Feierabend - Vanna Vannuccini - E-Book

Feierabend E-Book

Vanna Vannuccini

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung an die Deutschen – und ein unverstellter Blick in ihre Seele.

Feiertage, das sind Ostern, Weihnachten oder Neujahr. Holidays. Wie aber erklärt man einem Engländer „Feierabend“? Eine wilde Party nach Büroschluss? Oder ist es ein magisches Wort, beim dem sofort alle Stifte fallen, das Licht ausgeht und die Maschinen stillstehen? Die Sprache ist die Seele eines Landes. Und die deutsche Sprache ist komplex. Sie ist vielschichtig und detailverliebt.

Die beiden italienischen Autorinnen widmen sich den unübersetzbaren Wörtern wie Weltanschauung, Feierabend, Zweisamkeit oder Schadenfreude. Sie beobachten, wie Land und Leute davon geprägt sind, wie sich die deutsche Mentalität darin widerspiegelt. Indem die Begriffe verbunden werden mit historischen Ereignissen, Literatur und Politik, entsteht ein facettenreiches Gesellschaftsporträt, das tief in die deutsche Seele blicken lässt. Und es ist ein liebevoller Blick von außen auf uns: klug und kritisch, überraschend und mit feinsinnigem Humor. Ohne Häme und platte Vorurteile wie wir es sonst gewohnt sind. Nahezu eine Hymne.

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Seitenzahl: 192

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Vanna Vannuccini & Francesca Predazzi

Feierabend

Eine Reise in die deutsche Seele

Aus dem Italienischen von Christine Ammann

Die italienische Originalausgabe erschien 2004

unter dem Titel »Piccolo viaggio nell’anima tedesca«

bei Feltrinelli Editore, Mailand.

Bildnachweis

Fotolia: U1, Nr. 1 und alle Bilderrahmen;

Photocase: Nr. 2, 3, 5, 6, 13; plainpicture: Nr. 7;

ddpimages: Nr. 8, 9, 11, 12, 14, 15;

Shutterstock: Nr. 4; istockphoto: Nr. 10

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

Riemann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© Giangiacomo Feltrinelli Editore, 2004

Redaktion: Ralf Lay

Umschlag- und Innengestaltung:

Martina Baldauf, herzblut02, München

Satz: Barbara Rabus

ISBN 978-3-641-10518-1

www.riemann-verlag.de

Inhalt

Wenn Flüsse im Wasser ertrinken

Weltanschauung

Nestbeschmutzer

Querdenker

Schadenfreude

Zweisamkeit

Vergangenheitsbewältigung

Männerfreundschaft

Zweckgemeinschaft

Mitläufer

Feierabend

Rechthaber

Quotenfrau

Wanderweg

Unwort

Zeitgeist

Wenn Flüsse im Wasser ertrinken

Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie sie ihm die Sprache zuführt.

Wilhelm von Humboldt1

1 In Deutsche Erinnerungsorte, hg. von Etienne François und Hagen Schulze, München 2001.

»Das glaub ich nicht«, sagt unser deutscher Freund und blickt uns erstaunt an. »Andere Sprachen haben kein Wort für ›Schadenfreude‹?« Aus seiner Frage spricht aufrichtiges Interesse, sein Ton klingt, als denke er: »Wie kann das denn sein?« Unser deutscher Freund ist durchschnittlich gebildet, spricht fließend Englisch, einigermaßen Französisch und sogar ein wenig Italienisch. Aber bisher war ihm noch nie aufgefallen, dass es im Deutschen zahllose Wörter gibt, die andere Sprachen nicht kennen. Er schrieb das eher den anderen Sprachen zu, die merkwürdigerweise weiße Flecken aufwiesen.

»Aber die Deutschen sind doch nicht die Einzigen, die sich über das Missgeschick anderer freuen?«, wendet er ein. Aber nein, da können wir ihn völlig beruhigen. Auch wenn wir kein entsprechendes Wort für »Schadenfreude« kennen, ist uns diese menschliche Regung keineswegs fremd: dieser aufkeimende Lachreiz, in dem ein wenig Neid mitschwingt, wenn wir uns am Missgeschick anderer laben. Und wenn das Missgeschick noch dazu einem erfolgreichen Mitmenschen zustößt, dann kommt die Schadenfreude ganz von allein.

