Ferien Furioso - Beate Boeker - E-Book

Ferien Furioso E-Book

Beate Boeker

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Beschreibung

Commissario Garini möchte einfach nur mit seiner Frau romantische Ferien auf Sardinien verbringen, doch dann kommt alles anders als geplant. Entsetzt stellt er fest, dass er eine große – ihm bis dato unbekannte – Familie vor Ort hat, die so exzentrisch ist, dass sie glatt seiner Schwiegerfamilie das Wasser reichen kann. Und dann entkommt er nur knapp einem Mordversuch. Seine Welt gerät ins Wanken. Kann es sein, dass seine neu gefundene Familie sich gar nicht über sein plötzliches Erscheinen freut? Ferien Furioso ist ein unterhaltsamer Italienkrimi, der die beliebte Reihe der Florentinischen Morde weiterführt, aber unabhängig davon gelesen werden kann.

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Table of Contents

Title Page

Die Personen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Die Florentinischen Morde

Über die Autorin

Leseprobe »Lieben und lügen lassen«

Ferien Furioso

Florentinische Morde Nr. 9

von Beate Boeker

 

 

© 2022 Boeker, Beate

 

Impressum:

Beate Boeker

Marienhofstr. 5

01662 Meißen

 

https://www.happybooks.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

Cover Design: Annissa Turpin

Lektorat: Julia Blasius

 

Dieses Buch darf ohne die schriftliche Erlaubnis der Autorin weder kopiert noch in irgendeiner Form weitergegeben werden.

 

Alle Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden und jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Handlungen ist rein zufällig.

Die Personen

Stefano Garini – commissario aus Florenz, im Urlaub auf Sardinien

Carlina Garini – seine Frau

 

Eleanora – Stefanos älteste Tante, Archäologin

Francesco – Stefanos ältester Onkel, Biobauer

Luigi – Stefanos zweitältester Onkel, Metzger

Gloria Schnüffel – das Lieblingsschwein von Luigi

Paula – Luigis Frau

Alfredo – Stefanos Vater

Maristella – die attraktive Nachbarin des Biobauern Francesco

Lorenzo – Arzt aus Rom, Nachbar im Ferienhaus von Stefano & Carlina

Piedro – commissario, ehemaliger Assistent von Stefano Garini

Kapitel 1

»Das war’s.« Stefano Garini blickte seine Frau an. »Mir reicht’s.«

Carlina blinzelte. »Was meinst du?«

»Wir hatten gerade den fünften Anruf heute, und sie sind alle von deiner Familie.«

Sie zuckte zusammen und hob eine Hand an die Schläfe. »Es tut mir leid. Ich hätte die Anrufe angenommen, aber ich habe solche Kopfschmerzen.«

»Ich weiß.« Er lächelte sie an und berührte leicht ihre Wange. »Und weißt du was? Ich bin sogar dankbar dafür.«

»Wie bitte?«

»Das klang jetzt völlig falsch. Aber es hat mir gezeigt, was ich schon längst hätte bemerken sollen: Deine Familie stresst dich. Und mich auch. Wir brauchen eine Pause.« Er blickte prüfend in ihr Gesicht. Ihre Augen sahen müde aus. »Du bist zu blass, amore.«

Sie lächelte. »Eine Pause klingt wunderbar. Vielleicht können wir im nächsten Monat –«

»Nein. Bis zum nächsten Monat dauert es zu lange. Ostern.«

»Ostern?« Sie starrte ihn an. »Aber Ostern ist doch schon nächste Woche!«

»Genau.« Er nickte wild entschlossen. »Wir haben sieben Familieneinladungen, bei denen wir alle erscheinen sollen, und ich habe auf keine einzige Lust.«

Sie verzog das Gesicht. »Das tut mir leid.«

»Das braucht dir nicht leidzutun.« Er lachte sie an. »Zufälligerweise ist gerade keiner meiner Kollegen krank oder im Urlaub, und ich habe jede Menge Überstunden. Ich werde Cervi einfach darüber informieren, dass commissario Garini Ostern ein paar Tage Urlaub nehmen wird, in der Hoffnung, dass es ausnahmsweise einmal keinen Mord gibt, der dazwischenkommt und sofort gelöst werden muss. Außerdem habe ich aktuell sowieso keinen Assistenten, seitdem Piedro befördert und in eine andere Stadt versetzt worden ist.« Sein Lächeln wurde breiter. »Darüber freue ich mich immer noch. Wie sieht es aktuell bei dir im Geschäft aus?«

Carlina rieb sich die Schläfen. »Ostern ist eine wichtige Zeit im Laden, aber ich kann Elena bitten, zu übernehmen. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt einen Tag freigenommen habe.«

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und massierte sie sanft.

