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»Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.« Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Großmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmaßlichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein. Diese italienische Reise rauscht durch Städte und Wälder, durch Einsamkeit und Feierei in die Abgründe unserer Zeit: Favorita ist ein literarischer Rachekrimi mit eigenwilligem Humor, der Fragen nach Identität, Zugehörigkeit, sexuellem Begehren und patriarchaler Gewalt spielerisch auf den Punkt bringt. »Was für ein urgewaltiger Erzählstrom, was für ein neuer, traumwandlerischer Ton! Eine junge Frau gräbt sich an ihrer weiblichen Linie entlang in die Tiefe, sie sucht nach der Geschichte ihrer Mutter und Großmutter und sie findet zwischen all den Toten und Geistern und zwischen all der Schuld und Scham deren vergessene Schwester, die Schönheit!« Florian Illies »Ein Geistertanz durch Italien, so wild und schön gemalt, wie es nur Michelle Steinbeck kann.« Mercedes Lauenstein
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Favorita
Michelle Steinbeck ist eine Schweizer Autorin. Ihr Debütroman Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch war nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016 und wurde vom Leseklub des Shotts Prison zum Best Book of Edinburgh Book Festival 2019 gekürt. 2018 erschien ihr Gedichtband Eingesperrte Vögel singen mehr. Ihre Bücher und Reportagen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist Kolumnistin der WOZ – Die Wochenzeitung und Mitbegründerin des feministischen Autorinnenkollektivs RAUF in Zürich. Sie lebt in Basel.
»Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.« Mit diesen Worten beginnt Filas Reise von der Schweiz nach Italien. Von dem Land, in dem sie aufgewachsen ist, in das Land, das ihre Großmutter als junge Frau verlassen hat und in das ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Geschichte dieser beiden Frauen nach, zusammen mit ihren Erinnerungen und ihren Begegnungen auf dem Weg: feministischen Widerstandskämpferinnen, faschistischen Deserteuren und dem Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmaßlichen Mörder - und mitten ins Herz des faschistischen Zirkels, der das Land kontrolliert.
Favorita erzählt eine wilde, wütende, spielerische Geschichte, die Fragen nach Identität, Zugehörigkeit, sexuellem Begehren und patriarchalischer Gewalt gegen Mensch und Umwelt auf den Punkt bringt. Eine Lektüre, bei der man den Atem anhält und sich fragt, was zur Hölle man da gerade liest - ein Roman, der einen nicht mehr loslässt und noch lange nachwirkt.
Michelle Steinbeck
Roman
Ullstein
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Die Autorin dankt der Pro Helvetia und dem Fachausschuss Literatur beider Basel für die Unterstützung.Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.park x ullstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
www.parkxullstein.de
Instagram: @parkxullstein
ISBN 978-3-98816-000-3
© 2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
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Autorenfoto: © Yves Bachmann
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
ERSTER TEIL
I
II
III
IV
V
VI
VII
ZWEITER TEIL
Du wachst auf
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
NACHWORT
Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
ERSTER TEIL
Für meine Mutter
In der Küche meiner Großmutter hängt ein lyonerfarbiges Telefon mit Drehscheibe. Es schellt. Ich hebe den Hörer ab und schweige hinein.
Es spricht eine Italienerin. Sie fragt nach meiner Großmutter. Ich reibe mir den Hörer über die Stirn, er ist kühl; ich merke, wie sie darin ungeduldig wird, ich räuspere mich und sage: Meine Großmutter lebt hier nicht mehr, sie lebt gar nicht mehr.
Die Stimme wartet gerade lange genug, um als höflich durchzugehen. Dann sagt sie: Es tut mir leid, ich habe nicht viel Zeit. Sie fragt, ob ich die Tochter meiner Mutter sei. Sie sagt den Vornamen meiner Mutter, Magdalena, und einen Nachnamen, den ich nicht kenne.
Sie sei Ärztin, die Ärztin meiner Mutter, sie sei genauer Leberärztin und habe meine Mutter wegen ihrer Krankheit behandelt. Zirrhose, sagt sie, Schrumpfleber, sogenannte. Sie sei aber nicht deswegen gestorben.
Es tut mir leid, sagt sie, deine Mutter ist gestorben.
Sie macht eine Pause, gerade lang genug, dass mir eine Leber vor Augen treten kann, gebraten, mit Petersilie, und sagt dann: Hör zu, deine Mutter ist gestorben, und sie sagen, es sei wegen der Leber, aber ich kann dir versichern, es war nicht die Leber. Die Leber habe ich persönlich letzte Woche noch gesehen, also geröntgt, und sie war ganz in Ordnung.
Hör zu, sagt sie wieder, es ist am besten, wenn du herkommst. Aber glaub ihnen nicht, wenn sie sagen, es war die Leber. Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.
Sie gibt mir Adresse und Telefonnummer eines Krankenhauses in Neapel und sagt: Sie wollte nicht sterben. Ich habe noch nie eine so um ihr Leben kämpfen sehen.
Ich frage nach ihrem Namen, aber die Leitung ist schon tot.
Ich nicke am Küchentisch vor mich hin.
Gut, sage ich laut, das hätten wir also erledigt.
Zum ersten Mal bin ich froh, dass meine Großmutter nicht mehr hier ist. Ihre größte Angst hat sich erfüllt. Und meine? All die Jahre ist meine Mutter eine Möglichkeit gewesen, eine Aufgabe, die ich aufschob. Nun bin ich sie endgültig losgeworden.
Ich versuche, ihr Gesicht heraufzubeschwören, die Einzelteile zusammenzufügen. Das teerschwarze Haar auftoupiert. Dicke Puderschichten Rouge, falsche Wimpern. Aufgerissene Augen, ein riesiger roter Mund. Und dann die Zähne: lang und vorstehend, richtige Pferdezähne.
Es gelingt nicht.
Ich denke an den Tag, an dem ich meine Mutter zuletzt gesehen habe. Es ist sehr lange her. Ich erinnere mich gut.
Ich kam von der Schule nach Hause und roch sie sofort. Blieb vor der Wohnungstür stehen. Auf dem Treppenabsatz stand eine riesige Plüschgiraffe. Durch die Tür drang unverkennbar sie: die raue Stimme, das hustende Lachen, knallende Schritte. Ich überlegte, nicht reinzugehen, einfach umzukehren, durch die Straßen zu laufen, bis alles vorbei und sie wieder verschwunden war.
Aber ich drückte die Klinke, und da war sie. Lehnte im Türrahmen zur Küche, eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, redete auf meine Großmutter ein. Auf den ersten Blick wirkte sie weniger groß und furchteinflößend, als ich sie in Erinnerung hatte.
Sie stieß einen Schrei aus, als sie mich sah.
Schieß mich tot, rief sie, ist das wirklich meine Filù? Dich hätt ich ja auf der Straße nicht erkannt! Erinnerst du dich, Mamma, wie sie ewig kein einziges Haar auf dem Kopf hatte? Du bist ja ’ne richtige kleine Bombe geworden!
Sie wandte sich an meine Großmutter, die protestierte: War nur ’n Scherz, sie ist ’ne Scheuche, gibst du ihr überhaupt zu essen?
Sie streckte die Arme nach mir aus, griff treffsicher mit je zwei Krallen meine Wangen, kniff fest und drehte das Fleisch, als wollte sie es abreißen.
Daran erinnere ich mich, seit ich denken kann; ihre Besuche waren immer verbunden mit diesem Schrecken und Schmerz. So im Schraubstock konnte ich mich nicht wehren, wenn ihr Gesicht auf mich zukam und meinen verzerrten Mund küsste.
Sie schrie entsetzt auf: ob ich etwa meine Augenbrauen zupfen würde.
Ich sagte: Sicher nicht, ich bin noch ein Kind.
Sie hörte gar nicht zu und meinte, ich hätte schon zu viel gezupft – komm, lass mich dir zeigen, wie es geht!
Ich duckte mich weg, und meine Großmutter, die am offenen Fenster rauchte, sagte gereizt: Jetzt lass doch das Kind erst mal ankommen. Du machst ihr ja Angst.