»Mit der Schadenfreude mögt ihr ja recht haben, aber die ›Zweisamkeit‹ steht auf jeden Fall zu Unrecht in eurem Buch«, beharrt unser Freund. Die innige, vertraute Paarbeziehung, die die Welt außen vorlässt, sei doch ein weltweit verbreitetes menschliches Verhalten, das seit Menschengedenken existiert. Das Wort muss doch in anderen Sprachen vorkommen. Tut es aber nicht. Natürlich gibt es all das, was die Zweisamkeit ausmacht: das innig zugewandte Paar, das für sich allein sein möchte und alles miteinander teilt, die exklusive Paarbeziehung. Mit Paolo und Francesca aus der Göttlichen Komödie können wir sogar mit einem berühmten literarischen Beispiel aufwarten. Doch ein Wort wie »Zweisamkeit« kennen wir nicht. Und damit befinden wir uns in guter Gesellschaft. Im Englischen, Französischen oder Spanischen sucht man das Wort ebenfalls vergebens. Langsam betrachtet unser deutscher Freund seine Sprache mit anderen Augen.

Wenn wir Italiener hingegen versuchen, der deutschen Sprache näherzukommen, fällt uns sofort auf, wie unglaublich genau diese Sprache ist. Man stellt ein Buch ins Regal, aber man legt es auf den Tisch. Im Italienischen begnügen wir uns da mit einem einfachen mettere. Doch wer weiß, es könnten ja Restzweifel bleiben: Befindet sich das Buch nun in einer senkrechten oder waagerechten Position? Im Deutschen kann der Reisende auch nicht einfach an einen anderen Ort »gehen« wie im Italienischen, wo uns ein andare genügt. Das wäre zu einfach und ungenau. Denn wie komme ich dorthin? Zu Fuß, im Auto, im Zug, im Flugzeug, per Pferd, laufe, fahre, fliege oder reite ich also? Das Deutsche ist gegenüber Ungenauigkeiten unerbittlich. Und wir reden hier nicht etwa nur über theoretische Spitzfindigkeiten. Wer den Unterschied zwischen »Ausgang« und »Ausfahrt« nicht auf Anhieb begreift, steht im schlimmsten Fall unversehens mit seinem Auto vor einem steilen Treppenabgang. So erging es einer Bekannten von uns. »Alles hat seinen Platz« und »Ordnung ist das halbe Leben« – die deutsche Sprache hat sich diese Weisheiten gründlich zu eigen gemacht.

»Deutsche Sprache, schwere Sprache«, sagen die Deutschen gern, wenn sie uns Neuankömmlinge trösten wollen. Denn der Hang zur Genauigkeit macht auch vor den Substantiven nicht halt. Das Deutsche wartet mit einer Unzahl an Wörtern auf, die sich auf eine ganz bestimmte Situation beziehen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Welche Sprache käme wohl auf die Idee, eine Person, die nach uns in unsere Mietwohnung zieht, mit einem besonderen Begriff zu belegen? Das Deutsche natürlich, es hat den »Nachmieter« ersonnen. Und nicht wenige Deutsche stellen ihre Freundin nicht nur als »Lebensgefährtin« vor, um gleich deutlich zu machen, dass es hier nicht etwa um eine Reisegefährtin oder eine Gefährtin geht, mit der man regelmäßig Poker spielt, sondern sogar als »Lebensabschnittsgefährtin«. Mit diesem Zungenbrecher sagen sie uns, dass man eben nie weiß, was die Zukunft noch bereithält.