»Ahh, das tut gut.« Sie schaffte ein Lächeln. »Aber ich fürchte, meine Familie wird nicht glücklich sein.«

»Ich bin bereit, die Schuld auf mich zu nehmen.« Er zwinkerte ihr zu. »Wir behaupten einfach, dass ich in einem spontanen Anfall einen Kurzurlaub über Ostern geplant und dich damit überrascht habe. Du hattest keine Ahnung, also kann dir kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass du die acht wichtigen Familientreffen über Ostern verpasst.«

»Vor einer Minute waren es noch sieben.«

»Sie vermehren sich in der Sekunde, in der du sie aus den Augen lässt.«

Sie gab ihm einen Klaps. »Du bist frech.«

Er lachte. »Überhaupt nicht.«

Carlina lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Gut. Leg los und organisiere die Überraschung. Ich weiß von nichts, also sag mir nicht, wohin wir fahren, bis wir am Flughafen ankommen.«

»Einverstanden.«

 

* ~ *

 

Eine Woche später legte er ihr den Arm um die Schultern, während er sie zum Check-in-Tresen führte. »Du darfst dreimal raten«, sagte er.

»Eine kleine Insel in Deutschland ohne Autos«, sagte sie, ohne eine Sekunde zu zögern.

»Falsch. Zu kalt in dieser Jahreszeit. Wir haben gerade mal Ende April.«

»Irgendwo in Afrika?«

Er lachte. »Wieso Afrika?«

»Weil du immer sagst, dass du irgendwohin möchtest, wo es keinen Telefonempfang gibt.«

»Ich fürchte, an unserem Zielort gibt es Telefonempfang. Es ist tatsächlich kein sehr abenteuerliches Ziel. Aber wir können unsere Telefone ausstellen, dann haben wir eine familienfreie Zone.«

»Das klingt traumhaft.«

»Einmal darfst du noch raten.«

»Sardinien.«

»Richtig!« Er starrte sie an. »Wie um alles in der Welt bist du darauf gekommen?«

»Na ja, wir haben ja letztes Jahr diesen entspannten Tag in Enzos Haus dort verbracht, und wir haben beide gesagt, wie gern wir ohne Familie zurückkehren würden. Werden wir bei Enzo wohnen?«

»Nein. Ich habe niemandem verraten, wo wir hinfliegen. Wenn ich Enzo gebeten hätte, uns sein Haus zu leihen, hätte der Rest der Familie sich wahrscheinlich spontan entschlossen, auch gleich mitzukommen.«

Carlina lächelte etwas schief. »Ich fürchte, da hast du recht. Also diesmal sind wir ganz normale Touristen. Nur wir zwei.«

»Ja. Nur wir zwei.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie.

»Das sind die schönsten Worte, die ich seit sehr langer Zeit gehört habe.«

Er fuhr ihr durch die Locken, plötzlich unfähig zu sprechen, weil ihn eine Welle der Zärtlichkeit überflutete.

Carlinas katzenähnliche Augen leuchteten. »Wo werden wir wohnen?«

»Ich habe ein kleines Ferienhäuschen in Chia gemietet. Nur für uns.«

»Wo ist Chia?«

»Ungefähr eine Stunde von der Hauptstadt Cagliari entfernt, ganz im südlichsten Zipfel der Insel. Direkt gegenüber von Afrika.«

»Direkt gegenüber von Afrika! Das klingt, als ob es richtig heiß wird.«

»Schon möglich. Ich habe vergessen, mir die Wettervorhersage anzusehen.«

Aber als sie den Flughafen in Cagliari verließen, um ihren Mietwagen abzuholen, warf Carlina einen bedenklichen Blick in den grauen Himmel. »Es wirkt ein wenig so, als ob wir doch in Deutschland gelandet wären.«

Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich heran. »Ich bin sicher, dass es bald wärmer werden wird.«

»Hoffentlich. Ich habe keine Wintersachen eingepackt.« Ein plötzlicher Windstoß ließ ihre Jacke flattern.