Magdalena ließ beleidigt von mir ab. Sie meinte, ich solle auf alle Fälle aufpassen und nur die Haare nehmen, die wirklich stören: weil Augenbrauen wachsen nicht nach.
Sie kniff meine Großmutter in die Wange und rief: Ich habe mir leider alle ausgerissen, weil meine Mutter mir das nie gesagt hat.
Meine Großmutter haute ihr auf die Hand, damit sie loslässt, ihre Wange war rot. Magdalena wandte sich wieder mir zu.
Deine sind sowieso perfekt, sagte sie und strich meine Brauen mit den Zeigfingern nach: Das hast du mir zu verdanken. Was hab ich bei der Madonna gefleht: Mach, dass die Kleine nicht kurz und kahl wird wie ihr Vater.
Meine Großmutter zischte: Schrei nicht so! Frau Müller schaut schon aus dem Fenster.
Magdalena lachte: Wir haben doch keine Geheimnisse.
Sie trat neben meine Großmutter und winkte wild auf die Straße: Frau Müller, juhu!
Meine Großmutter schlug das Fenster zu: Bist du verrückt, sie ist jetzt Hausmeisterin!
Eine schreckliche Frau, sagte Magdalena, und meine Großmutter zuckte mit den Schultern. Für einmal waren sie sich einig.
Magdalena schüttelte den Kopf: Wisst ihr noch, wie sie mit dem Besenstiel das Schwalbennest unterm Dach kaputt gemacht hat? Die Vogelbabys lagen tot auf dem Gehweg. Sie hatten noch nicht mal Federn.
Das macht sie jedes Jahr, sagte ich.
Magdalena riss das Fenster wieder auf und rief: He, Zitronengesicht, ja, dich mein ich! Pass bloß auf, dass ich nicht dich mal mit dem Besen vom Dach schubse. Mörderin!
Sie lachte, lehnte sich weit hinaus, pfiff: Wo seid ihr denn alle? Frau Schneider? Will mich niemand begrüßen? Hoi, Signora!
Meine Großmutter zerrte sie vom Fenster weg.
Frau Schneider wohnte in der Wohnung unter uns, sie war auch Italienerin, auch mit einem Schweizer verheiratet gewesen, auch Witwe. Sie kam manchmal auf einen Kaffee herauf, und wenn wir sie auf der Straße trafen, blieben wir stehen und fragten, wie es geht.
Magdalena setzte sich und murmelte: Ist doch kein Verbrechen, wenn ich Frau Schneider Guten Tag sagen will. Die war immer anständig zu mir.
Dann schnellte sie mit einer Hand vor, klemmte mein Kinn zwischen die Finger, zog mein Gesicht nah an ihres heran. So musterten wir uns, bis in die Poren. Ich roch ihr Parfüm und den Rauch an den Fingern, betrachtete die zerlaufene Tusche in den Falten der zarten Haut der Unterlider. Blau gemalte Brauenstriche, die Kluft dazwischen: Zornesfalten. Auf den Nasenflügeln Äderchen, darunter Schweißperlen; Lippenstift, in Furchen geflossen und getrocknet. Ihre Augen hatten etwas Beunruhigendes, sie schwammen und zitterten, bis sie mich abrupt losließ und ausrief: Mamma, die ist so grässlich bleich! Hat sie etwa … etwas bekommen?
Ich versteinerte. An diesem Morgen hatte ich tatsächlich etwas bekommen und war darüber tief verstört. Ich hatte niemandem davon erzählt, die Unterhosen voll blutigem Toilettenpapier und den Rücken voller Krämpfe. Ich war entsetzt, dass es auffliegen könnte, panisch, mit Magdalena darüber sprechen zu müssen. Und schwer beeindruckt, dass sie es mir einfach so angesehen hatte.
Meine Großmutter sagte: Was? Sicher nicht, sie ist noch ein Kind.
Ich musste flüchten, murmelte etwas von einer Verabredung. Magdalena wollte mich begleiten.
Eine Party, rief sie, ich komme mit. Wo geht ihr Jungen heute aus? Vielleicht kenn ich noch wen – warte, ich muss mich umziehen, und du, was trägst du?
Ich antwortete kühl, wählte die Worte mit Bedacht, als wäre sie schwer von Begriff: Wir gehen nicht aus. Wir treffen uns auf der Straße und reden, das ist nicht interessant für dich.
Alles ist interessant für mich, rief sie, du bist so scheißerwachsen, schau dich an, ich fass es nicht.
Sie sah aus, als überlegte sie, in Tränen auszubrechen, und das wollte ich wirklich nicht miterleben.
Ich schlich mich hinaus. Auf der Straße hörte ich vom Fenster ihr Bellen, sie lachte mich aus, wie ich rannte. Als ich heimkam, war die Giraffe weg. Alle Fenster standen offen, es zog, und meine Großmutter fegte durch die Wohnung und tilgte die Spuren. Sie war sehr aufgewühlt. Ich durfte nichts fragen.
Deine Mutter ist verrückt, sagte sie nur, deine Mutter ist gefährlich, ich will, dass sie uns in Ruhe lässt, hörst du, es ist besser für alle.
Wir haben sie nicht mehr gesehen.
Ich hatte erwartet, dass sie zurückkehren würde, so wie ich zurückgekehrt war. Jeden Abend, wenn ich aus dem Hospiz kam, wo meine Großmutter als nacktes Vögelchen lag, rechnete ich damit, sie hier in der Küche vorzufinden. Ich schloss mit klopfendem Herz die drei Schlösser der Wohnungstür auf, auf ihre Fingerzangen gefasst. Ich fürchtete die Begegnung und glaubte an ein Wunder. Meine Großmutter wollte nicht, dass Magdalena informiert wurde; überhaupt sollte niemand wissen, wie es um sie stand. Als sie noch sprechen konnte, erwischte ich sie, wie sie Frau Schneider fröhlich ins Telefon log, dass sie bald nach Hause kommen und keinen Besuch brauchen würde, ich sei ja hier.
Wie sollte dann Magdalena davon erfahren, wo immer sie war? Sie kam auch nicht zur Beerdigung. Eine Nachbarin umarmte mich und sagte, wie tröstend: Sie hat nie zu uns gehört.
Als meine Großmutter gestorben war, kam es mir plötzlich natürlich vor, Kontakt zu ihr aufnehmen. Schließlich war sie alle Familie, die übrig war. Die Angst meiner Großmutter war mir immer übertrieben vorgekommen. Sie schien mir aus denselben Quellen zu kommen wie ihre Furcht vor Hölle und bösem Blick – ich glaubte nicht daran. Magdalena war verrückt, aber gefährlich? Wir hielten unsere Welten getrennt; ich bewegte mich sicher und selbstständig in meiner. Unvorstellbar, dass sie und ihre viel beschworene Unterwelt mich irgendwie gefährden könnten.
Meine Großmutter wäre sicher dagegen gewesen, sie wiederholte, solange sie konnte: Du gehst bald zurück in dein eigenes, schönes Leben.
Ich widersprach ihr nicht und verschwieg, dass ich mein Zimmer in der Stadt aufgegeben hatte, direkt nachdem ich von ihrer Diagnose erfahren hatte. Während sie mich am Telefon beschwor, mir keine Sorgen und schon gar keine Umstände zu machen, packte ich schon meine Sachen. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte ich darauf gewartet, auf einen Auslöser, eine Rechtfertigung, um endlich aufzugeben, alles über den Haufen zu werfen. Mich hielt nichts in dieser Stadt. Ich tat das alles für sie. Mein schönes Leben, das sie sich für mich wünschte – ich erzählte ihr nie, dass ich es aufgelöst hatte, schmerzlos gekündigt wie die unterbezahlten Jobs, die sie sich als Traumberufe vorstellte. Ich konnte ihr lange erklären, dass die Zeiten sich geändert hatten; dass Praktikantinnen weder Lohn noch Ehre bekommen, dass die Uni mit Kreditpunkten zahlte und ich meine Miete nachts in Bars verdiente. Sie wollte nicht hören, dass ein Studium heutzutage nicht reichte, um eine Karriere und einen Sack voll Geld zu machen.