Die deutsche Neigung zur sprachlichen Genauigkeit schlägt sich auch in einer großen Leidenschaft für jede Art von Normen nieder. Das weiße Papier, auf dem wir schreiben oder Dateien ausdrucken, ist heute in ganz Europa normiert, das Format nennt sich A4. Die vollständige Bezeichnung der Papierformate A3, A4, A5 usw. lautet allerdings DIN A3, DIN A4 und DIN A5. Und DIN (wer hätte das gedacht?) ist eine deutsche Abkürzung, und zwar für das »Deutsche Institut für Normung« – das die Bibel aller europäischen Direktiven verfasst hat. Doch wieso verwendet Europa deutsche Normen? Ganz einfach: weil die deutsche Sprache so genau ist – und vor allem weil bisher kein anderer auf die Idee gekommen ist, solche Normen aufzustellen.

Doch die deutsche Sprache flößt uns Lerneifrigen nicht nur durch ihre große Genauigkeit Ehrfurcht ein, sondern vor allem durch ihre unglaubliche Abstraktionsfähigkeit. Deutsche Wörter lassen sich wie Legosteine zusammenbauen. Andere Sprachen verfügen ebenfalls über diese Fähigkeit, aber während die zusammengesetzten Wörter etwa im Englischen an Konkretheit und Genauigkeit gewinnen, werden sie im Deutschen weniger konkret, sie werden zu abstrakten Begriffen und entfalten genau deshalb eine beschwörende Kraft. Das Deutsche ist nicht nur allen anderen Sprachen in puncto Begrifflichkeit überlegen, es führt das Wort »Begriff« auch allzeit im Munde. »Das ist mir kein Begriff«, sagen die Deutschen, wenn sie genauso gut sagen könnten: »Das weiß ich nicht.« Wäre Alessandro Manzoni ein deutscher Dichter gewesen, hätte er nicht geschrieben »Karneades, wer zum Teufel war das?«, sondern: »Karneades ist mir kein Begriff.«

In der Sprache spiegeln sich naturgemäß die deutsche Identität und Mentalität wider. Eine Geschichte der »unübersetzbaren« deutschen Wörter muss also zwangsläufig die Geschichte der Veränderungen nachzeichnen, die Deutschland in den letzten zwanzig Jahren erlebt hat. Kein anderes Volk hat eine so tief zerrissene Geschichte und Identität. Es ist noch nicht lange her, dass sich die Deutschen von der Autoritätsgläubigkeit und Angepasstheit befreit haben, die das Land stärker und länger als jedes andere in Europa prägten.

In diesem Zusammenhang muss als Erstes natürlich die »Weltanschauung« genannt werden. Bücher und Zeitungen anderer Sprachen übernehmen den Begriff stets im Original, weil eine wörtliche Übersetzung, im Italienischen etwa visione del mondo, nur einen kleinen Teil der begrifflichen Bedeutungsfülle wiedergeben kann.

Wir haben in unseren zwanzig Jahren als Auslandskorrespondentinnen in Deutschland viele Menschen kennengelernt. Albert Speer, Hitlers Architekt, schien uns auf geradezu perfekte Weise die Weltanschauung des Nationalsozialismus zu verkörpern.

»Aber das war so seine Angewohnheit, immer zu winken, wenn andere winkten, immer zu schreien, zu lachen und zu klatschen, wenn andere schrien, lachten oder klatschten«, schreibt Günter Grass in der Blechtrommel über seine Hauptfigur Alfred Matzerath, einen typischen »Mitläufer«. Ein Mitläufer ist ein Opportunist, ein Karrierist oder einfach ein charakterschwacher Mensch, der macht, was andere vorgeben. Als die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten »entnazifiziert« wurden, wetteiferten sie darum, als Mitläufer eingestuft zu werden. Eine Einstufung als Mitläufer zeugte immerhin von mittelmäßiger Tugend, bedeutete, dass man kein Verbrecher, sondern nur jemand war, der getan hatte, was alle taten. In neuerer Zeit mussten sich die Deutschen gleich zweimal mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen: mit ihrer nationalsozialistischen und, später dann, wenn auch auf andere Weise, mit ihrer kommunistischen. Heinrich Böll hat dafür den schwierigen Begriff der »Vergangenheitsbewältigung« geprägt, also die Verarbeitung und gleichzeitige Überwindung der Vergangenheit. Der Kölner Schriftsteller, der 1972 den Literaturnobelpreis erhielt, gehörte zu den wichtigsten Vertretern eines Deutschlands, das für Aussöhnung und Pazifismus eintrat – und das bis heute Einfluss in der deutschen Politik hat.