»Du hast keine Wintersachen eingepackt?« Er starrte auf den Berg an Taschen und Koffern, die Carlina als Gepäck aufgegeben hatte, und die sich nun auf dem Gepäckwagen stapelten. »Was ist denn dann da drinnen?«

Carlina machte eine vage Handbewegung. »Das sind alles Sachen, die ich brauchen könnte.« Sie blickte sich um. »Wo ist denn jetzt unser Mietwagen? Fandest du die Frau an der Vermietung auch so komisch? Sie hat so seltsam gelacht.«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen. Und sie hat gleich gesagt, dass es kein anderes Auto mehr gab.« Stefano bog um eine Ecke. »Hier vorne müsste es eigentlich sein.« Er blieb wie angewurzelt stehen. »O nein.«

Carlina riss die Augen auf, dann fing sie an zu lachen. »Ich fass es nicht!«

»Dieser Wagen ist quietschpink.« Stefano sprach betont ruhig.

»Ja.« Carlina rannte auf das hochgebaute Auto zu. »Und es ist auch kein Kleinwagen.«

Stefano ging kopfschüttelnd einmal um das seltsame Gefährt herum. »Es ist mir unbegreiflich, wie so ein verrücktes Auto in einer Autovermietung landen kann.«

Carlina öffnete schon eine Tür. »Ich finde es herrlich.«

»Eins steht jedenfalls fest: Wir werden in null Komma nichts auf der ganzen Insel bekannt sein wie bunte Hunde.«

»Egal.« Carlina lachte ihn an. »Wir sind im Urlaub. Es ist egal, was die anderen von uns denken.«

»Recht hast du. Wichtig ist nur, dass wir viel Zeit für uns haben werden. Ich habe mir die Strecke vorher angesehen. Es geht immer an der Küste entlang.«

Sie fuhren durch die Außenbereiche von Cagliari, mit dem Tyrrhenischen Meer zu ihrer Linken und einer flachen Salzlagune zu ihrer Rechten, als Carlina plötzlich sagte: »Ich bin mir nicht zu einhundert Prozent sicher, aber diese Vögel da hinten sehen aus wie Flamingos. Ist das möglich oder soll ich mich in eine Nervenanstalt einliefern lassen?«

Er grinste. »Keine Angst. Das sind wirklich Flamingos. Ich habe es nachgelesen, und anscheinend flogen sie früher immer über den Winter nach Afrika, bis sie eines Tages beschlossen haben, dass das gar nicht mehr nötig ist. Seitdem leben sie das ganze Jahr über auf Sardinien.«

»Ich habe sie noch nie in freier Natur gesehen. Das ist so cool!« Carlina verdrehte den Hals. »Aber sie sind nicht so pink, wie ich dachte.«

»Sie werden nur pink, wenn sie jede Menge Krabben futtern. Ich weiß nicht genau, was sie hier zum Fressen finden.«

»Wow. Was bin ich froh, dass es uns nicht so geht. Stell dir mal vor, wie ich aussehen würde.«

»Nach der Menge an Salat zu urteilen, die du täglich vertilgst, hättest du eine grünliche Farbe. Vermutlich so, als ob du gleich ohnmächtig wirst. Ziemlich attraktiv.«

Sie lachte, dann schaute sie nach vorn und schrie auf. »Oh, schau! Da fliegt einer. Das sieht so lustig aus mit diesem krummen Schnabel. Und die Unterseite der Flügel ist richtig pink, mit schwarzen Spitzen an den Enden. Wie großartig!«

Er warf ihr einen raschen Blick zu und lächelte. Wie typisch für Carlina, dass sie vor Freude aufschrie, wenn sie etwas Schönes entdeckte. Er liebte sie dafür. Er liebte sie so sehr, dass es manchmal wehtat. Es machte ihm auch Angst, Angst, sie eines Tages zu verlieren. Er schob den Gedanken zur Seite. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um über traurige Dinge nachzudenken. Es gab ein anderes Thema, das er gern mit Carlina besprechen wollte, ein wichtiges Thema, das ihr gemeinsames Leben verändern würde. Als er Carlinas Cousine Emma mit ihrem Baby Zoe gesehen hatte, war ihm zu seiner eigenen Überraschung klar geworden, dass er auch Kinder haben wollte. Mit Carlina. Aber aus irgendeinem Grund hatten sie das Thema noch nie besprochen. Ihre Liebe hatte sich so perfekt angefühlt, dass er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, ohne über die offensichtlichen Konsequenzen nachzudenken. Er war sich noch nicht einmal sicher, wie sie überhaupt zu Babys stand. Sie hatte sich niemals wie andere Frauen begeistert über kleine Babys gehängt und sie angegurrt. Er schluckte. Einer der Gründe, warum er Carlina zu diesem Urlaub überredet hatte, war der Plan, seinen Kinderwunsch mit ihr zu besprechen, ohne Unterbrechungen, ohne Druck, mit aller Zeit der Welt. Er seufzte glücklich, während sich die Vorfreude in ihm ausbreitete. Zehn Tage nur sie beide. Himmlisch.