Meine Enkelin, strahlte sie, die erste Studierte der Familie!
Ich durfte mich nicht beschweren.
Sie hatte sich gefreut, als ich nach der Schule für die Universität in die Stadt ziehen musste. Mein schlechtes Gewissen, dass ich sie allein lassen würde, wischte sie mit einer Handbewegung weg. Ich glaube, dass ich studieren konnte, bedeutete für sie, dass sie mich erfolgreich von Magdalenas Einfluss abgeschirmt hatte. Auch ich spürte in der Stadt Erleichterung, dass Magdalena meine Adresse nicht kannte. Und doch begleitete mich eine ständige Unruhe, dass sie plötzlich auftauchen könnte, um mich im unpassendsten Moment vor allen zu entlarven. Sie würde über mein hochgestapeltes Leben hereinbrechen und wüten wie ein Unwetter.
Als Heranwachsende hatte ich mich im Spiegel betrachtet, obsessiv nach ihren Zügen gesucht. Was habe ich von ihr? Eine Zahnspange bewahrte mich vor ihrem Gebiss, meine Großmutter hatte ein Vermögen dafür ausgegeben. Ich überwachte meine Gesten, meine Stimme, meine Handlungen, meinen Körper, meine Gedanken. Würde ich verrückt werden wie sie? Beim kleinsten Verdacht einer Ähnlichkeit trainierte ich mir diese ab. Ich würde mich formen, wie die Spange meine Zähne, dass ich nicht nach ihr wachsen würde. Aber die Zeit verging, und Magdalena entglitt mir, je mehr ich mich zu erinnern versuchte. Wie konnte ich mich mit ihr vergleichen, wenn ich gar nicht mehr wusste, wie sie war?
Die Bilder wurden fahler, bis sie nur noch aus pointierten Erzählungen bestanden. Magdalena wurde zum Phantom, zum wangenzerrenden Schreckgespenst meiner Kindheit. Und jedes Aufrufen einer angeblichen Erinnerung machte sie noch schwächer, falscher, lügenhafter. Die Grenze zwischen wahren und falschen Erinnerungen, meinen und jenen meiner Großmutter, zwischen Fotos und Geschichten, war durchlässig geworden. Das war entspannend, der Gedanke an sie wurde leichter. Sie hatte nicht mehr diese drückende Präsenz, dieses diffuse Gefühl von Schreck und Schmerz und Scham. Sie hatte sich verflüchtigt, selbst in der Erinnerung. Wie eine Tote blieb sie in der Zeit zurück, während wir weitergingen und sie formten, nach unserem Geschmack.
Nach dem Tod meiner Großmutter nahm ich mir vor, Magdalena zu suchen, doch es kam nicht dazu. Wie auch? Sie war verschwunden. In Wahrheit hätte sie längst tot sein können, wer wusste das schon. Ich bemühte mich nicht, sie zu finden. Nur blieb mir die Möglichkeit der Suche lästig im Nacken, ich schob sie hinaus, auf bald, vielleicht.
Nun bin ich befreit.
Was hatte die Frau im Telefon gesagt? Es ist am besten, wenn du herkommst. Sie wurde getötet.
Ich setze einen Kaffee auf. Ziehe leere Flaschen unter dem Küchentisch hervor, schüttle sie, stelle sie zurück. Grabe in den Küchenschränken: Amaretto oder Eierlikör. Ich klemme den Hörer unters Kinn und wähle die Nummer. Tatsächlich, ein italienisches Krankenhaus. Ich frage nach meiner Mutter, Magdalena und der fremde Nachname. Eine Stimme sagt: Ein Attimino bitte, ich schaue nach.
Ich höre eine Tastatur klickern. Dann saugt sie etwas Luft ein, räuspert sich und sagt: Signora Fremdernachname ist vergangene Nacht hier im Krankenhaus verstorben.
Wie?, frage ich.
Hier steht, sie sei ihrer langen Krankheit erlegen, Schrumpfleber, sogenannte. Einen Moment –
Ich höre aufgeregte Stimmen im Hintergrund.
Dann meldet sie sich zurück: Entschuldigung, wer möchte das wissen?
Ihre Tochter.
Die Stimme ruft: Tochter! Wirklich? Madonna.
Und hängt auf.
Der Kaffee kocht über. Ich bleibe sitzen, schaue zu. Wäre meine Großmutter hier, würde sie jetzt ausrufen: Ma! Ma! Magdalena!
So hatten wir ihr Andenken behalten, auf unsere Art. Ein Witz. In unmöglichen Situationen riefen wir sie an wie eine Heilige. Wenn sich eine von uns besonders vergesslich oder schusselig zeigte, tat die andere, als wäre sie ebenso verwirrt, verrückt, indem sie lachend fragte: Ja, Magdalena?
Meine Großmutter hat mir schon als Kind verboten, ihr Schlafzimmer alleine zu betreten. Ich hielt mich daran, auch nach ihrem Tod. Es sollte für immer so bleiben, wie sie es verlassen hatte. Noch während sie im Sterben lag, hatte ich mir versprochen, es diesmal anders zu machen: Sie durfte nicht vergessen werden, kein Stück. Die Erinnerung an sie musste frisch konserviert bleiben: Ich würde sie nicht anrühren, keine Luft ranlassen, sie musste fest verschlossen bleiben. Aber als ich am Tag ihres Todes aus dem Krankenhaus nach Hause kam, war da bereits ein schrecklicher Zauber vorgegangen: Die Wohnung wirkte auf einmal heruntergekommen, zusammengewürfelt, verstaubt. Meine Großmutter starb, und alles, was sie besessen hatte, verlor seinen Glanz. An ihrem lebenden Körper hatten die Kleider Eleganz ausgestrahlt, jetzt wurde mir klar: Das Leuchten ging von ihr aus. Sie erhellte jeden Raum mit ihrer Präsenz; selbst eine Fleischgabel wirkte graziös unter ihrem gewandten Hantieren.
Nachdem sich also das Zuhause meiner Kindheit in eine Ansammlung von Sperrmüll verwandelt hatte, ging ich an ihren Schrank. Verzweifelt wühlte ich in ihren Sachen, um wenigstens hier ein Glühen, ein Zeugnis von ihr zu finden. Doch in den verbotenen Schubladen roch es nach Mottenkugeln. Ihre wehenden Seidentücher waren aus Polyester, das Gold der Ohrclips Plastik, abgeplatzt.
Schuldbewusst hatte ich die Kommode geschlossen und hinter mir ihre Schlafzimmertür.
Nun öffne ich sie zum ersten Mal wieder.
Der Sekretär riecht stark. Nach Politur vielleicht, nach Leim, Briefmarken, altem Papier. Auf der Ablage steht einsam ein Nagellackflakon. Jungle Green. Er war teuer, mein letztes Geburtstagsgeschenk an sie. Ich hatte ihn per Post geschickt, mit schlechtem Gewissen und dem Versprechen, spätestens an Weihnachten zu kommen. Nun drehe ich den Deckel auf und bestreiche mir langsam die Nägel. Ich muss warten, bis sie trocknen. Dann öffne ich die Luke.
Ich finde Kinderzeichnungen, Postkarten, einen Wunschzettel (Liebe Nonna, zu Weihnachten wünsche ich mir: Geld) und jede Menge Zündholzschachteln. Die hat sie gesammelt, auf ihren Carreisen für Seniorinnen eingesteckt, gratis Souvenir. Ich drehe sie einzeln zwischen den Fingern; das ist, was von einem Leben übrig bleibt. Leere Briefchen mit der Werbeaufschrift einer Gartenwirtschaft.
Dann erst ziehe ich die Schuhschachtel mit den Fotos hervor.
Fingerabdrücke, vergangene Gesichter.
