Feenland - Paul McAuley - E-Book

Feenland E-Book

Paul McAuley

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Beschreibung

Aufstand der Klone

Die schrankenlose Anwendung der Gentechnik hat die Welt verändert: Sogenannte Puppen, aus menschlichen Chromosomen erzeugte Kunstgeschöpfe, dienen nicht nur als billige Arbeitskräfte, sondern auch als todgeweihte Gladiatoren in perversen Unterhaltungsshows. Doch während die Menschen selbst in ihren virtuellen Welten dahindämmern, übernehmen die „Feen“, illegal aus den Puppen hochgezüchtete und mit kalter Intelligenz ausgestattete Wesen, auf skrupellose Weise die Macht.

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PAUL J. MCAULEY

FEENLAND

Roman

Das Buch

Die schrankenlose Anwendung der Gentechnik hat die Welt verändert: Sogenannte Puppen, aus menschlichen Chromosomen erzeugte Kunstgeschöpfe, dienen nicht nur als billige Arbeitskräfte, sondern auch als todgeweihte Gladiatoren in perversen Unterhaltungsshows. Doch während die Menschen selbst in ihren virtuellen Welten dahindämmern, übernehmen die „Feen“, illegal aus den Puppen hochgezüchtete und mit kalter Intelligenz ausgestattete Wesen, auf skrupellose Weise die Macht.

Der Autor

Paul McAuley, 1955 im englischen Stroud geboren, arbeitete mehrere Jahre als Dozent für Botanik an der St. Andrews University, bevor er beschloss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1988 veröffentlichte er seinen ersten Roman, Vierhundert Milliarden Sterne

Titel der Originalausgabe

FAIRYLAND

Aus dem Englischen von Birgit Reß-Bohusch

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1995 by Paul J. McAuley

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Inhalt

Teil Eins – Randgleiten

1 – King’s Cross

2 – Home Run

3 – Billy Rock

4 – Dealing

5 – Genhacken

6 – Der Traum von Alfred Russel Wallace

7 – Neue Verbindungen

8 – Taifun im Anzug

9 – Künstliches Leben

10 – Leroy

11 – Dr. Luther

12 – Machtmissbrauch ist ein alter Hut

13 – Des Feuers Macht

14 – Delbert

15 – The Killing Fields

16 – Zur Flucht geboren

17 – Das weiße Zimmer

18 – Kein besonders großer Vorteil

Teil Zwei – Liebesbomben

1 – Europa

2 – Der Saloon zur Letzten Chance

3 – Verlorene Kinder

4 – Das Nest

5 – Nachwirkungen

6 – Der dicke Mann

7 – Der Beginn eines großen Abenteuers

8 – Der arme Ritter

9 – Verschwörungstheorien

10 – Der Agent

11 – Erste Strahlen der Neu Aufgehenden Sonne

12 – Die wilde Jagd

13 – Informationsfluss

14 – Das Interface

15 – Wieder oben

16 – Das Magic Kingdom

17 – Die Feenkönigin

18 – Gerettet

Teil Drei – Die Bibliothek der Träume

1 – Der flammende Mann

2 – Billige Ausflüge in das Elend anderer Leute

3 – Frankensteins Bräute

4 – Probleme in Tirana

5 – Jenseits der Grenze

6 – Neue Probleme

7 – Die Zornigen

8 – Die Party

9 – Die wilde Jagd

10 – Antoinette

11 – Fieber

12 – Zu Ihrer eigenen Sicherheit

13 – Keine Befreiungsaktion

14 – In einem anderen Teil des Waldes

15 – Milenas letztes Geschenk

16 – Leskoviku

17 – Der Gehörnte Mann

18 – Weises Blut

19 – Feenland

Teil Eins 

1 – King’s Cross

Der Raum ist voll von Geistern. Durchscheinend wie Quallen, ausstaffiert in der Mode des Zeitalters von Edward, schlendern sie durch den jüngst restaurierten Damen-Rauchsalon des Grand Midland Hotel am Bahnhof St. Pancras, einzeln oder zu zweit, immer im Kreis, geschickt den Passagieren ausweichend, die auf die Ankunft des Vier-Uhr-Transeuropa-Express warten. Alex Sharkey ist der einzige Mensch im Raum, der den Geistern auch nur eine Spur von Beachtung schenkt; um sich die Zeit zu vertreiben, versucht er den Algorithmus herauszufinden, der ihr scheinbar zufälliges Promenieren steuert. Er war zwanzig Minuten zu früh da, und jetzt zeigt die Uhr, die er unterwegs gekauft hat, zwölf Minuten nach drei, und sein Kunde lässt ihn warten.

Alex fühlt sich nervös und unbehaglich und schwitzt in sein nagelneues Cordhemd aus ungebleichter afghanischer Baumwolle. Der grobe Stoff ist mit kleinen Knoten aus eingewebten Spelzen durchsetzt, die auf der Haut scheuern. Die Jacke seines Tweed-Anzugs spannt in den Schultern; obwohl ihm der Verkäufer versichert hat, dass ihr grünes Karomuster gut zu seinem roten Haar passt, findet Alex, dass er darin ein wenig wie Oscar Wilde aussieht. Für den das liebevoll auf Tradition getrimmte Ambiente des Damen-Rauchsalons – mit seinen Wänden in Lachsrosa und Crème, seinen Marmorsäulen und roten Plüschsesseln, seinen Topfpalmen und lustwandelnden Geistern der Edward-Ära – wohl eher der passende Rahmen gewesen wäre.

Alex hat sich in einen niedrigen, zu hart gepolsterten Lehnstuhl gequetscht, raucht Kette und spürt nach der zweiten Tasse Espresso das Summen seiner Lebensgeister. Eines hat er heute in Erfahrung gebracht – dass sie hier einen wunderbaren Espresso machen, ölig bitter und brühheiß serviert, in dicken fingerhutgroßen Tassen, wie es sich gehört, mit einem Zitronenschnitz in der Wölbung des zierlichen Silberlöffels, daneben ein Täfelchen Pfefferminzschokolade und ein Glas blitzgefilterten Wassers.

Koffein ist eine so schlichte, elegante, notwendige Droge. Alex erinnert sich an einen von Gary Larsons Cartoons aus der Far Side-Serie: Um einen Baum geschart ein paar schläfrige, bescheuert dreinblickende Löwen, und in der Ferne ein Nashorn, das seinem Gefährten eine Tasse Kaffee einschenkt, bis der genüsslich: »Halt, das reicht!«, sagt. Die Überschrift hieß Morgen-Grauen in Afrika. Alex muss lächeln, als ihm in den Sinn kommt, wie er beim ersten Betrachten dieser Szene losprustete. Wie lange liegt das zurück? Es war ein Weihnachtsfest kurz vor dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Er muss damals fünf oder sechs gewesen sein, und sie lebten in dieser feuchten, von Ameisen wimmelnden Wohnung im zwölften Stock eines Sozialblocks auf der Hundsinsel, mit Blick auf die Themse. Irgendwie hatte ihm Lexis zu Weihnachten immer ein Buch besorgt. Um ihn zu fördern.

Und jetzt sitzt er hier und wartet auf seinen Mann, umgeben von Hologramm-Geistern und sorgsam darauf bedacht, sich nicht von den Anzugtypen und reichen Touristen abzuheben, die nur eines im Sinn haben – den Expresszug zu besteigen und diesem beschissenen Land den Rücken zu kehren. Die meisten von ihnen parlieren in Französisch, der Lingua franca der feinen Leute in der zunehmend isolationistischen Europäischen Union. Die Frauen sind herausfordernd gebräunt, gekleidet in durchsichtige Blusen und sehr kurzen Shorts oder kunstvoll ausgefransten Miniröcken. Einige tragen den allerletzten Schrei der Bodi-Con-Mode, Tschadors aus mehreren Schichten durchsichtigen Chiffons, in die bewegte Bilder und Muster eingewoben sind; sie enthüllen und verbergen die Brüste, die Rundung eines Schenkels, die glatte braune Haut in der Mulde des Schlüsselbeins. Die Männer bevorzugen klobige Anzüge in Erdfarben, schweres Gold an den Handgelenken und ein diskretes Make-up. Ohrringe blitzen, wenn sie sprechen oder sich in den hohen vergoldeten Spiegeln hinter der Bar betrachten. Irgendwie zerrt es an den Nerven, dass die Spiegel nicht auch die Geister reflektieren. An der Mahagoni-Theke der Bar lärmen ein halbes Dutzend Ukrainer in abgewetzten schwarzen Anzügen, die eine Runde Malz-Whisky nach der anderen bestellen und sich zuprosten.