»Wahnsinn, hast du das gesehen? Sie haben ganze Hecken hier, die nur aus Kakteen bestehen! Rund um riesige Felder herum. So etwas habe ich in der Toskana noch nie gesehen.«

»Ist wahrscheinlich billiger und effizienter als Zäune, um Tiere von den Feldern fernzuhalten. Immerhin sind sie selbst dann schon ein Hindernis, wenn sie noch klein sind.«

»Du meinst, um die Felder vor Rehen zu schützen?«

»Ja. Anscheinend gibt es einen besonderen Hirsch hier auf Sardinien, eine geschützte Art. Er ist ziemlich klein und selten. Und Wildschweine gibt es auch.«

Ein Klingeln erklang aus Carlinas Handtasche.

Stefano seufzte. »Deine Mutter.«

Carlina beugte sich nach unten und zog den Reißverschluss auf. »Woher weißt du das?«

»Ich fühle es in meinen Knochen. Eigentlich wird es Zeit, dass du einen besonderen Klingelton für deine Mutter einstellst.«

»Zum Beispiel?«

»Die Titelmusik von ›Der weiße Hai‹?«

Sie lachte und schaute auf das Display. »Es ist tatsächlich mamma.«

»Sag ich doch.«

»Ciao, mamma!«

»Carlina, mir ist gerade eingefallen, dass wir gar nicht über deine Blumen gesprochen haben.« Die Stimme von Carlinas Mutter war so laut, dass sie das Motorengeräusch mühelos übertönte. »Ich brauche deinen Haustürschlüssel, um sie zu gießen.«

»Das ist alles erledigt, mamma. Du brauchst die Blumen nicht zu gießen.«

»Aber sie werden vertrocknen!«

»Nein, nein. Ich habe es schon arrangiert. Mach dir keine Sorgen.«

»Aber wer –?«

»Mamma, wusstest du, dass hier Flamingos frei herumfliegen? Es ist ganz surreal. Ich habe sie bis jetzt immer nur im Zoo gesehen.«

»Flamingos? Wirklich?« Es klang missbilligend. »Aber die machen doch überall hin.«

Carlina schaute aus dem Fenster auf die weiten Salzwiesen. »Hier ist Platz genug. Da schadet so ein wenig Flamingo-Pup gar nichts.«

»Na, wenn du meinst …«

»Ich muss auflegen, mamma, wir sind gleich da. Bitte grüße die ganze Familie und sag allen, dass wir gut angekommen sind.«

Stefano warf ihr einen überraschten Blick zu. »Sonst würgst du deine Mutter nicht so ab.«

Carlina kicherte. »Ich wollte nicht, dass sie wieder mit den Blumen anfängt. Ich habe Ernesto gebeten, sie zu gießen.«

»Ernesto? Aber er studiert Chemie, nicht Biologie. Hast du nicht Angst, dass er deine Blumen für Experimente nutzt?«

»Ich habe eher Angst, dass er sie völlig vergisst.«

»Im Haus nebenan wohnen deine Mutter, deine Tante, dein Großonkel, deine Cousine mit ihrem Mann und die Freundin von Ernesto. Du hattest also eine große Auswahl, und ich muss gestehen, dass mir Ernesto als Blumengießer eher nicht eingefallen wäre.«

Carlina nickte. »Auf den ersten Blick hast du recht. Aber das wichtigste Kriterium bei der Auswahl der Person, die unsere Blumen gießt, ist mangelnde Neugier.« Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Oder glaubst du wirklich, dass mamma nur die Blumen gießt, wenn sie einmal den Schlüssel zu unserer Wohnung hat?«

Ihm wurde kalt. »O Madonna, da hast du recht.«

»Genau. Deshalb war Ernesto die beste Wahl. Und damit unsere Blumen nicht alle sterben, habe ich einen Wecker in sein Handy programmiert.«

Er musste lachen. »Du denkst an alles, Carlina.«

Sie stopfte ihr Telefon in ihre Tasche zurück. »Erzähl mir ein wenig mehr von Chia. Es ist eine kleine Stadt, sagst du?«

»Ja. Deshalb gibt es gar nicht so viel zu erzählen. Sie haben einen Leuchtturm und einen historischen Wachturm. Diese findest du übrigens rund um die Küste von Sardinien. Sie wurden von den Sarazenen alle in Sichtweite voneinander aufgebaut, sodass Warnungen schnell weitergegeben werden konnten.«

