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Als Kind war Jorge der Star seiner eigenen Fantasie-Fernseh-Show, die er hingebungsvoll für ein imaginäres Publikum zusammenschnitt und mit seiner Lieblingsmusik untermalte. So konnte er am besten vergessen, dass seine liebestolle Mutter, ihn regelmäßig ins Treppenhaus verbannte und dass Kai-Uwe auf dem Schulhof seine Schikanen an ihm vollzog. Heute ist Jorge auch ein Star. In der Entwicklungsbranche fliegt er um die Welt und umgibt sich mit Hotelluxus und egozentrischem, zynischem Glamour - bis er die geheimnisvolle Katarina trifft und eine Wette mit ihr abschließt. Er wird sie nur wiedersehen, wenn er es schafft, sechs Wochen auf etwas zu verzichten, dass ihm sehr wichtig ist... Fastenzeit ist ein Bildungsroman, der zwischen Brüssel, London, Zagreb und Seoul spielt und vom magischen Realismus beeinflusst ist. Jorge ist ein moderner Bösewicht oder Antiheld. Seine "Fastenzeit" entpuppt sich als Reise zu sich selbst.
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Miguel Peromingo
Fastenzeit
Eine Geschichte über das Wichtigsein
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
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29.
30.
31.
32.
Epilog
Danke
Impressum neobooks
Fastenzeit
Miguel Peromingo
Para Mama y Papa
In einem 5-Sterne-Hotel nördlich des Han-Flusses in Seoul tritt ein junger Mann in die hell erleuchtete Lobby. Auf dem schimmernden Marmorboden in der Mitte des Raums steht ein Springbrunnen, dessen Wasserstrahlen leise in verschiedenen Farben plätschern. Das Stimmengewirr an der Rezeption hebt und senkt sich wie das Summen eines Bienenschwarms.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl wird er von einem Mädchen angesprochen. Sie trägt eine Mütze und scheint sich ihre Wangenknochen plastisch behandelt haben zu lassen. Ihre Augen wirken eurasisch. Ihr Mund ist rot geschminkt und spitzt sich beim Reden. Sie wirkt unbeschwert, fragt den Mann, ob er Gesellschaft suche. Er schüttelt den Kopf, drückt auf den Knopf für die Fahrt nach oben. Ihre Stiefel sind bordeauxfarben und schlecht geputzt. Sie bleibt die ganze Nacht, wenn er das wünscht, fügt sie hinzu, Europäer nähme sie besonders gern, sagt sie, bevor sich die Fahrstuhltür vor ihr schließt. Der Mann schaut auf die Uhr. Der Lift wird während der Fahrt nach oben immer schneller. Das Signal, das die Ankunft anzeigt, ist laut und klar.
Unter der Dusche stellt er aus einer Auswahl verschiedener Hintergrundprogramme das Vogelzwitschern ein. Das Licht ist, dazu passend, hell wie Sonnenstrahlen. Ganze Schwärme gut gelaunter Vögel begleiten seine akkurate Wäsche. Er benutzt den Duschkopf in seiner Massagefunktion und lässt ihn langsam und gleichmäßig über seinen Körper gleiten. Insbesondere seine Haare, seine Achselhöhlen, die Genitalien und seine Füße braust er sorgfältig ab. Mit einem Ladyshaver entfernt er ein paar wenige Schamhaarspitzen. Dann steckt er den Duschkopf auf die dafür vorgesehene Stange und wäscht sich das Shampoo ab. Vorher stellt er die Massagefunktion aus, damit sein Haar durch den hohen Wasserdruck nicht unnötig in Mitleidenschaft gezogen wird. Mit beiden Fingern massiert er seine Kopfhaut, um die Durchblutung anzuregen.
Er steht nun vor dem viertürigen Kleiderschrank seines Zimmers im 35. Stock, Executive Floor. Sein Bademantel ist flauschig und liegt eng an. Man kann seine schlanke Figur erahnen. Sein Haar ist dunkel, fast schwarz. Die Augen ebenfalls. Sein Gesicht zeigt keinerlei Lächeln. Er gleitet mit seinen frisch eingecremten Fingern durch die Sammlung seiner zweifarbigen Designerhemden mit Manschetten. Die Creme, die er für seine Handpflege benutzt, ist schnell einziehend und deswegen kein Problem für die hochpreisige Textur seiner Hemden.