Eine Frau hat ein Schoßpüppchen. Es sitzt still neben seiner Herrin, mit einer von Goldtressen gesäumten Uniform in Rosa und Purpur und einem nietenbesetzten Hundehalsband, an dem eine Kette festgehakt ist. Das blaue Gesicht mit dem negroiden Profil ist unbewegt. Nur die Augen wandern umher. Dunkle, feucht schimmernde, traurige Augen, als ahnte es, dass tief im Innern seiner Zellen nichts so ist, wie es sein sollte, als wüsste es um die ihm auferlegte Last der Sünde.

Alex tut das Püppchen leid – verstoßen aus der Natur, betäubt durch die Gewalt, die seinem Genom angetan wurde. Ein elendes Geschöpf, denkt er, und der schlagende Beweis für seine These, dass es keinen Sinn hat, höher entwickelte Organismen als Hefe gentechnisch zu verändern, denn je komplexer das Lebewesen, desto unberechenbarer die Nebenwirkungen.

Alex steckt sich noch eine Zigarette an und sieht wieder nach der Zeit. Er hat das unbehagliche Gefühl, dass ihm die Dinge entgleiten. Rechtzeitig da sein und dann warten zu müssen, war ihm schon immer verhasst. Er hat sich eigens für diesen Anlass des pünktlichen Erscheinens eine Uhr gekauft, und nun bringt sie nichts, außer dass sie seine Nervosität steigert. Es ist ein Stück, das man einstampfen und wiederverwerten kann, polnischer Straßen-Ramsch, der ihn weniger als ein Espresso gekostet hat, ein Hexagon aus klarlackierter Holzfaser mit aufgedampfter Grafik und orangefarbenem Stoffband. Die Zeiger werden von dem schwachen myoelektrischen Feld seiner Handgelenk-Muskeln angetrieben – ein Parasit, der die Zeit bindet. Auf dem Zifferblatt ist ein schwarzer Adler abgebildet, der die Schwingen spreizt und Feuer spuckt, wenn Alex die Uhr schräg hält, um die Zeit abzulesen. Die Zeiger sind schwarze Splitter, angetrieben von dem gleichen Chip, der den Adler bewegt. Der Grafikfilm schrumpelt bereits; der Adler hat einen gebrochenen Flügel, und der Stundenzeiger ist geknickt. Es ist achtzehn Minuten nach drei.

Alex hatte früher mal eine echt antike Rolex aus rostfreiem Stahl – mitsamt Zertifikat, aus dem hervorging, dass die Zwiebel 1967 in der Schweiz gefertigt worden war. Sie stammte vom Zauberer – der Zauberer hatte ihm oft solche Sachen geschenkt, damals, als Alex noch sein hellster und geschicktester Lehrling war. Aber Alex vermisste die Rolex, seit sie ihn zusammen mit dem Zauberer und dem Rest der Mannschaft hochgenommen hatten. Entweder war sie bei den Bullen hängengeblieben oder bei einem dieser halbwüchsigen Arschlöcher, die sich Lexis ins Bett holte. Alex verlor damals noch sehr viel mehr als die Uhr, und das ist einer der Gründe, weshalb er bei Billy Rock in der Kreide steht und riskante, verzweifelte Deals mit zweitrangigen indonesischen Diplomaten macht.

Achtundzwanzig Minuten nach drei. Scheiße. Alex winkt dem Ober und bestellt noch einen Espresso, langsam und deutlich, weil der hochgewachsene, silberhaarige Mann ein albanischer Flüchtling ist, der zur englischen Sprache kein vertrautes Verhältnis hat.

Es ist zwanzig vor vier, eine Durchsage hat die Passagiere des Trans-Europa-Express zum Einsteigen aufgefordert, und allmählich leert sich der Raum, als der Ober Alex seinen Espresso bringt. Alex zahlt mit einer Kreditkarte, die nicht seinen Namen trägt, kippt den Kaffee und schlendert auf die Frau mit dem angeketteten Schoßpüppchen zu. Er bleibt stehen und starrt sie an. Es ist albern, und er weiß, dass es ihm nichts bringt, aber er kann nicht anders.

Als sie endlich aufschaut, eine gebräunte Frau um die vierzig, mit der gewissen Straffheit um Kinn und Hals, die auf ein Facelifting schließen lässt, sagt Alex: »Mir ist eben erst klar geworden, wer das Tier am Ende der Leine ist. Es lässt sich gerade mit Campari vollaufen.« Damit geht er, mitten durch zwei Geister-Damen in Wespentaillen-Kostümen, die sich in einem Geflitter von gebrochenem Laserlicht auflösen.

Über Gilbert Scotts breite, geschwungene Treppe begibt sich Alex in das geschäftige Treiben des Foyers. Er schüttelt seinen schwarzen, breitkrempigen Hut aus (yeah, Oscar Wilde!), klatscht ihn sich aufs Haupt und macht auf lässig, trotz des säuerlichen Klumpens, der ihm den Magen zusammenzieht. Ein Türsteher in pflaumenblauer Livree und Zylinder öffnet das Spiegelglas-Portal, und Alex tritt hinaus in bronzenes Sonnenlicht und den Lärm des Verkehrs, der die Euston Road entlang tobt.

Im Norden brauen sich schwarze Regenwolken zusammen, strömen geballt heran wie im Zeitraffer. Die Luft wirkt aufgeladen; die Leute gehen schneller, trotz der lastenden Hitze. Jeder zweite trägt einen Schirm. Es ist Monsunwetter.

Alex nimmt die Fußgänger-Unterführung zum Bahnhof King’s Cross. Ein paar Telefonkabinen stehen am Rand des Gehsteigs aufgereiht, gehütet von einer Vettel in einer Art Umhang aus schwarzen Plastik-Abfallsäcken. Alex gibt ihr ein Trinkgeld und wählt seine Kontaktnummer, eingeklemmt in der Enge einer Zelle, die nach einem Gemisch aus Pisse und Billig-Raumspray stinkt und deren Wände mit den Rufnummern des horizontalen Gewerbes vollgekritzelt sind. Der Zauberer hat ihm eingeschärft, Kunden niemals per Mobiltelefon anzurufen: Die Standorte eingeschalteter Mobiltelefone werden ständig überprüft, die Knotenpunkte angezapft, die Passworte von geduldigen Abhöranlagen registriert, und jeder im Umkreis von fünfzehn Kilometern, der einen handelsüblichen Scanner besitzt, kann dein Gespräch mithören.

Der Bildschirm ist gesprungen, und über den unteren Bereich hat jemand eine Flasche schwarzen Nagellack ausgekippt. Auf dem Boden liegt eine blutverschmierte Kanüle. Alex rollt sie mit dem Fuß hin und her, während das Telefon vergeblich klingelt, und verlässt die Zelle mit einem merkwürdigen Gefühl der Heiterkeit, einer schwebenden Leichtigkeit, als befände er sich im freien Fall. Er sitzt echt und tief in der Scheiße. Früher oder später wird ihn der Gedanke einholen, aber im Moment hat er das Empfinden, dass er einer Gefahr entronnen ist.

Eben als er zur U-Bahn will, setzt der Regen ein.

Der Wasserschwall prasselt mit solcher Wucht herunter, dass er vom Pflaster einen Meter zurück in die Luft geschleudert wird. Alex rettet sich halb durchweicht in den Bahnhofseingang. Von der Hutkrempe läuft ihm das Nass über den Rücken. Der Regen ist so heftig, dass man darin ertrinken könnte. Die Temperatur sinkt auf einen Schlag um fünf Grad. Das Wetter spielt in jüngster Zeit verrückt. Es hat eine tiefgreifende Veränderung vor und will sie mit Gewalt durchziehen.

Auf schwarzen Taxis leuchten plötzlich die orangefarbenen Besetzt-Schilder. Laster pflügen Bugwellen in der überfluteten Straße auf, die über pastellfarbenen Kleinwagen schwappen. Alex sieht ein blaues Blinken weit vorne an der Pentonville Road und spannt sich an. Nein, es ist vermutlich nur ein Unfall.

Windböen stülpen Regen- und Sonnenschirme von innen nach außen und reißen Hüte von den Köpfen. Auf der Verkehrsinsel an der Kreuzung King’s Cross haben Flüchtlinge ihr Lager aufgeschlagen. Die mit Stricken an Geländern und Verkehrszeichen-Pfosten festgezurrten Leinwand- und Plastikbahnen der Zelte und Biwaks blähen sich im Sturm und reißen an ihren Befestigungen. Eine große schwarze Kunststoff-Folie löst sich plötzlich durch den strömenden Regen, segelt über den Verkehr hinweg wie eine Fledermaus und senkt sich dann auf die Windschutzscheibe eines Lasters. Der Wagen stellt sich auf der überschwemmten Straße quer und kommt zum Stehen, stößt gewaltige schwarze Rauchwolken aus, die nach uraltem, verbranntem Speiseöl stinken, und blockiert beide Fahrspuren in Richtung Osten. Hupen, wütend aufblitzende Bremslichter; rote Messer, die durch die dicke, dunkle Luft schneiden.