Markus Wolf, der Spionagechef der DDR, hat uns kurz vor dem Mauerfall eine kleine Vorstellung davon gegeben, wie das kommunistische Deutschland dachte und fühlte und wie die Beziehung zwischen beiden deutschen Staaten beschaffen war. Dass der Spion, der jahrelang auf den Fahndungslisten der internationalen Geheimdienste stand, friedlich im Bett starb, kann man ihm als außergewöhnliche Leistung anrechnen. Joschka Fischer, die Symbolfigur der deutschen Grünen, ist ein Weltbürger, der hingegen davon zeugt, dass die Deutschen dem übrigen Europa immer ähnlicher werden, dass sie keine »Weltanschauungen« mehr pflegen, sondern heute einfach den Lebensstil wählen, der ihnen gerade am nächsten kommt.

Einige »unübersetzbare« Wörter in diesem Buch werden inzwischen häufig nur noch ironisch gebraucht. Etwa »Nestbeschmutzer«. Konservative Kreise hatten Bundeskanzler Willy Brandt nach seinem Kniefall in Warschau jahrelang als einen solchen betitelt. Viele andere angeführte Begriffe sind hingegen immer noch weit verbreitet. So finden sich in unserem Buch etwa »Querdenker« wie Hans Magnus Enzensberger, »Quotenfrauen« wie die frühe Angela Merkel oder typische Vertreter des »Rechthabers« wie Ex-Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Manche Wörter haben Geschichte geschrieben. Welch eine Bedeutung hatte die »Männerfreundschaft« für Helmut Kohl! Sie konnte sogar politische Entscheidungen beeinflussen. Die Wurzeln der deutsch-französischen Freundschaft, der treibenden europäischen Kraft, liegen in Verdun: Angesichts der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, auf denen Zehntausende deutsche und französische Soldaten ihr Leben ließen, standen Kohl und Mitterrand auf einmal Hand in Hand. Jahre später lud Michail Gorbatschow den deutschen Kanzler zu Besuch in seine kaukasische Heimat ein. Dort gelang es den beiden Männern, ihr anfängliches Misstrauen zu überwinden, sich kennen, schätzen und achten zu lernen. Ihr freundschaftliches Verhältnis war für alle deutlich spürbar. Doch keiner der anwesenden Journalisten hätte zu träumen gewagt, was dann geschah: Die Sowjetunion stimmte einem uneingeschränkt souveränen wiedervereinigten Deutschland zu, das Mitglied der Nato bleiben konnte. Das Verhandlungsergebnis ging als »Wunder vom Kaukasus« in die Geschichtsschreibung ein. Kohl und Gorbatschow waren sich in den kaukasischen Wäldern einig geworden.

Vierzig Jahre lang war das deutsche Volk geteilt. Die erste Generation, die nach der Wiedervereinigung geboren wurde, ist längst volljährig geworden. Doch leben die Menschen in Ost- und Westdeutschland nicht noch immer in zwei verschiedenen Welten? Handelt es sich bei ihrem Zusammenleben nicht eher um eine »Zweckgemeinschaft« als um eine Liebesbeziehung? Übrigens noch ein sehr nützliches Wort, wenn man im Deutschen öffentliche oder private Verhältnisse beschreiben will. Der nächste Schritt, der folgen müsste, wäre ein »Gesamtdeutschland«, der Begriff, der einst ein Großdeutschland meinte, hat heute vor allem die Bedeutung »deutschlandweit einheitlich«. Langsam macht sich ein Gefühl der Normalität breit, das viele Deutsche lange herbeigesehnt haben. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 wurde die deutsche Fahne endgültig enttabuisiert. Vor den Riesenleinwänden in Berlin und anderen Großstädten haben sich die jungen Menschen die Gesichter in Schwarz-Rot-Gold geschminkt. Sie machten damit, was Gleichaltrige in Europa schon immer getan hatten und was sich ihre in den sechziger Jahren geborenen Eltern niemals hätten träumen lassen.