Im Fernsehen laufen Nachrichten.Kim Jon Un schüttelt die Hände chinesischer Diplomaten, untermalt vom Stampfen einer Militärkapelle.
Der junge Mann greift ein Paar blau gestreifter Boxershorts aus dem Schrank, dazu schwarze Socken und ein Hemd mit doppeltem Kragen in kräftigem Rot. Die schwere Schranktür gleitet langsam zu und gibt einen gedämpften Laut von sich, als sie sich ganz schließt.
Er legt die Kleidung vorsichtig auf das Bett. Ein Dutzend samtene Kissen liegen auf dem frisch gestärkten Laken verteilt. Er wirft mehrere davon auf den Boden, schaut auf die Uhr.
Er tritt ans Fenster und blickt herab auf ein Meer von metallenem Blau, auf Glas und grelle Leuchtreklamen in rechteckigen Lettern. Die Klimaanlage im Zimmer summt und macht ein Öffnen der Fenster überflüssig.
Als der junge Mann nach einem Glas Wasser greift, das neben seinem Laptop auf dem dunkelbraunen Schreibtisch steht, lässt ein weißer Blitz ihn vor Schreck rückwärts auf das Bett fallen. Bevor das Wasserglas sich, ohne zu zerspringen, über den dicken Teppich ergießt, hört er den Knall. So laut, dass ihm fast die Sinne schwinden.
Als Kind stellte ich mir regelmäßig vor, der Hauptdarsteller in einer Fernsehshow zu sein, die auf einem, eigens dafür eingerichteten Sender mein Leben in Echtzeit zeigte. Anders als bei diesem Penner Jim Carrey, war ich mir dieses Sendeformats aber voll bewusst, und was dort gezeigt wurde folgte einem genauen Plan in meinem Kopf, nicht dem eines verrückten Regisseurs. Der Großteil des Sendematerials entsprach der Realität entweder gar nicht oder wandelte sie zumindest in eine für mich günstige Version um. In allen Szenen stand ich im Rampenlicht. Schwierige Situationen meisterte ich in einer Form, die mich immer als Gewinner oder als moralisch Überlegenen aus ihnen herausgehen ließ. Das war auch nötig, denn mein wirkliches Leben enthielt sehr wenig Glamouröses oder Erhabenes.
Da mir eine ganztägige Ausstrahlung zu anstrengend und unpraktisch erschien, entschied ich, welche Teile meines Tages über den Äther gehen sollten. Immer dann, wenn ich mich in Position brachte, um „on air“ zu gehen, zählte ich in Gedanken „3, 2, 1“ an und ergänzte nach einer kurzen dramatischen Pause „klick“. Dieses „klick“ öffnete mein Leben einer ungezählten Gruppe interessierter Zuschauer und blendete dabei den reizlosen Teil meines Alltags als Heranwachsender aus.
Warum es in meinem Leben am nötigen Glanz und Glamour mangelte, hatte verschiedene Gründe.
Einer war zum Beispiel, dass ich ein gigantischer Angsthase war. Ich habe heute keinerlei Bedenken, das ganz offen auszusprechen. So ziemlich meine erste Erinnerung ist die, als ein Bekannter meiner Mutter mich mit einer afrikanischen Maske dermaßen erschrak, dass ich mich bis in mein Erwachsenenalter nicht mit maskierten Gesichtern habe anfreunden können. Ich war damals fünf Jahre und die garstigen Augenschlitze der vermaledeiten Holzlarve verfolgten mich über viele und lange Jahre. In der Schule konnte ich dadurch an keinem Kostümfest teilnehmen. Karneval war eine indiskutable Veranstaltung für mich und Halloween fühlte sich an wie ein Alptraum, in dem ich die Minuten zählte, bis die schadenfrohen Skelette und hinterlistigen Kürbisköpfe zu Ende getanzt hatten.