In der Ferne kreisen Blaulichter durch den Regen. Sirenen heulen auf und schweigen frustriert. Alex sieht jemand durch den Stau rennen, einen kleinen Mann, verfolgt von zwei bulligen Typen in Anzügen, die ihn an den Armen packen und zurückreißen. Einer der Kerle schwenkt einen Plastikausweis vor einem hupenden Taxi hin und her.

Heiland, da verschwindet sein Kontaktmann. Alex ist plötzlich sicher, dass Perse seine Finger im Spiel hat. Perse hat den Deal spitz gekriegt und ihm die Tour versaut.

Zwei Polizeifahrzeuge stecken im Stau hinter dem querstehenden Laster fest. Bei einem davon werden die Türen aufgerissen, und Bullen in gelben Regenmänteln klettern ins Freie.

Plötzlich kommt Alex zu Bewusstsein, dass ihn von allen Seiten die Augen der Sicherheitskameras anstarren. Er zieht den Hut tiefer in die Stirn und betritt die überfüllte Bahnhofshalle. Ein Penner in einem verdreckten bodenlangen Mantel, der nur von einem Strick zusammengehalten wird, grinst ihn an. Auf seiner Stirn prangt eine rötlichgelb verkrustete Wunde. Er merkt, dass er die Aufmerksamkeit von Alex erregt hat und sagt: »So’n Typ bat mir heute morgen was zum Abdecken geschenkt, und ich hab’s selber aufgetragen, ohne einen Tropfen in die Augen zu kriegen. Sieht gut aus, was?«

Alex zieht das Kästchen aus der Innentasche seiner Anzugjacke – die Riefen auf dem schwarzen Plastikdeckel scheinen sich anzuspannen, während sie seine Fingerabdrücke abtasten – und hält es dem Mann hin. »Vor einer Viertelstunde wäre ich um ein Haar ein reicher Mann gewesen. Ich sag dir eins: Trau niemals einem Bullen!«

Der Penner starrt das Kästchen an, das Ähnlichkeit mit einem mattschwarzen Mini-CD-Player hat, und sagt: »He, glaubst du, ich will tanzen?«

Aber er greift danach, und das reicht. Der Kontakt mit unbekannten Fingerabdrücken aktiviert die Selbstmord-Sequenz, und Sekunden später wird das Kästchen seinen Inhalt erhitzen und zerstören.

Alex rennt bereits weiter. Der Regen trommelt auf dem hohen Glasdach wie die ungeduldigen Finger Gottes – taramm – taramm. Er drängt sich durch eine Schlange von Fahrgästen, die auf einen der neuen strahlungssicheren Züge nach Schottland warten, und nimmt die Treppe zur U-Bahn-Station. Er macht sich nicht die Mühe, mit einem der vielen Anbieter um eine Secondhand-Zonenkarte zu feilschen, sondern wirft eine Fünf-Pfund-Münze in den Automaten, packt sein Ticket und hastet die Rolltreppen hinunter in die gefliesten Korridore. Ozonbeladener Wind schmirgelt ihm die Kehle, während er dahinrennt, ein übergewichtiger junger Mann in einem schrillen, grün karierten Anzug, der ihm eine Nummer zu klein ist, das Gesicht rosig wie ein gehäuteter Seehund, den breiten schwarzen Hut am Kopf festhaltend, angestrengt bemüht, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

2 – Home Run

Als Alex Sharkey endlich eine Halteschlaufe in der klapprigen alten Metropolitan Line zu fassen bekommt, muss er erst mal eine Weile verschnaufen. Schweiß tränkt sein Hemd; er spürt, wie sich das knotige Material am Rücken festklebt und wieder löst, während der Zug durch das Dunkel rattert. Das Abteil ist überfüllt, und Alex wird gegen eine der Türen gepresst. Das Warnschild über seinem Kopf lautet: Ausgänge bitte von Hindernissen freihalten. Ein Witzbold hat die ›Hindernisse‹ zu ›Kinderpisse‹ umgestaltet. Dem Gestank nach ist die Mahnung berechtigt.

Alex steigt in Whitechapel um. Er nimmt die East London Line für die kurze Strecke rüber nach Shadwell, geht die Treppe hoch und wartet ewig auf dem nassen, windigen Bahnsteig, bis einer der kleinen Dockland-Züge einfährt. Seit dem Bombenanschlag der Radikalen Monarchisten-Liga auf die Jubilee-Verbindung ist die Fahrt zwischen Zentrum und East End wieder sehr umständlich geworden.

Vorne im Abteil beugt sich ein Anzug-Typ in mittleren Jahren über einen Bookman; vermutlich ein Journalist. Abgerackerte Frauen aus dem East End sitzen auf den Bänken, ihre Einkaufstüten zwischen den Knien. Ein halbwüchsiger Schwarzer, die Kapuze seines Ponchos hochgezogen und die obere Gesichtshälfte von einer riesigen Spiegelbrille verdeckt, führt ein endloses Handy-Gespräch. Hin und wieder legt er einen Arm über die Sitzlehne und dreht sich zu Alex um; vielleicht hält ihn der Junge für einen Bullen.

Alex muss lachen, ein kleines, halbersticktes Kichern, das ihn am ganzen Körper zittern lässt. Heiland, wenn das Kerlchen ahnte, wie tief er in der Scheiße steckt! Er weiß nicht einmal, ob es sicher ist, jetzt seine Wohnung aufzusuchen, aber wohin soll er sonst gehen? Leroy wird nicht begeistert sein, wenn er ihm Theater in die Bude bringt, und seine Mutter will er nicht noch einmal in seine Geschäfte hineinziehen. Als die Polizei den Zauberer hochnahm, schlug ein bewaffnetes Kommando die Wohnungstür von Lexis mit einem Presslufthammer ein.

Alex steigt an der Westferry-Station aus. Es hat zu regnen aufgehört. Grelles Sonnenlicht erhitzt die Luft. Vom Asphalt steigt Dampf auf. Der Geruch erinnert an frischgebackenes Brot. Überall zersplittern Wasserfilme das Licht. Moskitos surren, und obwohl er gegen Gelbfieber und Malaria und Schwarzwasserfieber geimpft ist, zieht Alex den Schleier seines großen Schlapphuts nach unten.

Er erinnert sich an die Jahre kurz nach dem großen Vogelsterben, an die Heuschrecken-, Blattlaus-, Ameisen- und Fliegenplagen, an die Nahrungsmittel-Knappheit und die langen Warteschlangen vor den Supermärkten. An die kleine, geschützte Welt, die Lexis damals für sich und ihn errichtete – er muss sie endlich wieder mal besuchen, wenn das hier vorbei ist, wenn er sie nicht mehr in Gefahr bringt. Sie kommt gut zurecht, und ihr derzeitiger Freund ist jünger als Alex, verdammt noch mal. Sobald die Sache hier ausgestanden ist, wird er sie besuchen. Er schickt diesen Vorsatz nach oben wie ein Gebet. Daheim, sicher und frei. Beim Fangenspielen in den Treppenschächten der Hochhäuser hatte Alex immer Angst, ausgeschlossen zu werden, hinten zu bleiben – er war schon damals füllig, obwohl er genauso schnell rennen konnte wie die meisten anderen Kids und beim Zweikampf fast alle unterkriegte. Sein Gewicht verschaffte ihm damals Ansehen – daran denkt er immer noch gern zurück. Er erinnert sich an das einzige Mädchen, das allen davonflitzte, an die lange, X-beinige Najma mit dem dicken schwarzen Zopf, der nach hinten abstand, wenn sie wie ein Pfeil dahinschoss. Fort. Weggezogen. Die ganze Familie erwischt bei einer Repatriierungsaktion und zurückgeschickt nach Indien, obwohl sie alle hier geboren waren. Wie Najma heute wohl lebt – wenn sie noch lebt? Eigentlich sollte er dankbar sein, dass ihn das Schicksal besser behandelt hat.

All das geht ihm durch den Kopf, während er verkehrsreiche Straßen unterquert und ein zertrampeltes Stück Wiese zwischen den Tiefgaragen-Einfahrten der Wohnsilos entlanggeht, wo die Kids zwischen ausgebrannten Autowracks Fußball spielen – so viele verlassene Autos, dass es fast nach Parkplatz aussieht. Der pyramidengekrönte Monolith von Canary Wharf verschwindet hinter den Hochhäusern und taucht wieder auf. Die Sonne brennt Alex auf den Kopf, und die Hitze unter seinem schwarzen Hut wird unerträglich.

Er hat seine Schrecksekunde in der vergammelten Gasse, die an einem Schrottplatz unter der Ausleger-Brücke der Docklands Line vorbeiführt, aber die beiden Gestalten am anderen Ende des Durchgangs sind nur ein Crack-Dealer und einer seiner Kuriere. Alex kennt den Dealer flüchtig, einen muskelbepackten Nigerianer, der Tag und Nacht seinen Sonnenschild trägt. Er hat sich einen Baseball-Schläger unter den Arm geklemmt, als schlagendes Argument für streitsüchtige Kunden. Der Dealer nickt Alex lässig zu, fragt, wie es so geht und ob er immer noch diesen komischen Shit herstellt.

