Federlos - Uwe Krüger - E-Book

Federlos E-Book

Uwe Kruger

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Beschreibung

"Federlos" ist ein raffiniert konstruierter Hessen-Krimi, dessen Handlungsstränge auf einen überraschenden Höhepunkt hinführen. Ein spannend erzählter Science Thriller mit lebensnahen Charakteren und einem außergewöhnlichen Thema: ein Muss für alle Birder, Ornithologen und Krimifreunde! ==> Das Buch wurde in die Longlist des tolino media Preis 2023 aufgenommen. <== Der Mord an einem Ornithologen gibt Kriminalkommissarin Karola Bartsch Rätsel auf: In einem Frankfurter Pharmaunternehmen liegt eine übel zugerichtete Leiche, daneben zuckt ein Ziegenmelker mit blutigem Schnabel. Exotische Vögel flattern hektisch in ihren Laborkäfigen und die zahlreichen verdächtigen Mitarbeiter verhalten sich nicht weniger seltsam. Während die Kommissarin und ihr Team in der Mainmetropole ermitteln, geht Ex-Drogenfahnder Karsten einen ganz anderen Weg. Er reist in die Vergangenheit des Opfers, bis er selbst zum Gejagten wird.

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Inhaltsverzeichnis

1

Sonntag, 17. Mai, 20.30 Uhr

2

Montag, 18. Mai, 05.01 Uhr

3

Montag, 18. Mai, 05.03 Uhr

4

Montag, 18. Mai, 06.30 Uhr

5

Montag, 18. Mai, 10.35 Uhr

6

Montag, 18. Mai, 10.55 Uhr

7

Montag, 18. Mai, 14.12 Uhr

8

Montag, 18. Mai, 15.08 Uhr

9

Montag, 18. Mai, 16.28 Uhr

10

Montag, 18. Mai, 18.00 Uhr

11

Dienstag, 19. Mai, 06.21 Uhr

12

Dienstag, 19. Mai, 09.03 Uhr

13

Dienstag, 19. Mai, 15.03 Uhr

14

Mittwoch, 20. Mai, 07.02 Uhr

15

Mittwoch, 20. Mai, 19.43 Uhr

16

Donnerstag, 21. Mai, 00:22 Uhr

17

Donnerstag, 21. Mai, 08.24 Uhr

18

Donnerstag, 21. Mai, 15.10 Uhr

19

Freitag, 22. Mai, 09.02 Uhr

20

Freitag, 22. Mai, 12.22 Uhr

21

Freitag, 22. Mai, 15.28 Uhr

22

Freitag, 22. Mai, 16.53 Uhr

23

Freitag, 22. Mai, 23.40 Uhr

24

Samstag, 23. Mai, 00.15 Uhr

25

Samstag, 23. Mai, 10.52 Uhr

26

Zwei Wochen später

Du willst noch mehr Ebbelwoi und schräge Vögel?

Federlos

Uwe Krüger, geboren und aufgewachsen in der Mainmetropole, studierte Biologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Langjährige Mitarbeit bei einem weltweit agierenden Großhandel für Aquarienfische und als Marketing-Manager für ein internationales IT-Unternehmen. Mit seiner Familie wohnt er im badischen Odenwald in Sichtweite von Fuchs und Rotmilan, kehrt aber immer wieder gerne zum Schoppen und Shoppen in seine hessische Heimatstadt zurück. In seiner Freizeit sucht er seltene Vögel und Ideen für den perfekten Mord.

Neuigkeiten von und über den Autor unter www.frankfurterkrimis.de und www.wortgebildet.de

Jonas Torsten Krüger kam ebenfalls in der Goethestadt zur Welt, studierte dort und in Marburg Germanistik, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Botanik. Nach dem Lesebuch der ökologischen Literatur »unter sterbenden bäumen« von 2001 veröffentlichte er Kinder- und Jugendbücher, Fantasy und historische Romane. Mit der hohen Kunst der Ornithologie kam er erstmals während des Zivildienstes auf Norderney in Kontakt – seit dieser Zeit übernimmt er immer wieder einmal Brutvogelkartierungen oder Beringungsaktionen.

Mehr Infos und tolle Schreibtipps von Jonas findest du hier: www.einbuchwiekingsturm.wordpress.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Krüger & Krüger

Federlos

Ein Vogelkrimi

SCIENCE-CRIME

www.anostomus.com

Impressum:

© 2023 Anostomus Verlag

Herdweg 31

69429 Waldbrunn

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Carlos Westerkamp und Uwe Krüger

ISBN eBook: 9783757930547

Neuauflage der Originalausgabe von 2015

erschienen bei emons unter dem Titel „Die Tränen der Vögel“

Copyright der Neuausgabe 2023 by Uwe Krüger und Jonas T. Krüger

Uwe U. Krüger widmet dieses Buch

allen Naturwissenschaftlern,

denen Erkenntnis wichtiger ist als Anerkennung,

und allen schrägen Vögeln in Frankfurt.

Jonas T. Krüger widmet dieses Buch

wie immer und stets seiner Iralyra,

seinem Freund Gerd, der das Abenteuer

Norderney erst lebendig machte,

sowie Accipiter nisus, dem Vogel des Jahres 2015.

Blackbird singing in the dead of night

Take these broken wings and learn to fly

All your life

You were only waiting for this moment to arise.

Blackbird singing in the dead of night

Take these sunken eyes and learn to see

All your life

You were only waiting for this moment to be free.

Paul McCartney

1

Sonntag, 17. Mai, 20.30 Uhr

Sie umkreisen sich, hektisch atmend, die Augen starr, kein Blinzeln erlaubt. Nervöses Schlucken, höhnisches Aufplustern. Die beiden Kämpfer belauern einander im grellen Licht der Scheinwerfer, suchen in der Deckung des Gegners nach einer Blöße. Endlich stürmen sie aufeinander los, ohne Plan um sich schlagend, jung und wild. Von den Zuschauerbänken stürzt Gelächter und Grölen zu ihnen herunter, oben sitzt das Publikum und schaut zu mit aufgerissenen Augen, grinsenden Lippen. Hände schieben sich Geldscheine zu oder halten Bierflaschen.

In der Arena unten ächzen sie, belagern sich wieder und scharren im Sand. Die anfeuernden Rufe werden lauter: Das Publikum will etwas sehen für sein Geld.

Ein zweites Aufeinandertreffen, endlich. Begeistertes Brüllen in den Rängen. Schlagen und Hacken, das erste Blut. Dann trifft einer der spitz zugefeilten Stahlbolzen, die an den Beinen befestigt sind, die Brust des Gegners. Noch mehr Blut. Mehr begeisterte Schreie vom Publikum. Aus der Wunde in der Brust spritzt rote Flüssigkeit, das Krächzen bleibt in der Kehle stecken. Schmerzen überall. Der Tod kommt. Und von den Rängen der Beifall, denn der Kampf ist entschieden. Dann aber eine unerwartete Pause im Spiel, das Publikum in der Arena verstummt. Über den beiden Gegnern – der eine stolz die Brust aufgeplustert, der andere verblutend am Boden – greift groß und mächtig die Hand eines Gottes hinunter. Packt den Verletzten, vorsichtig, fast zärtlich, hebt ihn hoch, schmiert sich sein Blut in die Finger.

Karsten drückte den verletzten Vogel an seine Brust. Wut und Furcht hielten sich die Waage – wie konnten diese Typen nur. Und wie konnte er nur: Hier hereinplatzen und den Rächer der Tiere geben. Karsten umklammerte den Vogel, spürte das Pochen des kleinen Herzens durch Federn und Hemd hindurch, starrte auf die lädierte Nickhaut, hinter der ein dunkler Fleck wuchs, sich von der Pupille löste und als klebriger Tropfen im Gefieder hängen blieb. Der Hahn weinte Blut.

Karsten blickte verächtlich in die Runde aus Halbbesoffenen und Wettfreaks.

Hahnenkämpfe.

Illegale Hahnenkämpfe.

»He, Arschloch«, rief einer aus dem Publikum, eine leere Bierflasche in goldberingter Fingerhand. »Was soll das«, brüllte er weiter. »Die Show ist noch nicht zu Ende!«

Karsten spuckte aus und blinzelte gegen die Scheinwerfer an. Kurz vor neun in dieser Mainacht, ein Hauch von Dämmerung hing noch im Himmel. Das elektrische Licht blendete. »Und ob die zu Ende ist«, rief Karsten zurück. »Das sind unschuldige Tiere, ihr Wichser!«

Gegröle und Pfiffe. »Biste von Greenpeace, oder was?«, schrie Goldring und winkte mit der Flasche. »Dann kette dich doch vor den Scheißvogel.«

Die Typen im Publikum lachten, ein paar klatschten und einer rülpste so laut, dass es Karsten hier unten zwischen Stroh und Hühnerscheiße hörte. Andere musterten ihn mit finsterer Miene. Aggressiv wie hungrige Bulldoggen, dachte Karsten, und wahrscheinlich auch genauso intelligent. Nichts gegen Bulldoggen. Aber diese wütenden Blicke gefielen ihm nicht besonders. Keiner dieser Idioten wäre allein besonders gefährlich – aber es waren viele. Zu viele.

»Ich gehör zu den Bullen!«, brüllte Karsten zurück. »Meine Kollegen sind gleich da. Also, wer schlau ist, verpisst sich jetzt lieber.«

Eine Welle aus Gemurmel zwischen den Holzbänken. Die Männer hier in der zugewachsenen Schrebergartenkolonie geilten sich zwar an verbotenen Hahnenkämpfen auf, waren aber keine Schwerverbrecher. Lust auf die Polizei hatte von denen keiner.

»Sagt wer? Und welche Spezialeinheit?« Goldring ließ nicht locker und stand auf.

Karsten blinzelte. Das war echt nicht zu fassen. Ein Sonntagabend im Mai, erste Frühlingsdünste im lauen Himmel – und er stand hier, im Scheinwerferspot wie ein verdammter Stripper, mitten in einem verfallenen Schrebergarten-Areal samt dem Mief von Generationen an Grillwürstchen und Babywindeln in den klapprigen Kleingärtenzäunen. Hier stand er, mit einem halbzerfetzten, ihm sein neues Billig-Jackett vollblutenden Kampfhahn in den Armen, während ein Depp mit Goldringen und Bierflasche dumme Sprüche abgab.

