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Peter F. Hamilton

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Beschreibung

Band 2 des faszinierenden Armageddon-Zyklus: Die Besessenen breiten sich scheinbar unaufhaltsam über Lalonde aus. Die Konföderation entsendet eine Flotte, um ihnen Einhalt zu gebieten. Kann sie verhindern, dass der Planet aus dem Universum entführt wird? Gleichzeitig wird eine skrupellose Frau nach langer Zeit im Exil wieder aktiv, um uralte Rachepläne zu verfolgen. Wenn es ihr gelingt, den Geheimdiensten zu entkommen, droht dem gesamten Universum größte Gefahr ...

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Übersetzung aus dem Englischen von Axel Merz

ISBN 978-3-492-96562-0Mai 2017© Peter F. Hamilton 1996Titel der englischen Originalausgabe:»The Reality Dysfunction, Part 2«, PanMacmillan, London 2012Deutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München 2017Erstmals erschienen bei Bastei Lübbe AG, Köln 2000Covergestaltung: Guter Punkt, MünchenCovermotiv: Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und ThinkstockDatenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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1. Kapitel

Graeme Nicholson saß auf seinem gewohnten Platz an der Bar im Crashed Dumper, dem Hocker, der am weitesten entfernt stand von dem plärrenden Audioblock, und lauschte Diego Sanigra, einem Besatzungsmitglied der Bryant, welcher sich über die Art und Weise beschwerte, wie Colin Rexrew mit dem Schiff umgesprungen war. Die Bryant war ein Kolonistentransporter und zwei Tage zuvor im Orbit über Lalonde eingetroffen, und bis jetzt war nicht einer der fünfeinhalbtausend Kolonisten an Bord aus seiner Null-Tau-Kapsel befreit worden. Die Geschichte sei ein einziger Skandal, behauptete Sanigra, und der Gouverneur besitze nicht das Recht, die Kolonisten an der Ausschiffung zu hindern. Und die Energie, die jede zusätzliche Stunde im Orbit verschlang, koste ein Vermögen. Die Liniengesellschaft würde die Schuld der Besatzung zuschieben, wie sie es immer tat. Sein Lohn würde geringer ausfallen, ein Bonus würde ersatzlos gestrichen, seine Aussichten auf eine Beförderung sinken, wenn nicht gar wie eine Seifenblase zerplatzen.

Graeme Nicholson nickte verständnisvoll, während seine neurale Nanonik die unzusammenhängende Geschichte in einer Speicherzelle sicherte. Es war nicht viel Brauchbares dabei, doch Sanigras Geschichte bot gutes Hintergrundmaterial. Wie der große Konflikt selbst Einzelschicksale berührte. Genau die Sorte von Reportage, die er so perfekt beherrschte.

Graeme war achtundsiebzig Jahre alt und seit zweiundfünfzig Jahren Reporter. Er war überzeugt, daß kein didaktischer Kurs über Journalismus ihm noch etwas Neues bieten könnte, nicht mehr. Mit seiner Erfahrung hätte er didaktische Kurse zusammenstellen sollen – nur, daß es in der gesamten Konföderation keinen Herausgeber bei einem Nachrichtenmagazin gab, der geduldet hätte, daß junge Nachwuchsreporter in einem derartigen Ausmaß korrumpiert wurden. Graeme war im buchstäblichen Sinne des Wortes ein Schreiberling mit einem todsicheren Instinkt, das alltägliche Leid in schlüpfrige, epische Tragödien zu verwandeln. Er hatte es auf den Bauch der Zuschauer abgesehen, und er war jemand, der das Elend und Unglück der kleinen Leute hervorhob, auf denen herumgetrampelt wurde und die sich nicht wehren konnten gegen die massive, seelenlose Gewalt von Regierungen, Bürokraten und großen Konzernen. Es hatte nichts mit einer moralischen Entrüstung zu tun; Graeme favorisierte seiner eigenen Meinung nach ganz gewiß nicht die Unterprivilegierten. Er hatte einfach das Gefühl, daß niedere Emotionen eine bessere Geschichte abgaben und damit höhere Zuschauerzahlen. Bis zu einem gewissen Grad hatte er sogar angefangen, wie die Opfer auszusehen, mit denen er so wunderbar mitfühlen konnte; teilweise unbewußt, denn sie waren nicht so mißtrauisch gegenüber jemandem, dessen Kleidung nicht genau paßte, der eine dicke, rötliche Haut besaß und wäßrige Augen.

Graemes Art von Sensationshascherei war bei den Boulevardsendern beliebt, doch indem er sich auf die zweifelhaften Aspekte konzentrierte, in denen er sich am besten auskannte, und sich auf diese Weise einen Ruf als Spezialist für Abfall und Unrat erwarb, fand er sich nach und nach aus den prestigeträchtigeren Aufträgen herausgedrängt. Er hatte seit einem ganzen Jahrzehnt keine halbwegs vernünftige Story mehr abgeliefert. Im Verlauf der letzten Jahre hatte er seine neurale Nanonik immer weniger dazu verwandt, Sens-O-Vis-Aufzeichnungen anzufertigen, und statt dessen Stimulationsprogramme laufen lassen. Time Universe hatte ihm vor acht Jahren einen umfassenden Auftrag erteilt und ihn damit auf all die kleinen schäbigen Jobs abgeschoben, die niemand sonst angenommen hätte, der auch nur eine Spur von Erfahrung besaß. Alles, um ihn von den Studios und den Büros der Nachrichtendirektoren fernzuhalten, in denen die anderen seines Jahrgangs mittlerweile gelandet waren.

Nun, das sollte sich jetzt ändern.

Jetzt war die Zeit für seine Revanche gekommen. Graeme Nicholson war der einzige Reporter vor Ort, und er hatte Einfluß und Prestige. Lalonde würde ihm den Lohn einbringen, der ihm all die Jahre vorenthalten worden war, und vielleicht sogar einen von diesen behaglichen, warmen Bürostühlen daheim auf Decatur. Graeme Nicholson war seit drei Monaten auf Lalonde, um eine Art Dokumentation über die neue Welt und ihre Entwicklung anzufertigen und allgemeine Sens-O-Vis Eindrücke von den Siedlern und der Landschaft aufzuzeichnen – für die Bibliotheksspeicher der Nachrichtenagentur.

Und dann war Lalonde in diese wunderbaren Kalamitäten geraten. Kalamitäten, die sowohl den Planeten als auch seine Bevölkerung trafen, den Gouverneur Colin Rexrew und den Stab der LEG, doch für Graeme Nicholson waren sie wie Manna, das vom Himmel fiel.

Es herrschte Krieg – oder eine Zettdee-Revolte oder eine Xeno-Invasion, abhängig davon, mit wem man sich gerade unterhielt. Graeme hatte alle drei Möglichkeiten untersucht und stichhaltige Hinweise auf seiner Flek gespeichert, die in der letzten Woche an Bord der Eurydice nach Avon gegangen war. Merkwürdig nur, daß der Gouverneur nach zweieinhalb Wochen noch immer keine offizielle Stellungnahme abgegeben hatte, was genau sich oben am Quallheim und am Zamjan River abspielte.

»Dieser Stellvertreter von Rexrew, dieser Terrance Smith – er redet davon, uns zu einer anderen Koloniewelt der Stufe Eins zu schicken«, polterte Diego Sanigra. Er nahm einen weiteren Schluck Bier aus seinem Krug. »Als würde uns das einen Deut weiterhelfen. Was würden Sie sagen, wenn Sie als Kolonist für eine Passage nach Lalonde bezahlt hätten, um sich nach dem Erwachen aus Null-Tau plötzlich auf Liao-tung Wan wiederzufinden? Eine ethno-chinesische Welt, wissen Sie? Sie würden die euro-christlichen Kolonisten hassen, die wir ihnen bringen.«

»Hat Terrance Smith etwa vorgeschlagen, die Kolonisten nach Liao-tung Wan zu bringen?« erkundigte sich Graeme Nicholson.

Sanigra grunzte unverbindlich. »Das sollte nur ein Beispiel sein.«

»Was ist mit Ihren Treibstoffreserven? Haben Sie genügend Helium-III und Deuterium an Bord, um zu einer anderen Koloniewelt zu fliegen und anschließend wieder zur Erde zurückzukehren?«

Diego Sanigra setzte zu einer Antwort an. Graeme Nicholson lauschte beiläufig, während seine Blicke durch das überfüllte Lokal schweiften. Am Raumhafen war gerade Schichtwechsel gewesen. Im Augenblick flogen die McBoeings nicht besonders häufig. Lediglich die drei Frachter im Orbit um Lalonde wurden entladen; die sechs Kolonistentransporter warteten auf eine Entscheidung Colin Rexrews, was mit ihren Passagierkomplementen geschehen sollte. Die meisten Raumhafenarbeiter zeigten sich lediglich kurz zu Beginn ihrer Schicht, damit sie weiterhin ihren vollen Lohn beanspruchen konnten.

Ich frage mich, was sie zum Ende der Überstunden sagen, dachte Graeme. Vielleicht ergibt sich daraus eine weitere Geschichte.

Der Crashed Dumper jedenfalls litt ganz sicher nicht unter den Unruhen, die den Rest der Stadt beeinträchtigten. Er lag zu weit abseits, und in dieser Gegend wurde nicht gegen Rexrew oder die Zettdees protestiert und demonstriert. Hier wohnten zu viele Angestellte der LEG mitsamt ihren Familien. An diesem Abend war das Lokal stark besucht; viele Leute waren gekommen, um ihre Sorgen in Alkohol zu ertränken. Die Kellnerinnen hetzten von einem Ende des langgestreckten Schankraums zum anderen. Die Ventilatoren an der Decke drehten sich rasch, doch sie konnte nicht viel an der Hitze ändern.