Regnerischer Herbsttag am Hafen einer italienischen Küstenstadt. Eine Frau schiebt den Kinderwagen über nasses Kopfsteinpflaster. Sie posiert: Stellt sich auf die Zehenspitzen, drückt die Brust raus, zieht die Augenbrauen hoch. Meine junge Großmutter, Lavinia. Zwei Jungs auf dem Moped johlen ihr nach. Sie hält immer das Kinn hoch, sie ist eine Dame. Ihre Finger sind von der Arbeit geschwollen und gesprungen, aber sie hat Stolz. Für den Gang zum Panificio trägt sie ein pinkes Kostüm, flatterndes Foulard, Ohrclips, offene Sandalen. Faszinierender Hallux.
Anderes Bild, vielleicht derselbe Tag, am Strand. Schäumendes Meer, dunkelfeuchter Sand, angewinkelte Beine in Nylonstrümpfen. Magdalena hat die Schuhe ausgezogen, auch hier: fröhliche Kugel unterm großen Zeh. Sie sitzt samt Strümpfen im Sand, daneben kauert ein interessiertes Kleinkind. Sie schreibt meinen Namen, Zeigefinger im Sand. FILA. Kurz für Filippa, nach meinem Vater. Meine Großmutter wollte nichts von ihm hören; sie gab mir den Namen ihres freien Tags: Domenica, kurz MIMMA.
Das dritte Foto fasziniert mich, seit ich denken kann: Porträt von einem Kind in Schwarz-Weiß. Es trägt eine Schürze, die kurzen dunklen Haare flach an den Kopf geklebt, stechender Blick in die Kamera. Maddalenas erster Schultag, steht auf der Rückseite, auf Italienisch, in der runden Schrift meiner Großmutter. Das Kind schaut sehr ernst. Hier waren sie frisch in die Schweiz gezogen; das war noch bevor ihr Name geändert, eingeschweizert wurde. Meine Großmutter sagte immer, wenn sie dieses Bild anschaute: Sie hatte es nicht leicht im Leben, deine Mutter.
Sie war ein uneheliches Kind, eine Schande. Ihr Vater, mein Großvater, ein Schweizer im Italienurlaub. Nach seiner Abreise merkte meine Großmutter, dass sie schwanger war. Sie schrieben sich Briefe, er versprach: Warte, ich komme euch holen.
Nach sechs Jahren hatte sie das Warten satt, sie packte Koffer und Kind und fuhr zu ihm.
Es gibt nur ein Bild von ihm in der Schachtel. Sepiastichig, von hinten, er steht am Ufer und angelt. Er war ein Trinker, Choleriker – Magdalena hat das von ihm, sagte meine Großmutter.
Ich habe die abstehenden Ohren von ihm.
Er starb kurz vor meiner Geburt, Schrumpfleber.
Das ist eigentlich alles, was ich von ihm weiß. Auch meinen Vater kenne ich nicht, außer die Art, wie meine Großmutter seinen Namen aussprach: Filippo. Als würde ihr die Zunge abfaulen. Mit gesenkter Stimme, als könnte er sie hören.
Sie machte sich Vorwürfe, Magdalena vernachlässigt zu haben; dass sie so geworden war, weil ihr als Kind etwas gefehlt hatte. Sie gab sich die Schuld, Magdalena aus dem Haus und in Filippos Arme getrieben zu haben.
Ich habe sie zu viel auf die Seite getan – das waren ihre Worte.
Und sie erzählte: In Italien habe ich Maddalena immer getragen, wenn wir weite Wege gehen mussten. Hier hatte ich andere Sorgen. Ein neuer Ort, eine fremde Sprache. Wir mussten essen. Auf einmal waren wir nicht mehr zu zweit, da war die ganze Schwiegerfamilie, um die ich mich kümmern musste. Ich sorgte für alle und alles.
Sie schüttelte den Kopf: Heiliger Tresor, dieser Mann hatte nie Geld! Frag nicht, wie viel Geld er hatte, frag, wie viele Schulden! Ich war das nicht gewohnt – ich habe immer wenig verdient, aber nie Schulden gehabt, ich habe gespart. Am Zahltag wartete ich nachts am Fenster, am Morgen kam er nach Hause, sternhagelvoll, hatte den ganzen Lohn verputzt! Ich fing an, Heimarbeit zu machen. Er schimpfte, warf den Korb mit frisch gebügelter Wäsche die Treppe runter: Meine Frau arbeitet nicht.
Manchmal musste ich ihn auch abholen in der Wirtschaft, weil er nicht mehr laufen konnte, was habe ich mich geschämt.
Ja, sagte sie nachdenklich, wenn sie Maddalenas Foto betrachtete, sicher habe ich sie zu viel auf die Seite getan.
Magdalena ist tot, ich sage es laut.
Wieso macht das nicht mehr mit mir?
Ich untersuche meine Füße. Starre auf das Foto am Strand, bis es sich auflöst. Versuche, mich in die Figuren hineinzuversetzen, in diesen Moment. Das war doch ich, warum erinnere ich mich nicht?
Ich würde gern etwas fühlen. Streiche über das Bild von Magdalena als junger Frau, meine Mutter. Nichts. Es passiert nichts. Kein Ergriffensein, kein Überflutetwerden. Ich bin leicht bewegt, wie ein Stück Holz im Ziehbrunnen.
Ich erwache vom Telefonklingeln.
Ein Mann ist dran, vom Krankenhaus, er sülzt herum: Signorina.
Er nennt mich beim fremden Nachnamen, ich sage: Das ist nicht mein Name.
Er bleibt scheißfreundlich: Natürlich, Signorina, entschuldigen Sie. Sie müssen wissen, wir haben Ihre Mutter geschätzt, sie war hier bekannt. Ihr Tod ist ein schreckliches Missgeschick. Leider war sie eine starke Trinkerin, und das hat sie ins Grab gebracht, also fast: Sie ist im Kühlhaus, mit einer kaputten Leber, Schrumpfleber, sogenannte –
Ich unterbreche ihn: Ich mache mich sofort auf den Weg. Ich komme, um meine Mutter zu verabschieden.
Der Zug rattert über die Schienen. In verschlierten Fenstern geht über der milanesischen Peripherie die Sonne unter. Von den Balkonen flattert Wäsche, aufreizend, sich geradezu anbietend, dem Dreck und den Pissepartikeln, die von unserem Zug abspringen wie Flöhe. Milano macht mich immer ganz sentimental.
Der erste Halt jeder italienischen Reise: verstörendes Heimatgefühl. Als würde ich nach Hause kommen. Es reicht schon, dass ich Zugdurchsagen höre, die Namen der Städte – Herzklopfen und heiße Augen. Aufs Peinlichste gerührt.
Meine Großmutter wollte nichts davon hören: Wurzeln, Wurzeln, es gibt keine Wurzeln!
Sie hat sie durchtrennt und verdorren lassen, an einem geheimen Ort, wo ich sie nie finden soll.
Jedes Jahr sind wir nach Italien gereist, aber nie dahin, wo sie herkam, wo Maddalena geboren war.
Ich habe keine Lust, sagte sie nur, dort gibt es nichts, es gefällt mir nicht mehr.
Sie behauptete, es gebe niemanden zu besuchen, keine Freundschaften, keine Verwandten. Ihr älterer Bruder war in die USA ausgewandert, als sie mit Maddalena schwanger war – wegen der Schande, sagte sie. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch klein waren, bei der Geburt eines Bruders, der ein paar Tage lebte und dann ebenfalls starb. Es war ihr letzter Wunsch, dass Lavinia bei der Großmutter in der Stadt aufwachsen sollte, während der Bruder beim Vater auf dem Land blieb. Meine Großmutter erzählte, dass er kilometerweit zur Arbeit laufen musste, barfuß, manchmal lag Schnee.
Es gefiel mir, dass sie bei der Großmutter aufgewachsen war, wie ich. Wenn ich fragte, wie ihre Nonna gewesen war, sagte sie nur: Sie war eine Bigotte, immer mit dem Priester. Und am Tag der Befana stopfte sie mir Kohlestücke in den Strumpf.