Noch einmal markierte Karsten den dicken Mann, spuckte Speichel und Wörter aus: »Ihr seid die Tiere, nicht diese armen Viecher!«

Karsten drückte den gequälten, zappelnden Hahn an sich. Das Blut, eben noch in arterieller Flut herausgepumpt, tropfte nur noch aus der Wunde. Der zweite Vogel stolzierte mit aufgeplusterten Federn durch die Arena, pickte nach dem ausgelegten Stroh und hastete dann in die Plastikbox, die sein Besitzer ihm aufhielt. Der Käfig schloss sich, die Hände des Hahnenkampf-Herrchens hatten nun Platz für einen Baseballschläger. Herrchen reckte den Rücken und ging, seltsam breitbeinig, auf Karsten zu. »Verpiss dich, du Arsch!«

Der drückte den Kampfhahn an seine Brust, behutsam. »Pferd oder Schiff verloren?«, fragte er.

Der Baseballschläger zögerte. »Was?«

»Dein Gewatschel in O-Bein. Stammt das aus deiner Vergangenheit als Cowboy oder Matrose?«

Hinter Karsten tauchte ein zweiter Typ auf. Kein Baseballschläger, sondern eine Brechstange. Er grunzte: »Das ist mein Tier, das dir grad dein Hemd vollscheißt.«

Karsten drehte sich halb, behielt sowohl Schläger wie Stange im Blick, machte einen Schritt rückwärts. Das Publikum auf den im Arenakreis aufgestellten Bierbänken grölte und setzte sich wieder. Goldring brüllte: »Macht die Sau fertig!«

Die Meute freute sich auf frisches Blut – diesmal keines von Tieren.

Karsten wich einen Schritt zurück, während die zwei Typen ihn einkeilten, ihm von rechts und links siegesgewisse Blicke zuwerfend. Ihre Waffen hebend, die eine aus Holz, die andere aus Eisen, näherten sie sich von beiden Seiten.

»Die Kollegen sind gleich da«, rief Karsten ihnen zu. »Macht es nicht noch schlimmer.«

»Siehst nicht aus wie 'n Bulle«, gab Brechstange zurück.

»Ihr seht auch nicht intelligent aus. Seid ihr's doch?«

Mister Baseballschläger kam von links, Herr Brechstange von rechts. Schauten sich an, um sich Mut zu machen. Sandwichblicke.

Karsten tat einen letzten Schritt zurück und schaute zum Publikum: Die meisten hockten zwar wieder auf den Bierbänken, aber einige, Goldring zum Beispiel, packten vorsorglich schon mal ihre Flaschen am Hals. Nicht gut, dachte Karsten. Mit den beiden Schlägern würde er fertigwerden – aber mit dem ganzen Rest dieser Typen? Also anders. Wie hatte sein Kollege Karl-Heinz Buchholz früher zu Karsten gesagt? »Deeskalation, Kasti. Das ist das Zauberwort.«

Er schob sich den blutenden Vogel in die Armbeuge und hob die andere Hand. »Am besten beruhigen wir uns alle mal wieder.«

Mister Baseballschläger hob seine Waffe und fletschte die Zähne.

So viel zur Deeskalation, Buchholz.

»Ich sag's euch ein letztes Mal«, brüllte Karsten laut, damit auch jeder der anderen Zipfelmützen es hörte. »Ich bin wirklich ein Bulle. Hier.« Er schob die nun freie Hand langsam in die Innentasche seines Jacketts. Fingerte nach dem kleinen Gerät, drückte den Knopf: Die Aufnahme lief – jetzt hatte er fünfzehn Sekunden. Mit dem Ausweis tauchte seine Hand wieder auf – jener Ausweis, den er damals nicht abgegeben, sondern verloren hatte. »Hier«, rief Karsten und wedelte mit dem Plastik. »Wenn ihr jetzt nicht Ruhe gebt, macht ihr mehr Bekanntschaft damit, als euch lieb ist. Verstoß gegen das Tierschutzgesetz, illegales Glücksspiel – sucht's euch aus. Ein letztes Mal: Meine Kollegen sind sofort hier.«

»Ach ja?« Baseballschläger streckte seine freie Hand flach aus und legte sie als Schirm an die Stirn – pantomimisch suchend.

Also doch Seefahrer, dachte Karsten.

Theatralisch glotzte er in alle Richtungen. »Ich seh aber gar nix.«

Karsten rollte seine Hand lauschend um die Ohren: »Dann probier's halt mit hören.«

Verwirrt blickte der Typ um sich, ließ den Schläger durch die Luft fahren, zuckte endlich zurück, als Martinshörner zu jaulen begannen, langsam lauter wurden und näher kamen.

Der Erfolg dieses speziellen Konzerts war beeindruckend: Die Hahnenkampf-Arena leerte sich sekundenschnell, ließ umgestoßene Bierbänke und gluckernd schäumende Flaschen zurück. Auch Herr Baseballschläger warf nur einen ängstlichen Blick um sich, bevor er seinen Hahn samt Käfig packte und Richtung Main verschwand. Nur Brechstange zögerte noch, hin- und hergerissen zwischen Fluchtinstinkt und Gier: »Mann, der Hahn hat mich zweihundert Eier gekostet.«

Karsten hielt das verletzte Tier mittlerweile wieder vorsichtig mit beiden Armen. »Dann sei froh«, knurrte er, »dass ich dir nicht noch zwei Eier zusätzlich abnehme. Jetzt tu mir einen Gefallen und hau bloß nicht ab, sondern warte mit mir auf die Kollegen.«

Die Sirenen kamen noch näher, jaulten dringend. Schweiß lief in dicken Tropfen von der Stirn des Typen und blitzte im Scheinwerferlicht.

Der Schläger fluchte ein letztes »Dich mach ich fertig!« und rannte davon.

Auch Karsten trat den taktischen Rückzug an und hastete zu seinem Auto zurück. Fummelte dabei in seiner Jackentasche herum, bis er die kleine Fernbedienung für die Stereoanlage im Wagen fand. Er drückte auf Stopp, die Martinshörner verstummten. Grade noch rechtzeitig, hatte Karsten diese Aufnahmen doch von »Notruf Hafenkante« mitgeschnitten: In den nächsten Sekunden kam ein »Moin, hier spricht die Polizei. Sie sind umstellt«. Aber der norddeutsche Dialekt – »s-pricht« und »ums-tellt« mit näselndem Einschlag – wäre hier im Herzen von Hessen nicht wirklich gut angekommen.

Karsten grinste: Technik war schon was Feines.

Er erreichte seinen alten Opel Corsa, den er am Rand des Schrebergarten-Geländes geparkt hatte. Viel Garten war wirklich nicht übrig: die fauligen Zäune mit Brombeerranken zugewachsen, die Hütten baufällig wie aus Pappe, auf den Kieswegen Unkraut, Plastiktüten, Bierdosen und Kippen. Das Einzige, was hier neu war: das Schild einer Immobilienfirma, das den Bau exquisiter Apartments mit Blick auf den Main androhte.

Bevor Karsten den Kofferraum öffnete, verschwendete er einen letzten Blick auf die Mainfeld-Siedlung weit hinten, eines der aktuellen Sanierungsprojekte Frankfurts im Stadtteil Niederrad, eine Ansammlung von Hochhäusern, denen das Etikett »Sozialer Brennpunkt« mit den Fleckenentfernern Geld und Lobby abgerubbelt werden sollte.

»Viel Spaß mit den Apartments«, brummte Karsten und wühlte im Kofferraum nach dem Erste-Hilfe-Kasten. Er fummelte das Plastikding auf, riss Heftpflaster ab, schnippelte dem schwach nach ihm hackenden Vogel die letzten Federn von der Brust und versorgte die Wunde, so gut es ging.

»Nur ruhig, mein Freund.« Karsten streichelte das Tier. Musterte den rosafarbenen Kamm, den überlängten Hals. Mit Kampfhühnern kannte er sich nicht aus – müsste er raten, würde er auf Hint Horoz tippen, eine aus der Türkei stammende, orientalische Rasse. Und müsste er noch einmal raten, würde er dem armen Hahn keine vierundzwanzig Stunden mehr geben. Andererseits waren diese Viecher zäh.

Schließlich entfernte er noch die angeklebten Metallsporne von den Klauen. Damit sollten die Kämpfe schneller entschieden werden, das Blut rascher spritzen. Verächtlich vor sich hin schnaubend, packte Karsten eine Wolldecke, breitete sie auf dem Rücksitz aus und bettete den Kampfhahn darauf. Der blinzelte nicht, starrte nur mit kreisrunden, blutunterlaufenen Augen zurück.

Karsten wuchtete sich auf den Fahrersitz, zog die Wagentür zu und steckte den Schlüssel in den Anlasser. Blickte in die dunkle Welt der Betonschattensiedlung, erhaschte ein paar Sterne am Nachthimmel, machte das Fenster auf und schnupperte Frühlingsluft. Aber nicht nur die. Angewidert hob er den Ärmel und roch am Jackett: Vogelscheiße und Blut – das Teil konnte er in die Tonne treten. Er startete den Motor, lauschte in sich hinein – diesmal waren es Wut und Trauer, die sich die Waage hielten – und schob den ersten Gang ein.

Bloß weg hier.

Weit fahren musste er nicht. Karsten steuerte den Corsa vom Main weg, auf Umgehungsstraßen, über eine Brücke und zwei Autobahnzubringer entlang, bis er wieder zum Main zurückkehrte. Auf eine rissige Asphaltstraße einbog, vorbei an Lagerhallen und Wellblechschuppen, unter einer Eisenbahnbrücke hindurch, direkt am Ufer des Flusses, rein rechnerisch noch in Frankfurt am Main, rein menschlich im Niemandsland zwischen Vororten und Höchster Industrie.