Graeme hörte, wie der Audioblock in der Ecke stockte. Die Stimme des Sängers wurde langsamer, vertiefte sich zu einem merkwürdigen Baßrumpeln. Dann wurde sie wieder schneller, zu schnell diesmal, und verwandelte sich in einen mädchenhaften Sopran. Die Menschen, die sich um den Block drängten, lachten zuerst, doch dann schlug einer mit der Faust auf den Apparat. Nach einem Augenblick kehrte die gewohnte Lautstärke zurück.

Graeme erblickte einen großen Mann und eine wunderschöne junge Frau. Sie schoben sich an ihm vorbei. Irgend etwas am Gesicht des Mannes erschien ihm vertraut. Die Frau erkannte er als eine der Kellnerinnen des Lokals, obwohl sie an diesem Abend eine Jeans und eine einfache Baumwollbluse trug. Doch der Mann – er war in mittlerem Alter, besaß einen kurzen Bart und einen Pferdeschwanz und trug eine elegante Lederjacke über aschgrauen Hosen. Und er war sehr groß. Fast wie ein Edenit.

Das Glas Lager fiel aus Graemes plötzlich taub gewordenen Fingern. Es prallte auf die Mayope-Dielen und zerplatzte, und der Inhalt durchnäßte seine Schuhe und Socken. »Verdammte Scheiße!« krächzte er. Die Furcht, die seine Kehle mit einemmal zusammenschnürte, ließ den Ausruf zu einem bloßen Flüstern werden.

»Alles in Ordnung?« fragte Diego Sanigra, weil jemand es gewagt hatte, ihn mitten in seiner Beschwerde zu unterbrechen.

Graeme riß sich vom Anblick des Pärchens los. »Ja«, stammelte er. »Ja, alles in Ordnung, danke.« Glücklicherweise hatte niemand den Zwischenfall beachtet. Wenn er sich umgedreht hätte … Graeme errötete im nachhinein und bückte sich, um die Glasscherben aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete, stand das Paar bereits an der Theke. Irgendwie war es ihnen gelungen, sich problemlos durch das Gedränge zu schieben.

Graeme startete ein Suchprogramm in seiner neuralen Nanonik. Nicht, daß er sich vielleicht hätte irren können. Das Programm fand ein Bild in der Datei mit den Persönlichkeiten öffentlichen Interesses, aufgenommen vor vierzig Jahren. Es paßte perfekt.

Laton!

 

Lieutenant Jenny Harris schnalzte mit den Zügeln, und das graubraune Pferd schlug einen weiten Bogen um den Qualtook-Baum ein. Abgesehen von einem didaktischen Kursus und einer Woche im Sattel vor fünf Jahren, im Verlauf einer ESA-Transportübung daheim auf Kulu, besaß sie keinerlei Erfahrung im Umgang mit Reitpferden. Und doch war sie jetzt hier und führte eine Expedition durch einen der dichtesten Dschungelabschnitte im gesamten Netzwerk aus Nebenflüssen des Juliffe, und gleichzeitig versuchte sie noch, der Aufmerksamkeit einer möglichen militärischen Invasionsstreitmacht zu entgehen. Es war nicht die beste Methode, um sich in die Kunst des Reitens zu vertiefen. Sie glaubte, das Pferd müsse ihr Unbehagen spüren, denn es benahm sich störrisch. Nach lediglich drei Stunden im Sattel schrie jeder einzelne Muskel vom Bauchnabel abwärts um Gnade. Ihre Arme und Schultern waren steif, ihr Hintern hatte erst noch von der ungewohnten Anstrengung geschmerzt und war dann taub geworden, bevor er sich anfühlte, als würden tausend Nadeln ihn durchbohren.

Ich frage mich, was diese Anstrengung mit meinen Implantaten macht.

In ihrer neuralen Nanonik lief ein erweitertes Sensor-Analyseprogramm, das ihre periphere Sicht erweiterte und die Hörschwelle für akustische Signale herabsetzte und beide Quellen nach Anzeichen von versteckten Feinden absuchte. Im Grunde genommen handelte es sich um nichts weiter als elektronische Paranoia.

Seit sie von Bord der Isakore gegangen waren, hatten sie nichts entdeckt, was auch nur entfernt nach Bedrohung ausgesehen hätte – mit Ausnahme eines einzelnen Sayce, und selbst der hatte sein Glück gegen drei große Pferde nicht auf die Probe stellen wollen.

Jenny hörte Dean Folan und Will Danza hinter sich und fragte sich, ob sie ähnliche Probleme mit ihren Pferden hatten. Die beiden Soldaten der ESA G66 Division (Taktischer Kampf) in ihrem Rücken waren ein stärkerer Trost als alles, was ein Stimulationsprogramm zustande bringen konnte. Jenny war in allgemeinen verdeckten Operationen ausgebildet, doch die Gene der beiden waren praktisch für den Kampf gezüchtet, und im Zusammenspiel mit ihren nanonischen Supplementen waren sie phantastische Kampfmaschinen.

Dean Folan war Mitte Dreißig, ein stiller, dunkelhäutiger Mann mit der Art von subtilem guten Aussehen, die fast allen genetisch Manipulierten zu eigen war. Er war nur durchschnittlich groß, doch seine Gliedmaßen waren lang und kräftig und ließen seinen Torso beinahe verkümmert wirken. Jenny wußte, daß es an der verstärkten Muskulatur lag; die siliziumfaserverstärkten Knochen waren verlängert worden, um den Muskeln eine bessere Hebelwirkung zu verschaffen – und um mehr Platz für Implantate zur Verfügung zu stellen.

Will Danza paßte genau in die Vorstellung, die Menschen von einem modernen Soldaten hatten: fünfundzwanzig Jahre alt, groß, breitschultrig, mit langen, geschmeidigen Muskeln. Er war der Genotyp des alten preußischen Gardisten, blond, höflich und ohne jeden Humor. Er war von einer fast körperlich spürbaren Aura der Gefahr umgeben; man legte sich in einer Kneipe nicht mit einem Typ wie Danza an, ganz egal, wieviel man getrunken hatte. Danza hatte im Verlauf der letzten drei Jahre an drei geheimen Aktionen teilgenommen. Jenny hatte seine Personalakte eingesehen, als der Dschungeleinsatz noch im Planungsstadium gewesen war; es waren harte Aktionen gewesen, und eine davon hatte ihm acht Monate in einem Hospital eingebracht, wo er aus geklonten Organen wiederhergestellt worden war, sowie einen Smaragdstern, verliehen vom Duke von Salion, dem ersten Cousin von Kulus Alastair II und Vorsitzenden der Sicherheitskommission des Geheimen Staatsrates von Kulu. Danza hatte während der gesamten Reise den Fluß hinauf kein Wort über die Geschichte verloren.

Ringsum veränderte sich der Dschungel nach und nach. Dicht an dicht stehendes Gestrüpp wich langen, schlanken Bäumen mit einer Krone, die sich in dreißig Metern Höhe wie Farnwedel ausbreitete. Eine dichte Decke aus Kriechpflanzen bedeckte den Boden und wand sich an den Stämmen hinauf, um das untere Drittel in ein dichtes konisches Geflecht zu hüllen. Die Sichtweite wurde dramatisch vergrößert, doch die Pferde mußten genau aufpassen, wohin sie ihre Hufe setzten. Hoch über ihren Köpfen sprangen Vennais mit unglaublichen Sätzen durch die Lüfte oder jagten an den schlanken Stämmen in die Höhe, um sich im Blattgewirr der Baumkronen zu verbergen. Jenny konnte nicht erkennen, wie sie sich an der glatten Rinde festhielten.

Nach weiteren vierzig Minuten erreichten sie einen kleinen Bachlauf. Jenny stieg mit vorsichtigen Bewegungen ab und ließ ihr Pferd trinken. In der Ferne sah sie eine Herde Danderil, die sich von dem schmalen Rinnsal entfernte. Von Westen her zogen weiße Wölken heran. In spätestens einer Stunde würde es regnen, erkannte Jenny.

Dean Folan stieg hinter ihr ebenfalls vom Pferd, und Will Danza blieb als letzter im Sattel, um von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus Wache zu halten. Alle drei trugen identische Kleidung: einteilige, extrem strapazierfähige, projektilsichere Anzüge in Olivgrün mit einer äußeren Isolation, um die Strahlung von Energiewaffen zu streuen. Die leichten Kampfanzüge paßten wie angegossen und besaßen im Innern eine Schaumstoffschicht, um die Haut zu schützen. Thermoleitende Fasern hielten die Körpertemperatur auf einer voreingestellten Norm, was auf Lalonde ein echter Segen war. Wenn der Anzug von einem Projektil getroffen wurde, aktivierten sich die Mikro-Valenzgeneratoren an der Hüfte und verfestigten das Gewebe im Bruchteil von Mikrosekunden, um so den Aufprall abzufangen und die Geschoßenergie gleichmäßig zu verteilen. Auf diese Weise war der Träger sogar davor sicher, von Feuerstößen aus automatischen Waffen durch die Gegend gewirbelt zu werden. (Jenny bedauerte nur, daß der Anzug sie nicht vor dem durch das ungewohnte Reiten verursachten Wundsein schützen konnte.) Der Kampfanzug wurde vervollständigt durch einen Schalenhelm, der mit der gleichen Präzision paßte wie der Anzug. Der Helm verlieh ihnen mit seinen großen Sichtlinsen und dem kleinen, V-förmigen Atemventil ein insektenartiges Aussehen. Im Kragen befand sich ein Ring aus optischen Sensoren, auf die mit Hilfe einer neuralen Nanonik zugegriffen werden konnte und die Sicht nach hinten ermöglichte. Sie konnten sogar bis zu einer halben Stunde unter Wasser überleben, dank der Fähigkeit des Anzugs, Sauerstoff zu recyceln.

Der Bach war schlammig, die Steine von Algen überwuchert, doch das schien den Pferden nichts auszumachen. Jenny beobachtete, wie sie gierig das Wasser tranken, und saugte selbst ein wenig eiskalten Orangensaft aus dem Nippel des Spenders in ihrem Anzug. Dann machte sie sich daran, mit Hilfe des Trägheitsleitsystems ihre gegenwärtige Position zu bestimmen.