»Warum, willst du was für mich verhökern?«

»He, Mann, da ist doch null Gewinnspanne drin! Meine Kunden wissen genau, was sie wollen. Da solltest du einsteigen, Mann, aber echt! Du spezialisierst dich auf STP{1}, ich bring’s unter die Leute – kein Problem. Du hast immerhin für den Zauberer gearbeitet, Mann. So was zieht bei den Abnehmern. Die schätzen einen guten Stammbaum.«

Sie haben dieses Thema schon öfter durchgekaut, aber Alex ist weder bescheuert noch verzweifelt genug, um sich auf diese Art von Deal einzulassen. Bis jetzt zumindest nicht. Er schiebt sich an dem Dealer vorbei und meint: »Die Industrie-Chemie ist nun mal nicht mein Ding!«

»Überleg’s dir noch mal, Mann!«, rät ihm der Dealer gönnerhaft. »Wär zumindest eine sichere Sache. Soviel ich höre, kommt dieses irre Zeugs, das du zusammenkochst, in nächster Zeit sowieso auf die Verbotsliste. Aber ich muss jetzt los, Mann, die Leute haben Feierabend und brauchen ihren Fix. Bis später, eh?«

Hinter der Hochbahn taucht die Rückfront der vergammelten Werkstatt-Hallen auf, in denen Alex Unterschlupf gefunden hat, ein halbes Dutzend in einer Reihe, überragt von der ausgeschlachteten Ruine eines Spielzeugstadt-Büroblocks aus den achtziger Jahren, gelber Backstein, die blauen und roten Kunststoffrahmen verblasst und gebrochen, die Scheiben samt und sonders eingeworfen. Unkraut bahnt sich seinen Weg durch den Teer der Zufahrtsstraße, und auf den Flachdächern haben sich Buddleia-Sträucher angesiedelt. Der scharfe Geruch von Lösungsmitteln aus dem Chip-Montage-Schuppen am Ende der Gasse steigt ihm in die Nase. Frank, der kauzige Alte, der gebrauchte Büromöbel verkauft, sitzt auf einem schwarzen Leder-Drehstuhl in der Sonne und nickt ihm zu. Alex denkt, dass er nicht mehr als zehn Worte mit Frank gewechselt hat, obwohl sie seit drei Monaten Nachbarn sind. Von der anderen Seite dringt der eifrig summende Chor von Malik Alis Industrie-Nähmaschinen herüber: Drei der Hallen sind von Bangladeschi besetzt, die ihr Geld im Altkleiderhandel verdienen.

Wieder ein mulmiges Gefühl, als Alex die kleine Tür im hohen Doppeltor vor seinem Hallenteil öffnet – jemand könnte im Dunkel auf ihn warten – aber dann schaltet er die Neonlichter ein, und natürlich ist keiner da. Er wirft sich zur Beruhigung zwei Tabletten Cool-Z ein und spült mit dem Tages-Karton Pisant nach, diesem Orangen-Zimt-Gesöff, das er in einer Verkaufs-Arkade an der Tottenham Court Road entdeckte. Pisant war etwa eine Woche lang der Renner im rasant wechselnden Angebot der Novitäten-Haie, vermutlich des exotischen Namens wegen, aber Alex gelang es, den Lieferanten aufzuspüren, bevor das Zeug aus den Regalen verschwand, und nun stapeln sich die letzten Weltvorräte an Pisant in einer seiner drei Industrie-Kühlschränke.

Sonst gibt es noch eine Edelstahl-Küchenzeile, leer bis auf eine große Cappuccino-Maschine und die Mikrowelle, in der Alex die Mitnehmgerichte von Hong Kong Gardens oder seine gefriergetrockneten malaysischen Armee-Rationen aufwärmt – er hat im hinteren Teil der Werkstatt Kisten mit etwa tausend etikettfreien Dosen rumstehen. Ein Bett ist auch da, hinter einem chinesischen Wandschirm aus Lackpapier, und in einem ehemaligen Büroraum hat er eine kleine Toilette und eine Duschkabine installiert. Den übrigen Platz nehmen mit Glaszeug vollgestellte Labortische ein, ein geschlossener Abzug für die Chemiedämpfe, eine Ultra-Zentrifuge, ein Gefriertrockner und ein PCR, ein Secondhand-Bioreaktor, ein Schreibtisch mit einem Metallrack für den Computer, an dem Alex die DNS-Segmente rekombiniert und das Ökosystem für sein künstliches Leben steuert – und mitten auf dem nackten Beton-Fußboden die Maschine, für die er seine Seele verkauft hat: Black Betty, das Argon-Laser-Superding von Nuclear Chicago, ein Nucleotiden-Sequencer und -Assembler nach dem neuesten Stand der Technik.

Der Geruch der Werkstatt, dieser kräftige Cocktail aus Lösungsmitteln und einer Spur von Salzsäure-Dämpfen, beruhigt sein Kleinhirn. Alex lebt nun schon ein Vierteljahr hier, und es gefällt ihm immer noch. Black Betty schnurrt und klickt, während die Mini-Cray, die sie steuert, das Assembler-Programm Zeile um Zeile weiterscrollt. Sie produziert gerade den nächsten Schwung von dem Zeug, das er am Bahnhof King’s Cross in Müll verwandelt hat, aber er bringt es nicht übers Herz, sie abzuschalten. Natürlich hätte er sie niemals kaufen und sich so hoch verschulden dürfen – ausgerechnet bei Billy Rock. Aber was soll’s? Es war Liebe auf den ersten Blick, und niemand außer der Mafia hätte ihm das Geld vorgestreckt.

Alex geht seine Post durch, aber es ist nichts Persönliches dabei. Sein Online-Dämon meldet, dass er in zwei vielversprechende Diskussionen eingeloggt ist, und will wissen, ob er eine neue Datenbank für Chemie-Bedarf laden soll, aber Alex entgegnet, dass er jetzt keine Zeit hat. Der Dämon – ein flinker roter Teufel mit Gabelschwanz und einem Dreizack in der Hand – senkt die Hörner und blendet sich langsam aus.

In diesem Moment könnte Alex' Kontaktmann seine Seele in einem Polizei-Verhörraum ausschwitzen – obwohl er vermutlich schlau genug ist, auf seine Diplomaten-Immunität zu pochen und nichts zu sagen, was ihn belasten könnte. Alex denkt darüber nach und weiß, dass er von hier verschwinden sollte, selbst wenn der Typ den Mund hält. Aber im Grunde hat er nichts Illegales getan, und außerdem kann er seine Ausrüstung nicht im Stich lassen.

Das Cool-Z beginnt zu wirken und umschließt ihn mit einem eisigen Futteral der Ruhe. Alex tut, was er schon am Bahnhof King’s Cross hätte tun sollen, wenn er beim Anblick der Blaulichter nicht in Panik geraten wäre. Er ruft Detective Sergeant Howard Perse an.

Perse nimmt beim ersten Klingeln ab, als habe er nur auf den Anruf gewartet. Er sitzt so dicht vor der Telefon-Kamera, dass Alex sein fleischiges, pockennarbiges Gesicht verzerrt auf den Bildschirm kriegt.

»Sie sehen geschafft aus, Mann«, sagt Perse.

»Und warum wohl?«

»Ich hab was von einer geplatzten Übergabe in King’s Cross läuten hören.« Er scheint zu lächeln, aber bei Perse weiß man das nie genau. »War das Ihr Ding, Sharkey?«

»Fragen Sie nicht so scheinheilig, Mann!« Trotz des Cool-Z lässt sich Alex hochbringen.

»Aber, aber!« Perse amüsiert sich, das steht fest. »Ich könnte jetzt sagen: Vergessen Sie’s, Sharkey, Sie finden immer wieder neue Kunden! Haben Sie angerufen, um das zu hören? Was wollten Sie den Ausländern übrigens verhökern? HyperGhost? Sie sind ein ganz Schlimmer, Sharkey! Die Schlitzaugen ziehen sich doch genug Fernsehen rein.«

»Das Zeug ist völlig legal.«

»Aber nicht mehr lange, das wissen Sie ganz genau. Das Gesetz geht in spätestens zwei Wochen in die letzte Lesung. Hatten Sie es deshalb so eilig, den Scheiß loszuwerden?«

»Yeah, und Sie warten nur darauf, bis das Verbot amtlich ist, damit Sie mich wie gewohnt in der Hand und unter Kontrolle haben! Aber vielleicht spiel ich nicht mehr mit, Perse!«

Perse gibt keine Antwort.

