ob ihr die Bemerkung leidtat, dachte Tess ärgerlich. Das war doch pure Absicht. Leylas Neugier war nicht befriedigt. „Gibt es dafür denn einen Grund? Für das schlechte Verhältnis, meine ich?“ Sie sah Tina aus großen blauen Augen erwartungsvoll an.

Tina zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich habe darüber auch nie so wirklich nachgedacht. Ich kenne es nicht anders.“

„Ich kann einfach nicht fassen, dass er tot ist“, murmelte Tess, mehr zu sich selbst. Das ist so unwirklich, wenn jemand aus dem Umfeld stirbt, auch wenn ich ihn im Grunde nicht gekannt habe.“ Sie blickte auf den weitläufigen Park, der sich hinter der Villa ihres Onkels erstreckte und genoss für einen Moment die Ruhe, die von der verschneiten Natur ausging. Da die Terrasse auf der Rückseite lag, war der Streifenwagen nicht zu sehen. Tess wandte den Blick wieder ihrer Cousine zu. Erst jetzt fiel ihr auf, dass diese sich schwarze lange Wimpern angeklebt hatte, die sie dann auch noch getuscht hatte. Was für ein Aufwand, dachte sie.

„Vor allem Selbstmord! Wie verzweifelt muss er gewesen sein! Gestern saß er beim Abendessen noch bei uns und heute ….“ Tina wurde durch ein Klopfen unterbrochen. An der Terrassentür stand Vera und bedeutete ihnen, reinzukommen.

„Vielleicht war es gar kein Selbstmord“, ließ sich Leyla vernehmen.

„Wohl zu viele Filme gesehen, Liebchen.“

Leyla verzog beleidigt das Gesicht. Tess lachte in sich hinein. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf die zwei Polizeibeamten gelenkt, die hinter ihrem Onkel und ihrer Tante den Raum betraten. Ein hagerer fast kahlköpfiger Mann und eine kräftige rothaarige Frau. Richard stellte die beiden vor: „Das sind Kommissarin Dreier und Kommissar Am …“, er sah den Beamten zögerlich an.

„Amelung“, äußerte dieser mit einer überraschend kräftigen Stimme, die nicht so recht zu seinem schmächtigen Äußeren passen wollte. „Die beiden haben nun mit ihren Ermittlungen begonnen“, ergänzte Eva überflüssigerweise.

„Wieso denn Ermittlungen? Hannes ist doch nicht ermordet worden!“, rief Luise ärgerlich und stand so ruckartig von ihrem Stuhl auf, dass dieser nach hinten umkippte. „Das ist doch alles lächerlich!“

„Mutter, bitte. Es ist üblich, dass die Polizei nach einem Todesfall ermittelt. Auch wenn hier natürlich kein Fremdverschulden vorliegt“, fügte Richard mit Blick auf die Beamten hinzu. Er trat zu Luise, hob den Stuhl auf und drückte die 89-jährige Dame darauf nieder. Mit einem Mal schien ihr Ärger verraucht. Sie sank in sich zusammen. „Ich kann das alles nicht verstehen“, flüsterte sie, „warum hat er sich das Leben genommen? Was habe ich nur falsch gemacht?“ Eva warf Luise einen undefinierbaren Blick zu.

„Das sind ja ganz neue Töne, Mutter“, stieß Vera hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. Laut äußerte sie: „Du hast natürlich nichts falsch gemacht, Mama, wie kommst du denn auf diese absurde Idee? Anscheinend wollte Hannes nicht mehr leben. So etwas soll vorkommen.“

Luise erwiderte den Blick ihrer ältesten Tochter forschend, als überlegte sie, ob sie sich den sarkastischen Unterton vielleicht nur eingebildet hatte. Natürlich nicht. Von Vera hatte sie auch nichts anderes erwartet. Schon als Kind war sie aufmüpfig gewesen.