Dean und Will tauschten die Position, und Jenny befahl dem Kommunikatorblock ihres Anzugs, einen verschlüsselten Kanal zu Murphy Hewlett zu öffnen. Das ESA-Team und die Marines der Konföderierten Navy hatten sich getrennt, nachdem sie von Bord der Isakore gegangen waren. Sie gingen davon aus, daß ihre Chancen besser standen, einen der sequestrierten Kolonisten zu fangen, wenn sie getrennt operierten.

»Wir sind acht Kilometer von Oconto entfernt«, berichtete Jenny. »Bisher keinerlei Kontakt mit dem Feind oder mit Einheimischen.«

»Hier das gleiche«, antwortete der Lieutenant der Navy. »Wir befinden uns sechs Kilometer südlich von Ihnen, und außer uns ist kein Mensch in diesem Dschungel. Falls der Siedlungsbeauftragte von Oconto tatsächlich mit fünfzig Freiwilligen hinter den Zettdees her ist, dann war er jedenfalls nicht in unserer Gegend. Fünfzehn Kilometer von hier entfernt gibt es eine kleine Savanne mit vielleicht hundert Gehöften darauf. Ich schätze, wir versuchen dort unser Glück.«

Statisches Rauschen verstümmelte ihre Unterhaltung. Automatisch überprüfte Jenny ihre Detektoren auf elektronische Kampfmaßnahmen, doch sie vermeldeten keinerlei Aktivität. Offensichtlich handelte es sich um atmosphärische Störungen.

»In Ordnung. Wir rücken weiterhin auf das Dorf vor und hoffen, daß wir einen Kolonisten finden, bevor wir dort angekommen sind«, antwortete sie per Datavis.

»Verstanden. Ich schlage vor, daß wir uns von jetzt ab jede halbe Stunde in Verbindung setzen. Hier ist…« Die Stimme verlor sich in einem richtiggehenden Gewitter aus Statik.

»Verdammt! Dean, Will, unsere Kommunikation wird gestört!«

Dean überprüfte seine eigenen Prozessorblock auf elektronische Störmaßnahmen. »Keinerlei Aktivität feststellbar«, sagte er.

Jenny führte ihr Pferd vom Wasser weg und setzte einen Fuß in den Steigbügel, dann schwang sie das andere Bein über den Sattel. Will stieg neben ihr ebenfalls hastig auf. Alle drei suchten den umgebenden Dschungel ab. Deans Pferd wieherte nervös. Jenny zerrte an den Zügeln, um das unruhige Tänzeln ihres Tieres zu unterbinden.

»Sie sind irgendwo dort draußen«, sagte Will mit tonloser Stimme.

»Wo?« fragte Jenny.

»Ich weiß es nicht, aber sie beobachten uns. Ich kann es spüren. Und sie mögen uns nicht.«

Jenny schluckte die naheliegendste Antwort herunter. Abergläubische Soldaten waren nicht gerade das, was sie jetzt gebrauchen konnte – doch Will hatte mehr praktische Kampferfahrung als sie. Eine schnelle Überprüfung ihrer Ausrüstung förderte zutage, daß bisher nur ihr Kommunikatorblock betroffen war. Der Prozessorblock für elektronische Kriegführung schwieg beharrlich.

»Also schön«, sagte sie. »Wir wollen unter allen Umständen vermeiden, einer ganzen Gruppe von ihnen über den Weg zu laufen. Die Edeniten haben berichtet, daß sie um so mächtiger sind, je mehr von ihnen sich zusammenschließen. Ich denke, wir ziehen uns ein Stück zurück und versuchen, aus der Störzone herauszukommen. Wir sollten imstande sein, uns schneller zu bewegen als sie.«

»Welche Richtung?« fragte Dean.

»Ich möchte noch immer versuchen, bis zum Dorf vorzudringen, aber ich glaube nicht, daß der direkte Weg unter den gegebenen Umständen ratsam wäre. Wir halten uns in südwestlicher Richtung und schlagen einen Bogen zurück nach Oconto. Irgendwelche Fragen? Nein? In Ordnung, dann also los. Sie führen, Dean.«

Sie durchquerten den Bach. Die Pferde schienen froh, endlich wieder in Bewegung zu sein. Will Danza hatte seinen Thermoinduktionskarabiner aus dem Sattelholster gezogen; die Waffe ruhte in seiner linken Ellenbogenbeuge, mit dem Lauf nach oben. Die per Datavis übertragenen Informationen des Zielerfassungsprozessors bildeten ein stetiges Summen im Hintergrund seines Kopfes, das nicht ganz bis ins Bewußtsein vordrang. Es war genausosehr Bestandteil der Situation wie der Rhythmus der Pferde oder das helle Sonnenlicht und machte sie erst zu einem Ganzen.

Will ritt an letzter Stelle in der kleinen Prozession und beobachtete ununterbrochen die nach hinten gerichteten Kragensensoren seines Schalenhelms. Wenn jemand ihn gefragt hätte, woher er wußte, daß der Gegner in der Nähe war, hätte er nur mit den Schultern zucken und sagen können, daß er nicht imstande war, es zu erklären. Doch seine Instinkte waren untrüglich und warnten ihn mit der gleichen Intensität, mit der eine Biene von Pollen angezogen wurde. Sie waren da, und sie waren nah. Wer oder was auch immer sie waren.

Er drehte sich im Sattel um und erhöhte die Auflösung seiner Retinaimplantate auf das Maximum, doch es war nichts weiter zu sehen außer dünnen schwarzen Baumstämmen und ihren üppig grünen konischen Sockeln. Die Umrisse waberten in der Hitze und sorgten zusätzlich für einen instabilen Vergrößerungsfaktor.

Eine Bewegung.

Wills Karabiner ging los, bevor er auch nur einen bewußten Gedanken daran verschwenden konnte. Neonblau leuchtende Zieldiagramme legten sich über sein Gesichtsfeld, während er den Lauf in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung senkte. Ein roter Kreis überlagerte das zentrale Gitter, und Wills neurale Nanonik löste eine Streusalve von fünfhundert Schuß aus.

Die Dschungelsektion im zentralen blauen Rechteck glitzerte und funkelte voller winziger orangefarbener Motten, als die Induktionspulse auf das Holz und die Blätter prasselten. Die gesamte Salve dauerte nicht länger als zwei Sekunden.

»Runter!« rief er per Datavis. »Feindliche Objekte auf vier Uhr!«

Er glitt bereits vom Pferd und landete mit den Füßen voran auf den breiten, dreieckigen Blättern der bodendeckenden Kriechpflanzen. Jenny und Dean gehorchten in einem automatischen Reflex und warfen sich aus den Sätteln. Sie gingen mit schußbereit erhobenen Thermokarabinern in die Hocke und bildeten rasch eine Rundumverteidigung. Jeder behielt einen anderen Abschnitt des umgebenden Dschungels im Auge.

»Was war das?« fragte Jenny.

»Zwei von ihnen, glaube ich.« Will spielte rasch die gespeicherte Aufnahme ab. Es war ein dunkler, fetter Schatten, der hinter einem der Bäume hervorschoß und sich dann teilte. Das war der Augenblick, in dem Will gefeuert hatte, und das Bild verwackelte. Doch die schwarzen Schatten wollten sich nicht auflösen, ganz gleich, wie viele Schärfungsprogramme er über die Aufnahme laufen ließ. Sie waren definitiv zu groß für Sayce – und sie hatten sich in Wills Richtung bewegt und dabei die überwucherten Baumstämme als Deckung benutzt.

Er spürte einen Anflug von Bewunderung. Sie waren wirklich gut.

»Was jetzt?« fragte er per Datavis. Niemand antwortete. Er wiederholte die Frage laut.

»Aufklärung und Auswertung«, sagte Jenny ebenfalls laut; sie hatte in diesem Augenblick festgestellt, daß die Dataviskanäle unterbrochen waren. »Wir befinden uns immer noch in Reichweite dieses verdammten elektromagnetischen Störeffekts.«

Über ihr gab es einen lautlosen orangefarbenen Blitz, und das obere Drittel eines zehn Meter entfernten Baums kippte langsam über. Es hing nur noch an ein paar Splittern fest, die stark verkohlt waren. In dem Augenblick, als die Krone die Horizontale erreicht hatte, fingen die Blätter Feuer. Sie flackerten hell auf und erzeugten einen Ring aus blau-grauem Rauch, und dann brannten sie richtig. Zwei Vennais sprangen heraus. Sie kreischten vor Schmerz, und ihre Felle waren schlimm verbrannt. Bevor die Krone in ihrer ganzen Länge zu Boden krachte, brannte sie mit einer Glut, die der Sonne gleichkam.

Die Pferde wieherten erschrocken und scheuten, doch sie wurden von aufgerüsteten Muskeln zu Boden gezerrt.

Jenny wurde bewußt, daß die Tiere rasch zu einer Belastung zu werden drohten, während sie ihr Pferd festhalten mußte. Ihre neurale Nanonik hatte einen Laserstrahl entdeckt, der den Baum getroffen und gefällt hatte. Doch es hatte keinen nachfolgenden Energieausbruch gegeben, der für das Feuer verantwortlich hätte sein können.

Deans Sensoren hatten den Laserstrahl ebenfalls aufgefangen. Er feuerte eine Fächersalve von fünfzig Schuß in die Richtung, wo er den Ursprung vermutete.

Das Feuer in der Krone des gefallenen Baums erlosch. Es hatte nichts außer einem schwelenden, spitz zulaufenden, verkohlten Stamm und einem Haufen Asche zurückgelassen. Ringsum schwelten in weitem Umkreis angesengte Kriechpflanzen.

»Was zur Hölle war das?« fragte Dean.