»Ich werde mit Billy Rock reden müssen«, fährt Alex fort. »So wie es aussieht, kann ich diesen Monat meine Rate nicht bezahlen.«

»Man tut immer gut dran, es sich mit Billy Rock nicht zu verderben«, meint Perse.

Und Alex sieht den Zusammenhang und ärgert sich, dass er ihn nicht von Anfang an gesehen hat. Der kaputte Fuß von Perse! Er darf es ausbaden, dass Perse über seinen verdammten Fuß nicht wegkommt!

»Es geht nicht nur darum, mich zu erpressen, stimmt’s? Sie kochen da eine ganz miese Sache aus, Perse, um über mich an Billy Rock ranzukommen. Weil Sie selbst die Finger von ihm lassen müssen, auf Befehl von oben. Weil Sie ihn nicht länger belästigen dürfen. Deshalb spannen Sie mich vor Ihren Karren.«

Perse macht sich nicht die Mühe, den Vorwurf abzustreiten. Jeder weiß, dass er Billy Rock festzunageln versucht, seit der kleine Bastard ihm den Fuß verkrüppelte – auch wenn es ein Unfall war. Er fragt: »Wie tief stecken Sie bei Billy in der Kreide?«

Alex wippt auf seinem Drehstuhl hin und her. Die pneumatische Federung seufzt unter seinem Gewicht. »Den Kredit und das Schutzgeld gab es nur im Zweierpack«, sagt er. »Ich hatte keine andere Wahl.«

Mit seinem aufreizenden Lächeln direkt vor dem Telefon-Auge meint Perse: »Schon mal überlegt, dass Billy Rock was mit Ihrer Pechsträhne zu tun haben könnte?«

»Er kann mir zwei Streifenwagen auf den Hals hetzen? So war das nämlich vorhin bei King’s Cross.«

»Sharkey, er kann Ihnen einen echten Chef-Inspektor auf den Hals hetzen, wenn er will. Seine Familie hat mindestens zwei davon auf ihrer Gehaltsliste stehen. Sie wissen, wie die Dinge laufen, also hören Sie auf, mich anzugiften!«

Alex weiß, wie die Dinge laufen. Es ist ein ewiges Dreieck. Triaden-Familien wie die von Billy Rock haben sowohl die Yardies wie die Bullen in der Hand. Die kleinen Gauner von den Docks machen die notwendige Dreckarbeit, und die Bullen behalten die Gauner im Auge. Alles, was dieses Verhältnis stören könnte, wird ausgelöscht oder dem System einverleibt.

Alex hat auf einmal einen schlechten Geschmack im Mund. »Und was kann ich tun, wenn er mir die Tour tatsächlich versaut hat?«, fragt er.

»Warum klopfen Sie nicht mal auf den Busch? Dann ist er am Zug und lässt vielleicht die Katze aus dem Sack.«

»Yeah.« Und wenn es Billy Rock war, denkt Alex, dann weiß ich immer noch nicht, wer ihm diesen Deal gesteckt hat.

»Mann, wenn Ihnen ein Billy Rock Geld zur Geschäftserweiterung vorstreckt, verlangt er selbstverständlich ein Stück von Ihrem Kuchen. So ist das!«

»Ich will mein Geschäft gar nicht erweitern!«

»Wie heißt das Gesöff, das Sie in Ihrem Kühlschrank horten?«

»Pisant?«

»Yeah, genau. Schon mal dran gedacht, dass Ihnen der Stoff eines Tages ausgehen könnte?«

Und dann unterbricht Perse die Verbindung. Alex weiß noch immer nicht, wer ihm den Deal vermasselt hat, aber in einem Punkt hat Perse Recht. Er sollte Billy Rock anrufen.

3 – Billy Rock

Ein Expertensystem, am Telefon getarnt als schick gestylte Empfangsdame mit beachtlichen, von der dünnen Bluse kaum verhüllten Brüsten, nimmt die Botschaft entgegen und verspricht, sie an Mister Rock weiterzuleiten. Während Alex auf Billy Rocks Rückruf wartet, befasst er sich eingehend mit den neuesten Veränderungen in seinem K-Leben-Ökosystem und noch eingehender mit dem speziellen Web Bulletin Board, das K-Leben-Freaks für ihre Konferenzen benutzen. Mit einem Biologie-Professor der Universität von Hawaii plaudert er lange über das Phänomen des Randgleitens. Allem Anschein nach kennt jemand unter dem Pseudonym Alfred Russel Wallace einen neuen Dreh zur Lösung des Parasiten-Problems, das dem Randgleiten ein Ende bereitet.

Immer noch keine Antwort von Billy Rock, der um diese nächtliche Stunde vermutlich bereits higher als der Mond ist. Verdammtes Arschloch, denkt Alex. Es ist spät genug für einen Besuch bei seinem Freund Ray Aziz, der einen Techno-Laden namens Ground Zero führt, und Alex braucht einen Deal, um die Schlappe von King’s Cross wenigstens notdürftig wieder auszubügeln.

Alex kommt gerade recht für den zweiten Einschlag des Abends – eine feurige Eruption und ein markerschütterndes Dröhnen, gefolgt von einem Hologramm-Rauchpilz, der über die riesigen Videoschirme und Scheinwerferbrücken des Clubs aufzuquellen scheint, während die Tänzer inmitten des grellen Lichtscheins wie verdammte Seelen zu den wilden Pulsschlägen des Technoraga-Beats zucken. Der Schuppen heißt nicht umsonst Ground Zero.

Alex unterhält sich mit Ray in der Misch-Kabine hoch über der Tanzfläche, wo drei Tech-Jockeys die Musik und die Scheinwerfer und die Spezialeffekte in hektischem Trab halten. Ray ist ein gereifter Fünfziger mit mäßigem IQ und einem so geringen Serotoninspiegel, dass ihn nichts aus der Fassung bringen kann, aber er arbeitet schon eine Ewigkeit in der Clubszene und weiß sich zu behaupten, wenn es eng wird. Er ist außerdem ein guter Kunde von Alex, noch aus der Zeit vor der großen Razzia gegen den Zauberer und seine Lehrlinge. Alex war einer der ersten Genhacker, die den Serenity-Code knackten, und das von ihm selbst entwickelte psychoaktive RNS-Virus – das abwechselnd unter den Bezeichnungen Ghost, Fade oder Firelight läuft – ist bei den Technos sehr beliebt, weil es den Flacker-Effekt von TV- und Holosystemen verstärkt und den Eindruck erweckt, das elektronische Geflimmer enthalte verschlüsselte Botschaften oder die vagen Umrisse von Geistern. Wer in den Club kommt, steht auf geballte Informationsdichte und das Gefühl, in eine andere Dimension getragen zu werden – und Ghost bringt die Freaks auf den Weg dorthin. Wäre Alex in der Lage gewesen, seine Erfindung patentieren zu lassen, hätte er wohl ein Vermögen gemacht, aber als Genhacker kann er dieses Risiko natürlich nicht eingehen. Und dank Perse oder Billy Rock ist seine Chance, noch vor dem Verbot psychoaktiver Viren in Großbritannien mit einer neuen Version von Ghost auf dem internationalen Markt zu landen, vor wenigen Stunden den Bach hinuntergeschwommen.

Der Deal mit Ray nimmt eine Weile in Anspruch. Er muss auf Befindlichkeiten Rücksicht nehmen und Rituale beachten, die fast so kompliziert wie die japanische Teezeremonie sind. Es ist zu spät, um auch nur an Schlaf zu denken, als Alex in sein Labor zurückkehrt und die Nachricht von Billy Rocks Expertensystem vorfindet. Sie besagt, dass ihn morgen Vormittag um zehn Uhr eine Limousine abholen wird. Offenbar hatte Billy Rock damit gerechnet, dass Alex Kontakt zu ihm aufnehmen würde. Er will ihn persönlich sprechen.

Getrieben von Amphetaminen und Paranoia, ruft er Alice an, seine Favoritin unter Ma Nakomes Teilzeit-Nutten, die verschlafene, pummelige Alice, die ihm gekonnt zur Entspannung verhilft und bis zum Frühstück bei ihm bleibt. Er mag Alice – obwohl ihre Beziehung rein geschäftlich ist, geben sich beide den Anschein einer intimen Vertrautheit.

Während er auf die Ankunft der Limousine wartet, erwischt Alex eine Wiederholung der BBC-Morgennachrichten und schaltet zwischen den drei Kabel-Kanälen der Metropole hin und her, aber keiner der Sender bringt etwas über die Verhaftung eines indonesischen Diplomaten in King’s Cross. Nicht dass er sich großen Illusionen hingegeben hätte. Anstatt die Ladung HyperGhost in Paris abzuliefern, befindet sich der Typ jetzt sicher in einer Stratomaschine mit Kurs auf Djakarta – eine glücklose Randfigur in dem Spiel, Alex Sharkey das Geschäft zu vermasseln.