„Ha, wie einfach du das Thema schon für dich abgeschlossen hast, dabei ist sein Körper wahrscheinlich noch warm! Aber du warst ja schon immer kalt wie ein Fisch. Was ich bei dir falsch gemacht habe, habe ich mich schon lange aufgehört zu fragen.“

Vera funkelte ihre Mutter wütend an, ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Gerade, als sich ihr Gesicht – wohl in einer verärgerten Erwiderung – verzog, eilte Tess auf die beiden Frauen zu und zog ihre Mutter an der Hand von ihrer Großmutter weg. Das hatte in der jetzigen Situation gerade noch gefehlt, dass die beiden sich angifteten. Sie warf einen Blick auf die beiden Kommissare und ihr Blick begegnete dem des für einen Mann ausgesprochen kleinen Polizisten, der die Szene aufmerksam verfolgte.

„Wie geht es nun weiter?“, ließ sich Conni mit rauer Stimme vernehmen. Alle Blicke richteten sich auf sie und mit einem Mal herrschte beklemmendes Schweigen. Wie musste sie sich fühlen?, fragte Tess sich. Nach außen hin wirkte sie recht gefasst. Frau Dreier räusperte sich verhalten, dann noch einmal lauter, bis sie sicher war, dass ihre Stimme fest und sicher klingen würde. Für eine Frau hatte sie eine überraschend tiefe Stimme, die zu ihrem kurzen, militärisch anmutenden Bürstenhaarschnitt passte. Allerdings täuschte das robuste Äußere über ein Gefühl der Unzulänglichkeit hinweg.

„Ich möchte Ihnen allen zunächst mein Beileid aussprechen. Sie nahm mit jedem Familienmitglied Blickkontakt auf. Die Beileidsbekundung passt zu deinem Haarschnitt, dachte Tess. Kurz, bündig und wenig überzeugend. Andererseits was sollte sie auch sonst sagen? Nach einer kurzen Pause fuhr die Kommissarin fort: „Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es wenig wahrscheinlich, dass Hannes Wagner Selbstmord begangen hat.“ Das schlug ein wie eine Bombe.

„Was soll das denn heißen?, ließ sich Richard ungläubig vernehmen.

„Das heißt, dass wir davon ausgehen, dass Ihr Bruder ermordet wurde.“

2. Kapitel

22 Stunden zuvor

Tess lehnte ihren Kopf an die kalte Scheibe und sah den zarten Schneeflocken dabei zu, wie sie auf das Wagenfenster trafen, schmolzen und in dünnen Wasserrinnsalen das Glas hinunterflossen. Sie waren nun schon seit Stunden unterwegs und so langsam tat ihr vom Sitzen der Hintern weh. Sie rutschte auf der Suche nach einer bequemeren Position auf der Rückbank hin und her und sah erneut aus dem Fenster. Kein Straßenschild, das ihr verriet, wo sie im Augenblick waren und wie lange sie noch brauchten. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum sie sich darauf eingelassen hatte, zu diesem Familienfest zu fahren. Viel lieber hätte sie dieses bitterkalte Wochenende gemütlich in ihrer kleinen behaglichen Dachgeschosswohnung in Stuttgart als in der Einöde irgendwo in der Nähe von Hamburg verbracht. Wie der Ort hieß, hatte sie schon wieder vergessen. Ihr Onkel Richard lebte dort zusammen mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter und hatte beschlossen, seinen 60. Geburtstag mit der ganzen Sippschaft zu feiern. Sie war gespannt, wer von der Verwandtschaft tatsächlich auftauchen würde, so kurzfristig, wie Richard die Einladungen verschickt hatte. Das war wahrscheinlich auch der Grund - Neugier - der Tess letztlich dazu bewogen hatte, zuzusagen. Praktisch war auch, dass sie eine kostenlose Mitfahrgelegenheit nutzen konnte. Sie sah ihre Familie mütterlicherseits so selten, dass sie ihr praktisch immer fremd geblieben waren. Dennoch war sie gespannt, sie alle einmal wiederzusehen. Abgesehen von ihrer Neugierde hatte auch ein wenig die Einsamkeit dazu geführt, dass sie nun mit ihrem Bruder und dessen Freundin im Auto saß, wie sie sich eingestehen musste. Sie lebte erst seit ein paar Monaten in Stuttgart und in dieser Zeit hatte sie kaum Kontakte knüpfen können. Ihre Ausbildung als Altenpflegerin war ein Knochenjob und das bisschen Freizeit, das ihr blieb, verbrachte sie lieber gemütlich in ihrer Wohnung vor dem Fernseher als auf der Jagd nach neuen Bekanntschaften.