»Keine Daten«, antwortete Jenny. »Aber es wird kein Spaziergang.«

Kleine Kugeln aus lebhaftem weißen Feuer rasten an den Stämmen mehrerer nahestehender Bäume hinauf wie eine bizarre, astrale Flüssigkeit. Hinter ihnen schrumpfte die Rinde und schälte sich in langen Streifen ab, und das nackte Holz darunter brüllte wie ein offener Brennkessel, als es Feuer fing. Die Flammen verdoppelten ihre Intensität. Jenny, Will und Dean waren mit einemmal von zwölf riesigen Fackeln eingekreist.

Jennys Retinaimplantate hatten Mühe, mit dem Photonenbombardement fertig zu werden. Ihr Pferd scheute erneut und kämpfte gegen sie an. Es warf den Kopf hin und her, um ihren Griff abzuschütteln, und die Vorderhufe kreisten gefährlich dicht vor Jennys Kopf. Sie sah die Panik in den Augen des Tieres. Schaum stand vor seinem Maul, und die Flocken sprühten auf ihren Kampfanzug.

»Rettet die Ausrüstung!« rief sie. »Wir können die Pferde nicht mehr länger unter Kontrolle halten.«

Will hörte den Befehl in dem Augenblick, als sein eigenes Pferd zu bocken begann und mit den Hinterläufen nach imaginären Feinden austrat. Er schmetterte dem Tier die Faust auf den Schädel, genau zwischen die Augen, und für eine Sekunde erstarrte es in betäubter Überraschung. Dann brach es langsam ein und ging zu Boden. Einer der brennenden Bäume gab ein lautes Kreischen von sich und kippte um. Der Stamm krachte auf den Rücken des Pferdes, brach Rippen und Beine und sengte sich seinen Weg durch das Fleisch. Öliger Rauch stieg auf. Will schoß vor und zerrte am Sattelgurt. Wills Kampfanzug sandte eine Warnung in seine neurale Nanonik, als der Ansturm der Hitze gegen die äußere Isolierschicht brandete.

Kugeln aus orangefarbenen Flammen jagten über ihm durch die Luft und spuckten Ströme schwarzer Flüssigkeit aus: Vennais auf der Flucht und sterbend, während ihre Schlafplätze in lodernde Flammen aufgingen. Kleine verdorrte Körper prasselten ringsum zu Boden; einige bewegten sich noch schwach.

Dean und Jenny kämpften noch mit ihren Pferden, und unterdrückte Flüche hallten durch die Luft. Wills Anzug meldete vorsorglich, daß der thermische Input die Grenze dessen erreicht hatte, was die Isolierung vertragen konnte. Er spürte, wie der Sattelgurt nachgab, und sprang mit den Satteltaschen in den Händen zurück. Die äußere Wärmeableitschicht des Anzugs glühte kirschrot, als sie die aufgestaute Hitze abstrahlte, und von den Kriechpflanzen unter seinen Füßen stiegen kleine Rauchwölkchen auf.

Weitere Bäume stürzten um. Die Flammen verzehrten das Holz mit einer schier unvorstellbaren Geschwindigkeit. Einen Augenblick lang waren die drei Menschen vollständig von einer wabernden Wand aus unwahrscheinlichen, tödlich weißen Flammen eingeschlossen.

Jenny zog ihre Satteltaschen vom Pferd und ließ das Zaumzeug los. Das Tier raste blindlings davon, nur um panisch vor einem umstürzenden Stamm zu scheuen, der seinen Weg versperrte. Ein brennender Vennal landete auf seinem Rücken, und es rannte unter erbarmungswürdigen, gequälten Schreien direkt in die Flammenwand. Jenny sah, wie es stürzte. Es zuckte noch einige Male, versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, dann brach es schlaff zusammen und rührte sich nicht mehr.

Inzwischen brannte der Boden in einem weiten, hundert Meter durchmessenden Kreis. Lediglich ein kleiner Fleck in der Mitte blieb noch unberührt. Die drei gruppierten sich dort, während die beiden letzten Bäume fielen. Jetzt brannten nur noch die Kriechpflanzen. Gelbe, heiße Flammen und schwerer blauer Rauch stiegen in den Himmel.

Jenny zog ihre Ausrüstung zu sich heran und startete eine automatische Diagnose der Systeme. Es sah nicht gut aus. Das Trägheitsleitsystem gab erratische Daten aus, und der lasergestützte Distanzmesser ihres Anzugs funktionierte nicht mehr einwandfrei. Das elektromagnetische Störfeld des Gegners schien an Stärke zu gewinnen. Und nach den externen Temperatursensoren zu urteilen wären inzwischen längst alle drei bei lebendigem Leib geröstet worden, wenn ihre Kampfanzüge nicht über eine wärmereflektierende Isolierschicht verfügt hätten.

Sie packte den Thermokarabiner fester. »Sobald die Flammen schwächer werden, möchte ich Streufeuer im Umkreis von vierhundert Metern. Wir bekämpfen Feuer mit Feuer. Sie haben uns gezeigt, wozu sie imstande sind – jetzt ist die Reihe an uns.«

»In Ordnung«, murmelte Will zuversichtlich. »Kein Problem.«

Jenny kramte in ihren Taschen auf der Suche nach einer der schweren Hochleistungs-Energiezellen, die sie mit sich führte, und schob das spiralförmige Anschlußkabel in den Schaft ihres Karabiners. Ihre beiden Begleiter taten das gleiche.

»Fertig?« fragte sie. Die Flammen waren inzwischen nur noch ein paar Meter hoch. Die Luft war voll von fliegender Asche. Glühende Flocken verdunkelten die Sonne. »Dann los. Feuer!«

Sie sprangen auf, Schulter an Schulter, und bildeten ein Dreieck. Die Thermokarabiner blitzten und jagten einen Hagel von zweihundertfünfzig unsichtbaren, tödlichen Energiebällen in der Sekunde nach draußen. Ihre Zielprozessoren koordinierten die Flächendeckung und sorgten dafür, daß sich die Fächer überlappten. Neurale Nanoniken steuerten die aufgerüstete Muskulatur in präzisen Schritten und kontrollierten die Richtung der Energieblitze.

Eine Welle der Zerstörung raste über das bereits von Flammen gezeichnete Land hinweg und fraß sich in die Vegetation dahinter. Grelle orangefarbene Sterne sprühten über Baumstämme und Kriechpflanzen und entzogen dem organischen Gewebe sämtliche Feuchtigkeit, bevor sie Reben und Bäume ohne Unterschied in ein Flammenmeer verwandelten. Aus der anfänglichen Welle wurde innerhalb von Sekunden ein ausgewachsener Feuersturm, der vom nicht enden wollenden Energieausstoß der Thermokarabiner noch weiter aufgeheizt wurde.

»Brennt, ihr Wichser!« gellte Will triumphierend. »Brennt!«

Der gesamte Dschungel ringsum stand in Flammen, und eine Lawine aus Feuer wälzte sich nach draußen. Wieder einmal starben Vennais zu Hunderten, als sie von ihren schwelenden Ästen herab direkt in die Feuersbrunst stürzten.

Deans neurale Nanonik meldete plötzlich, daß sein Karabiner anfing zu stottern, wann immer er eine bestimmte Koordinate überstrich. Er richtete die Waffe auf die Stelle und hielt sein Feuer darauf konzentriert. Die Schußgeschwindigkeit fiel auf fünf Pulse pro Sekunde.

»Verdammt. Jenny, sie haben ihre elektronischen Störmaßnahmen auf den Zielprozessor meines Karabiners abgestimmt!«

»Gib mir die Richtung!« verlangte sie.

Er übergab ihr per Datavis die Koordinaten – plötzlich gab es kein Problem mehr mit der Kommunikation. Als Jenny ihren eigenen Thermoinduktionskarabiner auf die betreffende Stelle ausrichtete, sank auch ihre Feuergeschwindigkeit augenblicklich, doch die Blocks in ihrem Anzug funktionierten mit einemmal wieder. »Jesses, diese Burschen haben vielleicht eigenartige elektromagnetische Störmaßnahmen!«

»Soll ich es versuchen?« fragte Will.

»Nein. Zuerst beenden wir unser Fächerfeuer, dann kümmern wir uns um sie.« Sie wandte sich wieder ihrem Abschnitt zu. Ihr Herz begann wild zu pochen, als sie die unüberwindliche Wand aus Flammen sah, die über den Dschungel raste. Sie war es, die eine derart gewaltige Zerstörungskraft kommandierte, und dieses Gefühl raste euphorisierend durch ihre Adern und erzeugte eine gefährliche Hochstimmung. Sie mußte ihrer neuralen Nanonik einen Unterdrückungsbefehl erteilen, um die natürliche Ausschüttung von Adrenalin stark einzudämmen. Dann waren sie fertig mit dem Fächerfeuer, und ihre Erregung kühlte allmählich ab. Das Hochgefühl jedoch hielt noch eine ganze Weile an.

Hundertzwanzig Meter entfernt raste ein Holocaust aus Flammen. »In Ordnung, der Feind war so dumm, seine Position zu verraten«, sagte Jenny. »Hört zu, Dean und Will: Wir nehmen die Gaußgewehre. Splittergeschosse und Elektronenionisierungsgranaten; im Verhältnis vierzig zu sechzig.«

Will grinste unter seinem Schalenhelm und bückte sich, um die schwere Waffe aus dem Holster zu ziehen. Der Lauf des Gaußgewehrs war dunkelgrau und gut anderthalb Meter lang. Die Waffe wog dreißig Kilogramm, doch Will nahm sie, als bestünde sie aus Styropor. Er vergewisserte sich, daß der Gurtschlauch mit der sperrigen Magazinkiste zu seinen Füßen verbunden war, stellte per Datavis das Verhältnis ein, in dem die Munition zu mischen war, und richtete es auf das Flammenmeer und die Koordinaten, an denen der Feind vermutet wurde. Dean machte neben ihm das gleiche.