Im Scheinwerferlicht tauchte Karstens Zuhause auf – der Mainfeld-Siedlung, wenn er ehrlich war, nicht ganz so unähnlich, nur ohne Wohnsilos mit bis zu zweiundzwanzig Stockwerken. Aber fast genauso heruntergekommen wie die Schrebergärten vorhin. Von demselben muffigen Geruch des Mains umwölkt, einer Mischung aus Diesel, Fisch und Algen. Die gleichen mit Graffiti verschmierten Wände, der Müll am Wegrand. Und sein Zuhause: zwei Gebäude, die zwischen Mainufer und Streuobstwiese dann doch den Unterschied ausmachten. Das eine kaum mehr als eine flachdachige Hütte auf wackligen Wandbeinen, das andere eine durchaus stattliche Erscheinung: Stolz und seit Jahrzehnten hier am Main schlummernd, thronte die aus Fachwerk errichtete Wohnscheune, die Karstens Großvater gebaut hatte. Ein Relikt in der Frankfurter Stadtlandschaft, ein altes, merkwürdiges Ding – so wie Karsten sich selbst immer öfter fühlte.

Er hatte dieses spezielle Ding sofort nach Opas Tod bezogen und umgebaut, noch in seiner Zeit als Bulle. Vor fünf Jahren, als damit Schluss war, als die Ratten vom Präsidium ihn zwangsbeurlaubten und so lange mit einem Disziplinarverfahren drohten, bis er von selbst seinen Abschied nahm, war diese Kombination aus Haus und Scheune zu seinem Halt geworden. Und mehr noch: zu seinem Sinn. Und dann hatte er die Idee zur »Strandfurt« gehabt, einer Mischung aus Kneipe und Sozialtreff. Ein Jahr später konnte er diesen von der Frankfurter Stadtverwaltung mitfinanzierten Hybrid aus Kneipe, Kiosk und Drogenhilfe eröffnen. Die Strandfurt, zusammengezimmert aus am Mainufer angetriebenen Brettern und Porenbetonziegeln, kauerte nur ein paar Meter neben Großvaters Haus wie ein schlafender Wachhund. Nur dass die Strandfurt noch wach war – vor eins in der Nacht war hier selten Ruhe.

Karsten stellte den Wagen ab und schaute nach dem Kampfhahn: Der hatte seine Starr-Augen endlich geschlossen, atmete aber ruhig auf dem Rücksitz. Vielleicht packte er's ja doch noch.

»Träum schön«, sagte Karsten zu ihm und zog den Schlüssel ab. Warf durch die Frontscheibe einen prüfenden Blick auf die Strandfurt und die weißen Billig-Tische und Liegen aus Plastik davor.

Ei des isses nu, dachte Karsten, schließlich war er Frankfurter durch und durch.

Ja, da war er nun, sein neuer Job seit fünf Jahren, direkt neben Großvaters Scheune. Sechzig lange Monate voller Rückschläge und Herausforderungen. Die Dienstwaffe eingetauscht gegen Bembel und Geripptes hinter der Theke. Keiner war erstaunter als Karsten selbst, wie gut die Kneipe lief. Irgendein lokalpolitischer Verwaltungsfuzzi hatte, weichgeklopft von Sozialarbeitern und Hilfe-zur-Selbsthilfe-Gruppen, ein bisschen Kohle locker gemacht für das Projekt Strandfurt und sich feiern lassen, als diese kleine Idylle im Nichts fertig gebaut war. Die Schöne und das Biest hatte Spotti mal zu den beiden Häusern gesagt: Opas Schöne aus den 1920er Jahren, die Strandfurt in dilettantischer Postmoderne. Letztere hatte Karsten fast komplett eigenhändig gezimmert, hatte ganze Schubkarren voller Wut und Frust mit verbaut, die Enttäuschung über seine Kollegen und Chefs bei der Polizei mit eingemauert, seinen Hass gegen Dealer und harte Drogen vergipst. Wenige Wochen später eröffnete er – der ehemalige Kommissar für Drogendelikte als Kneipenwirt mit eigener Apfelwein-Kelterei in der Scheune.

Karsten hockte immer noch im Wagen, atmete ein paarmal tief durch. Er war müde, aber zwei Stunden musste er noch mindestens durchhalten: Die Digitalanzeige am Armaturenbrett des Opels sprang um auf dreiundzwanzig Uhr drei.

Noch einmal blickte er auf den verletzen Hint Horoz, dann stieg er endlich aus dem Auto. Wurde von zwei Stammgästen begrüßt, die es sich draußen bequem gemacht hatten, soweit weißes Plastikmobiliar bequem sein konnte.

Karsten nickte ihnen zu. Von drinnen hörte er Rufe, Klatschen und Klirren, was nichts Gutes verriet. Da stand auch schon Spotti in der Tür, für Karsten das, was die Nummer Zwei für Captain Picard, Robin für Batman, der Watson für Holmes war. Ein Freund eben. »Alter«, begrüßte ihn Spotti, »wir haben ein Problem.«

»Bin ich Houston?«, fragte Karsten und seufzte. Anscheinend würde es heute doch nicht ohne Schlägerei ablaufen.

2

Montag, 18. Mai, 05.01 Uhr

Erster sein. Darauf kam es an – alles andere ergab sich wie von selbst. Nicht umsonst hieß es so treffend, dass nur der frühe Vogel den Wurm fing. Hendrik Stritzel atmete die kühle Morgenluft ein, schob seine ID-Card in den Schlitz der Metallplatte und wartete auf das Klicken der sich entriegelnden Eingangstür. Er gähnte und betrachtete zum hundertsten Mal das Firmenlogo auf der großen Glasscheibe, eine stilisierte Feder, die sich um ein Reagenzglas legte. Doc Stringwell persönlich hatte es ihm bei seinem Vorstellungsgespräch damals erklärt: »Sie kennen doch sicherlich den Äskulapstab, das Symbol der Apotheker?«

Klar, hatte Hendrik geantwortet, obwohl er keinen Schimmer hatte, worauf der Alte hinaus wollte.

»Nur die Wenigsten ahnen, dass dieser Stab vor allem das Zeichen der Pharmazeutik ist. Wissen Sie, was das griechische Wort Pharmazie bedeutet?«

Verdammt. Woher denn, war er ein Lexikon? Hendrik grunzte unbestimmt, und Stringwell setzte seine Belehrung fort: »Die wörtliche Übersetzung lautet Zaubermittel. Und das trifft es doch, nicht wahr? Das Unternehmen Orni Charm Pharmaceutical forscht nach Zaubermitteln, die der Menschheit Gesundheit und langes Leben ermöglichen.«

Wieder war ein zustimmendes Nicken angebracht gewesen.

»Und wissen Sie auch, Herr Stritzel, welche Tiergruppe sich aus den Reptilien entwickelt hat?« Der Geschäftsführer deutete dabei demonstrativ auf die Feder im Logo, sodass Hendrik das gesuchte Stichwort liefern konnte: »Vögel?«

Doc Stringwell hatte gestrahlt. »Genau! Deshalb ist unser Firmenlogo kein knorriger Wanderstab mit einer darum geknoteten Natter, sondern eine Feder mit Reagenzglas, Symbole für die Freiheit des Geistes und den wissenschaftlichen Fortschritt.«

Der Typ hat eindeutig 'nen Vogel, hatte Hendrik gedacht und sich nicht vorstellen können, wie recht er damit haben sollte. Insgesamt waren es Hunderte von ihnen, die in verschiedenen Volieren der Labors auf ihren Einsatz warteten. Die Firma forschte mit und an und in Vögeln, und auch wenn Stritzel immer noch nicht kapierte, was genau sie mit den Piepmätzen machten, konnte man wohl gut davon leben. Zumindest wenn man die beeindruckende Flotte neuester Limousinen auf dem Firmenparkplatz als Gradmesser für Erfolg nahm.

»Und deshalb brauchen wir Sie in unserem Team«, hatte sein neuer Chef gesagt und mit einem Designerstift auf ihn gezeigt. »Wir brauchen Sie, damit unsere Wissenschaftler unbehelligt forschen können und unsere Ergebnisse erst dann publik werden, wenn wir das auch möchten. Ist Ihnen bewusst, wie wichtig diese Aufgabe ist?«, hatte ihn Stringwell gefragt, aber da war ihm schon klar, dass er den Job bekommen würde. Die Firma wollte sich in Sicherheitsfragen nicht von externen Leuten abhängig machen, sondern suchte jemanden, dem sie per Arbeitsvertrag und einem Batzen Geld Treue und Verschwiegenheit abkaufen konnte.

Und damit war sie bei ihm, Hendrik Stritzel, genau richtig: Er besaß sowohl ein polizeiliches Führungszeugnis, dessen Tadellosigkeit ihn immer noch zum Schmunzeln brachte, als auch die Sachkundeprüfung des Bewachungsgewerbes, die er mit Auszeichnung bestand – weil er sich vor dem Test den IHK-Typen mal richtig zur Brust genommen hatte. Was ihn aber vor allem qualifizierte, waren seine stattlichen Eins neunundachtzig und jede Menge Muckis, die er nicht nur zur Zierde trug. Leider gab es nur selten Gelegenheit für deren Einsatz, selbst wenn er es immer wieder drauf anlegte und sich beim Supermarkt in der Schlange vordrängelte oder der drallen Braut eines Hänflings auf den Hintern klatschte. Doch kaum einer besaß den Mumm, sich mit Hendrik Stritzels Größe und Unverschämtheit anzulegen.

Er grinste, fasste sich an die Eier und packte dann den chromglänzenden Griff. Öffnete die Glastür und betrat, das Frühlingsgezwitscher der Piepmätze in Freiheit hinter sich lassend, die Firma Orni Charm Pharmaceutical. Stille begrüßte ihn. Die roten Ziffern über dem Empfangstresen blinkten ihr gewohntes Fünf-Uhr-Eins. Seine Schicht dauerte nur vier Stunden, schon in einer würden die ersten Frühaufsteher vor Ort sein – dann war's vorbei mit Ruhe und intimer Einsamkeit. Der frühe Vogel eben, der das Würmchen pickte.