Bigotte, sagte sie, sind Frauen, die in der Kirche Pakete für arme Leute packen und dabei über sie lästern.
Aber die Nonna schickte sie zur Schule, mit Schuhen. Und als Lavinia eine Schande wurde, blieb sie bei ihr wohnen, und als die Schande kam, passte die Großmutter auf das Kind auf, während Lavinia arbeiten ging.
Wenn die Nonna nicht gewesen wäre, sagte sie, hätte ich nicht gewusst, was machen.
Ich lechzte nach diesen Geschichten, diesen traurigen Märchen von getrennten Geschwistern, Halbwaisen; von Bigotten und besenfliegenden Hexen. Die Bilder der Armut kamen mir schaurig-romantisch vor: höhlenartige Zimmer mit schwelenden Kohlefeuern; ohne Schuhe durchs Gebirg. Und das Beste: Das war meine Familiengeschichte, das hatte mit mir zu tun; es erzählte mir etwas über mich selbst.
Spannend wurde es, wenn Magdalena dabei war, die allem widersprach.
Quatsch, rief sie, wenn meine Großmutter von ihrer Mutter erzählte: Die ist nicht im Kindbett gestorben – die ist beim Wasserholen gestürzt! Sie war hochschwanger und musste schwere Eimer tragen, sie brach sich dabei den Hals. Sicher, das hat mir der Onkel gesagt.
Dieser Onkel, der Bruder meiner Großmutter, sei, so behauptete Magdalena, auch nicht ausgewandert wegen der Schande, sondern wegen der Armut.
Mit einem leeren Koffer ist er über den Ozean, erzählte sie mit erhobenem Weinglas, und er hat sich selber gesagt: Wenn ich ankomme, will ich ein Auto und eine Frau und einen Teller Spaghetti. Und er hat alles bekommen, nicht wahr? Er ist jetzt ein reicher Mann, dein Bruder. Übrigens hat er mir damals, als er hier zu Besuch war, in der Dusche nachgestellt. Da war ich 13, und ich schrie und machte eine Szene, dass er mich kein einziges Mal mehr anzuschauen traute. Hörst du, Fila, so musst du es machen!
Meine Großmutter tat, als hätte sie nicht zugehört, und nickte nur zerstreut. Sie nahm Magdalenas Erzählungen nicht ernst: Der Alkohol macht wirr, pflegte sie zu sagen, bei Alkoholkranken weiß man nie, was stimmt und was nicht.
Über Italien wollte meine Großmutter nicht reden; sie gab mir Dante und Boccaccio, in deutscher Übersetzung.
Die Kultur ist interessant, sagte sie, die Kunst, das Essen, sonst nichts.
Sie sagte nie: Wir gehen nach Hause.
Wir gingen in die Ferien. Für eine Woche, danach hatte sie genug. An Orte, die an Tourismus gewöhnt sind. Turisti di merda.
Wir gingen im Herbst, das konnten wir uns leisten. Saßen am verwehten Strand, kniffen die Augen zusammen und stellten uns vor, wie es im Sommer aussah. Ich spielte in den leeren Umkleiden, streichelte Pferde im stehenden Karussell. Meine Großmutter konnte nicht schwimmen, wir spazierten im Schaum, am Saum, nicht mehr als knöcheltief.
Genauso sind meine Wurzeln. Oberflächlich, angespült.
Wenn ich sagte, dass ich gerne den Ort sehen würde, an dem sie aufgewachsen war, das Haus, in dem sie Kohle von der Befana bekommen hatte, warf sie das mit der Hand weg. Früher, das interessierte sie nicht. Früher war es so, und es ist heute nicht zu ändern.
Wie war es denn?, rief ich.
Das kannst du dir nicht vorstellen. Früher war die Welt eine andere, anders als heute, total.
Aber wie?
Und sie, gereizt: War alles gut, alle zufrieden.
Warum bist du denn dann in die Schweiz gegangen?
Gekommen, nicht gegangen! Zum Heiraten. Weil dein Großvater ein Schweizer war, darum. Das ist der ganze Grund. Was soll ich noch mehr?
Sie hielt das Früher wie eine ansteckende Krankheit von mir fern, als würde schon nur die Erzählung auf mich abfärben, mich verderben.
Sie sagte nur: Gibt nichts zu erzählen, es ist langweilig. Wie du, wenn du mich so ausfragst, hast du nichts zu erzählen?
Dabei war es das Gegenteil von langweilig, eine schlimme Geschichte. Und ich wollte sie hören, wieder und wieder, in allen Details: Jetzt erzähl doch endlich, die Schande, bist du nicht darum gegangen?
In seltenen Momenten lenkte sie ein und begann zu erzählen:
Es war wegen dem Namen. Wir mussten heiraten, um einen Namen zu haben. Ich hatte einen Namen, aber der war nicht gültig, nur der Vatername war gültig. Wir waren nicht verheiratet, entsprechend war meine Tochter nicht seine Tochter. Deshalb war sie eine N. N. Unehelich geboren, non nominato. Es gab viele N. N.-Kinder in dieser Zeit. Sie haben es sogar aufs Zeugnis geschrieben: N. N. Das war eine Schande, du warst für immer abgestempelt. Ohne Namen warst du niemand. Und Magdalena war schon groß, sie musste bald in die Schule. Also sind wir gekommen zum Heiraten. Und Magdalena bekam ihr Zeugnis mit einem Namen, und ich unterschrieb es. Aber ihr Lehrer schickte es zurück. Er verlangte die Unterschrift des Vaters. Er sagte, meine sei nicht gültig. Stell dir vor!
Und wie war er, mein Großvater?
Gut.
Aber Magdalena hat gesagt –
Er war krank. Wenn er trank, war er nicht er selbst.
Wie sie?
Ja.
Und mein Vater?
Gibt’s keinen.
Dabei wusste ich von Magdalena, dass mein Vater sie vor ihrem Vater gerettet hatte. Siebzehn Jahr, schwarzes Haar, stieg sie in ein gelbes Cabriolet und ließ sich von Filippo entführen. Mein Großvater riss vor Wut das Bücherregal um. Magdalena kümmerte das nicht mehr – sie fuhr bis in die Stiefelspitze, wo sie Dialekt lernte und Filippos Familie Dienerin war.
Meine Großmutter sah mich erstaunt an: Das hat sie dir erzählt?
Ich nickte, sie verzog das Gesicht: Magdalena hat Filippo geheiratet aus Trotz. Weil ihr Vater nicht wollte, dass sie mit einem Italiener zusammen ist. Sie nahm seinen Namen an, um den ihres Vaters loszuwerden. Sie war verrückt. Aber sie hatte auch keine Chance. Vom kranken Vater zu diesem primitiven Mann. Und seine Verwandten, stockkatholisch, Bigotte … Sie hatte keine Chance.
Wieder nickte ich, als würde ich alles verstehen: Ich werde jedenfalls nie heiraten, Nonna.
Ist gut, lächelte sie, wir werden sehen. Ich wollte es auch nicht. Als ich merkte, was dein Großvater für eine Krankheit hatte. Aber Alleinerziehende waren keine Familien. Und die Nachbarinnen sagten: Das Konkubinat ist nicht erlaubt. Und ich, als Ausländerin – die Fremdenpolizei hätte mich holen können, wenn jemand reklamiert hätte. Zurück zur Großmutter wollte ich nicht. Also heirateten wir, schnell-schnell. Wie jede Frau habe ich gehofft, es wird besser, aber es wurde immer schlimmer.
Ich hing an ihren Lippen, bis sie sich besann und die Geschichte unterbrach: Und ich bin geblieben, und jetzt bin ich hier. Jetzt sind wir fertig, es ist vorbei. Wir müssen essen.
Und wenn ich protestierte, drehte sie mir den Rücken zu und rührte wild im brodelnden Sugo: Es reicht, ich will dich nicht belasten.
Ah, dabei wollte ich genau das: belastet werden! Ich fühlte mich, als könnte ich jederzeit wegfliegen, mich auflösen, als wäre meine lückenhafte Existenz ohne Gewicht, nicht echt.