Damals waren meine Mutter und ich zu Besuch bei Katja und Kurt, einem freundlichen älteren Paar, das uns ab und zu ihre heiligen Samstagnachmittage widmete. Sie verband sie sogar zu einem Wort, Katjaundkurt; sie tat das miteiner gewissen Ehrfurcht, so als wäre ihr diese Verbundenheit selbst zwar fremd, aber dennoch als eine bemerkenswerte partnerschaftliche Errungenschaft zu goutieren. Sie hatte Katja in der Waschküche kennen gelernt. Da sich meine Mutter vermutlich, wie sie das all die Jahre tat, sehr ungeschickt angestellt hatte, half ihr Katja beim Zusammenlegen der Wäsche.
Wie ich in einer der Geschichten erfuhr, die sich bei meiner Mutter ihr ganzes Leben lang in Erzählrotation befanden, wechselten Katjaundkurt mehrmals in der Woche ihre Bettwäsche und Handtücher, sodass sie trotz ihrer soliden, und aus Sicht meiner Mutter völlig überteuerten Miele-Waschmaschine, auf einen externen Trockner angewiesen waren und aus diesem Grund regelmäßig neben Studierenden und verkrachten Existenzen in der Waschküche auftauchten. Wir wechselten die Bettwäsche nicht besonders regelmäßig. Bereits einige Male habe ich mir überlegt, dass es bei der Menge an Körperflüssigkeiten, die regelmäßig ihren Weg auf Laken und Bezüge fanden, aber durchaus angebracht gewesen wäre. Das ist aber jetzt gar nicht das Thema.
Bei Katja und Kurt gab es immer Kaffee und Kuchen. Auch diese zwei Begriffe hätte man miteinander verbinden können, denn in ihrer unglaublich sauberen Wohnung wurde über Jahre hinweg aus einem geblümten Kaffeeservice, dessen Porzellan angenehm klirrte, ein dünner, wohlriechender Kaffee sowie, auf den dazugehörigen Tellern, selbst gemachter Käsekuchen und Schwarzwälder Kirschtorte serviert. Da ich schon in meiner frühen Kindheit Kaffee trinken durfte, wird meine Erinnerung an Kaffeeundkuchen nicht durch bröseligen Rührkakao oder lauwarme Milch getrübt.
Die Maske trat damals ungebeten zum Kaffeekränzchen hinzu, weil Reinhard, der alkoholkranke Volltrottel von Schwiegersohn im Katjaundkurt-Ensemble, bereits einige Biere getrunken hatte und es lustig fand, mich, das verschüchterte Kind, das auf keine seiner Witze reagiert hatte, aus der Reserve zu locken. Ich fiel damals in Ohnmacht, als sich die afrikanische Fratze plötzlich vor mir aufbaute. Ich will nicht lügen, aber ich glaube ich machte mir auch in die Hose. Ein plötzlicher, beißender Geruch mischt sich da in meine Erinnerung. Thematisiert wurde das später nie wieder. Reinhard hatte sich aber mit jener Aktion einen festen Platz als „Bad Guy“ in meiner späteren Fernsehshow gesichert.
***
Ein weiterer Dauerkandidat für diese Rolle war Kai-Uwe, ein Mitschüler ausmeiner Grundschulzeit. Als ich ihn neulich abends gegoogelt habe, erfuhr ich, dass er bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist.
Bereits damals, in den ersten Jahren seiner misslungenen Schulkarriere, sah er wie ein Motorradfahrer aus. Er trug eine viel zu große Lederjacke, die irgendwie nach Hundekot roch, und ging grundsätzlich breitbeinig. Bevor sich Kai-Uwe Jahre später den Hals abfuhr, schikanierte er, zumindest in den vier Jahren, die ich ihn kannte, ordentlich seine Umwelt – und insbesondere mich. Was er in seinem jämmerlichen Leben danach tat, weiß ich nicht und es ist mir auch gänzlich egal. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er nach der verkorksten Schulzeit, in der er bestimmt sein Taschengeld erst durch Mobbing aufbesserte und dann durch den Verkauf verschnittener Drogen, sein Leben damit verbrachte, illegale Motorradrennen in Tiefgaragen oder auf gesperrten Baugeländen zu organisieren. Bei einem solchen Rennen war er nämlich draufgegangen. Viel mehr, so bin ich mir sicher, ist bei ihm nicht passiert. Mit Frauen zum Beispiel kann Kai-Uwe nicht viel zu tun gehabt haben. Neben seiner stinkenden Lederjacke sorgte auch sein brutales und hässliches Gesicht dafür, dass sich ihm kein Mädchen näherte. Die Mädchen in der Grundschule jedenfalls hassten ihn und ermutigten mich dazu, dass ich mir nicht gefallen lassen sollte, was er mit mir machte.