Hendrik atmete die trockene klimatisierte Luft. Dieser Job war ein Geschenk der Götter: So einfach hatte er noch nie seine Kohle verdient. Sechs Tage in der Woche musste er nicht mehr tun, als die Alarmanlage und den Brandschutz in Schuss halten, die Videoaufzeichnungen der Nacht durchsehen und einen abschließenden Rundgang durch Büros, Labore und Konferenzräume machen. Sonntag, also gestern, hatten sie frei.

Die Abendschicht machte meistens Timo-Boy, da Hendrik die morgendliche Stille besser gefiel. Nur vorletzte Nacht nicht: Am Samstag hatte der Jungspund Timo ihn um einen Gefallen gebeten. Tja, Pech für ihn, denn natürlich hatte Hendrik großzügig seine Hilfe versprochen, sich dann aber doch lieber zu Hause zusammen mit Fortuna den einen oder anderen Porno reingezogen. Hätte irgendjemand die fehlende Sicherheitsschicht bemerkt, wäre das Timo-Boys Problem gewesen.

Hendrik lachte leise.

Schließlich verließ er den Empfangsbereich, öffnete eine unscheinbare Tür und betrat den dunklen, fensterlosen Raum, an dessen Längswand ein halbes Dutzend Bildschirme flimmerten. Er setzte sich an einen der Computer, öffnete das Zeiterfassungsprogramm der Mitarbeiter, trug sich selbst für heute Morgen und Timo für Samstagabend ein – überprüfen konnte das ja eh nur die Security. Und das war er selbst. Danach der Blick in die Bänder der Überwachungskameras: Routine. Außen der schmale Rasenstreifen mit irgendwelchen immergrünen Scheißsträuchern, die den drei Meter hohen Drahtzaun zur Straße optisch etwas aufwerten sollten. Und im Innenteil der Empfangsbereich – müde Gesichter, die sich gegenseitig mit einem Kopfnicken in den Feierabend verabschiedeten. Mehr Kameras im Innenbereich gab es nicht, die Installation von neuen Geräten hinter dem Haus war in Planung, aber noch nicht realisiert. Ihr aller Herr und Meister, Doc Stringwell, hatte die Investition erst nach ewigem Zögern abgenickt und Hendrik mit der Umsetzung beauftragt. Er grinste: Nächste Woche würde die Firma aus Tschechien, deren Besitzer er rein zufällig von früher kannte, die neuen Überwachungssysteme einbauen. Zwanzig Prozent, steuerfrei, für ihn.

Immer noch lächelnd, beendete Hendrik die Kontrolle der Videoaufzeichnungen. Nichts Auffälliges, business as usual. Gleiches galt für die Aufzeichnungen vom Samstag. In der Nacht, zwischen zweiundzwanzig und zwei Uhr, war natürlich kein Security-Mann draußen oder im Empfangsbereich zu sehen. Hendrik zögerte: Pech für Timo-Boy, falls sich der Chef doch mal die Mühe machen sollte. Andererseits – wozu schlafende Hunde wecken? Zumal sich das Risiko mit einem Mausklick vermeiden ließ. Erster sein, darauf kam es an. Immer ein bisschen schlauer, immer ein bisschen schneller als die anderen. Stritzel öffnete den Ordner mit ihrem Filmmaterial der letzten Monate und suchte eine Weile herum. Schließlich fand er eine Aufnahme, in der Timo-Boy besonders dämlich in die Kameras schaute – perfekt. Hendrik kopierte die Filmsequenz in die aktuelle Datei. Das sollte genügen.

Und das war's hier.

Ein letzter Blick, ein letzter Klick, dann verließ Hendrik Stritzel den Raum. Die Digitaluhr im Foyer zeigte fünf Uhr neunundzwanzig, durch die Fenster zwängte sich die Dämmerung des neuen Tages hinein. Nutzte aber noch nicht allzu viel. Natürlich hätte Hendrik die Beleuchtung einschalten können, aber dafür mochte er das Gefühl zu sehr, wie ein Höhlenforscher durch die Gänge zu schleichen und dem Strahl seiner Taschenlampe zu folgen. Er fühlte sich dann selbst wie ein Entdecker, und nicht selten fand er auch interessante Dinge: In den Schubladen und Kleiderschränken der Angestellten zum Beispiel, kleine Schätze oder entlarvende Details, versteckte Alkoholreserven, Fotos von Damen, die nicht nach der Ehefrau aussahen, Sexspielzeug oder diverse Pillchen. Was besonders peinlich war, fotografierte er mit seinem Smartphone. Als innerbetriebliche Altersvorsorge sozusagen und manchmal auch zur Aufbesserung des aktuellen Gehalts. Hendrik hatte schon einige schöne Trümpfe gesammelt, würde sich mit der Abschöpfung seiner Gewinne aber eher Zeit lassen. Die Typen hier verdienten ein Schweinegeld – eine kleine Spende zur Festigung des guten Rufes war für die meisten kaum schmerzlicher als ein Mückenstich beim Abendcocktail auf der Gartenterrasse.

Hendrik zog seine schlanke Mag-Lite aus dem Gürtelhalfter, schaltete sie ein und inspizierte die Verwaltungsbüros im Erdgeschoß. Nach einer – aus seiner Sicht – enttäuschenden Runde stieg er in den Aufzug und fuhr nach oben. Dritter Stock, das Reich des Chefs, die größte Chance für weitere Peinlichkeitstreffer. Er winkte den Strahl seiner Stablampe durch die Etage: Treppenhaus und Flur gingen direkt in das geräumige Vorzimmer Doc Stringwells über. Besucher, die es bis hierher in den dritten Stock geschafft hatten, durften auf dem bequemen Ledersofa Platz nehmen und in hochglanzpapierenen Imagebroschüren blättern.

Den Schreibtisch der Chefsekretärin von Orni Charm ließ er links liegen – die Frau hatte kein Privatleben, für Hendrik gab es da nichts zu holen. Also weiter zum Chef, um sich dort umzusehen. Aber noch bevor Hendrik Stritzel die Klinke drückte, zuckte er zusammen. Ein Fauchen, direkt neben ihm. Seine Hand zitterte mit der Taschenlampe durch die Luft. War da nicht ein Kratzen, ein Scharren? Ihm wurde heiß; er zwang sich tief durchzuatmen und lauschte. Schob das Lichtbündel der Mag-Lite über den Tisch der Sekretärin. Nichts. Oder doch?

Vorsichtig machte er einen Schritt auf das Möbel zu, streckte den Kopf voraus und erschrak zum zweiten Mal. Eine Fratze aus blutig unterlaufenen Augen über einem hässlichen Schnauzbart fixierte ihn, öffnete das Maul und griff an.

Hendrik riss die Arme vors Gesicht, wankte zurück, schrie auf und schlug nach dem flatternden Dämon. Er traf nicht. Federn tanzten durch die Luft. Ein erneutes Fauchen, dann wieder Stille. Der Sicherheitschef von OCP klammerte sich an seine Lampe, richtete den Strahl auf das Ding und lachte auf.

Scheiße, Mann, dachte er. Nur ein hässlicher Vogel. Das Mistvieh musste aus den Volieren im zweiten Stock ausgebrochen und übers Treppenhaus nach oben geflattert sein.

Prüfend schaute er sich um – nur gut, dass niemand gesehen hatte, wie er hier rumkreischte. Verflucht, aber dieses Ding sah wirklich hässlicher aus als jeder Fernsehzombie – am liebsten hätte Hendrik das lächerliche Wesen gepackt und aus dem Fenster geworfen. Andererseits konnte es sich um eines der wertvollen Versuchstiere handeln, und wenn er es unbeschadet in den zweiten Stock zurückschaffte, würde ihm das Pluspunkte beim Chef einbringen.

Noch einmal, diesmal suchend, blickte sich Hendrik um. Mit irgendwas musste er den Scheiß-Vogel ja einfangen. Das Tier hockte jetzt ruhig in einer Ecke des Vorzimmers und schaute ihn zufrieden an; die großen, rotdunklen Augen reflektierten im Taschenlampenstrahl. Alle paar Sekunden zuckte der flache Schädel samt schmal-spitzem Schnabel nach unten – so als picke das Vieh nach irgendetwas unter seinen schuppigen Füßen. Das Ding erinnerte Hendrik an eine missglückte Mischung aus Falke und Taube, ohne dass abzusehen war, ob mehr von einem Raubvogel oder einem Körnerpicker in ihm steckte. Mit bloßen Händen wollte er diesen Ausreißer jedenfalls nicht anfassen. Das Licht anmachen? Eher nicht, entschied Hendrik. Nachher erschreckte sich das Vieh und haute ab.

Endlich erspähte Hendrik etwas Brauchbares, legte die Mag-Lite so auf den Boden, dass sowohl Sitzgruppe als auch Vogel-Dämon beleuchtet waren. Er schob die Firmenprospekte vom Tisch, zerrte die Tischdecke herunter, nahm einmal Maß und warf sie wie ein Fangnetz über das am Boden kauernde Tier. Sprang sofort hinterher, packte das Knäuel, wickelte die losen Enden des Stoffes um den jetzt wieder fauchenden, hackenden Vogel und drückte das Bündel wie einen Säugling an seine Brust.

Erleichtert aufseufzend, hob Hendrik die Lampe auf und steckte sie sich zwischen die Lippen – das sah immer cool aus. Vorsichtig trug er seine kreischende Last die Treppen runter bis zum zweiten Stock.

»Abteilung Forschung«, murmelte Hendrik, »Laboratorien und Volieren, du hässlicher Vogel. Deine Station.«

Das Tier schien ihn zu hören, zappelte und drückte seine Scheiß-Krallen durch den Tischdeckenstoff in Hendriks Haut. Auch im zweiten Stock ließ er das Licht aus – sicher war sicher. Und den Weg kannte er ohnehin im Schlaf: vorbei an der Aufzugstür, durch den nur per Notbeleuchtung erhellten Flur bis zu den Laboren der Wissenschaftler und Volieren. Die Tür dahin war zum Glück nur angelehnt; mit der Schulter drückte Hendrik sie auf. Richtete den tanzenden Lichtstrahl nach vorne auf die Gitter der Käfige, lauschte auf das leise Gurren und Rascheln.