Sie lachte. »Du klingst wie ein Reiseführer.«

»Ich weiß. Aber dass die ganze Insel lückenlos mit Wachtürmen umringt ist, fasziniert mich. Wie lange es wohl dauerte, bis so ein Signal einmal rum war?«

»Stunden.«

»Ja. Das denke ich auch. Übrigens weiß ich noch mehr über Chia: Heute lebt das Städtchen hauptsächlich vom Tourismus. Wunderschöne Strände, Lagunen mit Flamingos und drei Restaurants oder so. Aber viel mehr ist da nicht.«

»Vielen Dank, Herr Professor.« Carlina lachte ihn an. »Und warum hast du ausgerechnet Chia gewählt?«

Er warf ihr einen schnellen Blick zu. »Zwei Gründe. Es gab ein günstiges Angebot im Internet. Und mein Vater wurde hier in der Gegend geboren.«

Sie riss die Augen auf. »Dein Vater wurde auf Sardinien geboren? Das hast du noch nie erwähnt.«

»Ich habe es selbst erst vor Kurzem erfahren. Er spricht nie davon. Es gab damals irgendeinen Familienkrach oder so. Aber neulich habe ich ihm geholfen, ein paar offizielle Formulare auszufüllen, und da stellte ich überrascht fest, dass er in Cagliari geboren wurde. Er war gar nicht glücklich darüber, dass ich das nun weiß.«

»Warum nicht? Meinst du, er schämt sich, dass er von Sardinien kommt?«

Stefano zuckte mit den Schultern. »Nach allem, was ich gehört habe, sind die Sarden auf ihre Abstammung normalerweise stolz wie die Könige. Vielleicht wurde er wegen seines Akzents gehänselt, als er in die Toskana kam? Ich weiß es wirklich nicht.«

»Hast du ihn gefragt?«

»Ja, aber er sagte, das sei alles Schnee von gestern, viel zu alte Kamellen, um sie wieder aufzuwärmen. Und dann hat er das Thema gewechselt.«

»Das hätte mich noch viel neugieriger gemacht.«

»Ich bin neugierig. Aber es ist schwierig, meinen Vater zum Reden zu bringen, wenn er nicht will.«

»Ich weiß.«

»Woher? Du kennst ihn doch kaum.«

»Ich kenne seinen Sohn.«

»Ha. Ich bin im Vergleich zu meinem Vater eine Plaudertasche.«

»Um Himmels willen.« Carlina wandte den Kopf. »Oh, schau mal das Restaurant dort! Das sieht richtig einladend aus. Und ich bin am Verhungern.«

Er lächelte und fuhr in einem weiten Bogen in die Einfahrt, der niedrigen Steinmauer folgend, die zum Parkplatz führte. »Schön, dass es dir gefällt. Das ist schon Teil unserer Hotelanlage, und hier bekommen wir unsere Schlüssel.«

»Oh, wie schön! Dann können wir essen gehen, sobald wir unsere Taschen fallen gelassen haben.«

»Die zehn Taschen meinst du?« Er zwinkerte ihr zu. »Kleinigkeit.«

Dreißig Minuten später saßen sie in dem Restaurant. Es war eindeutig für wärmeres Wetter gebaut worden, und eine Wand war nur provisorisch errichtet. Windstöße fegten durch die schlecht sitzenden Glasscheiben, und die schmalen Wandelemente klapperten in ihren dünnen Aluminiumrahmen.

Nachdem sie bestellt und schon ihren Wein bekommen hatten, beäugte Carlina die Wand und fröstelte. »Ich bin nicht sicher, ob diese Wand da den Abend überstehen wird.«

»Es ist ganz bestimmt nicht der erste Sturm, den sie hier je erlebt haben. Schau in die andere Richtung. Da wächst ein Feigenbaum aus der Wand.«

Sie drehte sich um und blinzelte. »Tatsächlich. Gefällt mir.«

»Mir auch.«

»Sie haben das Haus um den Baum herum gebaut.«

»Sieht ganz so aus.«

Carlina drehte sich wieder zu ihm um, sodass sie jetzt mit dem Gesicht zur Restauranttür saß. Sie hob ihr Glas und lächelte ihn an. »Ich kann es gar nicht erwarten, den Rotwein zu probieren. Wenn der Kellner recht hat, sind die sardischen Cannonau-Trauben umwerfend gut.«