Was das genau war, tut jetzt nichts zur Sache. Um ganz ehrlich zu sein, habe ich das meiste auch vergessen. Eine Szene ist mir in Erinnerung geblieben, weil sie seine späteren Auftritte in meinem 3,2,1-Klick-Setting begleitete. Ich komme noch darauf zurück.
Diese Szene illustriert nämlich noch einen weiteren Grund für die Abwesenheit von Glamour in meinem früheren Leben, nämlich meine bedingungslose Passivität, selbst im Angesicht der Gefahr.
Jahre später sieht mein Leben übrigens schon viel besser aus. Ich arbeite heute in Brüssel als erfolgreicher Entwicklungshelfer. Die Entwicklungshilfe mit der ich zu tun habe, ist aber nur eine Lightversion davon. Ich bin Projektleiter im Capacity Development, reise also nicht in Länder, die voller Malaria und stinkender Straßen sind, sondern in solche, die schon ein paar Dollar Bruttoinlandprodukt auf der hohen Kante haben und nur noch einige freundschaftliche Schubser von den modernen Kolonialstaaten brauchen, um auf der globalen Bühne mitmischen zu können. Das ist hochsensibel und gut bezahlt.
An Geld mangelt es mir nicht und das ist gut so, denn ich sehe nicht ein, warum ich ein bescheideneres Leben führen sollte. Ich habe Brüssel gewählt, weil es nicht so teuer ist wie London oder New York und eine höhere Anzahl an gut aussehenden Frauen bietet. Die Belgierinnen selbst sehen mit ihren ungeschminkten, sauberen Gesichtern und großen Brüsten schon lecker aus, werden allerdings mit der Zeit immer fetter und grimmiger. Der besondere Reiz jedoch entsteht durch die Mischung der ausländischen Frauen aus Europa und dem Rest der Welt. Da die meisten bei irgendwelchen unbedeutenden internationalen Organisationen für eine überschaubare Zeit arbeiten, verhalten sie sich alle, als seien sie mit einem ERASMUS-Stipendium im Auslandssemester. Für mich ist das die optimale Manövriermasse.
Ich bin nicht überarbeitet, weil mein Büro den Kleinkram übernimmt. Ich muss abends nicht zu Frau und Kind, sodass ich mich voll auf meine wesentlichen Interessen konzentrieren kann: Geselligkeit und Frauen.
***
Jetzt gehe ich zu Charlotte, oder eigentlich kann sie auch Catherine oder Carine heißen. Interessanterweise haben die flämischen Angehörigen der belgischen Kleinstaaterei ja trotzdem französisch klingende Namen, obwohl sie ihre wallonischen Ko-Patrioten ja am liebsten in der Hölle würden schmoren sehen – und umgekehrt. Jemand, der mit Nachnamen Verbruggen heißt, kann also durchaus aus Namur kommen, Rotwein trinken und, so erzählen es sich die Flamen, den ganzen Tag auf den Eingang seines Arbeitslosengeldes warten, während jemand der Lepont im Pass stehen hat, aus Gent stammen kann und sich pflichtbewusst den Allerwertesten abarbeitet, um das Land nach vorne zu bringen. Charlotte ist Flämin und wird dafür sogar bezahlt. Sie wohnt in St. Catherine, oder Sint-Katelijne, in der Brüsseler Innenstadt und erhält von der flämischen Gemeindeverwaltung, die diesen Stadtteil gern in den Händen des alten bildungsbürgerlichen und fleißigen Flamen wähnen würde, einen Zuschuss zu ihrer Miete. Ein Wallone oder, Gott bewahre, ein Angehöriger der deutschsprachigen Minderheit in Belgien, würde auf die Zuschussanfrage lediglich einen Tritt in die Eier bekommen.