„Möchtet ihr etwas essen?“ Alex riss Tess aus ihren Gedanken. „Ich fahre an der nächsten Raststätte raus, ich hab Hunger. Wie steht´s mit euch?“

„Nein, ich möchte nichts. Aber ich werde mir ein wenig die Beine vertreten. Ich kann kaum noch sitzen.“

„Gute Idee“, stimmte Leyla vom Beifahrersitz aus zu. „Bringst du mir bitte einen Kaffee mit, Schatz?“

Tess musterte die Freundin ihres Bruders von der Seite. Blonde lange Haare umrahmten ein blasses, kindlich anmutendes Gesicht, aus dem einen große blaue Augen über einer kleinen Stupsnase ansahen. Nur wer sie kannte, wusste, dass dieser kindliche Eindruck täuschte. Man hätte Leyla als klassische Schönheit bezeichnen können, wäre da nicht der leicht schiefe Mund mit den zu dünnen Lippen gewesen, dachte Tess gehässig. Sie mochte Leyla nicht sonderlich. Als Alex seine neue Freundin vor ein paar Monaten zu Hause vorgestellt hatte, hatte sie sich zuerst für ihn gefreut. Seine letzte Beziehung war für ihn recht unerfreulich zu Ende gegangen, seine Ex-Freundin hatte ihn mehrmals betrogen und dennoch hatte er sich zunächst nicht getrennt, sondern ausgehalten in der aberwitzigen Hoffnung, dass die Verbindung doch noch zu retten sein könnte. Als er dann Leyla kennengelernt hatte – er hatte ihr im Zuge seines Nebenjobs als Pizzaausfahrer eine Pizza geliefert – stellte sich die Frage, ob die bestehende Partnerschaft noch zu retten war, zum Glück nicht mehr. Hals über Kopf war Leyla zu ihm gezogen. Etwas zu überstürzt, dachte Tess nun. Hinterher war man eben immer schlauer.

Anfangs verhielt sich Leyla schüchtern und zurückhaltend, aber schon bald hatte sie sich in einer Art benommen, die Tess zunehmend aufregte. Sie hatte sich wie selbstverständlich in ihrem Elternhaus einquartiert, ließ sich dort bekochen und ihre Wäsche waschen und bediente sich ungeniert an Tess Kleiderschrank. Auch wenn sie nicht mehr viele Kleidungsstücke in ihrem alten Zimmer hatte, das meiste in Stuttgart war, so wollte sie doch nicht, dass Leyla ihre Sachen trug, vor allem nicht, ohne sie zu fragen. Das hatte sie ihrem Bruder deutlich zu verstehen gegeben, aber sie glaubte nicht, dass er seine Freundin darauf hingewiesen hatte. Die rosarote Brille saß noch zu fest. Wahrscheinlich hätte das ohnehin nicht viel Sinn, weil Leyla die unangenehme Angewohnheit hatte, ihre Interessen ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Das Druckmittel ihrer Wahl war meist ein Streit gefolgt von einem tränenreichen oder wütenden oder beleidigten Abgang, wenn sie nicht bekam, was sie wollte. Sie sah eben nur aus wie ein Engel. Um des lieben Friedens willen gab ihr Bruder dann meist nach. Und aus Angst, sie zu verlieren. Alex konnte nicht alleine sein.