Jenny hatte unterdessen die Position sondiert. Sie hatte ihren Thermokarabiner benutzt, um den Bogenwinkel und die Richtung der toten Zone zu spezifizieren, indem sie einfach aufzeichnete, an welchem Punkt der Karabiner anfing zu stottern. Anschließend übermittelte sie die Koordinaten per Datavis an Will und Dean: ein ovales Gebiet von fünfzig Metern Breite in einer Entfernung von grob gerechnet dreihundert Metern.

»Hundertfünfzig Prozent Abdeckung!« befahl Jenny. »Feuer!«

Sie bewunderte die Art und Weise, wie die beiden Männer mit den schweren Waffen umgingen. Die Gaußgewehre verschossen zehn Projektile pro Sekunde mit einer Mündungsgeschwindigkeit von Mach fünf, und doch bewegten sich die beiden kaum, während der Rückstoß auf sie einhämmerte. Langsam schwenkten sie die Waffen von einer Seite auf die andere. Jenny bezweifelte, daß ihre aufgerüsteten Muskeln zu einer derartigen Leistung imstande gewesen wären.

Ein Stück weit hinter der Flammenwand brach in einem kleinen Bereich des Dschungels die Hölle los.

Explosionen in fünf Metern Höhe über dem Boden verschleuderten Hunderttausende von kleinen Kohlefaserschrapnellen. Sie jagten mit Überschallgeschwindigkeit durch die Luft, scharf wie Skalpelle und härter als Diamant. Die Bäume, die den Feuersturm überlebt hatten, lösten sich einfach auf. Sie wurden von dem brutalen Hagelschauer buchstäblich zerfetzt. Konfettigroße Bruchstücke flogen umher wie eine Wolke aus Pusteblumen in einem Tornado.

Der Rest der Schrapnelle schoß in den Boden, zerfetzte das verschlungene Gewirr aus Kriechpflanzen und drang dreißig oder vierzig Zentimeter tief in den feuchten, weichen Urwaldboden ein. Und trotzdem hatten sie nicht die kleinste Chance, zur Ruhe zu kommen. Die Elektronenionisierungsgranaten regneten herab und detonierten. Eine Schockwelle aus harter ionisierter Strahlung wurde frei. Fahnen aus schwarzem Rauch schossen in den von Asche dunklen Himmel hinauf. Das gesamte Gebiet wurde von zwei Meter tiefen Kratern überzogen, dicht an dicht wie die Wellenkronen auf einer vom Wind bewegten Dünung.

Die Zerstörung war umfassend. So sehr, daß die Vorstellung ans Absurde grenzte, auch nur ein Insekt könnte das Inferno überlebt haben, geschweige denn ein größeres Tier.

Die drei Agenten der ESA starrten durch die ersterbenden Flammen auf den dunklen Zyklon aus lehmigen Partikeln und Holzsplittern, der die Sonne verdunkelte.

Jennys neurale Nanonik startete eine Reihe von Diagnoseprogrammen und überprüfte die Prozessorblocks ihrer Ausrüstung. »Das warʹs«, sagte sie zufrieden. »Das elektromagnetische Störfeld ist verschwunden.« Ihre Stimme bebte schwach, als ihr die gewaltige Zerstörung bewußt wurde, die sie heraufbeschworen hatte. »Sieht ganz danach aus, als hätten wir sie erwischt.«

»Und jeder im weiten Umkreis weiß jetzt Bescheid«, sagte Dean tonlos. »Wahrscheinlich kann man das Feuer bis halb nach Durringham sehen. Der Feind wird mit Sicherheit größere Kräfte herschicken, um zu untersuchen, was sich ereignet hat.«

»Sie haben recht«, gestand Jenny.

»Sie sind immer noch da«, verkündete Will.

»Was?« fragte Dean ungläubig. »Das sind deine Nerven. Nichts könnte ein derartiges Inferno überleben, nicht einmal ein Kampfmechanoid. Wir haben diese Bastarde in die Hölle geschickt!«

»Haben wir nicht! Ich sage dir, sie sind immer noch dort draußen!« beharrte Will. Er klang nervös. Ganz und gar nicht normal für ihn.

Wills Nervosität kroch durch die komfortable Isolation von Jennys Kampfanzug. Halb hatten seine Worte sie bereits überzeugt. »Falls einer überlebt hat, um so besser«, hörte sie sich sagen. »Ich will immer noch einen Gefangenen für Ralph Hiltch. Los, wir sehen uns die Sache an. Wir müßten sowieso nachsehen. Und wir können nicht hierbleiben und warten, bis sie sich neu gruppiert haben.«

Rasch teilten sie die verbliebene Munition und die Energiezellen zusammen mit der restlichen Ausrüstung aus ihren Packtaschen untereinander auf. Jeder behielt seinen Thermokarabiner. Will und Dean schulterten die Gaußgewehre ohne ein Wort des Protestes.

Jenny führte die kleine Gruppe im Laufschritt über die schwelenden Überreste von Dschungel und Urwald in Richtung des Gebietes, das sie mit den Gaußgewehren ausgebombt hatten. Sie fühlte sich ungedeckt und verletzlich. Das Feuer war inzwischen erloschen: Es war nichts mehr übrig, das hätte brennen können. In einiger Entfernung sah sie, wie sporadische Flammen an Büschen und Schlingpflanzen aufloderten. Sie befanden sich in der Mitte einer neu geschaffenen Lichtung von nahezu einem Kilometer Durchmesser, und die einzige Farbe war Schwarz. Alles war verbrannt, die Überreste der Kriechpflanzen am Boden, zehn Meter hohe Überreste von Bäumen, die von natürlichen Flammen verzehrt worden waren (im Gegensatz zu der weiß leuchtenden Energie, die der Gegner eingesetzt hatte), gegrillte Vennais, die überall herumlagen, andere, kleinere Tiere, der schrecklich zugerichtete Kadaver eines der Pferde, selbst die Luft war erfüllt von schwebenden Partikeln aus schwarzer Asche. Sie befahl ihrem Kommunikatorblock per Datavis, einen gesicherten Kanal zu Murphy Hewlett herzustellen. Zu ihrer größten Überraschung antwortete er auf der Stelle.

»Mein Gott, Jenny, was ist passiert? Wir konnten Sie die ganze Zeit über nicht erreichen, und dann haben wir dieses irrsinnige Feuergefecht beobachtet. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

»Wir sind jedenfalls noch an einem Stück. Allerdings haben wir die Pferde verloren. Ich schätze, wir haben dem Gegner ebenfalls ein paar Verluste zugefügt.«

»Ein paar Verluste?«

»Ja. Murphy, achten Sie auf merkwürdiges weißes Feuer. Bis jetzt haben sie es nur benutzt, um die Vegetation in Brand zu stecken, aber unsere Sensoren waren nicht imstande herauszufinden, wie sie die Energie kontrollieren. Sie kommt scheinbar aus dem Nichts auf einen zu. Aber zuerst greifen sie mit einem elektromagnetischen Störfeld an. Mein Rat lautet: Falls Sie feststellen, daß Ihre elektronischen Ausrüstungsgegenstände einer nach dem anderen auszufallen beginnen, dann legen Sie augenblicklich Sperrfeuer. Löschen Sie den Gegner aus.«

»Mein Gott. Mit was zur Hölle haben wir es hier zu tun? Zuerst diese Illusion von einem Schaufelraddampfer auf dem Fluß, und jetzt Energiewaffen, die sich nicht entdecken lassen!«

»Ich weiß es nicht, Murphy. Noch nicht. Aber ich bin fest entschlossen, es herauszufinden.« Sie war überrascht, wie entschlossen sie geklungen hatte.

»Brauchen Sie Hilfe? Der Weg zurück zum Boot ist verdammt weit.«

»Negativ. Ich denke nicht, daß es gut wäre, wenn wir uns wieder vereinigen. Zwei Gruppen haben eine bessere Chance als eine, das Ziel unserer Mission zu erreichen. Daran hat sich bis jetzt nichts geändert.«

»In Ordnung. Aber denken Sie daran: Wir sind da, falls es zu rauh wird.«

»Danke. Hören Sie, Murphy, ich habe nicht vor, nach Einbruch der Dunkelheit in diesem Dschungel zu bleiben. Verdammt, wir können ja nicht einmal am hellichten Tag sehen, wenn der Gegner kommt!«

»Das klingt nach dem ersten sinnvollen Ratschlag, den Sie heute geben.«

Sie kontrollierte ihre neurale Nanonik. »Noch bleiben uns sieben Stunden Tageslicht. Ich schlage vor, daß wir versuchen, uns von jetzt an in sechs Stunden an der Isakore zu treffen. Falls es uns bis dahin nicht gelungen ist, einen Gegner zu fangen oder zumindest herauszufinden, was zur Hölle eigentlich in dieser Gegend vorgeht, dann können wir dort über die Lage diskutieren.«

»Einverstanden.«

»Jenny!« rief Dean mit drängender Stimme.

»Ich rufe zurück«, sagte sie zu Murphy.

Sie waren am Rand der Sperrfeuerzone angelangt. Nicht einmal die Baumstümpfe hatten hier überlebt. Krater überlappten sich gegenseitig und bildeten eine zerbröckelnde Landschaft aus instabilen Trichtern und Löchern; krumme braune Wurzeln ragten aus den meisten nackten Trichterrändern ins Freie. Rauchfetzen und langgestreckte Schleier wanden sich wie luftige Würmer über den zusammenstürzenden Verwerfungen und glitten in die Löcher, um sich am Grund zu sammeln.

Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie drei Männer aus den Kratern klettern und schwerfällig in Richtung festem Boden flüchten. Sie stützten und zogen sich gegenseitig oder krochen auf Händen und Füßen weiter, wenn der schlüpfrige, feuchte Boden zu weich oder zu steil war, um festen Stand zu ermöglichen.

Jenny beobachtete ihr Vorankommen mit dem gleichen fassungslosen Staunen, das sich ihrer auch beim Anblick des antiken Mississippidampfers bemächtigt hatte, der den Fluß hinabgefahren war.