***
Ich gehe über den ehemaligen Fischmarkt, der heute von Restaurants bevölkert wird, die ihre überteuerten Moules Frites anbieten. Die Häuser, in denen sie untergebracht sind, biegen sich in alle möglichen Richtungen. Die abgeblätterte Farbe der Fassaden leuchtet – Gelb und Blau und ab und zu ein wenig Rot. Die Farben des guten Wetters, das man hier fast nie zu Gesicht bekommt. Ist für mich kein Problem, diese Restaurantpreise zu bezahlen. Für den subventionierten Flamen, der hier, auch bei kaltem Wetter, gern unter dem Heizpilz sitzt, ebenfalls nicht. An einer Ecke werden frische Krabben und kalter Weißwein serviert. Die zwergwüchsige und rotgesichtige Nachbarschaft steht Schlange.
Meine heutige Sexpartnerin wohnt hinter der Kirche. Sie will, der Gegend angemessen, einen Sushi-Abend mit mir veranstalten. Auf die Implikationen, die das mit sich bringt, freue ich mich schon.
Ich habe in wenigen Jahren mit über hundert Frauen – über die genaue Zahl verfüge ich nicht –, deren Alter von 18 bis 50plus reichte und die aus allen möglichen Flecken dieser Erde stammten, geschlafen. Mit dunkelhäutigen Frauen konnte ich mich nie richtig anfreunden. Mit Asiatinnen und Osteuropäerinnen dafür umso mehr. Lateinamerikanerinnen zeigen kein Interesse an mir, wahrscheinlich, weil ich nicht gut tanzen kann. Nordamerikanerinnen sind mir zu fett. Aber eine ordentliche Belgierin passt zwischendurch immer rein.
***
„Salut, Jorge. Schön vorsichtig mit der Treppe, die Stufen sind sehr wacklig“, warnt sie mich, als ich in ihre Wohnung im obersten Stock eintrete. „Tut mir leid wegen des Geruchs im Treppenhaus“, entschuldigt sie sich weiter. „Es ist wirklich alles sehr alt.“ In der Tat ist die Wohnung auf den ersten Blick zweitklassig. Nachdem man die letzten Stufen, die bereits Teil der Wohnung sind, erklommen hat, starrt man auf eine verschimmelte Wand. Links und rechts setzt sich die Wohnung schlauchförmig fort. Wenige Türen sind sichtbar. An keiner Stelle scheint die Wohnung breiter als zwei Meter zu sein. „Mach dir keine Sorgen“, werfe ich mit warmer Stimme ein, während ich meine Schuhe ausziehe, „ich bin ja wegen dir gekommen.“ Der Satz könnte missverstanden werden, denke ich. Aber ich will gleich das Thema auf die Beziehung zwischen mir und ihr bringen. Und zwar auf die rein sexuelle Natur, die ich diese Beziehung annehmen lassen möchte. „Das ist süß von dir“, sagt sie. „Gib mir den Wein, ich stelle ihn in den Kühlschrank. Oh. Elsässer. Schön. Die Schuhe lass ruhig an. Ist ja nicht so warm.“ Ihre Entschuldigungen nerven mich, aber vielleicht entspannt sie sich nach ein paar Schlucken Wein. Während der Messe für Demokratiehilfe im Maghreb, auf der ich sie kennen gelernt habe, schien sie mir jedenfalls ziemlich versaut zu sein. „Danke, kein Problem. Zuhause ziehe ich die Schuhe ja auch aus. Ist gemütlicher.“ Außerdem habe ich mir nicht umsonst meine teuren und garantiert geruchsfreien Burlington-Socken übergestreift, denke ich weiter. Sie murmelt etwas Bestätigendes aus der Küche, die ebenfalls winzig klein zu sein scheint. Es läuft irgendwo ein Radio mit Pure FM.Good music makes good people. Neben meine Lederschuhe stelle ich meine Herrenhandtasche. Darin habe ich Unterwäsche zum Wechseln, Charlotte soll schließlich nicht sofort merken, dass ich vorhabe, hier zu übernachten. Und Herrenhandtaschen sind in Brüssel kein Ding, weil sowieso alle Männer schwul aussehen. Halstücher, ständiges gegenseitiges Abknutschen und Slim Cut so weit das Auge reicht, schaffen ein Setting, in dem ich meine metrosexuellen Talente voll zum Einsatz bringen kann. Darauf stehen nun mal wirklich die meisten europäischen Frauen. Und wenn es eine geile Niederländerin oder Polin doch mal klassisch männlich braucht, dann habe ich das nötige Repertoire dafür mindestens verbal drauf.