Ich gab ihr zu verstehen, dass ich mich ohne Wissen um meine Vergangenheit nicht entwickeln könnte, dass ich eine Verwurzelung in der Welt brauchte, um wachsen zu können.
Sie wurde wütend. Ich sei nur neugierig und brauche gar nichts, ich hätte keine Ahnung, was gut für mich sei, ihre Vergangenheit sei jedenfalls nicht meine und die meiner Mutter schon gar nicht, ich solle mich gefälligst auf mein eigenes Leben konzentrieren usw.
Ich schämte mich. Sie hatte recht: Ich bin nicht dabei gewesen, es ging mich nichts an. Wohl sollte ich froh darüber sein und ihren Entscheid respektieren: Sie hatte die Verbindung zu ihrer Vergangenheit gekappt. Die einzigen Zeugen der Wundversiegelung waren der Hallux und abgebrannte Zündhölzer – meine Erbschaft. Und doch spürte ich, dass da mehr war.
Noch immer kommt es mir vor, als sei diese Vergangenheit, ihre Vergangenheiten, irgendwie in mich übergegangen, als hätten sie auf mich abgefärbt.
Jede Italienreise ist für mich Suche und Zeitmaschine. Epochen und Städte vermischen sich; Hinweise, Spuren, Erinnerungen, ich sehe sie überall. Weil der echte Ort fehlt, werden alle italienischen Orte zu heiligen Ausgrabungsstätten meiner Familiengeschichte – und alle Menschen zu möglichen Verwandten.
Ich steige in Milano aus dem Zug, betrachte die Szene am Gleis. Frauen verabschieden sich vor der piepsenden Zugtür, andere blicken suchend umher; manche laufen ungerührt zum Ausgang. Der Schaffner pfeift, eine Dame mit hohen Absätzen tackelt hastig heran, er winkt sie rein. Ich stehe allein und schaue ihnen nach. Frisuren, Gesichter, Gesten, Gang: Lavinia und Magdalena. Wenn ich die Augen schließe, höre ich sie: Das sind ihre Stimmen. Das könnten ihre Schwestern sein, ihre Tanten, Cousinen – oder meine! Diesen Frauen will ich folgen wie ein streunender Hund; meine Nase zuckt nach Kindheitsgerüchen, die ihnen hinterher übers Gleis wehen: Javel und Löffelbiskuits.
So hängt sich mein lächerliches Herz an faschistische Bahnhöfe. Ergriffen wandle ich durch die Hallen und fühle mich jedem Kaffeeverkäufer so wahnsinnig verwandt. Der verwechselt meine hochtrabenden Gefühle als Aufruf zur Anzüglichkeit – und ich, gerührt von jedem Anerkennen meiner italienischen Existenz, tausche es großzügig um in ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ich setze mich zu ihm an die Bar, bis mein Anschlusszug auf der Abfahrtstafel erscheint. Er scherzt, ich lache. Freue mich, dass ich ihn getäuscht habe, mit meinem Aussehen, meiner Aussprache, meinem Auftreten. Ich blende mich selbst, erkenne mich nicht wieder: Sobald ich Italienisch rede, ist mein Körper verwandelt; meine Stimme höher, mein Lachen schmeichelnd, meine Arme fliegen – wer bin ich?
Ich passe mich an wie ein Chamäleon. An der Oberfläche.
Die Sprache habe ich mir selber angefälscht. Lavinia und Magdalena sprachen Italienisch, aber selten untereinander und nicht mit mir. Als ich klein war, sang mir meine Großmutter Lieder aus ihrer Kindheit, Gebete und Ringelreihen. Ich ritt auf ihren Knien zum Lied vom bösen Mann, der sich in Häuser schleicht und Kinder stiehlt – das war der Moment, wo sie die Beine spreizte und ich lachend in die Öffnung fiel.
In den Ferien schauten wir italienisches Fernsehen, und sie übersetzte Donald Duck, der hier Paperino hieß. Er planschte verzweifelt im Wasser und quakte, mein erstes italienisches Wort. Aiuto.
Hilfe, sagte meine Großmutter, das wichtigste Wort überhaupt. Wenn du in Not bist, schreist du es, so laut du kannst, verstanden?
Ich lachte und rief, aiuto, aiuto, wie der spotzend ersaufende Paperino im Brunnen.
Meine Großmutter sprach Italienisch mit Frau Schneider, wenn diese vorbeikam, um heimlich zu rauchen. Ich lauschte den Klängen und behauptete, alles zu verstehen: Sie brauchte Pause von ihrem Mann, so viel war klar.
Einmal war Frau Schneiders Bruder aus Italien zu Besuch. Er puffte meine Großmutter in die Seite und lachte: Was ist, hast du vergessen, woher du kommst? Wieso sprichst du keinen Dialekt?
Sie winkte ab, aber sagte nicht mehr viel an diesem Tag.
Als ich älter wurde und sie bat, mit mir italienisch zu reden, hörte sie jeweils nach zwei Sätzen wieder auf: Ich kann’s nicht mehr, behauptete sie, ich hab’s verlernt.
Dabei wollte sie kein Chamäleon sein. Sie hatte ihr eigenes widerspenstiges Deutsch, mit starkem Akzent und konsequent italienischer Syntax. Schweizerdeutsch war ihr zuwider, in boshaften Momenten zog sie mich damit auf. Sie äffte mich nach, lachte: Wie du redest, was für eine hässliche Sprache.
Bei ihrer Ankunft in der Schweiz hatte sie sich geschworen: Niemals werde ich so sprechen wie die Leute hier, niemals in meinem Leben.
Diese Geschichte erzählte sie gern und dramatisch: Wie sie am ersten Morgen in der Schweiz die Nachbarinnen beim Wäscheaufhängen im Hof hörte. – Ich dachte, ich hör nicht recht! Meine Güte. Es hat mich schockiert! Wie reden die? Krkrkrkkk.
Sie fasste sich heftig an den Hals: Hier hat es mir wehgetan und hier! Es war entsetzlich. Und dann diese Stille. Im ganzen Dorf war es so still. Keine Kinder, keine Autos, sogar ein Mofa war eine Seltenheit. Weißt du, wenn du aus einer Stadt kommst im Süden – ich dachte, ich sterbe hier. Ich kann hier nicht weiterleben. Meine erste Stimme war: weg.
Aber sie ist geblieben. Und weil ihr Mann sich was darauf einbildete, gegen die sogenannte Überfremdung zu sein, und also das Italienisch in seinen Vierwänden verbot, so hat sich Lavinia ihre eigene Sprache erfunden. Auch mit Magdalena sprach sie so. Jedenfalls bis Streit ausbrach, dann explodierte Magdalena in unverständliche Flüche, und Lavinia zischte auf Italienisch: So sprichst du hier nicht, nicht in meinen Vierwänden. Schämst du dich nicht für diesen vulgären Dialekt?
Und Magda schrie: Du bist schlimmer als Pappi!
Meine Großmutter beteuerte, sie habe ihren Dialekt schon als junges Mädchen säuberlich abgelegt. Da legte sie großen Wert drauf. Dass Magdalena über ihre Männer mit der Zeit verschiedene süditalienische Dialekte beherrschte – zumindest im Fluchen –, provozierte sie. Manchmal denke ich, Magdalena heiratete Männer nur zu diesem Zweck.
Ich wünsche mir nichts mehr als einen Dialekt, je dreckiger, desto besser. Stattdessen habe ich ein seichtes Schulitalienisch, in das ich Lavinias Melodie lege. Damit mogle ich mich durch flüchtige Unterhaltungen. Die meisten können den Klang nicht zuordnen, aber sie nehmen es mir ab. Nur wenn das Gespräch komplexer wird, wenn ich dem Kaffeeverkäufer meine Herkunft erzählen will, gerate ich ins Schlingern. Vertrocknete Hirnwurzeln laufen ins Leere – ich bin entlarvt: Turista di merda.
Zum Glück wird nun mein Zug aufgerufen, Couchette in den Süden. Ich stolpere Richtung Ausgang, winke dem Barista, flüstere unhörbar: Ciao, Cousin.