Die Männer kamen sechzig Meter von den drei ESA-Agenten entfernt auf festen Boden und erhoben sich. Zwei von ihnen waren eindeutig Kolonistentypen: Hosen aus grobem Kattun, dicke baumwollene Arbeitshemden, dichte volle Bärte. Der dritte steckte in einer Art antiker Khaki-Uniform: eine weite Hose, an den Unterschenkeln mit gelblichen Stoffbändern zusammengebunden, ein breiter brauner Ledergürtel um die Hüften mit einem polierten Pistolenhalfter und ein halbkugelförmiger Metallhut mit einem fünf Zentimeter breiten umlaufenden Rand.

Sie können unmöglich überlebt haben, dachte Jenny staunend. Nicht dort, wo sie sich aufgehalten haben. Eine wilde Sekunde lang fragte sie sich, ob vielleicht das elektronische Störfeld am Ende doch gewonnen hatte und seine wirren Halluzinationen direkt in ihre neurale Nanonik einspeiste.

Die beiden Gruppen starrten sich über eine halbe Minute lang unverwandt an.

Jennys Detektoren meldeten zunehmendes statisches Rauschen im Kurzreichweiten-Datavis. Das brach den Bann. »In Ordnung, holen wir sie uns!«

Langsam umrundeten sie den Rand der verwüsteten Zone. Die drei Männer beobachteten reglos ihr Tun.

»Wollen Sie alle drei?« fragte Will.

»Nein. Nur einen. Der Soldat dort muß über unglaublich hoch entwickelte Systeme verfügen, wenn er imstande ist, diesen Chamäleoneffekt zu erzeugen. Ich würde gerne ihn gefangennehmen, falls es sich einrichten läßt.«

»Ich dachte, Chamäleonanzüge hätten den Sinn, jemanden zu tarnen?« murmelte Dean.

»Ich bin nicht einmal sicher, ob das überhaupt Menschen sind, die wir vor uns sehen«, entgegnete Will. »Vielleicht tarnen sich die Xenos nur. Denk an den antiken Schaufelraddampfer.«

Jenny befahl dem lasergestützten Entfernungsmesser ihres Anzugs, den Soldaten zu erfassen: Die reflektierte Strahlung würde die tatsächlichen Umrisse mit einer Genauigkeit von weniger als einem halben Millimeter enthüllen. Der blaue Strahl schoß aus dem Sender an der Seite ihres Schalenhelms – doch anstatt den fremden Soldaten zu erfassen, wurde er ein paar Meter vor dem Ziel gestreut und bildete eine Art türkisfarbenen Nebel. Nach einer weiteren Sekunde deaktivierte sich der Entfernungsmesser. Jennys neurale Nanonik meldete, daß das Gerät nicht mehr arbeitete.

»Haben Sie das auch gesehen?« fragte sie atemlos. Inzwischen hatten sie vielleicht ein Drittel des Weges um das ausgebombte Gebiet zurückgelegt.

»Ich habe es gesehen«, erwiderte Will schroff. »Es ist ein Xeno. Warum sonst sollte es versuchen, seine wahre Gestalt zu verhüllen?«

Die Störungen im Datavisband nahmen zu. Jenny sah, daß der Soldat im Begriff stand, sein Pistolenhalfter zu öffnen. »Halt!« befahl sie, und ihre Stimme kam dröhnend aus dem Lautsprecher des Kommunikatorblocks. »Sie drei stehen ausnahmslos unter Arrest. Nehmen Sie die Hände hoch und bewegen Sie sich nicht!«

Alle drei Männer drehten sich zu ihr um und starrten sie an. Jennys neurale Nanonik meldete Störungen oder Ausfälle in der Hälfte der Systeme ihres Anzugs.

»Verdammt! Rückzug! Wir müssen sie trennen! Selbst drei von ihnen sind noch zu mächtig! Will, schießen Sie eine EI-Granate ab. Fünf Meter vor ihre Füße, nicht weiter!«

»Das ist zu nah«, sagte Dean angespannt, als Will das Gaußgewehr in Anschlag brachte. »Damit bringen Sie die Kerle um.«

»Sie haben unsere erste Salve überlebt«, entgegnete Jenny tonlos.

Will feuerte. Eine Schlammfontäne spritzte zum Himmel, begleitet von einem blau-weißen Feuerball. Die Druckwelle der Explosion ebnete ein paar der Erdhaufen in der näheren Umgebung ein.

Jennys neurale Nanonik meldete, daß die Elektronik ihres Anzugs wieder funktionierte. Die Schlammfontäne fiel in sich zusammen und gab den Blick auf die drei Männer frei. Sie standen ungerührt auf den Beinen. Im Datavisband ertönte ein schwaches Pfeifen, das Jennys neurale Nanonik nicht auszufiltern imstande war.

»Einen Meter!« schnappte sie. »Feuer!«

Die Explosion wirbelte sie herum, und sie stolperten bedrohlich. Einer der Männer fiel auf die Knie. Zum ersten Mal bemerkte Jenny so etwas wie eine Reaktion; einer der Farmertypen fauchte wütend und rief etwas. Sein Gesicht oberhalb des Bartes war schwarz, ob vom Schlamm oder vom Energieblitz der Explosion war aus der Entfernung nicht festzustellen.

»Feuern Sie weiter!« rief Jenny zu Will. »Sie dürfen sich nicht vereinigen! Los, wir laufen!«

Die drei Männer wurden ringsum von Explosionen eingedeckt. Will benutzte das Gaußgewehr auf die Art und Weise, wie Bereitschaftspolizei einen Wasserwerfer einsetzte, und verhinderte, daß die drei Männer zusammenkamen. Druckwellen, die einen gewöhnlichen Menschen in Fetzen gerissen hätten, machten ihnen kaum etwas aus. Die meiste Zeit wurden sie nur umgeworfen oder taumelten fällend rückwärts. Will war versucht, einen Schuß direkt auf einen der Gegner zu zielen, nur um zu sehen, was geschehen würde. Sie machten ihm angst, richtige, wirkliche Angst.

Jenny rannte über den verbrannten Boden. Die Ausrüstung und der Thermokarabiner schienen gewichtslos, als ihre aufgerüsteten Muskeln aktiviert wurden und sämtliche Arbeit übernahmen. Will machte seine Arbeit gut; er hatte einen der Männer von den beiden anderen getrennt. Es war der Farmertyp, der vorhin gerufen hatte. Jenny riß ihren Thermokarabiner hoch und zielte auf seinen linken Knöchel. Ihre neurale Nanonik kompensierte die schwankenden Bewegungen ihres Körpers. Falls es ihr gelang, ihn kampfunfähig zu machen, konnten sie die beiden anderen davonjagen oder töten. Ein abgetrennter kauterisierter Fuß war keine tödliche Wunde. Ihre neurale Nanonik löste einen einzelnen Schuß aus. Sie sah tatsächlich den Induktionspuls! Das war vollkommen unmöglich, beharrte ihr Verstand, doch eine bleistiftdünne violette Linie materialisierte in der Luft vor ihrer Waffe. Sie traf den Fuß des Farmers und platzte auseinander, und leuchtende Ranken wanden sich an seinem Bein hinauf. Er schrie laut auf und viel vornüber auf das Gesicht.

»Dean, setzen Sie ihn fest!« befahl sie. »Ich will ihn an einem Stück. Will und ich wehren die beiden anderen ab.« Der imaginäre Zielkreis ihres Thermokarabiners schwang herum und richtete sich auf den Soldaten, der unterdessen stehengeblieben war. Er zielte mit seinem Revolver auf Jenny. Sie feuerten gleichzeitig.

Jenny sah leuchtend purpurne Bandwürmer, die sich über die perfekt sitzende Khaki-Uniform wanden. Der Soldat begann umherzuhüpfen, als würden ihm Stromschläge versetzt. Dann wurde sie von der Kugel aus seinem Revolver getroffen. Das Projektil besaß die Wucht eines kinetischen Gaußgeschosses. Jennys Anzug verhärtete sich augenblicklich, und sie wurde rückwärts durch die Luft gewirbelt. Grauer Himmel und schwarzes Land schossen in verschwommenen Streifen an ihr vorüber. Dann herrschte für einen Augenblick Stille. Jenny prallte heftig auf. Ihr Anzug wurde wieder weich, und sie rollte noch ein ganzes Stück weiter, wählend sie wild mit Armen und Beinen um Halt zappelte.

Drei Meter von ihr entfernt brüllte das Gaußgewehr auf. Will stand mit gespreizten Beinen ungerührt da und hielt die Waffe an der Hüfte im Anschlag. Er schwenkte die Mündung hin und her und sandte Projektil um Projektil nach den beiden Männern.

Jenny rappelte sich auf die Beine. Der Soldat und der zweite Farmer waren fünfzig Meter von ihr entfernt. Beide hatten sich Will zugewandt, doch der Ansturm von Geschossen warf sie weiter und weiter zurück. Irgendwie hatte sie ihren Thermokarabiner bei sich behalten. Jetzt hob sie die Waffe und zielte erneut. Wieder wurde der fremde Soldat in einen Schauer aus leuchtenden purpurnen Blitzen gehüllt. Er warf die Hände hoch, als wollte er die intensiven Energiepulse physisch abschütteln. Dann sahen er und der zweite Farmer sich in die Augen. Sie mußten irgendeine Art von Information ausgetauscht haben, denn wie auf ein geheimes Kommando hin wandten sich beide ab und rannten auf den Rand des Dschungels in achtzig Metern Entfernung zu.