Alex ist zu rastlos, um stillzusitzen. Er bereut inzwischen, dass er Billy Rock angerufen hat, aber daran lässt sich nichts mehr ändern. Also tritt er hinaus in das grelle, heiße Sonnenlicht und plaudert bis zur Ankunft der Limousine mit dem alten Frank, der bereits auf seinem Drehstuhl vor dem Laden mit den Secondhand-Büromöbeln Platz genommen hat.

Billy Rocks Botenjunge ist dieser etwa sechzehnjährige Schwarze. Er hat einen kahlrasierten Schädel, ein weißes T-Shirt, weite Bluejeans mit transparenten Einsätzen an den Schenkeln, ladenneue Turnschuhe und schlechte Manieren. Alex ist dem Burschen schon ein paar Mal begegnet: Er nennt sich Doggy Dog, nach irgendeinem toten Rap-Sänger, und ist ein drahtiger kleiner Mistköter, der in den tiefblauen Büffelleder-Sitzen lümmelt, als gehörte der Schlitten ihm, obwohl seine Nikes nicht mal den hübschen blauen Teppichboden berühren. In den Sohlen seiner Schleicher sind LEDs eingebaut, kleine rote Pulse, die einander im Kreis jagen. Der Bursche merkt, dass Alex das Lichterspiel anstarrt, und grinst. In einem seiner Vorderzähne funkelt ein Brilli.

Die Limousine gleitet los. Alex zieht eine Zigarette aus der Tasche und zündet sie an, ohne um Erlaubnis zu fragen.

»Du holst dir bloß Krebs«, sagt der Bursche und streift Alex mit einem verächtlichen Blick aus verhüllten Augen. Was er sieht, ist ein fetter Typ mit angehender Glatze, blauer Latzhose über einem verknitterten, an den Ellbogen durchgescheuerten dunkelroten Pullover und abgeschabten orangegelben Bauarbeiter-Stiefeln.

Alex bläst eine Rauchkaskade aus und erwidert den Blick des Jungen. »Vielleicht nehme ich dich mit ins Grab.«

»Keine Chance, Mann. Ich bin geimpft.«

»Seit wann hat Billy Rock ein Vorsorge-Programm für seine Stricher?«

»Stricher, dass ich nicht lache! Das war mal, Mann! Du hast echt null Ahnung, sonst würdest du ganz anders mit mir reden.«

Der Schlitten biegt in die East India Road ein. Alex sinkt in den weichen Sitz zurück, raucht seine Zigarette und beobachtet, wie sich die Sonne in der Wolkenkratzer-Formation der Docklands fängt. Die getönten Scheiben der Limousine lassen alles in einem gedämpften Blau erscheinen. Alex hat vergangene Nacht kein Auge zugetan. Sein Motor läuft auf Kaffee und Amphetaminen, und er spürt ein unheimliches, irgendwie überreiztes High. Am liebsten würde er Doggy Dog fragen, wie es ihm Billy Rock besorgt – oral oder rektal und ob er deshalb Doggy Dog genannt wird –, aber der Junge lümmelt auch deshalb so cool in den Polstern, weil im Bund seiner Jeans eine Pistole steckt.

Der Wagen jagt durch den Rotherhithe-Tunnel, biegt an der Norwegischen Kirche ab und erreicht eine kleine Straße, die zwischen hohen Lagerhäusern eingezwängt in der Nähe des Canada Dock liegt. Er fährt erst längs und dann quer zu einer schlammigen Baugrube, in deren Tiefe kleine gelbe Bulldozer ackern, und hält dann im Schatten einer abgewrackten Lagerhalle.

Doggy Dog wartet großspurig ab, bis der Fahrer ausgestiegen ist und die Tür öffnet. Alex muss auf die andere Seite rutschen, um ins Freie zu gelangen, und folgt Doggy Dog in die klebrige Hitze der Straße. Der Fahrer, ein bulliger, gelassener Typ in einem ärmellosen T-Shirt, das die Kohlefaser-Implantate in seinen muskulösen Oberarmen betont, schiebt sich wieder hinter das Lenkrad und düst ab, während Doggy Dog und Alex die Lagerhalle betreten. Alex hat das hässliche Gefühl, dass er zur Schlachtbank geführt wird, und vielleicht spürt das Doggy Dog, denn er packt Alex dicht über dem Ellbogen am Arm, als wolle er ihn an der Flucht hindern.

Das Innere der Lagerhalle besteht aus einem einzigen hohen Saal. An der Stirnseite beleuchten gleißend helle, auf Gerüsttürmen montierte Bogenlampen eine kreisförmige Arena, die durch eine Bretterbande von den schräg ansteigenden Zuschauerrängen getrennt ist. Billy Rock sitzt am Rande der Manege, die Stiefel auf die Brüstung des hölzernen Schutzzauns gelegt.

Billy Rock – er ist um die fünfundzwanzig, schmal, drahtig und kaum größer als Doggy Dog. Er trägt einen Rohleinen-Anzug, einen tief ins Gesicht gezogenen Panama-Hut und einen Spazierstock, den er zwischen die Knie geklemmt hat. Dazu weiße Handschuhe und Straußenleder-Stiefel mit hohen Blockabsätzen. Die Jacke hängt ihm um die Schultern, und er scheint sich förmlich darin zu verkriechen, während er in die Arena hinunterstarrt. Sein glattes, verdrießliches Gesicht wird von einer großen Sonnenbrille verdeckt. Alex hat den Verdacht, dass Billys hohe Wangenknochen das Ergebnis einer Schönheitsoperation sind, aber natürlich käme kein Mensch auf die Idee, ihn danach zu fragen.

Alex tritt an die Bande, um einen Blick nach unten zu werfen, und das Ding in der Arena knurrt, macht einen Satz nach vorn und landet hart auf dem Rücken, als das Ende der Kette seinen Schwung jäh stoppt.

Alex weicht erschrocken zurück, und Doggy Dog lacht, verächtlich und eine Oktave zu hoch.

Der Boden der Manege ist mit Sägemehl bedeckt. Im Zentrum steht ein Eisenpfahl mit einer Kette. Das Ding am Ende der Kette hat tiefe Rillen in das Sägemehl gepflügt, bis hinunter in den grauen Sand. Jetzt kommt es wieder auf die Beine, sehr schnell, sehr geschmeidig. Es ist eine Puppe, kenntlich an der blauen Hautfarbe, aber ansonsten extrem verändert, entweder durch chirurgische Eingriffe oder durch selektive somatische Mutation. Vermutlich beides, denkt Alex. Es ist nackt – und weiblich, obwohl seine Titten wenig mehr als vergrößerte Brustwarzen sind. Die breiten, kräftigen Kiefer erinnern an dieses Zeug, das sich manchmal an einem alten, vom Blitz gespaltenen Baumstamm bildet, Schichten von Schwamm und Moder, die wie knorrige Krebsgeschwüre wuchern. Die Puppe hat in Scheitelhöhe einen Muskelkamm, mit dem sie die gewaltigen Kiefer auf- und zuschnappt, eine Nase, die so flachgedrückt ist, dass ihre Löcher Schlitze bilden, und winzige schwarze Augen unter stark vorspringenden Brauen.

Billy Rock beobachtet Alex. Seine mandelförmigen Augen sind vage hinter der Sonnenbrille zu erkennen. »Gefällt sie dir?«, fragt er. »Wenn du Lust hast, kannst du ein paar Runden gegen sie antreten.«

Die Puppe stampft mit ihren kurzen, breitgestellten Säbelbeinen und zerrt an der Kette, die an einem Eisenring um ihren linken Knöchel festgeschweißt ist. Die Zehen- und Fingernägel sind dick, gelb und scharf gezackt. Um den Hals trägt sie eine Krause aus Kohlefaser-Stacheln; eine Art Mähne aus den gleichen Stacheln zuckt und rasselt das Rückgrat entlang, während sie sich zischend aufbäumt und mit den Händen in die Luft schlägt. Zähflüssiger Speichel tropft von spitzen Zähnen.

Alex sieht, dass Blutspritzer die Innenseite der Holzbande dunkel verfärbt haben. Er sucht nach einer Zigarette und fragt: »Ist das vielleicht die Freundin deines Laufburschen?«

Doggy Dog runzelt die Stirn. »Sag das nicht noch mal, du Fettsack!«

Billy Rock lacht. »Die würde jedem, der sie zu ficken versucht, die Gedärme aus dem Leib reißen. So schnell kannst du gar nicht gucken! Sie weiß einfach nicht, wann sie aufhören muss. Aber gerade das macht sie unschlagbar. Sie hat jetzt drei Kämpfe hinter sich und jeden in weniger als zwei Minuten gewonnen. Noch drei Siege, dann ziehe ich sie aus dem Wettgeschäft und benutze sie zur Zucht.«

Das schockt Alex mehr als der Anblick des Dings. Er hustet einen Schwall Rauch aus. »Sie ist fruchtbar?«, fragt er.