Das Wort »Feierabend« hat eine beinah magische Bedeutung. Auf den Feierabend folgt die Freizeit, es ist Zeit für ein Glas Bier – die Deutschen rühren während der Arbeit keinen Tropfen Alkohol an – und vor allem für das Privatleben, das Wichtigste überhaupt. Der Feierabend ist dem Deutschen heilig, und tatsächlich hat das Wort einen religiösen Hintergrund: Es bezeichnete einst den Abend vor einem Feiertag. Heute ist »Feierabend« allerdings fast zum Synonym für »Wirtschaftshindernis« geworden. Aber Vorsicht mit voreiligen Schlüssen: Die deutsche Wirtschaft mag einen schwerfälligen Eindruck gemacht haben, unter der verschlafenen Oberfläche hat sich Deutschland jedoch langsam, aber sicher auf eine Effizienz vorbereitet, die niemand mehr erwartet hätte. Um die deutsche Wirklichkeit ist es häufig erheblich besser bestellt als um die Stimmung im Land: Trotz schmerzhafter Einschnitte bleibt das deutsche Sozialsystem weiterhin das großzügigste der Welt.

Die Gründe für den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland sind teilweise in der Wiedervereinigung zu suchen: Sichere Landesgrenzen lassen die Menschen geistig freier werden. Der Wandel setzte ein, als die Generation von Gerhard Schröder das Ruder übernahm. Die Kinder der Nachkriegszeit, in den 68er-Zeiten politisch geprägt, interessierten sich eher für die Sonne der Toskana als für Bismarcks Denkschriften. Und bei der nächsten Wahl kam sogar eine Frau ins Kanzleramt, noch dazu aus dem Osten, Angela Merkel. Nur wenige Jahrzehnte früher wäre jeder Gedanke an einen solch tiefgreifenden Wandel einhellig als Hirngespinst abgetan worden. Der neue deutsche »Zeitgeist« hat sogar die Ironie entdeckt. »Sie suchen wirklich einen Deutschen, der Ihnen sagt, dass er gern Deutscher ist?«, fragte ein Deutscher diplomatisch zurück. Die junge Generation wendet die weitverbreitete Vorstellung, dass der Deutsche sich selbst ablehnt, ins Scherzhafte. Selbst eine Billigfluglinie der deutschen Lufthansa wirbt heute im Ausland mit dem selbstironischen Slogan: »Endlich etwas aus Deutschland, das weder teuer noch kompliziert ist.«

Doch auch wenn sich vieles verändert hat, einem bleiben die Deutschen treu: Sie messen der Sprache eine große Bedeutung zu. In einer Welt, die von Kurznachrichten und Informationsbarrieren geprägt und in der die Wirklichkeit hinter der Sprache für den Einzelnen kaum noch erkennbar ist, haben sich die Deutschen ihre Erkenntnisfähigkeit bewahrt. Niemand in Europa liest so viele Bücher wie sie, die Buchmesse ist eine Erfindung aus Deutschland. Es mag an der deutschen Tradition der Romantik liegen, die nur der Dichtersprache die Fähigkeit zur tiefen Durchdringung der Wirklichkeit zuerkennt; die Deutschen bleiben jedenfalls selbst in schwierigen Situationen ihrer Liebe zur Dichtkunst treu. »Wenn Flüsse im Wasser ertrinken«, titelte Der Spiegel, als Dresden in einer Jahrhundertflut versank, über zwanzig Tote zu beklagen waren und Tausende kein Dach mehr über dem Kopf hatten.

1

Weltanschauung

Hier stehe ich und kann nicht anders.