»Das sollten sie zumindest sein, bei all der Sonne, die sie erhalten.« Er hob sein Glas, blickte in ihre katzenähnlichen Augen und nahm einen kleinen Schluck. Das weiche Aroma des Weines explodierte in seinem Mund und füllte ihn auf der Stelle mit einem tiefen Wohlgefühl. Delizioso. Er holte tief Luft. Warum länger warten? Der Gedanke begleitete ihn ständig, und je früher er ihn loswurde, umso besser würde er sich fühlen. »Hast du das kleine Mädchen da auf dem Schoß ihres Vaters gesehen, direkt neben dem Eingang? Ich habe mich gefragt, ob –«

Carlina blickte zum Eingang und wurde blass. Ihre Augen wurden größer und größer, und die Hand, die das Weinglas hielt, sank auf den Tisch herab, als ob sie nicht mehr die Kraft hätte, das Glas hochzuhalten. »O Madonna.«

Kapitel 2

Er erstarrte, aber er weigerte sich, den Kopf zu wenden. Vielleicht würde es ja weggehen, was immer es auch war, wenn er nicht hinblickte. »Bitte sage mir, dass es nicht deine Familie ist, die uns als Überraschung gefolgt ist.«

Sie schüttelte ganz langsam den Kopf. »Nein. Im Gegenteil.«

»Im Gegenteil? Was soll das denn heißen?«

»Da ist gerade ein Mann hereingekommen. Er … er sieht genau aus wie du. Nur zwanzig Jahre älter.«

Stefano fuhr herum. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als ob das Universum aus seiner Achse kippte, als ob er in einen Spiegel starrte, nachdem er eine ungeplante Zeitreise unternommen hatte. Seine eigenen hellen Augen blickten ihn an, umringt von einem feinen Netz an Runzeln. Diese Nase, die Form des Kinns … es sah aus, als ob die gleiche Gussform benutzt worden war.

Erfahrung und Zeit hatten die Ecken etwas abgerundet, aber als der Kopf des Mannes vor Überraschung hochfuhr, war die Ähnlichkeit so unglaublich, dass Stefano instinktiv zurückschreckte. Der Mann war genauso groß wie er, vom Alter nur etwas gebeugter. Er trug eine locker sitzende Tunika aus einem offensichtlich selbst gesponnenen Stoff, und dies gab Stefano die Sicherheit, dass er doch keine ältere Version seiner selbst vor sich hatte. Niemals würde er so etwas Formloses tragen.

Sein älteres Spiegelbild kam näher, ohne seinen Blick auch nur für eine Sekunde von Stefano abzuwenden. »Wer sind Sie?«, fragte er.

Stefano zuckte zusammen. Die Stimme des Mannes klang genau wie seine. »Garini«, schaffte er zu sagen.

»Ich heiße Garini«, antwortete der Mann.

Ein Rauschen erfüllte Stefanos Ohren. Er warf einen Blick auf seine Frau. Carlina saß wie eine Statue da und starrte die beiden Männer an, aber zumindest war sie nicht auch plötzlich gealtert. Er war also nicht in irgendeiner kaputten Zeitmaschine gelandet. Stefano räusperte sich. »Ich bin Stefano Garini.«

»Und ich bin Francesco Garini.« Der Mann sprach mit ruhiger Würde.

Stefano war sprachlos.

»Aber das ist ja unglaublich, absolut unglaublich!« Ein rundlicher Mann mit einem dichten Schopf an schwarzem Haar sprang auf sie zu und klatschte in die Hände. »So was hab ich ja noch nie gesehen! Wer um alles in der Welt sind Sie? Warum haben wir uns noch nie zuvor gesehen?« Er wandte sich an Francesco. »Ist es möglich, dass unser Vater noch andere Kinder gezeugt hat? Das hätte ich nie von ihm gedacht!«

Francesco machte eine kurze Handbewegung. »Natürlich nicht, Luigi. Dieser Mann hier ist doch viel zu jung.«

Stefano stand langsam auf.

In diesem Augenblick erschien eine Frau hinter dem kleinen Luigi, und Stefano erlitt den zweiten Schock des Abends. Hier war die weibliche Variante von Francesco und ihm selbst. Groß, fast knochig, mit der typischen Garini-Nase und dem schmalen Mund. Aber ganz anders als ihr Bruder Francesco strahlte sie eine unbestimmte Eleganz aus. Vielleicht durch ihre schwarze Brille, vielleicht durch das schwarze Etuikleid, das sie trug. Sie sah aus, als ob sie ihren Platz in der Welt genau kannte, selbstbewusst und etabliert. Intelligente Augen erfassten ihn, dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen. »Es sieht so aus, als ob wir verwandt seien. Mein Name ist Eleanora Mori, geborene Garini.«

Carlina machte ein ersticktes Geräusch in der Kehle.