„Kommst du?“ Leyla hielt Tess die Wagentür auf und bot ihr eine Zigarette an. Tess stieg aus und nahm die Zigarette verwundert an. „Seit wann hast du denn mal eigene Zigaretten?“ Leyla schüttelte den Kopf. „Die gehören Alex.“

Natürlich, dachte Tess. Eher geht die Welt unter, als dass du dir mal ein Päckchen kaufst. Schmarotzer. Laut sagte sie: „Schon mal was von Geben und Nehmen gehört?“ Leyla sah sie nur an und grinste frech. Wieso? Wenn ich doch sowieso alles bekomme, was ich will?!, schien das Lächeln zu sagen. Tess schluckte die aufsteigende Wut hinunter. So sollte das Familienwochenende nicht beginnen. Schweigend liefen sie ein Stück auf dem Rastplatz.

„Wie läuft es mit deinen Prüfungsvorbereitungen?“, erkundigte sich Tess höflich, obwohl sie das im Grunde überhaupt nicht interessierte. Sie wusste aber nicht, was sie sonst mit Leyla reden sollte. Diese zuckte gelangweilt die Achseln. „Wird schon irgendwie gehen. Die wirklich wichtigen Abiturprüfungen sind ja erst in ein paar Monaten. Und bei dir so? Stuttgart ist doch bestimmt aufregend, oder?“

„Schöne Stadt, ja. Aber ich habe ziemlich viel mit meiner Ausbildung zu tun, sodass wenig Zeit fürs Erkunden bleibt.“

Leyla nickte nur. Sie interessierte sich ebenso wenig für Tess wie umgekehrt. Der Gesprächsstoff war aus. Zum Glück kam in diesem Moment Alex mit einem Becher Kaffee und einer Bratwurst aus dem Restaurant. Den dampfenden Becher reichte er seiner Freundin und biss dann herzhaft in seine Wurst.

„Du magst wirklich nichts?“

„Nein.“ Tess schüttelte den Kopf. „Mir ist kalt, ich wünsche mir ein heißes Bad und einen guten Film. Kannst du da was machen?“ Sie lächelte ihren Bruder an.

„Es ist nicht mehr weit jetzt. Nach allem, was ich gehört habe, soll Richard recht nobel wohnen. Eine Badewanne wird er, denke ich, auf jeden Fall haben. Wenn wir wirklich jeder ein eigenes Gästezimmer bekommen, kannst du dich anschließend vielleicht auch vor den Fernseher legen. Ich würde mich an deiner Stelle aber erst einmal auf ein Abendessen mit der Familie einstellen.“

„Ich kann es kaum erwarten.“ Tess trat ihre Zigarette aus und stieg ins Auto.

Die Gerüchte um die „Spiegelburg“ waren nicht aus der Luft gegriffen. Zwar handelte es sich keineswegs um eine Burg im wörtlichen Sinn, aber um eine ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzte altroséfarbene Villa mit weißen Fensterläden, kleinen Erkern und Türmchen. Das gesamte Grundstück wurde von einer schmiedeeisernen Umzäunung eingefasst. Alex musste aussteigen und an dem Tor klingeln, über das man auf das Gelände kam. Tess bemerkte das Kameraauge, das sie ins Visier nahm, bevor sich das Tor mit einem leisen Summen öffnete. Alex parkte auf dem Parkplatz seitlich des Hauses. Tess schnalzte anerkennend mit der Zunge. Ein Herrenhaus hatte sie nicht erwartet.

„Wow, Wahnsinn“, rief Leyla, sprang aus dem Auto und lief zum Kofferraum, in dem sie ihren riesigen Koffer verstaut hatte. Wozu brauchte man für zwei Tage so viel Gepäck?, fragte sich Tess.