Martin Luther2

2 In Deutsche Erinnerungsorte.

Das renommierte italienische Wörterbuch Devoto-Oli verzeichnet den Begriff »Weltanschauung« auf Deutsch und definiert ihn als »Auffassung von der Welt, dem Leben und der Position, die der Mensch darin einnimmt«. Denn die Bedeutung des Wortes »Weltanschauung« geht weit über eine rein wörtliche Übersetzung, etwa visione del mondo, hinaus. »Weltanschauung« meint eine Dreiheit aus Gott, Mensch und Welt, eine Dreiheit, die für die Deutschen so geläufig ist, dass sie sie wie selbstverständlich im Munde führen. Sie sagen etwa: »Wir haben über Gott und die Welt gesprochen«, wenn wir Italiener uns mit einem bloßen abbiamo parlato di tutto e di più begnügen: »Wir haben über alles und noch mehr gesprochen.«

Der Begriff »Weltanschauung« wurde im 19. Jahrhundert von deutschen Philosophen ersonnen. Sie verstanden darunter ein kohärentes System, das auf Grundlage tiefer Überzeugungen, also sozusagen von einem archimedischen Punkt aus, die Welt, ihre Entwicklung sowie das Menschenbild erklären konnte. Sigmund Freud definierte die Weltanschauung als unerreichtes Ideal der Menschheit und sagte: »Eine Weltanschauung ist eine intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst.« Mit anderen Worten, sie ist ein Gedankenkonstrukt, das uns nicht nur Sicherheit und Lebenssinn gibt, sondern uns auch sagt, woran wir unsere Gefühle und Empfindungen ausrichten sollen. Nach Freuds Meinung konnten Religion und Philosophie dem Menschen eine Weltanschauung bieten, während er die Psychoanalyse in diesem Zusammenhang für völlig ungeeignet hielt.

Wer die Welt sozusagen von einem Beobachtungsposten aus betrachtet und stets eine unveränderte Sicht auf die Welt genießt, der wird zum Gefangenen seines eigenen Blickpunktes und kann sie nur auf eine einzige Weise wahrnehmen. Man könnte das auch »Ideologie« nennen. Doch die Deutschen trauen keiner Ideologie. Nicht zufällig haben sie die italienischen Parteien in den achtziger und neunziger Jahren als »ideologisch« kritisiert, während sie ihre eigenen Parteien zu den edleren Weltanschauungsparteien – ein weiteres wunderbares deutsches Wort – zählten.

Devoto und Oli haben den Begriff »Weltanschauung« unübersetzt in ihr Wörterbuch aufgenommen, weil Deutschland die Welt im 20. Jahrhundert mit dem Wort bombardierte. Nicht nur mit dem Wort, wie wir wissen. Die Weltanschauung des Nationalsozialismus sollte zum größten Trauma der deutschen Geschichte werden, viele Deutsche empfanden ihr Deutschsein danach als Qual. Und das Trauma endete nicht etwa mit der deutschen Kapitulation 1945, mit der sogenannten »Stunde null«, in der die Geschichte wieder von vorn beginnen sollte. Denn nun lebte die eine Hälfte Deutschlands unter einer neuen Weltanschauung, dem Kommunismus. Und die andere zeigte sich unfähig, angesichts von kollektiver Katastrophe und Holocaust zu trauern. Die gewaltigen Zäsuren, die Risse, die aus diesen Erfahrungen hervorgingen, haben die deutsche Nachkriegsgesellschaft nachhaltig geprägt und dazu geführt, dass sich die Generationen – Jung und Alt – unversöhnlich gegenüberstanden. In jeder deutschen Familie gab es einen faschistischen Vater beziehungsweise eine Ehefrau oder einen Ehemann, die von der Stasi angeworben waren, oder Verwandte, die auf der anderen Seite der Mauer lebten, oder Opfer beider Regime. Die Generationen beäugten sich voller Unverständnis. Erst Jahrzehnte später sollte das Schweigen aufbrechen und manche Frage für immer unbeantwortet bleiben. Heute gründet die Weltanschauung junger Deutscher auf dem Eingeständnis, dass sie persönlich zwar weder Nationalsozialisten noch Stasi-Spitzel waren, nationalsozialistische und kommunistische Vergangenheit aber weiterhin nachwirken. Eine klare, unveränderliche Weltanschauung, die eine exklusive Wahrheitserkenntnis verspricht, gibt es für sie nicht mehr. Im Grunde muss man selbst die »Nation ohne Nation« und den »Verfassungspatriotismus« von Jürgen Habermas, der die deutsche Identität auf ein Minimum reduzieren und nur die Identifikation mit Verfassungswerten zulassen wollte, noch als »Weltanschauung« bezeichnen. Heutzutage ist die deutsche Identität flexibel, sie setzt sich aus Versatzstücken zusammen und passt sich historischen Veränderungen an. Gerhard Schröder hat in seiner Zeit als Bundeskanzler festgestellt, dass es in Deutschland keine Weltanschauung mehr gäbe, sondern nur noch einen Lebensstil. »Wie es einen amerikanischen way of life gibt, gibt es auch einen deutschen«, sagte er, als er erklären wollte, warum sich Deutsche manchmal anders verhielten als Amerikaner. Die Antwort auf die von vielen Deutschen lange als quälend empfundene Frage »Was ist deutsch?« fällt immer häufiger ganz ähnlich aus wie in allen anderen Ländern auch.