Im Schlafwagenabteil trügt noch der Schein. Wir sitzen steif auf den schmalen Bettbänken, versuchen, einander nicht zu berühren. Wir sind zu fünft, die Vorstellungsrunde ist durch: zwei Ganoven, die zum Pferderennen fahren; eine Lehrerin kurz vor der Pension; ein Matrose auf Landgang. Ich murmle etwas von Familienbesuch. Warum nicht?
Der Seemann sieht aus wie Roberto Benigni in Coffee and Cigarettes, und er verhält sich auch so. Keine halbe Minute hält er es ruhig auf dem Sitz aus. Er trommelt mit den Fingern auf seinen Knien herum, springt endlich auf, stürzt in den Flur, raucht hastig, stolpert zurück ins Abteil, die Kippe klebt ihm am Schuh. Er wühlt in seiner Tasche, zieht eine Packung Nastücher heraus, schafft es in seiner Fahrigkeit, alle auf einmal rauszureißen und im Abteil herumfliegen zu lassen. Sein Kopf zuckt wie der einer Taube, ruckt aus dem Türspalt, hält Ausschau nach dem Schaffner, ruft ihn halblaut: ò, Signore, ò!
Wir brauchen Leintücher, wiederholt er wie gestochen, Leintücher.
Dabei ist es noch früh. Die Kriminellen spielen Karten auf ihrer Bank, legen dort, wo zwischen ihnen ein freier Platz ist. Ich teile meine Bank mit der Lehrerin und dem zappelnden Matrosen. Dieser beugt sich vor, stößt mit dem Fuß gegen die am Boden stehende Altfrauentasche, stellt sie umständlich wieder auf, klaubt hektisch die herausgekullerten Utensilien vom klebrigen Boden: Halspastillen, Feuchttücher, Zahnpasta, ein Rosenkranz.
Auch das noch, denke ich, eine Bigotte.
Die Bigotte nimmt die Tasche auf den Schoß und faltet darüber die Hände. Der Matrose krümmt wieder seinen Oberkörper zur gegenüberliegenden Bank, interessiert am Spiel der anderen. Er schnauft so heftig, dass die Karten aufflattern.
Òo!, rufen die Gauner böse.
Zum Glück kommt der Schaffner mit dem Bettzeug. Der Matrose nimmt ihm den Stapel ab und besteht darauf, all unsere Betten zu machen. Er schüttelt die Kissen und Decken aus den Plastikverpackungen auf seinen Sitz und klappt, ohne zu fragen, das oberste Bett runter. Er reibt sich die Stirn, das Brett hat ihn beim Runtersausen getroffen. Dann wirft er die Sachen hoch, ein Kissen fällt zu Boden. Die Lehrerin und die Kriminellen atmen gefährlich ein.
Ich sage schnell: Das nehme ich. Kein Problem.
Ich werde es sowieso nicht brauchen, da ich mit dem Kopf auf meiner Tasche schlafe. Die können bei ihrem Pferderennen schön das Geld der Lehrerin verwetten; meines kriegen sie jedenfalls nicht. Das hat mir meine Großmutter von früh an eingeschärft: Traue nie fremden Leuten.
Immer wenn ich Nachtzug fahre, fällt mir Magdalena ein, unsere letzte Reise zusammen. Zu dieser Zeit hielt sie sich bereits von unserem Leben fern. Bis sie jeweils aus dem Nichts auftauchte und tat, als wäre nichts geschehen.
Es war Beginn der Herbstferien, der Zug stand noch im Bahnhof; wir verstauten gerade das Gepäck im Abteil, als sie vor unserem Fenster erschien. Meine Großmutter zog reflexartig den Vorhang zu. Ich hielt die Luft an. Wir hörten Magdalena den Schaffner anschreien: Halt! Wehe, du schließt die Scheißtür vor meiner Nase, ich dreh dir den verfluchten Hals um. Halt! Ich warne dich, warte oder – Danke, Signore, danke tausend, und der Koffer? Ganz liebenswürdig, sehr freundlich, wie heißt du, mein Lieber?
Da klopfte es auch schon an die Abteiltür. Meine Großmutter reckte das Kinn und ordnete das Gesicht.
Neben dem Schaffner stand Magdalena, trotz Nachtzug mit Sonnenbrille und Kopftuch.
Gehört sie zu Ihnen?
Magdalena wartete keine Antwort ab, stöckelte ins Abteil, ließ sich neben mich fallen, drückte meinen Kopf in ihren Schoß und tätschelte mir fest die Wange.
Überraschung!
Sie roch nach Rauch, nach nicht geduscht.
Ich komme mit, sagte sie und zog an meiner Wangenhaut, na, wie findest du das?
Der Schaffner wand sich: Sie hat noch kein Billett.
Meine Großmutter bezahlte den Schaffner und bat ihn um ein weiteres Laken. Er nickte und ging rückwärts aus dem Abteil, zog sorgfältig die Türe zu.
Meine Großmutter schob den Riegel vor und fuhr Magdalena flüsternd an: Was soll das, bist du konvertiert? Zieh sofort das Kopftuch aus.
Magdalena tat es, mit einem Schulterzucken. Unter Sonnenbrille und Stoff erschienen blaue Flecken. Meine Großmutter schloss die Augen. Dann fasste sie Magdalena am Handgelenk: Wie hast du uns gefunden?
Frau Schneider hat gesagt –
Weiß er, wo du bist?
Sie schüttelte den Kopf, wühlte in der Handtasche, zündete sich eine Zigarette an.
Ich berührte mit dem Finger ihr Kinn und sagte: Tut es weh?
Sie blies halb hustend den Rauch aus: Es geht mir schon viel besser. Jetzt, wo ich dich sehe.
Das Wetter war schlecht in diesen Ferien, es regnete, wir saßen in der Wohnung und froren. Auch wenn Magdalena sich ständig beschwerte und behauptete, sie würde gleich ihre Sachen packen und abhauen, hoffte ich, dass sie bleiben würde. Die ersten Tage waren vergangen, in denen wir sie mit angehaltenem Atem beobachtet, uns nur mit äußerster Vorsicht bewegt oder gesprochen hatten, aber nichts geschah. Sie explodierte nicht. Es schien, als würde sie sich Mühe geben, oder mehr noch: Sie wirkte aufgeräumt. Ich fing an, mich zu entspannen. Während Lavinia kochte, sahen wir fern, Magdalena auf dem Sofa, ich auf dem Teppich, sie tippelte mit den Zehen über meinen Rücken.
Wisst ihr noch, sagte Magdalena, als wir alle zusammengewohnt haben?
Meine Großmutter tat, als hätte sie nichts gehört. Ich schaute in den Fernseher und wackelte wie zufällig mit dem Kopf.
Meine Großmutter fluchte einen abgebrochenen Fluch, ihr Aberglaube hielt sie davon ab, richtig zu fluchen. Sie hatte vergessen, Petersilie zu kaufen.
Mimma, kannst du welche holen?
Magdalena zog mich hoch: Gehen wir zusammen.
Es hatte aufgehört zu regnen, im Dorf war Markt. Ich genoss es, mit ihr unterwegs zu sein, allein. Magdalena sprach mit den Marktleuten, als würde sie sie kennen, diskutierte und lachte mit ihnen. Sie wollten wissen, ob ich ihre Tochter sei, und sie sagte: Natürlich, schaut sie doch an!
Ich erinnerte sie an die Petersilie, und sie rief aus: E già! Prezzemolo!
Sie hatte so laut geschrien, dass Leute die Köpfe nach uns drehten. Magdalena bleckte die Zähne: Ein komisches Wort, findest du nicht? Prezzemolo.
Dann zeigte sie auf einen vorbeigehenden Jungen in meinem Alter, riss meine Hand hoch, schwenkte sie wild und rief: Ciao, Prezzemolo!
Ich schloss erschrocken die Augen, sie lachte, bis sie nur noch husten konnte.