Charlotte hat einen Rock angezogen, der ihren Hintern vorteilhaft betont. Sie steht am Herd und hantiert mit einem verbeulten Topf. Die Luft riecht nach Soja und Moder. Sie hat blau schimmernde, hochhackige Schuhe an, in denen sie immer noch viel kleiner ist als ich. „Der Reis ist fast abgekühlt, dann können wir gleich ...“ „Du hast eine tolle Figur“, unterbreche ich. Sie dreht sich um und ich schaue ohne zu zögern erst auf ihre Brüste und ihr dann in die Augen. Sie lächelt ohne rot zu werden. „Dankeschön. Du auch.“ Am Kochlöffel klebt Reis. „Magst du ein Glas Wein?“, fragt sie. „Dann geht das Rollen leichter.“ Ich lache frech. Sie holt eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. „Ohne Schuhe lässt es sich auch leichter rollen“, werfe ich ein, während ich die Flasche entkorke. „Warum ziehst du nicht auch deine Schuhe aus?“ Eine kurze Pause entsteht. „Gefallen sie dir nicht? Ich habe sie extra für dich ausgewählt.“ „Sie gefallen mir sogar sehr. Du kannst sie ja später wieder anziehen.“
Sie schlüpft erst aus der einen Schlaufe, dann aus der anderen, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung, und schaut mir dabei ohne Unterbrechung in die Augen. Mit ihren Schuhen in der einen Hand und der Weinflasche in der anderen steuere ich auf die Couch zu.
Wir sitzen auf dem kühlen Leder und prosten uns zu. Der Wein ist nicht so gut wie der, den ich mitgebracht habe, aber auch nicht schlecht. Sie hat keine Strumpfhose an, ihre Beine sehen samtweich aus. Ihre Haut schimmert warm, obwohl keine einzige Kerze brennt.
„Kannst du denn überhaupt Sushi rollen?“, versucht sie einen kesseren Tonfall. Mir fällt trotzdem auf, dass ihr Atem ein wenig unregelmäßiger geht. Ich habe mein letztes Sushi in Tokyo gerollt, will ich weltmännisch von mir geben, stimmen würde es, entscheide mich aber für: „Ich kann immer noch dazulernen.“ Dabei spiele ich immer noch mit dem Verschluss ihres rechten Schuhs, der neben der Couch steht. Auf dem Tisch fällt mein Blick auf eine Vase mit hautfarbenen Schnittblumen.
***
Dann geht alles plötzlich schneller. Ich schneide mit einem scharfen Küchenmesser durch das feuchte Nori-Blatt der ersten Rolle, als sie mir von hinten an die Hüften greift. Ihre Brust legt sich warm auf meine Wirbelsäule. Ich kann spüren, wie sie schwitzt. Ich dringe langsam durch die Reisschicht und lege die erste Rolle auf einen Teller mit verblichenem Apfelmuster, der so aussieht, als wäre er zu oft gewaschen worden. Das macht jetzt aber nichts. Charlotte küsst gut. Sie öffnet den Mund nicht zu weit und ihr Gesicht riecht frisch. Sie atmet jetzt ungeniert. Ihr Unterleib drängt sich gegen mich und bewegt sich hin und her. Ich löse mich aus dem Kuss und lege ein neues Stück Thunfisch auf die Holzplatte. „Hast du Hunger?“, fragt sie. Ich teile das Fischstück in zwei Hälften. „Ja, nach dir“, antworte ich schnell genug, um das Messer wegzulegen, bevor sie sich auf die Arbeitsplatte setzt. Sie nimmt meinen Kopf in ihre beiden Hände. „Ich liebe dein dunkles Haar“, stöhnt sie und küsst mich auf den Mund. Eine Holzschale mit lauwarmem Wasser und ein paar verlorenen Reiskörnern poltert zu Boden. Sie spreizt ihre Beine und bedeutet mir, mich zwischen sie zu stellen. Wir küssen weiter. Sie versucht, so nah wie möglich an mich heran zu kommen. Ich halte sie an ihren Hüften fest und beginne ihren Hals zu lecken.