Stefano war sprachlos.

»Wer war Ihr Vater?«, fragte Francesco.

Stefano öffnete den Mund, aber er brachte keinen Ton heraus.

»Alfredo Garini«, sprang Carlina ein. »Wir sind aus Florenz, und ich bin Stefanos Frau, Carlina.«

Luigi sprang nach vorn und nahm ihre Hand zwischen seine. »Ich bin hocherfreut, dich kennenzulernen, Carlina!« Ohne ihre Hand loszulassen, wandte er sich an seinen Bruder. »Das ist unsere Familie, Francesco! Der Sohn von Alfredo und seine Frau. Was für eine unglaubliche Überraschung!«

Endlich fand Stefano seine Stimme. »Setzt euch«, sagte er. »Ich denke, wir haben uns einiges zu erzählen.«

Francesco blickte ihn mit einem schiefen Lächeln an. »Entschuldige bitte, wenn ich dich anstarre, aber es fühlt sich wirklich seltsam an, auf einmal so unvermutet meinem jungen Ich gegenüberzusitzen.«

Stefano lächelte. »Ich weiß genau, wie du dich fühlst.«

In diesem Augenblick kam der Kellner mit den antipasti misti del mare, die Stefano und Carlina bestellt hatten. Aber es war nicht der junge Kellner, der den Auftrag entgegengenommen hatte, sondern ein älterer Mann. Er blickte von Francesco zu Stefano und erstarrte. Die Platte in seinen Händen rutschte zur Seite, dann fiel sie. Sie knallte mit einem ohrenbetäubenden Knall auf den Boden, und Lachsstückchen und Tintenfischringe sprangen durch die Gegend. Alle Gäste im Restaurant drehten sich um, und ein aufgeregtes Gemurmel ging durch den Raum, wie ein Wind, der die Bäume zum Rauschen bringt.

Luigi sprang wie ein Ball auf und ab und rief in den Raum: »Das ist mein Neffe aus Firenze!«

»Aber Luigi«, sagte der alte Kellner. »Du hast keinen Neffen.« Er beäugte Stefano. »Obwohl er wirklich wie Francesco aussieht, als er noch jünger war. Mann, wie mich das zurückbringt. Es ist ganz unheimlich.«

»Er ist Alfredos Sohn«, sagte Eleanora mit ihrer kühlen Stimme, die mit Leichtigkeit den ganzen Raum ausfüllte.

»Alfredo? Dein Bruder? Aber der ist doch ganz jung gestorben.« Der Kellner blickte sie erstaunt an.

»Anscheinend nicht.« Sie wandte sich an Stefano. »Lebt dein Vater noch?«

»Ja.«

Ein seltsamer Ausdruck überflog ihr Gesicht.

»Wer hat behauptet, dass er tot sei?«, fragte Stefano.

»Unser Vater. Das war typisch für ihn. Wenn ihm etwas nicht gefiel, tat er einfach so, als ob es nicht da wäre.« Luigi zog einen Stuhl hervor und ließ sich hineinfallen. »Vino!«, brüllte er. »Wir müssen diese … diese Familienwiedervereinigung feiern!«

»Subito.« Der Kellner beugte sich herab, um einige zerbrochene Stücke und ein wenig Hummer vom Boden aufzuheben, dann verschwand er in Richtung Küche.

Luigi griff in den Brotkorb auf dem Tisch und brach ein Stück des hauchdünnen typischen sardischen Brotes, pane carasau, ab. »Was für eine unglaubliche Überraschung. Ich muss etwas essen, sonst falle ich noch um.«

»Lebt er noch?«, fragte Stefano. »Mein … Großvater?« Es klang seltsam, als er das Wort sagte.

»Nein, nein. Er ist vor fünf Jahren gestorben.« Luigi stopfte sich ein Stück des krossen Brotes in den Mund. »Er hatte einen Herzinfarkt.«

»Und deine Mutter?« Meine Großmutter. Der Gedanke wirkte bizarr. Sein Vater hatte immer behauptet, dass sie beide vor langer Zeit gestorben seien.

»Ach, sie ist direkt nach der Geburt von Luigi gestorben. Das war ja der Grund für all unsere Probleme.«

»Wie meinst du das?« Carlina beugte sich vor.