Architekt für die Ewigkeit

Heidelberg – Prachtvoll blühende Begonien und Azaleen säumen den Gartenweg, über den uns ein wahrhaft »deutscher Herr« entgegenkommt. In der Ruhe des angrenzenden Heidelberger Schlossparks, die bis hierher zu spüren ist, geht er großen, gemessenen Schrittes wie einer, der lange Spaziergänge gewohnt ist. In seiner Haltung liegt Strenge, auch wenn er die eine Hand lässig in die Tasche seiner Strickjacke geschoben hat. Der Schriftzug »A. Speer« auf dem Türschild am Schlosswolfsbrunnenweg Nummer 50 ist so riesig, dass er als Straßenbeschilderung dienen könnte – und sagt etwas darüber, wie der Herr über sich denkt.

Er war dreißig, als Hitler »ihm die Welt zu Füßen legte«, und er blieb ihm bis zum Ende treu. Wenige Tage vor Kriegsende bemächtigte er sich noch eines »Storchs« und flog damit ins zerstörte Berlin. Er besuchte Hitler in dem Führerbunker, den er für ihn entworfen hatte: Er traf auf einen hilflosen Mann, mit glasigem Blick, der ihm ein letztes Foto überreichte. Mit der Widmung »In ewiger Freundschaft«. Mit 36 Jahren war Speer Rüstungsminister geworden. Hinter seinem »Rüstungswunder«, das Hitlers Krieg um drei weitere Jahre verlängerte, verbargen sich zweieinhalb Millionen Zwangsarbeiter, die größtenteils unter unmenschlichen Bedingungen lebten und von denen die meisten starben. Beim Nürnberger Prozess gestand Speer sein moralisches Versagen ein: »Ich habe mich nicht nur an einem Krieg beteiligt, von dem alle wussten, dass er die Weltherrschaft anstrebte, ich habe ihn auch durch meine Fähigkeiten und meinen Einsatz verlängert. Für das Dach der ›Großen Kuppelhalle‹ in Berlin hatte ich eine Erdkugel geplant, und ich wusste, dass Hitler diese nicht als Symbol verstand. Alle, die es wissen wollten, konnten es wissen: Hitler hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er das jüdische Volk vollständig ausrotten wollte. Ich gestehe, dass ich, auch wenn ich Hitlers Ideen nicht in jeder Hinsicht teilte, Gebäude entworfen und Rüstungsgüter produziert habe, die seinen Zielen dienten.«

Für jemanden, der ansonsten mit einer großen Erinnerungsgabe gesegnet ist, fällt das Schuldbekenntnis ein wenig allgemein aus. »Ich wundere mich bis heute, dass ich den Nürnberger Prozess überstanden habe, ohne auch nur einmal zusammenzubrechen, ich hatte wohl genügend Selbstbeherrschung und seelische Widerstandskraft«, sagt er zu uns. Diese Selbstbeherrschung und seelische Widerstandskraft verließen ihn auch nicht während der zwanzig Jahre, die er in einer 1,70 mal 2 Meter großen Gefängniszelle verbrachte. »Der Schlüssel zum Erfolg ist seine Zwangsläufigkeit«, versichert er. »Erfolg ist keine Glückssache, sondern eine Sache der Planung.«