„Darf ich deinen Busen sehen“, flüstere ich ihr gespielt verhalten ins Ohr.
„Ja klar“, entgegnet sie. „Hier“, sie zupft ungeduldig an dem BH unter ihrem Top. „Mach was du willst mit ihnen.“
Sie hat einen großen Busen. Ich tropfe ein wenig ungezuckerte Sojasoße darauf, damit nicht alles gleich so klebrig wird und nehme die herunter fließende Flüssigkeit langsam mit meiner Zunge auf, indem ich ihren Busen von unten nach oben ablecke wie ein Vanilleeis im Hochsommer. Sie legt ihren Kopf zurück. Ich nehme ein Stück Sushi mit Avocado und stecke es ihr in den Mund. Sie beißt genüsslich auf den eingerollten Reis. „Und jetzt ...“, lacht sie kokett, streift geübt ihren Slip ab und wirft ihn in die Spüle. Ihr Blick öffnet Welten. Ich muss mein Hemd ausziehen, bevor ich weitermache, jetzt ist mir doch warm geworden.
Um mich interessanter zu machen, erzählte ich in meiner Kindheit oft die Unwahrheit. So behauptete ich beispielsweise, ich hätte einen schwarzen Gürtel in Karate. Eine Menge Mädchen, die beim Gummitwist meinen Ausführungen folgten, zeigten sich davon beeindruckt. Ich war sehr ungelenk und hatte das schon unter Beweis gestellt. Einmal hatte ich mich sogar auf die Schnauze gelegt, weil sich mein Bein im Gummi verhakte. Trotzdem glaubten mir meine Mitschülerinnen, dass ich ein Meister der asiatischen Kampfkunst sei und nickten zustimmend, wenn ich von schnellen Handkantenschlägen und mehreren Angreifern sprach, die mir gleichzeitig zusetzen wollten und die ich alle erfolgreich in die Flucht schlagen oder in die Dämmerwelt befördern konnte. Ich sehe sie heute noch vor mir, mit ihren von Papa geflochtenen Zöpfen und ihren rutschenden Brillen, wie sie mir alle glauben, dass ich ein großer Kämpfer bin. Sagenhaft. Wenn ich sie heute wiedersähe, würde ich sie alle ins Bett bekommen. Nicht alle auf einmal, dafür sind sie vermutlich zu spießig geworden, aber der Reihe nach.
***
Kai-Uwe hatte seine Ohren damals überall und offensichtlich davon gehört, dass ich mich als Karateka ausgab. Mit aufgeblasenem Brustkorb und einem fiesen Lächeln kam er an einem grauen Schulvormittag in der großen Pause auf mich zu, während ich versuchte, mich so weit wie möglich vom Gummitwist zu entfernte, um nicht auch noch zusätzlich als mädchenhaft identifiziert zu werden. Seine Lederjacke knisterte hinter mir und eh ich mich versah, schnitt er mir den Weg ab. Kai-Uwe hatte immer ein paar Paladine, die erwartungsvoll seinen Schritten folgten und sich jedes Mal sichtlich freuten, wenn er seine Schikanen vollführte. Er war kein Junge großer Worte und ging sofort dazu über, meinen Oberkörper unter martialischen Schreien zu malträtieren. Sein erster Schlag traf mich direkt auf den Brustknochen. Dort wo die Sonne sitzt, habe ich später gelernt. Die Sonne schien für mich an jenem Tag jedenfalls nicht. Ich schnappte nach Luft, aber es schien nicht genügend davon da zu sein. Ich fühlte mich, als atmete ich durch einen Strohhalm. Kai-Uwe benutzte seine Fäuste und sah dabei eher aus wie ein verblödeter Boxer als wie ein Meister der asiatischen Kampfkunst. Beinahe hätte ich ihm das damals gesagt, aber ich hatte Angst, er würde dann anfangen, mich auch noch zu treten. Stattdessen hielt ich also besser still. Das tat ich meistens, wenn er mich schlug, weil ich glaubte, er würde dann eher aufhören. Die Tränen schossen mir in die Augen und es kostete mich alle meine Kraft, nicht loszuheulen. Widerstand hielt ich für absolut sinnlos, seine Entschiedenheit lähmte mich – in der Regel schon bevor er das erste Mal schlug und meine Sonne immer wieder untergehen ließ. Als er mich einmal in der Schultoilette vollpinkelte, hielt ich auch still, während sein Urin an mein Hosenbein plätscherte.