Auf dem Heimweg meinte sie: Das war lustig, jetzt brauche ich einen Kaffee. Kommst du mit?
In der Bar waren nur Männer. Einer strich mir über den Kopf und zahlte mir eine Cola, ich mochte ihn. Magdalena kniff mich in die Wange und lachte: Die fängt schon an, mir Konkurrenz zu machen!
Mein Gesicht wurde heiß. Ich lächelte ins Leere, während sie mit ihm schäkerte, sie verstanden sich gut. Als die Cola ausgetrunken war und das Eis geschmolzen, nahm ich die Einkäufe und stand auf. Magdalena blieb sitzen und rückte näher zu ihm. Er gab ihr ein Plastiktütchen, streichelte dabei ihre Finger.
Geh schon mal vor, sagte Magdalena zu mir, ich komme gleich nach.
Was ist das, fragte ich, und sie lachte: Prezzemolo.
In dieser Nacht wachte ich auf, weil Magdalena schrie. Sie wand sich im Bett, stöhnte wie ein Tier, sie wolle sterben. Meine Großmutter packte mich: Was ist passiert? Was habt ihr gemacht?
Ich riss mich los und versteckte mich im Schrank. Drückte den Kopf zwischen die Knie, um nicht zu hören, wie sie schrien, eine besinnungslos vor Schmerz, die andere voll Wut und Angst. Irgendwann kamen Sanitäter, hievten Magdalena auf eine Bahre. Meine Großmutter entschuldigte sich für ihre Tochter, die sich wehrte und spuckte, an Sanitäterarmen rüttelte, an Haaren riss. Sie wollten wissen, was sie genommen hatte. Lavinia riss den Schrank auf, schüttelte mich, so hatte ich sie nie gesehen.
Ich weiß es nicht, ich war nicht dabei! –
Ich rannte aus dem Haus und ans Meer. Es regnete, der Wind klatschte mir die Haare ins Gesicht, ich betete zur Madonna: Lass sie nicht sterben, noch nicht.
Am nächsten Tag holten wir sie aus dem Krankenhaus ab. Sie war vergnügt und machte sich schön, abends traf sie sich mit einem Sanitäter.
Sie kam nicht zurück bis zum Abreisetag, wir fuhren ohne sie nach Hause.
Die Bigotte wälzt sich neben mir, wir haben je die oberste Liege. Die anderen Betten sind leer. Die Ganoven ziehen durch den Zug, und der Matrose steht im Flur und raucht. Im Abteil drückende Hitze, seit einer Weile stehen wir. Eine Fliege surrt an der Scheibe. Ich bin unendlich müde.
Als Kind war ich im Halbschlaf oft in einem quälenden Gedankenspiel gefangen: Wir stehen zu dritt an einer Klippe, meine Großmutter, meine Mutter und ich. Eine muss ich runterstoßen, ich muss wählen. Wenn ich mich weigere oder mich selbst opfere, werden wir alle drei in den Tod gestoßen.
Wenigstens muss ich mich nun nicht mehr entscheiden. Nicht, dass es mir jemals schwergefallen wäre.
Ich drehe mich auf meiner Pritsche zum Fenster und strecke die Finger durch den Spalt wie eine Gefangene. Dort sind Stimmen, Männerlachen, ein anderer stehender Zug. Er seufzt tief.
Ich schließe die Augen – das Gefühl zu fallen. Die Lider springen wieder auf, wie bei einer blöden Puppe. Seit meiner Kindheit verfolgt mich dieser wiederkehrende Traum: Ich falle in einen Brunnenschacht, beim Aufschlagen schrecke ich auf.
Die Fliege wird lauter, lästig, der Zug steht noch immer. Ich fasse mir an den Hals, spüre meinen Herzschlag. Unheimliches Geräusch. Das kann keine Fliege sein. Ich lache auf, als ich verstehe: Es ist die Bigotte. Sie schnarcht, nein, sie röhrt; ein Wunder, dass sie nicht aufwacht davon.
Dreh dich um, flüstere ich, dreh dich auf die Seite.
Sie denkt gar nicht dran, wird immer wilder, pfeift und gurgelt. Ihr Gesicht ist im Schatten, ich sehe nur den Bauch blähen und einfallen, geschwollene Finger gefällig darüber verschränkt. Da ist nichts Menschliches mehr; die Lehrerin ist eine riesige weiße Made geworden, die sich hier neben mir verpuppt, geräuschvoll ihre abstoßende Metamorphose zum aasfressenden Falter vollzieht –
Endlich setzt ihr Atem aus, mehrere Takte Stille. Ich halte die Luft an, mit ihr, bis sie grunzt. Ich betrachte sie voller Abscheu. Wenn sie doch nur ganz aufhörte zu atmen.
Ich bin zu gut erzogen, um ihr ein Kissen an den Kopf zu schleudern, außerdem fürchte ich, sie würde weiterschlafen. Man müsste sie schütteln, aber ich traue mich nicht einmal, mich zu räuspern. Verfluchte Höflichkeit! Ich würde sie mit ihrem eigenen Kissen ersticken, wenn ich nicht so scheißfreundlich wäre.
Der Zug ruckelt und fährt langsam wieder an. Das Schnarchen pendelt sich ein mit dem Rattern des Zuges. Durch die Wand höre ich Kinderjammern im Abteil nebenan und eine Mutter, die beruhigend ssscht.
Ich taste nach der Tasche unter meinem Kopf und ziehe etwas heraus. Ein Briefumschlag, adressiert an mich. Darin ist ein Polaroidfoto. Magdalena trägt einen weißen Westernhut. Sie ist älter geworden. Die Arme um je einen Typen gehängt, bleckt sie in die Kamera. Im Hintergrund eine Bar. Laut Datum am untern Rand ist das Bild vor weniger als einem Jahr gemacht worden.
Fila, Filissima,
Dein Brief! Wonderful, würden die Amerikaner sagen. Heute will ich dir etwas erzählen, was dich interessieren wird. Am Tag, als du geboren wurdest, war mein Schlafzimmer, wo heute dein Zimmer ist. Ich schlief damals mit dem Kopf gegen die Türe, und ich schrie so sehr, die Nachbarn holten die Polizei. Stell dir vor! Mami hielt dich als Erste im Arm. Sie hatte damals noch richtige schwarze Haare.
Ich bin in Italien geboren! Mit viel Marsala zwischen den Wehen. Siehst du, das war unsere Mami! Leider habe ich den gleichen miserablen Charakter wie sie. Sieben Ehemänner können es bestätigen. Mit dem letzten liege ich in Scheidung, leider will er nicht. Ich sage: sur le prochain!
Dass du mich nicht unterrichtet hast, ob dem Status meiner Mami, hat mir wehgetan. Sie selber sagte mir in unserem allerletzten Telefonat wortwörtlich: Bleibe nur in Napoli. Es war nicht, dass sie mich nicht mehr liebte. Sie wollte nicht, dass ich sie so sehe.
Liebe-Liebe-Liebe. Stolz-Stolz-Stolz.
Nun, dieses Schreiben diktieren sie und Pappi.
Pappi war ein Menschenfreund und Humanist!
Mami rumorte hier nach ihrem Tod, bis ich zu ihr ans Grab ging. Sie hatte immer den dicksten Schädel – la coccia dura!
Juchallah wir uns in diesem Zusammenhang wieder versöhnen! Mir soll es recht sein. Juchallah!
PS: Mami ist ein Engel geworden! Einmal hat sie mich beim Vorbeifliegen gestreift. Ich konnte richtig ihre Federn spüren. Che reqiem sunt in pace. Amen.
Der Brief lag vor ein paar Wochen im Briefkasten meiner Großmutter. Unfrankiert, ungestempelt, ohne Absender. Als wäre sie mal eben vorbeigekommen und hätte ihn heimlich eingeworfen. Wollte sie beweisen, dass sie wirklich beim Grab gewesen war? Ich glaubte kein Wort. Also hatte sie jemanden geschickt. Ich fing an, die Türschlösser zu prüfen; meine Großmutter hatte drei. Traue keinen fremden Leuten.