Er drückte sein Bündel noch enger an sich. Rutschte aus, taumelte zum zweiten Mal an diesem beschissenen Morgen und riss japsend den Mund auf. Hendrik Stritzel stürzte. Auch die Mag-Lite fiel: In ihrem zuckenden Licht leuchteten zwei gebrochene Augen auf, ein weit aufgerissener Mund, die riesige Blutpfütze, auf der Hendrik ausgerutscht sein musste, und ein verdrehter Körper - auf dem Hendrik landete.

Er kreischte, starrte auf den zertrümmerten Schädel, stieß sich ab, als hätte er sich verbrannt, rollte über den Boden fort und schlug sich irgendwo den Kopf an. Immer noch brüllend, rappelte er sich auf, ließ alles liegen. Rannte aus dem Labor zurück ins Treppenhaus, schlug mit flacher Hand auf alle Knöpfe des Aufzugs ein. Beruhig dich, befahl er sich. Lehnte, während er wartete, gegen die kühle Metallwand des Fahrstuhls. Aber sein Körper spielte Befehlsverweigerer. Zitterte und schlotterte. Eine verfickte Leiche, wie zum Teufel und wann ... Scheiße. Wann? Vielleicht war der Killer ja noch hier.

Hendrik schlug auf den Aufzug ein, aber auch der verweigerte Gehorsam. Weg hier, dachte der Security-Mann. Und, ja, Hilfe holen. Sein Blick irrte an die Decke und blieb an der Notbeleuchtung hängen: Der grüne Mann auf der Flucht, ha! Wo blieb der verdammte Aufzug?

Noch ein Hämmern, dann endlich das helle Klingeln. Gleich würde er sicher sein. Die Tür öffnete sich, die leere Kabine lud ihn ein mit ihrem schummrigen Licht.

Bevor er den erlösenden Schritt hinein machte, spürte er den Luftzug. Erstarrte und lauschte. Spürte eine Hand auf seiner Schulter. Aufjaulend zuckte er zusammen; warme Nässe rieselte an seinen Oberschenkeln entlang. Und Hendrik Stritzel hatte, als er sich langsam umdrehte, nur den einen, irrwitzigen Gedanken im Kopf: Scheiß auf den frühen Vogel.

3

Montag, 18. Mai, 05.03 Uhr

T minus neunzig setzt der Hausrotschwanz ein. T minus fünfundsiebzig trillert die Rauchschwalbe. T minus siebzig fangen Rotkehlchen und Singdrossel an zu schlagen, T minus sechzig Amsel und Ringeltaube. Fünfzig: Kohlmeise, vierzig: Buchfink. T minus dreißig zwitschern Spatz und Zilpzalp los, minus zwanzig tiriliert der Star, minus zehn pfeift der Grünfink. Und dann als Letztes, T minus null: die Mönchsgrasmücke singt. Der Countdown ist zu Ende.

Die Sonne aufgegangen.

Karsten lag auf seinem Futon und konnte nicht schlafen. Er drehte sich hin und her, starrte in die Dunkelheit und versuchte, die Uhrzeit zu raten. Im Sommer liefert die Natur/Ganz ohne Strom die Vogeluhr. Wo hatte er diesen bescheuerten Spruch bloß gelesen? Stöhnend wälzte er sich auf dem Bett herum. Seit dem Rotkehlchen war er schon wach – das war hier am Main immer das Erste, gleich nach dem Sumpfrohrsänger. Aber auch Kohlmeise und Buchfink hatte er mittlerweile gehört – also musste bald Sonnenaufgang sein. Egal, ob es draußen zwar triller-laut, aber noch dunkel war. Fünf, schätzte Karsten. Andererseits hatte diese dämliche Vogeluhr noch nie wirklich funktioniert – die Tiere sangen, wann es ihnen passte, und nicht im festgelegten Minutentakt.

Er hustete. Was für eine beschissene Nacht: Erst der illegale Hahnenkampf, dann die besonders nette Begrüßung in der Strandfurt.

»Alter, wir haben ein Problem«, hatte Spotti gesagt und damit die Untertreibung des Monats abgeliefert. Karsten knäulte das Kissen unter seinem Kopf zurecht und durchlebte einmal mehr die Begegnung mit Darius Tablo und dessen Kumpel.

»Was ist denn los?«, hatte er Spotti gefragt.

»Zwei komische Typen«, antwortete der und zog Karsten in die Strandfurt.

Er folgte ihm schnaubend hinein. Jeder hier in der Kneipe war ein komischer Typ, Karsten selbst sowieso: ein Ornithologie-begeisterter Ex-Bulle mit selbstauferlegtem Sozialauftrag? Schräger ging's kaum. Und was die Kunden von der Strandfurt betraf: Abhängige jeder Couleur, egal ob an der Flasche oder Nadel, ob mit den Lippen im Alkohol, mit der Nase im Puder oder den Fingern in einer Pillendose hängend – auch da war von Normalität nichts zu spüren. Trotzdem konnte Karsten die beiden speziellen Komiker nicht übersehen: Vor der langen Pressholztheke war eine Schubserei im Gange. Zwei hochgezüchtete Muskeltypen stießen Karstens Gäste durch die Gegend. Groß, anabolikaprall, dunkle Stoppelhaare, fiese Stiefel und noch fiesere Gesichter. Klassische Aufteilung: Der eine redete, der andere blieb stumm – beide schubsten.

»Warum unfreundlich, he?«, fragte der, der reden konnte. Ostblock, tippte Karsten und hoffte, er würde sich täuschen.

Das Wort für die Strandfurt führte Clayderman, ein ehemaliges Wunderkind am Klavier, das dem Konkurrenzdruck nicht standgehalten hatte und nach einem miesen LSD-Trip in die Psychose abgerutscht war. Karsten hatte ihn noch nie am Klavier gehört – Claydermans Finger spielten nur noch mit Tabletten.

»Hier gibt es Regeln, Mann«, versuchte er den Typen zu erklären.

»Was Regeln?«

Karsten schob sich durch seine Gäste. Die halbe Strandfurt war auf den Beinen und umringte die Gruppe. Die andere Hälfte hockte zugedröhnt und starrte ins eigene, ganz private Höllenfeuer.

»Eigentlich nur eine, und das wissen hier alle.« Karsten stellte sich neben Clayderman, nickte ihm dankbar zu. Die Blicke der Muskelberge wurden finsterer – ein Gewitter war in Anmarsch. »Deeskalation«, raunte Buchholz' Stimme in Karstens Kopf. Na, hoffentlich klappte es diesmal besser: »Jeder kann hier nehmen«, sagte er so freundlich er konnte, »was er will. Scheiße, Mann, wenn's sein muss, kannst du dir hier 'nen Schuss setzen.«

Zustimmendes Gemurmel von seinen Stammgästen. Ein paar Hipster, die seit einiger Zeit die Strandfurt zum Chillen entdeckt hatten, zuckten zusammen.

»Aber«, machte Karsten weiter, »verkauft wird nichts. Keine Dealer.«

»Nix verkaufen«, erwiderte das Stoppelhaar, das reden konnte. »Nur Geschenke für Freunde.«

Clayderman schnaubte. »Haltet ihr uns für bescheuerte Kiddies? Die erste Runde gratis zum anfixen und dann ...«

»Nix Verkauf«, widerholte der Typ stur. Lockend hielt er ein Plastiktütchen in die Höhe: »Geschenk!«

Karsten kniff die Augen zusammen, als er die kleinen Kristalle darin musterte: mattweiß wie Gipsbrocken. durchsichtig wie Eiswürfel. Crystal Meth, die Droge mit den vielen Namen. Ice, Crank, Yaba, Crystal Speed, Pee, Wint, Tik oder, auf schlau, N-Methylamphetamin. Viele Namen für immer den gleichen Mist. Karsten hasste das Zeug. Wenn es etwas gab, das er mehr verabscheute als Heroin in Spritzen, war es diese Billigware: leicht zu produzieren, preiswert für Hersteller und Konsumenten, einsetzbar in allen Varianten – vom Schnupfen und Rauchen bis zum Spritzen konnte jeder damit tun, was er wollte – und ein Teufelszeug ohnegleichen. Machte schneller süchtig als jeder andere Dreck. Zerfraß den Körper, zerfetzte die Haut und ließ die Zähne verfaulen.

»Ihr haut jetzt besser ab«, zischte Karsten.

Clayderman nickte zufrieden. Die Hipster verließen so unauffällig wie möglich die Kneipe. Zögernd senkte der Muskelberg seine Hand mit der Plastiktüte. Sein Blick versuchte sich in Karsten zu bohren, brach aber nicht durch. Finstere Augen. Gewitterstimmung.

Von hinten aus seiner Ecke krähte Rotze: »Abbe wenn's doch n Geschenk is?«

Clayderman ächzte, doch sonst beachtete ihn niemand: Rotze hockte meist für sich und hielt seine namengebende rote Schniefnase in Karstens selbstgekelterten Apfelwein, ein ruhiger Säufer, der schon zu viel gesehen hatte. Ihm waren ein paar Lutschbonbons mit Kick egal.

Karsten nicht. »Jetzt!«, knurrte er.

»Sagen wer?«

Karsten musterte die beiden – keine leichten Gegner. Von seinen Strandfurtern konnte er nicht viel Beistand erwarten: Die einen halb weggetreten, die anderen auf Speed und durchaus gewaltbereit, aber so aufgeputscht, dass sie keinen Sandsack vor ihrer Nase getroffen hätten. Nur auf Spotti konnte Karsten sich verlassen, auch wenn der nicht gerade Bruce Lee war. Und eine Kneipenschlägerei wollte Karsten ohnehin vermeiden – das sah nur im Kino gut aus.

Leider konnte er seinen Meine-Kollegen-sind-gleich-da-Trick hier nicht wiederholen: Zum einen wollte er seinen Kunden keine Angst machen, zum anderen hatte er auf der Fahrt nach Hause die CD gewechselt.