Seine Erinnerungen sind äußerst präzise, wenn er spricht, klingt es eher nach einem Historiker als nach einem Zeitzeugen. Hitlers Ansichten gibt er getreu wieder, seine eigenen übergeht er: »Unwichtig.« Rückblickend sieht er sich als einen Techniker, der voller Skepsis war. In völlig neutralem Ton sagt er Sätze wie »Ich war der Chef« oder »Die Wehrmacht war nur für die Beschaffung der Arbeitskräfte zuständig«, als würde sich hinter diesen Worten nicht eine Wirklichkeit verbergen, die das Blut in den Adern gefrieren lässt: mit Millionen von Opfern und unerhörtem menschlichem Leid. Seine Worte lösen beinah physisches Unbehagen aus.

»Der Unterschied zwischen deutschem Nationalsozialismus und italienischem Faschismus«, erklärt er, »liegt im italienischen Charakter begründet. Die Italiener sind Familienmenschen, sie verwöhnen ihre Kinder. In dieser Hinsicht sind sie wirklich liebenswert. Aber sie könnten niemals gute Soldaten sein, weil sie andere menschliche Beziehungen pflegen als wir. Ich will nicht verallgemeinern, ich stelle nur eine Vermutung auf: Die Deutschen sind aufgrund ihres kühleren Charakters gute Soldaten. Wir tun, was getan werden muss. Wäre es mir nicht gelungen, die Rüstungsproduktion zu vervielfachen, hätte Deutschland schon 1942 kapituliert. Aber das, nennen wir es ruhig Wunder, beruhte noch auf etwas anderem. Es gelang mir, die Bürokratie auszuschalten. Ich bat Hitler, den riesigen bürokratischen Apparat der Wehrmacht an mich zu übergeben, so konnte ich ihn ausschalten. Den Bürokraten übertrug ich nur unwichtige Aufgaben: Sie mussten die Fabriken überwachen, damit immer ausreichend Brennstoff und genügend Arbeitskräfte verfügbar waren. Die Produktionsaufgaben übertrug ich direkt den Industriechefs, die nicht nur für ihre eigenen Werke zuständig waren. Ein Unternehmen wie die ›Vereinigten Stahlwerke‹ gab seine Erfahrungen auch an andere weiter und griff sogar in Leitungsaufgaben ein. Das alles konnte ich natürlich nur machen, weil ich Rückendeckung durch Hitler hatte. Er stand hinter mir, weil er wusste, dass ich zu großen Erfolgen fähig war.«

In unserem einstündigen Gespräch sind Albert Speer Worte wie »Bedauern« oder »Leid« nicht über die Lippen gekommen. Kein einziger Hinweis auf Auschwitz oder Treblinka, von denen er immerhin »geahnt« haben wollte, wie er in Nürnberg einräumte. Er erlaubt sich sogar einen gewagten Vergleich: »Zwanzig Jahre Gefängnis sind wie eine Emigration. Das muss man einfach hinnehmen, ohne in Trübsinn zu verfallen. In den letzten Jahren habe ich mit vielen Emigranten gesprochen, und alle hatten dasselbe Gefühl. Carl Zuckmayer, der zu meinem Freund wurde, sagte einmal zu mir: ›Ich finde zu Deutschland keine Beziehung mehr, ich fühle mich wie ein Heimatloser.‹ Genauso geht es mir.«

Selbst auf die Frage, was er als Architekt, der »für die Ewigkeit bauen wollte, der wie Faust seine Seele für einen großen Bau verkauft hätte«, bei dem Gedanken empfinde, dass von seinen Bauwerken nichts bleibt, reagiert er gelassen. »Die Entwürfe, die Pläne sind noch vorhanden. Sie wurden kürzlich in einem Buch zusammengestellt, das bedeutet mir viel.«