„Lass, Schatz, ich mach das schon.“ Alex schob seine Freundin sanft zur Seite und wuchtete den Koffer aus dem Wagen. Tess reichte er eine kleine Reisetasche. „Ich wollte eben schon lästern, dass Frauen immer mit so viel Gepäck reisen müssen, aber in diesem Fall hast du dich ja sehr zurückgehalten, Schwesterherz.“

„Kommt auf die Sichtweise an, Bruderherz“, gab Tess liebenswürdig zurück. „Ich hab mich nicht zurückgehalten, sondern jemand anders hat einfach übertrieben.“ Mit einem provokanten Seitenblick auf Leyla ließ Tess die beiden stehen und ging Richtung Eingang. Knirschender Kies ließ sie sich umdrehen. Ein schwarzer Tesla rollte eben durch die Einfahrt und parkte neben dem Wagen ihres Bruders. Die Fahrerseite wurde aufgestoßen und ein blonder schlanker Mann stieg aus, lief auf die Beifahrerseite hinüber und half einer alten Frau, die sich schwer auf ihren Stock stützte, aus dem Auto. Ihre Großmutter war trotz ihrer 89 Jahre noch erstaunlich gut in Form. Sie beklagte zwar oft alle möglichen körperlichen Beschwerden, ihr Verstand aber war immer noch messerscharf und ihre Zunge gefürchtet.

„Tessa“, sagte sie, als sie sie erblickte. „Guten Tag“. Gut einen Meter vor ihrer Enkelin blieb Luise stehen und musterte sie eingehend. Ihre Großmutter war die Einzige, die sie bei ihrem richtigen Namen nannte. Kosenamen waren ihr zuwider. Eine Umarmung, das wusste Tess, erwartete ihre Oma als Begrüßung nicht; im Gegenteil, war ihr Körperkontakt zutiefst unangenehm. Zärtlichkeiten kenne sie aus ihrem Elternhaus nicht, hatte sie mal erzählt. Tess respektierte das, ihr war es so auch lieber, und legte ihrer Großmutter nur flüchtig eine Hand auf die Schulter.

„Hallo Großmutter“. Tess wandte sich an den Mann, der die alte Dame stützte. „Hallo Hannes, ich hätte dich fast nicht erkannt.“

Der jüngste Bruder ihrer Mutter schob seine dunkle Sonnenbrille auf den Kopf – wofür brauchte er die im Winter? - und lächelte, wobei er ein strahlend weißes Gebiss entblößte. „Ich hätte dich auch kaum erkannt. Wie lange mag unsere letzte Begegnung wohl her sein? Acht Jahre? Da warst du, glaube ich, noch in der Schule.“

„Neun Jahre“, korrigierte Luise. Ihr habt euch auf der Feier zu meinem 80.Geburtstag zuletzt gesehen“. Die Frau hatte immer schon ein erstaunliches Gedächtnis gehabt.

„Na, dann kommt dieses Fest doch genau richtig. Einmal pro Jahrzehnt sollte sich die Familie schon treffen.“ Er lachte laut.

„Können wir bitte reingehen? Die Kälte kriecht mir in die Gelenke.“

„Natürlich, Mutter. Hannes führte Luise Richtung Eingang und half ihr die Stufen hinauf. Tess folgte den beiden zu einer schweren Holztür. Die moderne Videotürsprechanlage wollte nicht so recht zu dem Türklopfer aus Messing passen. Hannes klingelte. Nach einem Moment ertönte der Türöffner und sie traten ein.

Das Erste, was sie in der Eingangshalle sah, war sich selbst und zwar aus einer Unmenge an unterschiedlichen Perspektiven. Lang und dünn, klein und rundlich, mal mehr, mal weniger verzerrt. Überall waren Spiegel angebracht, schmal, breit, rund, eckig, mit verschiedenen Verzierungen an den Rahmen. Daher also der Name „Spiegelburg“, dachte Tess. Sie stellte ihre Reisetasche auf dem Steinboden in Schachbrett-Optik ab und ließ den Blick neugierig schweifen. Ein imposanter Kristalllüster hing von einer stuckverzierten Decke. Eine geschwungene, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe führte in den ersten Stock hinauf. Auch der Treppenaufgang war mit unzähligen Spiegeln in unterschiedlichen Größen, Formen und Farben behangen. So wirkte die Halle größer und verwinkelter als sie tatsächlich war. Zwei lange Flure führten von dem Eingangsbereich in das Innere der Villa. Es roch angenehm nach Bienenwachs. Offensichtlich war erst kürzlich gereinigt worden.