»Ich sag das. Ich bin hier der Chef. Will keinen Ärger haben, aber -«

Den Schlag hatte er weder erwartet noch kommen sehen. Fixiert auf den Sprecher, war der zweite Typ Karstens Aufmerksamkeit entwischt. Fehler, fluchte er lautlos, spannte im letzten Moment die Bauchmuskeln an, um wenigstens ein bisschen was abzufangen. Wenig genug: Die Faust explodierte in seinem Magen wie ein Torpedo beim Aufschlag. Hatte der Kerl Schlagringe an den Fingern? Karsten krümmte sich und rang nach Luft. Die wache Hälfte der Strandfurt brummte empört auf: Ihr Kasti war nicht nur der Chef, sondern auch ein Freund. Andererseits ließ sich keiner von ihnen gern auf einen Kampf mit diesen Schwarzenegger-Zwillingen ein.

»Mann!« Röchelnd bog Karsten sich wieder in die Gerade. »Was soll das? Soll ich die Polizei holen oder was?«

»Nix Bullen.« Der Sprecher dieses durchgeknallten Duos nickte seinem Kollegen zu. Der packte Karsten, hob ihn hoch und schleuderte die neunzig Kilo Ex-Bulle mühelos wie einen Sack Abfall Richtung Eingangstür. Ein Stuhl ging zu Bruch und zersplitterte. Einer von zwei Holzstühlen mit Bastflächen. Plastik war doch einfach besser, dachte Karsten wirr. Aber gerade dieser eine, zerbrochene Stuhl machte ihn noch wütender: Das war sein Stuhl, verdammt noch mal. Seine Bretterbuden-Kneipe am Main. Sein ... Zuhause!

Mühsam drückte er sich hoch, den beiden zurufend: »Letzte Warnung.« Schmeckte blutige Spucke im Mund und schluckte sie runter. »Verpisst euch. Haut ab. Spotti, ich brauch das Extra-Stöffsche.«

Die beiden Meth-Dealer standen da wie die Könige der Welt, was Karstens Wut abermals anschwellen ließ. Es war immer dasselbe. Immer die gleiche Leier, dasselbe Hamsterrad, dieselbe Spirale der Gewalt. Jedes Mal aufs Neue glaubten irgendwelche Idioten, sie könnten alles machen, was sie wollten, nur weil sie stark waren. Karsten hatte das in der Schule erlebt, beim Studium und bei der Polizei, er erlebte es auf den Ämtern und bei den Abhängigen. Immer dasselbe. Nie zu lösen.

Deeskalation – das war einfach nur ein schönes Wort.

Karsten ächzte, stand wackelig über den Trümmern des Stuhls. Eine Rippe angebrochen? Seine Rippe. »Kommt doch her, ihr Schwanzlutscher!«, brüllte er.

Nie konnte man reden mit diesen anderen, mit jenen, die viel Geld oder Muckis hatten. Nie. Immer nur eins auf die Fresse. Gott, wie ihn das ankotzte. Das Böse, hatte er mal gelesen, ist banal. Diese Arschlöcher.

Man sollte Buddhist werden.

»Motherfucker«, rief er zur Sicherheit, falls sie Englisch besser verstehen sollten. Trat einen Schritt zurück, um das Duo ins Freie zu locken. Spürte die Tür an seinem Hintern, drückte die Klinke. »Haut endlich ab – ich mach euch sogar die Tür auf!«

Synchron stürmten sie auf ihn zu, aber diesmal war Karsten vorbereitet. Den stummen Schlagringträger ließ er ins Leere laufen: Ein Schritt zur Seite, ein Hieb auf die Schulter und der Kerl stolperte nach draußen. Den Schwinger des Teamsprechers konnte er gerade noch abblocken, packte mit der rechten Hand dessen Kragen, mit der linken den Arm, zog ihn an sich, ging in die Knie und schleuderte ihn über die Schulter nach draußen. Die Strandfurt applaudierte geschlossen. Aber was zum Teufel machte Spotti so lange? Karsten konnte die beiden Dealer eine Weile in Schach halten, mehr aber auch nicht. Zumal die Arschlöcher sicher nicht mit leeren Händen gekommen waren.

Als hätten sie Karstens Gedanken erst auf die Idee gebracht, zog der Stumme ein Butterfly und ließ die Klinge einrasten. Der Redner nickte aufmunternd.

Karsten stand schwer atmend in der Tür der Strandfurt, spürte seine Gäste hinter sich, ängstlich, wütend, frustriert oder schon jenseits der realen Welt.

Das Butterflymesser kam auf ihn zu getänzelt – langsam wurde es eng. Knapp sauste die Klinge an seinem Bauch vorbei, den zweiten Hieb lenkte Karsten mit einem Tritt auf den Unterarm ab. Dem dritten, das wusste er, würde er nicht so leicht entkommen.

Aber dann war Spotti da und drückte ihm das Extra-Stöffsche in die Hand. Der Griff aus Dural-Aluminium, der Rest rostfreier Stahl. Karsten erlaubte sich ein erleichtertes Lächeln und hob die Pistole. Zielte auf das Butterflymesser mit allem, was dranhing.

»Weg damit!«, herrschte Karsten ihn an, machte einen Schritt vor und nickte dem Sprecher der beiden zu. »Sag's ihm.«

Kurze Blicke und noch kürzere Wörter in östlichem Zungenschlag, dann fiel das Butterflymesser auf den mainlehmigen Boden.

»Kniet euch hin. Beide.« Karsten konnte selbst kaum noch stehen. Sein Schädel brummte, der Magen gab deutliche Hinweise auf Entleerungswünsche und seine Rippe stach mit jedem Ausatmen stärker zu. Er hasste Gewalt, er hasste die Schmerzen – die im Körper und die in der Seele. Aber in diesem Moment hasste er am meisten die beiden Wichser vor ihm.

»Macht!«, brüllte er.

Wieder ratlose Blicke, dann knieten sie sich hin. Karstens Gedanken stolperten durch seinen Kopf. Und nun? Diese Typen würden immer wieder kommen, bis sie Erfolg hatten. Würden ihm das Einzige kaputtmachen, an dem er sich seit vier Jahren festhielt. Polizei war keine Option – die würden sie einkassieren und schneller wieder rauslassen, als Karsten die Strandfurt aufgeräumt hätte.

Angestrengt überlegte er, aber sein Kopf war ein Auto ohne Benzin und stand auf der Stelle. Ihm war nur klar: Sein Leben würde er sich von niemanden zerstören lassen, egal ob sie aus Polen, Italien, Brandenburg oder Hessen kamen. Karsten hatte die Strandfurt, das war wenig genug. Aber alles, was er hatte.

Sein Blick fiel auf die Tüte Meth, die noch immer in der Hand des Sprechers steckte. Mit dem Kinn deutete er darauf, mit krächzender Stimme forderte er: »Wirf her.«

Raschelnd landete die Tüte vor seinen Füßen. Karsten trat drauf, zerquetschte mit dem Hacken die Kristalle zu kleinen Brocken und Pulver. Schob den Plastikbeutel wieder zurück. »Jetzt friss dein eigenes Zeug.«

Zum ersten Mal erschien Angst auf diesem Gesicht, kletterte über die zusammengekniffenen Lippen bis zur Nase hinauf, hangelte sich bis in die aufgerissenen Augen hinein. »Was wollen?«

»Du kannst es auch schnupfen, wenn dir das lieber ist.« Karsten zeigte mit der Pistole auf ihn, ohne den neben ihm knienden Partner aus den Augen zu lassen. Der Typ war ihm unheimlich – er hatte immer noch kein einziges Wort gesprochen.

»Friss das Zeug!«, brüllte Karsten, spürte aber, dass die Angst im Gesicht noch nicht groß genug war. Spürte auch, dass ihn seine eigenen Beine nicht mehr lange tragen würden – er musste das hier schnell beenden. Seufzend ging er in die Hocke, packte die rechte Hand des Mannes, bog die Finger auseinander, dachte an den Kampfhahn, der mittlerweile hechelnd im Schuppen gleich neben den Plastikkanistern Most lag, und schoss durch die Handfläche.

Karsten konnte nicht schlafen. Drehte und drehte sich auf dem Futon wie ein Braten am Spieß. Dieses Bett war der einzige Luxus, den er sich beim Einzug in Opas Scheune geleistet hatte. Von Design und Größe passte es zwar kaum in die Behausung, aber ein gutes Bett brauchte er. Wie hatte der alte Becker, Karstens Lehrer in Sachen Apfelweinkelterei, immer gesagt: »Wenn de schläfst, bekommste ka Durscht.«

Ja, das Bett war die zweitbeste Erfindung nach dem Ebbelwoi. Aber in dieser Nacht hatte das Futon kläglich versagt. Immer wieder waren die Bilder hinter seinen geschlossenen Lidern aufgeblitzt: Der blutspritzende Hint Horoz, die Herren Baseballschläger und Brechstange. Die Schlägerei in der Strandfurt, seine Pistole in der Hand. Die alte Walther PPK, seine erste Undercover-Waffe, bei einem Kollegen in Bayern beschafft, wo die Dinger heute noch vereinzelt rumschwirrten. Das »besondere Stöffsche«, versteckt unter der Theke an einem Ort, den außer ihm nur Spotti kannte. Eine Walther PPK, sorgfältig gepflegt und gewartet, dieses tödliche Spielzeug, das jeder James-Bond-Fan kannte. Very british, die »Polizeipistole Kriminal«.

Noch mehr Bilder dieser Nacht: Das kleine Kaliber stanzte ein Loch in die Handfläche des Dealers. Blut und Schreie spritzten durch die Luft vor der Strandfurt, mischten sich mit dem leisen Plätschern der Mainwellen, dem Säuseln des Windes und dem Krächzen der Lachmöwen. Der stumme Typ stürzte sich sofort auf Karsten, aber der schlug mit dem Pistolenkolben zu und drückte ihn zu Boden. Schob die Meth-Tüte jetzt zu ihm hinüber.

»Dann eben du«, sagte Karsten. Winkte mit der Walther, wartete ein paar Sekunden, streckte schließlich drohend den Waffenarm durch. »Friss!«, befahl er, und der stumme Dealer fraß. Schob sich ein paar Finger Meth in den Mund, zog sich den Staub in die Nase, starrte dabei Karsten an, bis der ihm die Tüte aus der Hand riss und den Rest des Inhalts dem Wind schenkte.