»Noch nicht«, entgegnet Billy Rock, »aber es gibt eine Möglichkeit, das zu ändern. Vielleicht könntest du aushelfen, wenn ich sie anbinde, häh? Aber jetzt setz dich erst mal. Du siehst blass aus.«

Er mustert Alex mit einem hinterhältigen Lächeln. Die Sache mit Billy Rock ist die: Seine Blödheit und seine Gemeinheit halten sich die Waage. Er ist der jüngste von fünf Brüdern, aber drei davon kamen in der Vendetta um, die seiner Familie die Kontrolle über den Süden von London verschaffte, nachdem sie von Hongkong hierhergezogen war. Der vierte überlebte mit einem Kopfschuss, der ihm das Großhirn zerfetzte; seitdem verbringt er seine Zeit in einem Kellerraum des Familienbesitzes, wo er imaginäre Feinde verfolgt und wie ein Hund heult. Was bedeutet, dass Billy Rock de facto das neue Familien-Oberhaupt ist, seit sein Vater an der Kreutzfeld-Jakob starb.

Aber Billys Onkel kümmern sich um das Geschäftliche, und ihm selbst bleibt wenig mehr zu tun, als sich die Droge seiner Wahl reinzuziehen. Crack, in der Regel, gepaart mit einer Vorliebe für harte Musik. Daher auch sein Spitzname. Als Alex das letzte Mal mit Billy Rock zu reden hatte – die vielleicht schlimmste halbe Stunde in seinem Leben – lag Billy Rock platt auf dem Rücksitz seiner Limousine, rauchte Crack und ritzte sich mit einem Taschenmesser Muster in die nackte Hühnerbrust, während die verrückten Rock-Klänge der LSD-Babies aus der Anlage dröhnten, dass der große Schlitten auf seinen stoßgedämpften Federn hin und her schaukelte.

Aber jetzt scheint Billy Rock klar, um nicht zu sagen, hellwach zu sein. Er verbreitet sich etwa eine Viertelstunde lang über Kampfpuppen, die jüngste Goldgrube seiner Familie, wie sich herausstellt, oder zumindest die eine Seite davon. Billy Rock kontrolliert seit einem Jahr das Kampfpuppen-Geschäft und hat den Daumen auf einem nicht zu knappen Prozentsatz der Wetteinnahmen, aber nun ist er dabei, eine große Arena zu errichten, in der Freiwillige mit normalen Puppen kämpfen und sie echt zur Strecke bringen können. Er erzählt Alex, dass er sein Unternehmen gern Tödlicher Zweikampf nennen würde, nach einem alten Computerspiel, das er in seiner Jugend heiß geliebt hat – obwohl die Sache natürlich nur für die Puppen tödlich sein wird. Sie sollen lediglich Laser-Markierpistolen erhalten, während ihre Gegner sich voll austoben können.

»Tödlicher Zweikampf fänd ich supercool, aber meine beknackten Onkel haben sich für so’n Filmtitel von anno dunnemals entschieden.«

»Killing Fields«, hilft ihm Doggy Dog auf die Sprünge.

»Genau. Ätzender Name. Obwohl wir damit vielleicht auch so Gladiator-Zeug bringen könnten. Kampfpuppen gegen Kerls mit Schwertern und Netzen und all dem Mist. Würde den Kampf irgendwie fairer machen, oder was denkst du?«

Alex zündet sich die nächste Zigarette an. Jemand muss Billy Rock geimpft haben, überlegt er. Keine Chance, dass der von selbst auf den Dreh gekommen ist. Diese Kanalratte Doggy Dog beobachtet Billy mit der Miene eines Lehrers, der einen geistig minderbemittelten Schüler das kleine Einmaleins abfragt. Alex nimmt sich vor, Doggy Dog in Zukunft mit mehr Vorsicht zu begegnen.

Drunten in der Manege sticht und schlägt ein Wärter mit einer langen Bambusstange auf die Puppe ein. Der Wärter trägt dick gepolsterte Schutzkleidung, Kettenpanzer-Handschuhe und eine Art Schutzhelm mit einem Gitter-Visier. Nachdem der Mann die Puppe etwa eine Minute lang gereizt hat, entwindet sie ihm plötzlich den Stab und schlägt die spitzen Zähne in das eine Ende. Das drei Zentimeter starke Bambusrohr zersplittert mit einem Geräusch, das an einen Pistolenschuss erinnert. Die Puppe schleudert die Stange zur Seite, spuckt Holzstücke aus und starrt den Wärter mit dumpf triumphierender Bosheit an.

»Ich denke, die Puppen würden in jedem Fall gewinnen«, sagt Alex.

Billy Rock scheint die Antwort zu gefallen. »Klar«, entgegnet er nachdenklich. »Die Frage ist nur, wie viele einer umlegen könnte, ehe er selbst dran glauben muss. So was sorgt für Spannung und bringt Massen von Zuschauern, oder?«

»Wenn du Leute findest, die bescheuert genug sind, um gegen diese Bestien in den Ring zu steigen.«

»Da sehe ich kein Problem«, meint Billy Rock.

Doggy Dog wird ungeduldig. »Hör mal, Boss, sag ihm endlich, worum es geht, okay? Ich muss dir nämlich noch was draußen auf der Baustelle zeigen.«

»Hey!« Billy Rock dreht sich um und fixiert Doggy Dog mit seiner Spiegelbrille. »Wer schafft hier an, du oder ich?«

»Es geht um den Beton, den sie verwenden …«

»Scheiß auf den Beton! Siehst du die Stiefel da?«

Alex und Doggy Dog werfen einen Blick auf die Stiefel, die Billy Rock immer noch gegen die Brüstung der Holzbande stemmt.

»Die Dinger kosten tausend Pfund«, erklärt Billy Rock, an Alex gewandt, »und dieser kleine Blödian erwartet allen Ernstes, dass ich damit in die Baugrube steige und mir seinen beschissenen Beton ansehe! Das sind echte Straußenleder-Stiefel, Mann! Die gibt es heute nicht mehr! Glaubst du, dass ich die trage, weil ich durch den Matsch waten will? Wenn ich das wollte, Dog, dann hätte ich mich so angezogen wie du!«

Doggy Dog ist gereizt. »Die zocken dich voll ab, Mann!«, faucht er. »Aber ich hab dich gleich vor diesen Billig-Firmen gewarnt. Bei dem Preisangebot können die nur dann Profit machen, wenn sie dich an allen Ecken und Enden bescheißen! Und genau das tun sie! Verladen dich, wo es geht, und scheren sich einen Dreck um deine Anweisungen! Du musst endlich was dagegen unternehmen.«

»Sag ihnen, sie sollen sich gefälligst an den Vertrag halten, oder ich lasse sie mit in die Fundamente einbetonieren!«, erklärt Billy Rock dem Jungen. »Wozu zahle ich meine Leute, wenn ich mich um jeden Furz selber kümmern muss?« Er wendet sich an Alex: »Verstehst du, alle behaupten, ich hätte keine Ahnung vom Geschäft. Aber das hier wird der Knüller auf dem Freizeit-Sektor! Ich sehe schon Familien mit Kind und Kegel in die Arena strömen und Popcorn, T-Shirts, Deppenkäppis und all den Shit kaufen. Vielleicht vergebe ich sogar Konzessionen. Was hältst du davon? Soll ich dir einen Stand im Kassenbereich reservieren?«

»Ich werd mir’s überlegen.« Alex ist ein wenig erleichtert. Billy Rock braucht ihn vermutlich irgendwie für dieses Projekt. Damit kann er leben. »Glaubst du wirklich, dass sich Puppen züchten lassen?«, fragt er.

»Es ist gegen das Gesetz«, gibt Doggy Dog zu bedenken.

»Stimmt«, sagt Billy Rock, »aber das heißt noch lange nicht, dass man es nicht machen könnte. Versteh mich recht, dieses Ding hat nichts mit der Killing Fields-Arena zu tun. Es ist ein ganz privates Vorhaben, von dem meine Onkel nichts zu wissen brauchen.«

»Das wird was für Sportsfreunde, die ihr eigenes Material in den Ring bringen wollen – so ähnlich wie Rennpferde«, erklärt Doggy Dog. »Züchten ist eine Kunst, verstehst du, und für Kunst zahlen die Leute ’ne ganze Stange mehr als für die blanke Technik. Die Puppen, die diese blöden Koreaner verhökern, sind alle männlich und alle garantiert steril. Aber sie haben das Zeug in sich, das uns weiterhilft. Es muss nur entwickelt und in Gang gebracht werden.«

Alex hat sich bereits den Kopf zerbrochen, woher die weibliche Puppe stammt, aber unter den gegebenen Umständen erscheint es ihm nicht ratsam, diese Art von Fragen zu stellen. »Und du hast dir gedacht, dass ich deine Idee in die Tat umsetzen soll? Die Lösung dieses Problems wäre eine Menge Kies wert.«

»Wenn du unbedingt über Geld reden willst«, meint Billy Rock lässig, »dann fangen wir doch mal bei deinen Schulden an. Wie ich höre, ist dir gestern ein Deal geplatzt, und es wäre durchaus möglich, dass du diesen Monat nicht zahlen kannst. Ein Mann in deiner Lage sollte froh um jedes Geschäft sein, das ihm angeboten wird.«

Also hat ihm doch Billy Rock die Tour versaut. Und Alex ist sicher, dass der Tipp irgendwie von Perse stammt. Vielleicht macht Doggy Dog hinter dem Rücken von Billy Rock seinen privaten Handel mit Perse.