„Na, da kann ich doch gleich aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen, ob die Frisur auch wirklich sitzt“, versuchte ihr Onkel zu scherzen. Weder sie noch ihre Oma lachten, was Hannes aber nicht zu stören schien.

Sie vernahmen schnelle Schritte, die teilweise von dem dicken Teppich geschluckt wurden und hörten dann die angenehme Stimme ihres Onkels Richard, der lächelnd auf sie zutrat.

„Mutter, Tess, Hannes, wie schön, euch zu sehen!“ Er nahm sie alle unbefangen und herzlich in die Arme. Luise erwiderte die Umarmung nicht, was Richard gewohnt zu sein schien. Zumindest reagierte er nicht überrascht.

„Hattet ihr eine gute Anreise?“

„War in Ordnung. Könntest du Mutter bitte ihr Zimmer zeigen? Sie muss sich etwas ausruhen.“

„Ich kann durchaus für mich selber sprechen, Hannes“, wies Luise ihn zurecht. „Ich würde mich nur gerne etwas frisch machen.“

„Aber natürlich, Mutter. Dir habe ich ein Zimmer hier im Erdgeschoss zugedacht. Einen Aufzug haben wir hier nämlich leider nicht.“ Er wies den rechten Flur hinunter. „Bin gleich wieder da, Tess. Geh doch schon mal nach oben, das zweite Zimmer von rechts ist deines.“

„In Ordnung, danke.“

Es klingelte. Richard sah durch den Spion und öffnete die Tür. „Ah wie schön, dass ihr hier seid“, sagte er zu Alex und Leyla, die es nun endlich ins Haus geschafft hatten. „Schön dich kennenzulernen, …“, er verstummte und sah Leyla erwartungsvoll an. „Leyla“, sagte diese mit einem Seitenblick auf Alex. „Freut mich, Leyla. Ich bin Richard. Schön, dass ihr so kurzfristig kommen konntet. Ich zeige Luise ihr Zimmer, ihr geht bitte mit Tess rauf. Für euch habe ich das Zimmer gegenüber von Tess herrichten lassen.“ Als Richard außer Hörweite war, entlud sich Leylas Ärger, darüber, dass Richard ihren Namen nicht gewusst hatte.

„Das war ja unangenehm. Du hättest ihm im Vorfeld ruhig mal meinen Namen sagen können“, zischte Leyla vorwurfsvoll. „Oder hast du komplett unerwähnt gelassen, dass du eine Freundin hast?“

„Schatz, bitte“, versuchte Alex die Wogen zu glätten. „Ich habe so gut wie keinen Kontakt zu Richard. Du bist jetzt hier an meiner Seite. Das ist das Wichtigste. An diesem Wochenende lernst du den Rest meiner Familie kennen.“ Alex nahm Leyla liebevoll in die Arme, was diese besänftigte. Tess verdrehte ungläubig die Augen. Woher nahm ihr Bruder nur die Energie, es dieser Person immer recht zu machen? Arm in Arm ging das Paar die Treppe hinauf. Tess folgte ihnen mit einigem Abstand. Einige Stufen knarzten leise. Oben angekommen fand sie sich in einem Flur wieder, von dem fünf braunlackierte Kassettentüren abgingen. Auch dieser Bereich war komplett mit Spiegeln in unterschiedlichen Formen und Größen behangen. Da hatte jemand wohl eine Affinität zu Spiegeln. Sie hoffte nur, dass nicht auch ihr Zimmer so aussah. Sie ging über den weichen tomatenroten Teppich zu ihrem Zimmer und war angenehm überrascht. Es war zwar klein, aber behaglich eingerichtet: Ein Doppelbett aus dunkelbraunem, glänzenden Holz nahm den größten Teil des quadratischen Raumes ein, daneben standen ein kleiner Kleiderschrank sowie ein winziger Tisch mit zwei Stühlen. Eine in die Wand eingelassene Tür führte in ein angrenzendes Badezimmer, das mit Duschbad, Toilette und Waschbecken ausgestattet war. Also kein Schaumbad. Tess seufzte. Die fehlende Badewanne wurde aber durch die Aussicht auf einen märchenhaft verschneiten Park, der sich hinter dem Haus erstreckte, mehr als wettgemacht. Tess ließ ihre Tasche achtlos fallen und warf sich auf das weiche Bett. Der angenehme Duft nach frischgewaschener Bettwäsche stieg ihr in die Nase. Sie liebte diesen Geruch.