»Und jetzt haut ab. Und kommt nie wieder. Sonst schieß ich nicht nur durch Hände.«

Der Stumme verzog keine Miene, stand taumelnd auf und zog seinen stöhnenden Buddy auf die Füße. Bevor sie sich davonschleppten, machte der schweigende Schläger dann doch noch, zum ersten Mal, seinen Mund auf: »Du bist tot, alter Mann. Merk dir meinen Namen: Darius Tablo.«

Grammatikalisch erstaunlich korrekt.

Als die beiden Dealer ihr Auto, einen tiefergelegten BMW, an der Lagerhalle erreicht hatten, eingestiegen und fortgefahren waren, fing Clayderman an zu klatschen – ein Applaus, in den alle anderen einfielen.

Karsten grinste, wendete sich ab und kotzte in den nächsten Busch.

Kein schlechter Highscore für einen Tag, grübelte er jetzt auf seinem Futon. So viele Feinde in derart kurzer Zeit hatte er sich noch nicht mal in seiner aktiven Bullen-Zeit gemacht. Was für ein Tag.

Und die Nacht war genauso beschissen: keine Ruhe, kein Schlaf. Würden die Typen wiederkommen? Vorhin hatte Karsten seine superharte Nummer schlau gefunden. Aber jetzt in der Dunkelheit, alleine auf der Matratze, zweifelte er an seinem Verstand. Darius Tablo. Seit seinem Ausstieg bei der Drogenfahndung war er nicht mehr auf dem Laufenden. Aber der hier hatte sich eher nach Big Boss angehört als nach Kleindealer. Scheiße, woher hätte Karsten wissen sollen, dass in der unbedeutenden Strandfurt ein Hard Player auftauchte?

Wieder drehte er sich auf den Bauch, lauschte den Vögeln und schätzte die Zeit. Was war bloß aus ihm geworden? Der Verteidiger von Federvieh und Drogis. Er legte sich auf die Seite. Hast es ja weit gebracht, Karsten! Die nörgelnde Stimme seines Vaters im Kopf. Deine Kollegen bei der Polizei wussten schon, warum sie dich rausschmissen.

Und wieder auf den Rücken. Die Schmerzen und seine kreisenden Gedanken ließen Karsten keine Ruhe finden. Einer seiner Stammgäste war im früheren Leben Sani gewesen, bevor er sich selbst ein paarmal zu oft im Medikamentenschränkchen bedient hatte. Er tastete Karstens Rippen ab und diagnostizierte nur eine Prellung. Karsten glaubte ihm, und warum auch nicht? War der ein schlechterer Mediziner als andere, nur weil er Pillen schluckte? War Karsten ein schlechterer Bulle, weil er damals einmal, nur das eine Mal, dem Sog der Macht, der Stärke gelauscht hatte?

Bauch, Rücken, Seite. Herrgott, was für eine Nacht! Einmal war er kurz davor gewesen, sie trotz Müdigkeit und Schmerzen definitiv für beendet zu erklären und aufzustehen. Zur Nachtigallenzeit, noch bevor die anderen Singvögel an ihr Morgenkonzert überhaupt dachten. Ein Klappern und Schaben hatte ihn aus seinen Grübeleien gerissen. Karsten hatte natürlich sofort die beiden Dealer dahinter vermutet und eine Hand nach dem »Extra-Stöffschen« ausgestreckt. Aber die Geräusche kamen nicht näher, blieben unten im großen Stall der Scheune hängen. Der Hahn, war Karsten erleichtert eingefallen. Es geht ihm besser. Wahrscheinlich stolziert er durch die Scheune und wirft leere Mostkanister um.

Das erste Lächeln seit Langem machte ihn dann doch wieder schläfrig, aber der Schlaf kam nicht. Die Handfläche des Dealers mit ihrem blutigen Loch, ein Stigma der seltsamen Art, leuchtete drohend in seinem Kopf. Der Meth-Schaum spuckende Mund des Typen, der sich als Darius Tablo vorstellte. Karsten musste unbedingt seine alten Kontakte reaktivieren. Falls er die überhaupt noch hatte – Karl-Heinz Buchholz zumindest war tot. Am besten setzte er gleich Spotti drauf an, der war schließlich schon immer Karstens bester Informant gewesen.

Bauch, Rücken, Seite. Minute um Minute. Stunde um Stunde. Selbstvorwurf um Selbstvorwurf.

Karsten streckte sich. Gähnte. Und lauschte einmal mehr in dieser Nacht: Von draußen kam ein quietschendes Tschilpen, kamen kanarienvogelmäßige, schnelle und hell geflötete Töne. Er lächelte. Die Mönchsgrasmücke. T minus null.

Dann war wohl endlich die Sonne aufgegangen.

4

Montag, 18. Mai, 06.30 Uhr

Sie hatten es immer noch nicht geschafft, einen Vorhang aufzuhängen. Er wollte Gardinen, ganz klassisch, sie lieber einen Rollo in bunten Farben. Weder von Vorhängen noch Rollos abgehalten, hämmerte deshalb das Morgenlicht durch die Fenster. Ihr Schlafzimmer hatte also Ostlage – jetzt wussten sie wenigstens das. Vom Fenster wanderte ihr Blick weiter zu den gestapelten Umzugskartons.

»Karola, mach das verdammte Ding aus! Will schlafen.«

Mirko neben ihr. Mirko bei ihr. Mirko in ihr. Darüber wollte sie jetzt am wenigsten nachdenken. Sie richtete sich auf, drehte sich aus dem Bett und schnappte sich das Teil. Im Display leuchtete die Nummer des Kriminaldauerdienstes.

»Bartsch.«

»Na endlich«, sagte eine genervte Stimme. »Dachte schon, du nimmst gar nicht mehr ab.«

»Bist du das, Konrad? Machst du mal wieder den KDD?«

»Heute hätt ich gerne drauf verzichtet ...«

Von einer Sekunde auf die andere war sie hellwach: »Verdacht eines Tötungsdelikts?«

»Scheint so. Zumindest sind die Kollegen aus Seckbach dieser Ansicht.«

»Und das heißt was?« Karola wurde ungeduldig. Wenn es sich wirklich um ein Kapitalverbrechen handelte, sollte sie umgehend am Tatort auftauchen.

»Ja, ja. Soll heißen, dass wir eine Leiche haben. In einem Bürogebäude in der Wilhelmshöher Straße, Hausnummer 230, die Firma nennt sich – hast du was zum Schreiben? Orni Charm Pharmaceutical, ja, ich weiß, ist ein komischer Name.«

»Mann oder Frau?«, unterbrach ihn Karola.

»Männlicher Toter, wenn du das meinst.«

»Der Tatortkombi schon unterwegs?«

»Ja. Franz und seine Leute und natürlich die Rechtsmedizin sind informiert.«

»Gut, kannst du Jannik und Lotte noch Bescheid geben und auch Laurenz? Ich hätte sie gerne vor Ort.«

»Klar, wird erledigt.« Konrad Gisselberg zögerte. »Soll ich auch den Wollbricht anrufen?«

Karola tat es ihm gleich: Staatsanwalt Jochen Wollbricht war keine große Hilfe am Tatort – im besten Fall stand er unnütz herum und hielt die Spusi von der Arbeit ab. Andererseits sparte sie sich den unausweichlichen Anschiss, wenn sie Wollbricht von Anfang an in die Ermittlungen einbezog.

»Ja, ruf ihn an. War's das?«

»Ist das nicht genug?«

»Aber hallo. Bin in zwanzig Minuten da.«

Sie schnappte sich die schon am Vorabend bereit gelegten Kleider und zog sich im Badezimmer an. Fünfzehntausend Straftaten fluteten jedes Jahr über Frankfurt, ein Tsunami an Gewalt, Betrügerei und Diebstahl. Drei bis vier Tötungsdelikte pro Monat, die meisten waren schnell aufgeklärt, erklärten sich sozusagen von selbst: Eifersucht, Drogenstreits, Schlägereien mit Unhappy End. Das übliche Serien-Allerlei der Fernsehkrimis.

Karola Bartsch putzte sich die Zähne, grinste ihrem Spiegelbild entgegen und genoss das Brennen der Zahnpasta auf den Lippen. Schaum vor dem Mund. So wirkte sie nicht besonders überzeugend als Leiterin einer der vier Frankfurter Mordkommissionen im Frankfurter Polizeipräsidium, dazu auserkoren, ihr Team zu motivieren und junge Google-Freaks mit erfahrenen Sturköpfen zur gemeinsamen Arbeit zu bringen.

Karola spuckte ins Waschbecken, trocknete sich die Hände und schielte durch die offene Badtür ins Schlafzimmer. Vor ihrem Bett und zwischen den Kisten verstreut lagen ihre Klamotten von gestern. Eine leere Rotweinflasche mit dem sinnigen Etikettenaufdruck »Kuss des Bacchus« hatte sich zwischen ihrer Bluse und Mirkos Socken zur Ruhe gelegt und wartete auf ihre Bestimmung im Altglascontainer. Karola hasste Unordnung, aber Aufräumen war jetzt natürlich keine Option: Unpünktlichkeit konnte sie schließlich noch weniger ausstehen als Unordnung.

»Hey, Mirko. Mister Mirko, hörst du mich?« Karola öffnete zwei Pappkartons und fischte aus dem dritten frische Unterwäsche hervor. »Wie wär's, wenn du mal ein bisschen aufräumst? Sieht ja aus wie an einem Tatort.«

»Is ja auch einer ...« Mirko grinste aus dem Kissen hoch.

»Dann mach doch mal einen richtig guten Tatort daraus, vor allem einen sauberen!«

Mirko fing an zu jaulen.

Oh nein, dachte Karola, bitte nicht die Nummer mit dem Alpha-Wolf. »Ich muss los«, sagte sie. »Tötungsdelikt in Seckbach. Hundefutter findest du in der Küche.«

»Wuff«, machte Mirko und zog sich die Decke über den Kopf.

Karola blinzelte und verließ die gemeinsame Wohnung, ohne auch nur an einem einzigen der unzähligen Pappkartons hängenzubleiben.