Dean Folan ließ Gaußgewehr und Rucksack fallen und war dadurch imstande, die letzten dreißig Meter in zweieinhalb Sekunden zu überbrücken. Während dieser Zeit feuerte er seinen Thermokarabiner zweimal ab. Jedesmal verwandelten sich die Pulse in grell purpurne gezackte Blitze, die den verletzten Farmer wieder auf den Boden zurück warfen. Dean überwand die letzten fünf Meter in einem einzigen Sprung und landete direkt auf seinem Gegner. Das Gewicht seines Körpers zusammen mit dem Kampfanzug und der Ausrüstung am Gürtel und in den Taschen hätte ausreichen müssen, um die Sache zu beenden. Doch der Mann machte bereits wieder Anstalten, sich zu erheben. Dean stieß ein überraschtes Ächzen aus, als er vom Boden hochgehoben wurde, und wollte seinen Gegner in einen Würgegriff nehmen. Doch der andere packte Deans Handgelenke mit stählernem Griff und zwang seine Arme auseinander! Er fiel auf den Rücken, und der Farmer rappelte sich hoch. Ein stiefelbewehrter Fuß trat ihm in die Rippen. Der Kampfanzug wurde stahlhart, doch die Wucht des Trittes schleuderte Dean herum. Er landete auf dem Bauch. Der Farmer mußte ein Konstrukt aus aufgerüsteten Muskeln sein! Deans neurale Nanonik aktivierte die Roütinen für unbewaffneten Zweikampf. Er schwang den Thermokarabiner herum, und ein weiterer gewaltiger Tritt ließ tatsächlich das Gehäuse der Waffe zersplittern! Doch er schlug mit der freien Hand zu und riß dem Farmer das andere Bein unter dem Leib weg. Er fiel schwer auf den Rücken.

Irgendwo in der Ferne hämmerte ein Gaußgewehr eine Salve von EI-Granaten hinaus.

Dean erhob sich in eine halbe Hocke, wie der Farmer auch, dann sprangen sie sich gegenseitig an. Und wieder mußte Dean feststellen, daß er trotz aller Aufrüstung unterlegen war. Der Aufprall des Farmers warf ihn stolpernd zurück, und er hatte Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und erneut zu stürzen. Arme mit der Kraft einer hydraulischen Ramme packten ihn. Deans neurale Nanonik überflog die taktischen Optionen und kam zu dem Schluß, daß Dean in bezug auf physische Kraft gefährlich unterlegen war. Er warf sich nach hinten und riß den Farmer mit sich. Dann trat er zu, und seine Stiefelspitze krachte mit voller Wucht in den Magen des Mannes. Ein klassischer Judo-Griff. Der Farmer segelte durch die Luft und schnaubte vor Wut. Dean zog seine zwanzig Zentimeter lange Fissionsklinge und warf sich gerade rechtzeitig herum, um dem neuerlichen Angriff zu begegnen.. Dean zielte auf den rechten Unterarm, und die Klinge fuhr herab. Sie traf und durchtrennte das Gewebe des Ärmelstoffs – doch dann verblaßte das gelbe Leuchten, und dunkler Stahl glitt fast wirkungslos über die Haut. Ein seichter Schnitt war alles, was Dean erreicht hatte.

Er starrte teils betäubt, teils schockiert auf die harmlose Wunde. Will hatte recht, der Bursche mußte ein Xeno sein. Während Dean hinsah, kräuselte sich die Haut auf dem Unterarm des Farmers, und der Schnitt schloß sich. Der Kerl lachte bösartig, und weiße Zähne blitzten in seinem faltigen Gesicht. Er setzte sich in Richtung Deans in Bewegung und streckte die Arme nach dem ESA-Agenten aus. Dean warf sich in die Umarmung und befahl seinem Anzug, sich von den Schultern abwärts zu verfestigen. Die Arme des Farmers umschlossen ihn in einem bärenstarken Klammergriff. Die Kompositfasern des Kampfanzugs, verstärkt von den integrierten Valenzgeneratoren, knirschten und knackten unheilverkündend, als der Farmer zudrückte. Ein paar Prozessorblocks in Deans zahlreichen Taschen zerbrachen. Es war reiner Instinkt, der Dean dazu brachte, die Energiezufuhr seiner Fissionsklinge zu unterbrechen; zurück blieb eine stumpf glänzende Klinge mit messerscharfen Schneiden. Der Feind schien in der Lage, jede Art von elektrischem Energiefluß zu kontrollieren und zu blockieren … vielleicht, wenn das Messer deaktiviert war … Dean hob die Spitze der Klinge und drückte sie dem Farmer unter das Kinn.

»Du kannst Wunden an den Armen heilen, aber kannst du auch dein Gehirn wieder heilen, wenn es in zwei Teile zerschnitten wird?« Er drückte die Klinge ein wenig höher, bis rings um die Spitze Blut hervorquoll. »Na, Lust auf einen Versuch?«

Der Farmer zischte voller Haß, doch er lockerte seinen Griff um Deans Brust. »Und jetzt möchte ich, daß du dich nicht mehr rührst«, sagte Dean und trat aus dem Griff des Burschen zurück. »Ich bin nämlich sehr nervös, und so ein Unfall ist verdammt schnell passiert.«

»Du wirst leiden«, sagte der Farmer hämisch. »Du wirst sehr viel länger leiden, als eigentlich nötig. Das verspreche ich dir.«

Dean trat einen Schritt zur Seite, ohne die Klinge am Kinn des Mannes auch nur einen Millimeter zu bewegen. »Du sprichst also englisch, wie? Woher kommst du?«

»Von hier. Ich komme von hier, Kriegermensch. Genau wie du.«

»Ich komme nicht von hier.«

»Wir kommen alle von hier. Aber du, du wirst hier bleiben. Für immer, Kriegermensch. Du wirst niemals sterben. Jetzt nicht mehr. Eine Ewigkeit in der Hölle, das ist es, was dich erwartet. Na, wie gefällt dir das? Ich meine es genauso, wie ich es sage.«

Dean sah, wie Will hinter den Farmer trat und ihm die Mündung des Gaußgewehrs an den Hinterkopf setzte.

»Ich habʹ ihn«, sagte Will. »Hey, Xeno-Mann, eine falsche Bewegung oder ein falsches Wort, und du bist Geschichte.« Er lachte. »Hast du das verstanden?«

Der Farmer schürzte die schmutzigen Lippen und stieß ein Schnauben aus.

»Er hat verstanden«, sagte Dean.

Jenny kam herbei und musterte das merkwürdige Tableau. Der Farmer sah vollkommen gewöhnlich aus, wenn man seine unglaubliche Arroganz außer Betracht ließ. Ihr fielen seine beiden Kameraden ein, die in den Dschungel geflüchtet waren, und die Hunderte – Tausende seinesgleichen irgendwo dort draußen. Vielleicht war seine Arroganz gar nicht so unberechtigt.

»Wie lautet dein Name?« fragte Jenny.

Die Augen des Farmers schossen in ihre Richtung. »Kingsford Garrigan. Und deiner?«

»Fesseln Sie ihn«, befahl Jenny Dean. »Wir schaffen ihn zurück zur Isakore. Du hast eine lange Reise vor dir, Kingsford Garrigan. Den ganzen Fluß hinunter und weiter bis nach Kulu.« Sie meinte, Überraschung in seinen Augen aufblitzen zu sehen. »Und du betest besser inbrünstig, daß deine Freunde nicht auf dumme Gedanken kommen und uns aufzuhalten versuchen. Ich weiß nicht, wer oder was du bist, aber solltest du versuchen, unsere Elektronik wieder zu stören, oder falls wir gezwungen sind zu fliehen, dann lassen wir dich als erstes fallen. Und das kannst du ruhig wörtlich nehmen. Aus verdammt großer Höhe.«

Der Farmer spie ihr lässig vor die Füße. Will versetzte ihm einen Stoß mit dem Gaußgewehr.

Jenny öffnete einen Kanal zum geostationären Kommunikationssatelliten und stellte eine Verbindung zum Dumper der Botschaft von Kulu her.

»Wir haben eins der feindlichen Individuen für Sie«, berichtete sie Ralph Hiltch per Datavis. »Und wenn ich sage feindlich, dann verstehen Sie das bitte wörtlich. Ich meine es todernst.«

»Phantastisch! Gut gemacht, Jenny! Kehren Sie so schnell wie möglich zurück. Ich habe bereits einen Transport nach Ombey arrangiert. Das dortige Büro der ESA besitzt die notwendige Ausrüstung für eine totale Tiefensondierung seiner Persönlichkeit.«

»Ich würde nicht darauf wetten, daß es funktioniert«, erwiderte Jenny. »Der Bursche ist immun gegen den Beschuß aus einem Thermokarabiner.«

»Wiederholen Sie das bitte?«

»Ich sagte, unsere Thermokarabiner können ihn nicht verletzen. Der Energiepuls wird einfach gestreut. Lediglich physische Waffen scheinen überhaupt eine Wirkung zu besitzen. Im Augenblick halten wir ihn mit dem Gaußgewehr in Schach. Und der Bursche ist stärker als die Jungs von der G66. Um einiges stärker!«

Am anderen Ende der Verbindung herrschte lange Zeit Schweigen. Schließlich fragte Hiltch: »Ist er überhaupt menschlich?«

»Zumindest sieht er menschlich aus. Aber ich wüßte nicht, wie das sein kann. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, würde ich sagen, er ist irgendeine Art von Super-BiTek-Android. Und zwar ein Xeno-BiTek, sehr viel höher entwickelt als unsere Technologie.«

»Allmächtiger Herr im Himmel! Schicken Sie mir bitte per Datavis ein vollständiges Bild, ich möchte einige Analyseprogramme darüber laufen lassen.«

»Selbstverständlich.«

Dean hatte die Arme des Mannes auf den Rücken gebogen und war im Begriff, ihm Handschellen anzulegen. Es waren ganz gewöhnliche mechanische Handschellen, eine Acht mit einem Schloß in der Mitte. Keine elektronische Sperre, dem Himmel sei Dank. Jenny wartete, bis Dean die roten Bügel verriegelt hatte.

Dann befahl sie ihrer neuralen Nanonik, die optischen Informationen aus ihrer Retina zu digitalisieren. Per Datavis übertrug sie das Bild an die Botschaft, gefolgt von den Daten ihrer Infrarotsensoren und einem spektrographischen Scan.

Dean nahm das Energiemagazin aus seinem zerstörten Thermokarabiner und reichte es zusammen mit den Reservemagazinen an Jenny weiter. Dann ging er ein paar Schritte zurück und holte sein Gaußgewehr.