Diesmal schien ihn meine Passivität aber noch zusätzlich anzuspornen. Vielleicht erklärte sich sein Enthusiasmus aber auch daraus, dass eine große Gruppe von Mitschülern, nicht nur seine üblichen Sklaven – sogar ein paar hämisch blickende Mädchen waren ausnahmsweise zugegen –, sich um uns versammelt hatte und dem Schauspiel gebannt folgte. Er schlug und schlug und in meinem Kopf schien nur der eine Gedanke immer schnellere Runden zu drehen: „Bitte hör auf!“
Kai-Uwe schleifte mich, nachdem die echolosen Schläge ihn zu langweilen begannen hatten, über den Schulhof, als wäre ich ein zu schwerer Sack Kartoffeln. Meine Hose riss und ich musste meiner Mutter später erklären, was damit passiert war. Ich wählte die Lüge, sie wäre beim Spielen kaputt gegangen, als ich einen Hang hinunterrutschte. So behielt ich meine Demütigung für mich und gab gleichzeitig vor, männliche Freunde zu haben, die mit mir männliche Spiele spielten – zwei Fliegen mit einer Klappe also. Ob meine Mutter mir das glaubte, weiß ich gar nicht mehr. Vielleicht glaubte sie mir keine meiner Lügen. Aber da sie es selbst mit der Wahrheit nicht so genau nahm, beunruhigten sie meine Schwindeleien nicht weiter.
***
Als Kai-Uwe mich damals zu Ende geschleift hatte und auf dem feuchten Asphalt liegen ließ, entstand in der Zuschauermenge ein kurzer Moment gesichtslosen Mitleids. Es war sehr still und keiner schien die Szene verlassen zu wollen. Ich kann nicht genau sagen, warum mir dieses letzte Detail im Gedächtnis geblieben ist, aber es nimmt in meiner Erinnerung fast genau den gleichen Raum ein wie das Geräusch des Straßenbelags, als meine Hose ihn abrieb.
Mit meiner Mutter habe ich heute vor allem deswegen regelmäßigen Kontakt, weil sie mich immer dann auf meiner Festnetznummer anruft, wenn ich gerade nicht damit rechne. Ich bekomme sehr viele Anrufe, weil ich nicht geize, meine verschiedenen Telefonnummern und E-Mail-Adressen zu verteilen. Ich kann es mir von daher gar nicht leisten, das Telefon nicht abzuheben. Und wie man die Rufnummernübertragung einstellt, habe ich nicht herausgefunden. Eine Gebrauchsanleitung lese ich mir jedenfalls nicht durch. Als ich sie neulich wieder aus Versehen an der Strippe hatte, kündigte sie ihre baldige Ankunft in Brüssel an. Sie hatte einen Billigflug von London-Gatwick nach Brüssel-Zaventem gebucht. Einfach so. Eine spontane Idee, wie sie in den Hörer trällerte. Die Stimme meiner Mutter klang so, als würde ein Vogel auf einem kahlen Baum nach langem Warten den Frühling kommen sehen. Ihre brillante Ankündigung, mich besuchen zu kommen, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.
„Ich habe wenig Zeit“, sagte ich kalt.
„Ja, ja ... Das weiß ich doch, mein Junge. Ich werde auch ganz bestimmt nicht lang bleiben. Hab dich doch so ewig lang nicht gesehen. Ich kann mich gar nicht mehr richtig erinnern ...“
„Vielleicht besser ein anderes Mal.“