Ihre Investition in das Zwanzig-Gänge-Rad würde sich rasch bezahlt machen – auf zwei Rädern kam man in Frankfurt eindeutig schneller voran als auf vieren. Die Wilhelmshöher Straße zwängte sich durch den Frankfurter Stadtteil Seckbach, war eng, sanierungsbedürftig und wirkte dörflich – ein allseits bekannter Schleichweg nach Osten und eine beliebte Umgehungsstrecke Richtung A 66 über Enkheim. Hinter der Linkskurve an der Zentgrafenschule ging es aufwärts; Karola schaltete zwei Gänge hoch und erhöhte das Tempo.

Fast schon außerhalb von Seckbach und kurz vor dem Altenheim wurde die Straße wieder flacher, links der Straße ging es steil aufwärts zum Lohrberg, rechts schmiegte sich ein Mosaik aus Brombeerhecken, verwilderten Gärten und Streuobstwiesen an den Hang. Die Aussicht von hier oben auf die gesamte östliche Mainebene war atemberaubend. Die Hausnummer 230 befand sich fast in Alleinlage außerhalb der geschlossenen Bebauung, und die Polizistin in Karola fragte sich, wie es die Firma geschafft hatte, hier im Grünen eine Genehmigung zu erhalten.

Kriminalhauptkommissarin Karola Bartsch bog gleichzeitig mit einem schwarzen Mercedes in die Einfahrt zum Firmenparkplatz, sie von rechts mit Schwung über den schmalen Fußweg, der Wagen von links eine Lücke im Verkehr nutzend und mit aufheulendem Motor die Straße querend, ein tiefgelegter Koloss auf vier Rädern. Viel zu schnell.

Karola riss das Lenkrad herum, aber zu spät: Als sich Vier- und Zweirad trafen, übernahmen Muskeln und Reflexe ihres Körpers die Führung. Während das Metall kreischte, riss Karola ihre Füße von den Pedalen, setzte sie auf die Rahmenverstrebung und stieß sich ab, drehte den rechten Arm nach innen und drückte das Kinn an die Brust – das Kreischen von Metall in den Ohren. Sie machte sich klein, stieß den Atem aus und rollte über dem Unterarm ab, kugelte über das Pflaster, einmal, zweimal, dreimal. Ihr Ellbogen handelte sich diverse blaue Flecken ein, das Röcheln des Motors hinter ihr erstarb, dann Ruhe, nur noch ihr keuchender Atem und das Tschilpen der Spatzen aus irgendeiner Hecke.

Jemand zerrte an ihrem Ärmel. »Haben Sie sich verletzt? Soll ich einen Krankenwagen holen? Warum haben Sie nicht besser aufgepasst?«

Die Kommissarin rappelte sich auf, rieb sich den Ellenbogen und streckte ihn vorsichtig. Zweimal Nein und einmal Dito, du Arschloch, dachte sie, schwieg aber. Der Typ vor ihr hatte einen leichten Akzent, dessen Ursprung sich irgendwo im Britischen Empire befinden musste. Er schaute erst besorgt, dann erleichtert und schließlich tadelnd. Eine Hand im Nadelstreifenanzug streckte sich ihr entgegen. Dazu passte das gestärkte Hemd mit himmelblauer Krawatte und sogar das kantige Gesicht: glatt rasiert, schmale Lippen, schwarze, kurz geschnittene Haare und eine aristokratische Römernase zwischen energischen Augen. Einzig das schlampig befestigte Pflaster über der rechten Augenbraue minderte den perfekten Gesamteindruck.

Die ausgestreckte Hand ignorierend, schaute Karola nach ihrem Schätzchen, das unter dem fetten Mercedes wie eine moderne Schrottskulptur aussah: der Rahmen halbseitig um die Kühlerhaube gewickelt, die Räder nur noch malträtierte Rugby-Bälle.

Verflucht. Tausend frisch ausgegebene Euro am Boden zerstreut.

»Ich hoffe, Sie sind gut versichert!«, kläffte der Al-Capone-Verschnitt. Die anfängliche Besorgnis in seiner Stimme hatte sich in Spucketröpfchen verwandelt, die er jetzt großzügig versprühte. »Hier, schauen Sie mal!«, rief er und deute auf die Kühlerhaube, in die sich ein Pedal wie ein deformierter Angelhaken hineingebohrt hatte.

Der Kerl sollte froh sein, dass ich noch lebe, dachte Karola und bekam richtig schlechte Laune. »Sie haben mir die Vorfahrt genommen und ich erwarte, dass Sie mir mein Rad, das übrigens neu war, ersetzen. Den Schaden an Ihrer Blechkiste haben Sie selbst zu verantworten. Im Übrigen behalte ich mir vor, Schmerzensgeldforderungen geltend zu machen.«

Bei dem Wort »neu« hatte sie gezögert, aber das merkte ihr Gegenüber nicht. Bei dem Wort »Schmerzensgeld« fasste sie sich an ihren Ellbogen und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Das sollte Nadelstreifen merken.

»Na hören Sie mal«, erwiderte der. »Vielleicht sollte die Polizei entscheiden, wer für den Schaden zuständig ist.«

»Gute Idee«, sagte Karola und hielt dem Mann ihre Polizeimarke unter den römischen Zinken. Fast gleichzeitig ertönte eine bekannte Stimme in ihrem Rücken.

»Astreiner Mae Ukemi! Aber soll ich nicht vorsichtshalber einen Krankenwagen rufen?« Vor ihr stand Franz Komtschewski und applaudierte pantomimisch. Erst jetzt nahm Karola den blauen Tatortkombi auf dem Firmenparkplatz wahr und Komtschewskis Team, das Karola mit großen Augen und offenen Mündern aus ihren Schutzanzügen heraus angaffte.

Zeit, dass sie die Initiative ergriff. »Hallo Franz, wart ihr schon drin?«

»Nee. Wir wollten gerade loslegen, als du deine Luftnummer abgezogen hast.« Der Leiter der Spurensicherung, ob seines schwer auszusprechenden Namens gerne als Kommt-Chef-auf-Ski oder einfach nur Chef Ski tituliert, musterte sie immer noch besorgt. Als Leiter der Kriminaltechnik musste er sich für Außeneinsätze freistrampeln, was nur selten geschah. Heute war solch ein Tag, der Komtschewski dabei half, sich wieder zu erden und mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben.

Er steht gern mal im Dreck, dachte Karola, ignorierte seinen beunruhigten Blick und fragte nur: »Wer ist alles vor Ort?«

»Die Kollegen vom KDD und aus dem sechsten Revier passen schön auf, dass alles so bleibt, wie es ist.« Und mit einem süffisanten Lächeln: »So wie immer halt.«

Karola wandte sich zu den anderen Kollegen der Spusi und winkte ihnen zu.

»Okay, Leute. Mir geht's gut. Legen wir los!«

»Kann mir vielleicht jemand erklären«, mischte sich der Unfallfahrer ein, »was verdammt noch mal hier los ist?«

Karola drehte sich zu ihm und musterte ein paar Sekunden die glitzernden Schweißperlen auf seiner Stirn, die sich an dem Pflaster verfingen. Auch die Haut zeigte nun hektische rote Flecken: Offenbar bekam der Nadelstreifenträger jetzt doch Muffensausen. Ein paar Sekunden genoss sie die gehetzten Augen, bis sie fragte: »Ihr Name bitte?«

»Michael Stringwell. Dr. Michael Stringwell. Ich bin der Geschäftsführer hier.«

»Sie haben nicht zufällig einen Doktor der Medizin?«

»Nein, hm, bedaure. Ich bin DBA, Doctor of Business Administration. Habe in Amerika Betriebswirtschaft ... egal! Was geht hier eigentlich vor?«

»Sie wissen nicht, warum wir hier sind?«

»Nein, verdammt, ich komme direkt von meiner Wohnung. Ist etwas passiert?«

»Hat man Sie nicht informiert?«

Stringwell fingerte sein Handy hervor, drückte darauf herum. »Hm. Leerer Akku.«

Noch einmal zögerte Karola. »In Ihrer Firma wurde jemand tot aufgefunden.«

»Was? Um Gottes willen ...«

Sie blickte ihm fest in die Augen. »Bitte unterstützen Sie unsere Ermittlungstätigkeit und ...«, Karola senkte Stimme und Augenbrauen noch etwas tiefer und deutete auf die Überreste ihres Bikes, »... melden Sie das da unverzüglich Ihrer Versicherung.«

Sie ließ ihn stehen und betrat Orni Charm Pharmaceutical. Der Beginn einer ganz normalen Ermittlung.

Kriminaloberkommissar Laurenz Dahlberg atmete auf, als seine Chefin hereinkam. Wurde Zeit, dass in diesem Hühnerstall Ordnung einkehrte. Zu viele Köche verdarben den Brei, oder wie der Engländer sagte: »A camel is a horse designed by committee«. Zum Glück hatten die Kollegen aus Seckbach den Tatort abgesichert und bereits eine Liste aller anwesenden Personen erstellt.

Dahlberg musterte durch seine Kontaktlinsen hindurch die Bartsch mit Kennerblick. Für ihre einundvierzig Jahre sah sie noch verdammt hübsch aus. Kastanienbraune Haare wie ein Rahmen um das feine Gesicht, die Nase keck und für seinen Geschmack ein bisschen zu spitz. Große Augen, die Iris mal hell glänzend wie Sand, mal dunkel wie Braunkohle. Die Bartsch gehörte, wie Dahlberg fand, zu den wenigen Frauen, deren Schönheit durch die Errungenschaften der Beauty-und-Style-Industrie kaum noch gesteigert werden konnte. Wer einmal erlebt hatte, wie die schmalen Fältchen unter ihren Schläfen bei ihren seltenen Lachausbrüchen in Schwingungen gerieten, würde verstehen, warum andere Frauen Karola sogar um diese Altersinsignien beneideten. Tja, jetzt war sie also mit Mister Mirko Fink zusammen, Hundestaffelführer bei dem Vier-Pfoten-Verein in Mühlheim. Nichts gegen die Kollegen mit der kalten Schnauze, aber dass die Bartsch sich ausgerechnet einen dieser Alpharüden aussuchen musste?

Als Karola ihn entdeckte, lächelte sie Dahlberg zu.

Dir wird, dachte er, das Lachen schon vergehen.