Sie machten sich auf den Rückweg zur Isakore und schlugen ein schnelles Marschtempo ein. Wills Gaußgewehr war unablässig auf den Kopf des Gefangenen gerichtet. Jenny führte sie rasch in den Dschungel. Sie fühlte sich immer noch ungedeckt und schutzlos auf der Lichtung, die der Feuersturm geschaffen hatte.

»Jenny!« meldete sich Ralph Hiltch nach kurzer Zeit wieder. »Was hat der Feind gesagt, wie sein Name lauten würde?«

»Kingsford Garrigan«, antwortete sie.

»Er lügt. Und Sie sind auch auf dem Holzweg. Er ist kein Xeno-Android. Ich habe ein Suchprogramm durch unsere Datenbänke geschickt. Er ist ein Kolonist aus Aberdale, und sein richtiger Name lautet Gerald Skibbow.«

 

»Es ist eine feuchte, schwüle Nacht hier in Durringham, wie immer auf dieser armen, rückständigen Welt. Die Hitze schnürt mir die Kehle zu, und ich schwitze, als hätte ich Fieber. Aber im Innern friere ich noch immer; eine Kälte, die jede Zelle meines Herzens umklammert wie eine eisige Faust.« War das zu schwülstig? Und wenn schon, das Studio kann es ja rausschneiden.

Graeme Nicholson hockte auf schmerzenden Knöcheln geduckt im tiefsten Schatten eines der großen Raumhafenhangars. Es nieselte stark, und sein billiger synthetischer Anzug klebte an seinem schlaffen Leib. Und obwohl es schwül und das Wasser warm war, zitterten die fetten Speckrollen seines Bauches auf die gleiche Art und Weise, wie sie es taten, wenn er lachte.

Fünfzig Meter entfernt schimmerte ein schwaches gelbliches Licht aus dem Fenster eines Büros im einstöckigen Verwaltungsgebäude des Raumhafens. Es war das einzige Büro, in dem noch Licht brannte; die restlichen Angestellten hatten längst Feierabend gemacht. Graemes Retinaimplantate hatten Mühe, Laton, Marie Skibbow und zwei andere Männer hinter der schmutzigen Glasscheibe auszumachen. Einer der beiden war Emlyn Hermon, der Zweite Offizier der Yaku. Laton und Marie hatten sich im Crashed Dumper mit ihm getroffen. Den zweiten kannte Graeme nicht, doch es war offensichtlich, daß er in irgendeiner Funktion für die Raumhafenverwaltung arbeiten mußte.

Graeme wünschte nur, er könnte hören, welchen Handel die vier verabredeten. Doch sein aufgerüstetes Gehör besaß lediglich eine Reichweite von fünfzehn Metern im Umkreis – und kein Geld im gesamten Universum würde ihn dazu bringen, noch näher an Laton heranzuschleichen. Fünfzig Meter reichen vollkommen aus, nein danke.

»Ich bin dem Erzbösewicht von der Stadt bis hierher gefolgt. Nichts von dem, was ich gesehen habe, erweckt in mir auch nur die geringste Hoffnung für die Zukunft. Sein Interesse am Raumhafen von Durringham kann nur bedeuten, daß er im Begriff steht weiterzuziehen. Seine Arbeit auf Lalonde ist beendet. Gewalt und Anarchie regieren außerhalb der Stadt. Der monströse Fluch, den er auf diese Welt herabbeschworen hat, geht weit über meine Vorstellungskraft hinaus, doch jeden Tag erreichen uns neue, schlimmere Nachrichten aus den Gegenden flußaufwärts, und jeden Tag schwinden die Hoffnungen der Bürger mehr. Seine wahre Waffe heißt Furcht, und er scheint nach Belieben über sie zu verfügen.

Marie streckte die Hand aus. Darin befand sich ein kleines Objekt, das Graeme als Jupiter-Kreditdisk erkannte. Der Mitarbeiter der Raumhafenbehörde zog das passende Gegenstück hervor.

»Die Allianz ist gebildet. Sein Plan schreitet ein weiteres Stück voran. Ich kann nicht glauben, daß er etwas anderes als Desaster über die Menschheit bringt. Vier Dekaden haben nicht ausgereicht, um die Furcht zu verringern. Was hat er in diesen vier Dekaden ausgeheckt?

Immer und immer wieder stelle ich mir diese Frage, und die einzige Antwort, die mir dazu einfallen will, lautet: Böses. Er hat das Böse vervollkommnet.«

Das Licht im Büro ging aus. Graeme trat aus seiner überdachten Nische und ging am Hangar entlang nach vorn, bis er den Haupteingang des Verwaltungsgebäudes überblicken konnte. Das Nieseln hatte an Heftigkeit zugenommen und verwandelte sich nach und nach in Regen. Sein Anzug fühlte sich klamm an, unerträglich kalt, und schränkte seine Bewegungen ein. Vom Dach aus EasyStak-Paletten ergossen sich unglaubliche Wassermassen auf den Splitt am Boden. Graemes Schuhe waren durchnäßt. Trotz der körperlichen Unbill und trotz der quälenden Angst angesichts der Gegenwart Latons spürte er eine Aufregung, wie er sie seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Das hier war echter Journalismus. Die Eine-Million-zu-eins-Chance, die gefährlichen Nachforschungen, die absolute Entschlossenheit, die Story zu kriegen, ganz gleich, was es kosten mochte. Diese Wichser daheim in ihren Büros wären niemals dazu imstande. Sie saßen mit ihren fetten Bäuchen im Trockenen und hatten nur ihre eigene Karriere im Sinn – sie alle würden es erfahren. Das war Graemes wirklicher Sieg.

Laton und seine Helfer waren in die düstere Nacht getreten. Sie trugen Anoraks zum Schutz vor dem Regen und wandten Graeme den Rücken zu, als sie zur Flugschneise gingen, wo die verschwommenen Schatten der geparkten McBoeings helle Flecken in einer immer tieferen Dunkelheit bildeten. Laton (der wegen seiner Größe unverkennbar war) hatte den Arm um Marie gelegt.

»Die Schöne und das Biest, sehen Sie nur. Was mag sie nur an ihm finden? Marie ist nur ein einfaches Kolonistenmädchen, anständig und ehrbar. Sie liebt ihre neue Welt, und sie arbeitet lange und harte Stunden, genau wie jeder andere Bürger dieser Stadt. Sie teilt die moralischen Vorstellungen ihrer Nachbarn, und sie müht sich ab, um ihren Kindern eine bessere Welt zu hinterlassen. Irgendwie muß sie gestrauchelt sein. Eine Warnung, daß keiner von uns immun ist gegen die Anziehungskraft, die von der dunklen Seite der menschlichen Natur ausgeht. Ich blicke auf Marie Skibbow, und ich denke immer wieder: Wie leicht hätte es auch mich erwischen können.«

Auf halbem Weg zu den McBoeings stand ein kleineres Raumflugzeug. Offensichtlich war das Latons Ziel. Helles Licht fiel aus der offenen Luftschleuse und warf einen grauen Fleck auf den Boden. Ein paar Wartungstechniker waren mit mobilen Reparaturmodulen unter der Nase des Raumflugzeugs beschäftigt.

Graeme schlich bis zum Fahrwerk einer in vierzig Meter Entfernung geparkten McBoeing und versteckte sich hinter den breiten Reifen. Das Raumflugzeug war ein kleinflügeliges, senkrecht startendes Modell von der Sorte, die manche Schiffe in ihren Hangars mitführten. Graeme schaltete seine Implantate auf maximale Vergrößerung und suchte den Rumpf ab. Der Name Yaku stand auf dem niedrigen, kantigen Heck, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. Am Fuß der Treppe, die zur Luftschleuse hinaufführte, war eine hitzige Diskussion entbrannt. Der Bursche von der Raumhafenverwaltung redete aufgeregt auf einen anderen Mann in einem Anorak ein. Auf dem Arm des anderen erkannte Graeme das Emblem der LEG. Beide wedelten aufgeregt mit den Armen. Laton, Marie und Emlyn Hermon standen unbeteiligt an der Seite und warteten geduldig ab.

»Sie sind beim letzten Hindernis angekommen. Ironie des Schicksals, daß bis auf einen einzelnen Beamten der Einwanderungsbehörde nichts mehr zwischen Laton und der Konföderation steht. Ein Mann zwischen uns und der Aussicht auf eine galaktische Tragödie.«

Der Streit war offensichtlich beigelegt. Der Beamte zog eine Jupiter-Kreditdisk hervor.

»Können wir ihm einen Vorwurf machen? Sollten wir das überhaupt? Es ist eine schlimme Nacht. Er hat eine Familie, die auf seine Unterstützung angewiesen ist. Und wie harmlos scheint das Anliegen: Ein paar hundert Fuseodollars, nur damit er für eine kurze Minute die Augen abwendet. Geld, mit dem er seinen Kindern in dieser schweren Zeit etwas zu essen kaufen kann. Geld, das sein Leben ein klein wenig leichter macht. Wer von uns würde an seiner Stelle nicht das gleiche tun? Wer? Hand aufs Herz.« Ein netter Trick, das. Reiß die Leute mit.

Laton und Marie stiegen die alte Aluminiumtreppe hinauf, gefolgt von einem nervösen Emlyn Hermon. Der Verwaltungsbeamte redete unterdessen mit den Wartungstechnikern.

Als Laton bei der Luftschleuse angekommen war, drehte er sich noch einmal um. Die Kapuze seines Anoraks fiel nach hinten und enthüllte sein Gesicht. Wohlproportioniert, attraktiv, eine Spur von Aristokratie: edenitische Raffinesse, jedoch ohne das kulturelle Erbe, jenes bedeutsame Gegengewicht, das die Träger des Affinitätsgens zu menschlichen Wesen machte. Es sah aus, als starrte er geradewegs zu Graeme. Plötzlich lachte er auf, spöttisch und verkommen. Höhnisch.