Es klopfte leise an die Tür. Tess richtete sich auf. „Ja?“

Richard trat ein. „Störe ich? Du kannst dich vor dem Abendessen gerne noch etwas ausruhen.“ Tess winkte ab.

„Eine wunderbare Aussicht, nicht wahr“, fuhr ihr Onkel fort, als er ihren Blick bemerkte. „Meinst du, du hältst es bis Sonntag hier aus?“

„Was ist das denn für eine Frage! Natürlich, es ist sehr schön.“ Sie zeigte nach draußen. „Gehört der Park etwa zu dem Haus?“

„Aber nein, das ist ein öffentlicher Park, zumindest seit einigen Jahrzehnten. Früher war er Teil dieses Anwesens.“ Er wechselte das Thema. „Wo hast du eigentlich mein Schwesterlein gelassen?“ Tess wunderte sich über diese vertraute Bezeichnung, da die Geschwister doch kaum Kontakt zueinander hatten.

„Mama müsste bald hier sein, denke ich. Wir haben gestern telefoniert und da sagte sie, sie würden morgens losfahren, sodass sie pünktlich hier sind.“

Richard nickte und überlegte, wie er das Gespräch am Laufen halten konnte. „Ich habe gehört, du lebst nun in Stuttgart. Gefällt es dir?“ Er lächelte sie interessiert an oder war er nur ein guter Schauspieler? Tess konnte sich kaum vorstellen, dass ihr Leben ihn wirklich kümmerte.

„Ja, ist eine schöne Stadt. Tut gut, endlich mal in einer Großstadt zu leben.“

„Glaube ich.“

„Was hat es eigentlich mit den vielen Spiegeln auf sich?“, wechselte Tess das Thema. Sie mochte nicht von sich sprechen.

„Evas Tante hatte ein Faible dafür und hat ihr halbes Leben Spiegel gesammelt. Als wir eingezogen sind, haben wir sie hängen lassen. Sie verleihen dem Haus etwas Mystisches, finde ich.“ Tess fand es eher verstörend, sich, egal wo sie hinsah, aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen zu müssen, sagte das aber nicht, sondern nickte nur.

„Es ist ein beeindruckendes Haus.“

„Das ist es in der Tat und du hast ja noch nicht einmal alles gesehen.“

Ein heller Glockenton ertönte. Richard wandte sich zur Tür. „Die nächsten Gäste sind da. Fühl dich wie zu Hause. Handtücher findest du im Badezimmerschrank. Leider ist das WC seit gestern defekt, so kurzfristig habe ich es nicht mehr reparieren lassen können. Du müsstest das eine Etage tiefer benutzen, tut mir leid. Duschen ist aber kein Problem. Wenn du sonst irgendetwas brauchst, scheue dich nicht zu fragen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Wir sehen uns dann später zur allgemeinen Begrüßung in der Bibliothek. Abendessen ist gegen 20 Uhr geplant.“ Damit schloss er die Tür hinter sich.