»Du streichst den Betrag, den ich deiner Familie schulde, wenn ich dir diesen Gefallen erweise?«, fragt Alex.

Er muss an Billy Rocks Onkel denken, nüchterne, würdevolle Herren mit piekfeinen seidenen Nadelstreifen-Anzügen aus der Jeremy Street. Sie könnten Anwälte oder Banker sein und missbilligen den ordinären Umgang und Stil ihres Neffen. Aber wenn diese Sache schiefgeht, wird es nicht Billy Rock sein, der auf die Schnauze fällt.

Billy Rock fegt den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. Kleinkram. »Wir wollen Killing Fields in ein paar Tagen ganz groß auf den Aktienmarkt bringen«, sagt er. »Dafür schmeiße ich eine Riesen-Party. Du kommst doch auch, oder?«

Alex lässt die Zigarettenkippe fallen und tritt sie mit dem Absatz seines Bauarbeiter-Stiefels aus. »Klar«, sagt er vorsichtig. »Wenn es irgendwie geht …«

»Das Hauptproblem, das du zu knacken hast, ist diese Hormon-Synthese«, erklärt Doggy Dog. »Wir kommen ohne weiteres an Weibchen ran, verstehst du, aber die sind genauso steril wie die Männer. Dein Job besteht darin, das Zeug zurechtzuschneidern, das sie in Hitze bringt. Klar, Mann, wir würden auch lieber zu einer richtigen Biotech-Firma gehen, aber diese Drecksäcke hängen uns sofort bei den koreanischen Puppen-Herstellern hin.«

»Mit den Hormonen allein ist es sicher nicht getan«, sagt Alex.

»Das lass mal unsere Sorge sein«, bremst ihn Doggy Dog. »Du machst das Hormon – und sonst nichts!«

»Zum einen sind die Eingriffe, mit denen ihr das Ding da unten in eine Kampfpuppe verwandelt habt, allesamt somatischer Natur«, fährt Alex ruhig fort. »Mit anderen Worten – sie gehen nicht ins Erbgut ein.«

Doggy Dog grinst amüsiert. »Es gibt Mittel und Wege, die Veränderungen bereits im Blastula-Stadium vorzunehmen, noch vor der Unterteilung in somatische Zellen und … wie heißt das Zeug?«

»Generative Zellen.« Alex fragt sich, woher der kleine Gangster sein Wissen hat.

»Yeah, genau. Auf diese Weise werden die Veränderungen weitergegeben.«

»Es ist illegal, generative Zellen genetisch zu verändern«, sagt Alex. »Selbst hier in diesem Land. Echt illegal, meine ich.«

Doggy Dog kriegt einen Lachanfall, der ihn fast von den Beinen wirft. Endlich hat er sich so weit beruhigt, dass er sagen kann: »Mann, das soll die kleinste deiner Sorgen sein!«

»Du hast nichts zu befürchten«, meint Billy Rock, »so lange du genau das tust, was ich von dir verlange.«

4 – Dealing

Am nächsten Tag trifft sich Alex mit Howard Perse in einem Pub abseits der Whitechapel Road. Perse bearbeitet gerade einen Doppelmord, zwei Usbeken, die man am Morgen in einer Ecke des Friedhofs von Bethnal Green gefunden hatte – Rücken an Rücken gebunden und beide durch Kopfschüsse getötet.

»Wir fahnden nach den Tätern, um sie bei uns einzustellen«, meint Perse mit müdem Sarkasmus. »Die Opfer waren zwei ganz miese Schweine, die mit Heroin aus der alten Heimat dealten. Aber mit derart primitiven Drogen geben sich Leute wie Sie nicht ab, Sharkey, stimmt’s?«

»Für Sie immer noch Mister Sharkey«, sagt Alex. Er kauert müde und gereizt auf einem unbequemen Hocker vor einem kleinen runden Tisch mit gesprungener Marmorplatte und einem schweren gusseisernen Gestell und schwitzt in seinen grünen Tweed-Anzug. Auf dem Tisch stapeln sich die leeren Biergläser. Eine schläfrige Wespe summt von einem Glas zum anderen und wieder zurück. Über ihnen rührt ein Deckenventilator die Zigarettenrauch-Schichten durch, aber gegen die Hitze kämpft er vergeblich an. Die Sonne, die durch das verschmierte Fenster einfällt, brennt grell auf die nikotinfleckige rote Velourstapete und umgibt die Köpfe der Kneipenbesucher mit einem hellen Schein, als seien sie Heilige, die sich hier zusammenfinden, um einen Blick auf den Messias zu erhaschen.

Alex ist früh aufgestanden und hat bereits seine Mutter besucht, um das Versprechen einzulösen, das er sich selbst gab – für den Fall, dass er aus dem geplatzten Deal mit heiler Haut davonkäme. Lexis hat einen neuen Freund, ein schmächtiges Bürschchen, das sicher noch nicht volljährig ist. Während seiner gesamten Anwesenheit sitzt der Kleine im anderen Zimmer, säuft Dosenbier und guckt Football im interaktiven Fernsehen, wobei er ständig von einem Standpunkt zum anderen zappt und den Ton so laut dreht, dass die papierdünnen Wände der Wohnung wackeln. Und das um zehn Uhr morgens, verdammt noch mal!

Als Alex Geld hatte, als er noch für den Zauberer arbeitete, kaufte er seiner Mutter den Fernseher samt Satellitenschüssel, neue Möbel fürs Wohnzimmer und die summende Klimaanlage über der Glasschiebetür, die auf den engen Balkon hinausführt. Er wollte ihr sogar ein Haus am Stadtrand kaufen, aber sie sagt, das East End sei schon immer ihr Zuhause gewesen und sie würde nie woanders hinziehen. Hier spielt sich das wahre Leben ab. Die draußen in den Vororten sind tot und wissen es nicht einmal.

Lexis Sharkey. Seine Mutter. Eine Wasserstoff-Blondine, die, so scheint es Alex, immer volles Make-up trägt: Puder, Lippenstift und Wimperntusche, an diesem Morgen in einen billigen Nylon-Kimono gehüllt, so lässig gebunden, dass er die sommersprossigen, von schwarzer Spitze umrahmten Brüste freigibt. Sie hält sich in Form, die temperamentvolle Achtundvierzigjährige. Und sie weiß sofort, dass Alex Ärger hat – sie konnten einander noch nie was vormachen.

Die Hochhaus-Wohnung, in der Alex aufwuchs, hatte so ähnlich ausgesehen wie die von Lexis, mit schwarzem Schimmel an den Wänden, Pharaoameisen in der Küche und einem im Wind klappernden Panoramafenster, das einen Ausblick über die glitzernden Schleifen der Themse bis hin zur Terra incognita von South London bot. Das Hochhaus musste später einer Zufahrtsstraße zum City Airport von London weichen, aber die schäbigen Billigmöbel seiner Kindheit sind geblieben, dazu Dutzende von eingestaubten Keramikfiguren, kitschigen Souvenirs und künstlichen Blumen in geflochtenen Plastikkörben, der leere Wellensittich-Käfig mit Spiegel und Glöckchen, ein Zugpferd aus Porzellan, dessen abgebrochenes Hinterbein mit Sekundenkleber repariert ist – Alex stieß es von einem Holzbord über dem elektrischen Kaminfeuer, als er vier oder fünf war – und ein ledernes Sitzpolster, das seit dem Tag, da Alex sich einbildete, in dem Ding sei Geld versteckt, von einem Taschenmesser-Schlitz verunstaltet wird. Er erinnert sich noch lebhaft, dass er nichts außer gelben und grünen vergammelten Schaumstoffbrocken fand. Sie hatten nie Geld besessen, aber irgendwie waren sie immer durchgekommen. Lexis ist eine Kämpfernatur.

Lexis sagt, dass er nur ein Wort zu sagen braucht, wenn er in der Klemme steckt, und Alex beruhigt sie und erzählt, dass er gerade dabei ist, einen Deal abzuschließen, und sie lächelt und zündet sich die nächste Zigarette an – er hat ihr eine Stange Benson & Hedges mitgebracht, verpackt wie ein goldener Ziegelstein, dazu eine Flasche Lamb’s Navy Rum.