Tess trat ans Fenster und genoss das friedliche Bild. Hohe alte Bäume, deren Äste über und über mit Schnee bedeckt waren, säumten eine große Rasenfläche, auf der zwei Kinder eifrig an einem Schneemann bauten. Tess musste unweigerlich an ihre Kindheit denken, was sie nicht gerne tat. Sie erinnerte sich, dass Alex und sie eines Winters einmal unerlaubterweise an einen kleinen Teich in der Nähe ihres Hauses gegangen waren. Er war zugefroren gewesen und sie hatten die Gefahr als Kinder nicht einschätzen können. Alex war mit dem Fuß eingebrochen und hatte sich einen komplizierten Bruch am Mittelfuß zugezogen. Die Nachbarn hatten Vera und Clemens alarmiert. Ihr Stiefvater war sofort mit Alex ins Krankenhaus gefahren, Vera hingegen hatte geschimpft. Ein tröstendes Wort war ihr nicht über die Lippen gekommen. Weder in dieser Situation noch in anderen. Ob sie denn nicht besser aufpassen könnten? Eine liebevolle und fürsorgliche Mutter war sie nie gewesen. Tess verscheuchte diese unschönen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf den Park, der sich hinter der Villa ihres Onkels erstreckte. In den warmen Monaten musste es hier wunderschön grün sein. Ihr Blick glitt zu dem Himmelbett. Sie hätte sich gerne einen Moment in die weiche Decke gekuschelt und die Augen geschlossen. Dann würde sie aber vermutlich das Abendessen verschlafen. Lieber wollte sie die wundervolle Villa erkunden. Eventuell würde sie nach dem Essen einen Spaziergang durch die verschneite Landschaft machen, wenn sie sich überwinden konnte, bei der Kälte länger als eine Zigarettenlänge nach draußen zu gehen. Sie wusch sich rasch das Gesicht, zog sich einen frischen Pullover über und verließ ihr Zimmer.

In der Eingangshalle traf sie auf ihre Mutter und ihren Stiefvater, die soeben angekommen zu sein schienen und etwas unschlüssig neben ihren Gepäckstücken standen.

„Mama, Clemens, da seid ihr ja.“ Tess ging auf ihre Mutter zu und nahm sie in die Arme. Ihr Stiefvater schlug ihr zur Begrüßung etwas zu fest auf den Rücken und erkundigte sich mit seiner dröhnenden Stimme: „Na, alles klar?“ Emotionen machten ihn stets verlegen, was er durch übertrieben grobes und lässiges Verhalten zu überspielen versuchte.

„Du hättest ruhig mal anrufen können.“ Ein leiser Vorwurf schwang in der Stimme ihrer Mutter. Tess sah sie leicht verärgert an. „Ihr tut ja gerade so, als hätten wir uns seit Monaten nicht mehr gesehen, dabei war ich vorletztes Wochenende doch bei euch und außerdem schwingt die Tür in beide Richtungen, Mama. Du hättest auch anrufen können“, rief Tess verstimmt. Immer die gleichen lästigen Diskussionen. Ihre Mutter war unfähig, Kontakt zu irgendjemandem zu halten. Selbst rief sie nie an, erwartete aber umgekehrt, dass sie angerufen wurde. Deshalb hatte sie auch keine Freunde, nicht einmal entfernte Bekannte. Kurzes gespanntes Schweigen. Kaum traf sie auf ihre Mutter, war ihre Laune gleich dahin.

„Ja, gut, du hast recht“, lenkte ihre Mutter sofort ein. Dabei presste sie ihre Lippen aufeinander, was Tess zeigte, dass sie der Meinung war, ihre Tochter hätte sich sehr wohl melden können. Wie immer scheute sie aber die Konfrontation und ging den Weg des geringsten Widerstands. Tess versuchte, ihre Frustration nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Sie war doch nicht hier, um sich über ihre Mutter zu ärgern.

„Du kennst doch deine Mutter, sie hatte bestimmt Angst, es könnte ein Mann an den Apparat gehen“, Clemens sah seine Frau herausfordernd an. Tess verdrehte die Augen. „Was für ein Mann denn? Wenn es jemanden in meinem Leben geben sollte, erfahrt ihr es natürlich als Erste.“

Vera wechselte das Thema und erkundigte sich, ob Alex und Leyla auch bereits da seien.