»Na ja, ohne eine Frau, die ihn ein wenig in die Schranken weisen und etwas milder stimmen konnte, war unser Vater in der Lage, alle möglichen seltsamen Ideen zu entwickeln.«

»So schlimm war er auch nicht.« Francesco ließ sich in einen Stuhl sinken. »Nur ein wenig extrem.«

Eleanora setzte sich zwischen ihre Brüder. »Er war nicht nur ein absoluter Frauenfeind, sondern wollte auch unser aller Leben bestimmen.«

Stefano hob die Augenbrauen. »Das heißt?«

»Das heißt, als dein Vater sich in ein Mädchen aus der Toskana verliebte, hat er den Kontakt verboten, weil sie nicht die richtige Art Mädchen war.«

»Und was wäre die richtige Art Mädchen gewesen?«, fragte Carlina.

»Na, eine Sardin natürlich.«

Stefano schluckte, während die Gedanken durch seinen Kopf wirbelten. Plötzlich hatte er eine komplette Familie, die genauso intensiv und vielschichtig wie der Mantoni-Clan war. Und gleichzeitig fühlte er sich wie ein Fremder. Das erste Mal in seinem Leben fiel er in die Kategorie Ausländer und war jemand geworden, dem man aufgrund seines Ursprungslands nicht trauen konnte. Es war ernüchternder als er erwartet hatte.

Etwas Nasses berührte seinen Knöchel. Er zuckte zusammen und schaute unter den Tisch. »Was um alles in der Welt …?« Er blickte Carlina an. »Unter dem Tisch befindet sich ein Schwein.« Vielleicht war dies doch nur ein seltsamer Traum.

Carlina warf ihm einen ungläubigen Blick zu, dann hob sie die Tischdecke hoch und schaute nach. »Du hast recht.« Ihre Stimme zitterte vor unterdrücktem Lachen. »Wo kommst du denn her, kleines Schweinchen?«

Luigi beugte sich über den Tisch. »Ah, ich sehe, dass Ihr die Bekanntschaft von Gloria Schnüffel gemacht habt.«

»Gloria Schnüffel?« Carlinas Stimme klang schwach.

»Ja, ja!« Luigi lachte sie an. »Sie ist mein Lieblingsschwein.« Er schaute zur Tür, und ein Schatten flog über sein Gesicht. »Da kommt meine Frau. Bitte erwähnt Gloria nicht vor ihr. Sie mag Schweine in Restaurants nicht, aber ich sehe wirklich keinen Unterschied zu einem Hund. Gloria ist sehr sauber. Ich wasche sie regelmäßig. Außerdem wird Gloria einsam, wenn sie den ganzen Tag allein zu Hause ist.«

Stefano warf Carlina einen schnellen Blick zu. An der Art, wie ihre Mundwinkel zitterten, konnte er genau erkennen, dass sie kurz davor war, vor Lachen zu explodieren.

Luigi sprang wieder wie ein Gummiball auf. »Paula, du wirst nicht glauben, was heute Abend geschehen ist. Wir haben einen Neffen getroffen, von dessen Existenz wir nichts wussten. Darf ich dir Stefano und seine Frau Carlina vorstellen?«

Paula war eine hochgewachsene Frau, die aussah, als ob sie regelmäßig Marathon lief, dünn und durchtrainiert. Sie hatte schulterlanges Haar, schwarz mit grauen Strähnen, aber ihr Alter zeigte sich vor allem auf ihrer Stirn, die beständig gerunzelt war, und den tiefen Linien, die sich um ihren Mund eingegraben hatten. Doch ihre Augenbrauen rissen alles wieder raus: Sie waren perfekt geformte Halbmonde. Diese hoben sich nun in Überraschung, aber das war die einzige Emotion, die sie offenbarte. »Schön, euch kennenzulernen.« Ihre Stimme war tief und angenehm.

»Er ist Alfredos Sohn, du weißt schon, mein Bruder, der verschwand, als ich fünfzehn war!«, strahlte Luigi.

»Interessant.« Es klang ein wenig trocken. »Also habt ihr euch entschieden, nach all den Jahren die Familienverbindung wieder aufleben zu lassen?«

»Nein.« Stefano schüttelte den Kopf. »Ich habe die Ferien hier gebucht, weil ich wusste, dass mein Vater ursprünglich aus dieser Gegend kam, aber ich hatte keine Ahnung, dass er hier noch Familie hat.«

Francesco starrte ihn an: »Dein Vater hat dir nie von seinen Geschwistern erzählt?«

»Nein.«

»Also war das Treffen hier reiner Zufall?«, fragte Paula.

»Richtig.«

Die geschwungenen Augenbrauen wanderten noch ein wenig höher, aber sie sagte nichts.

Stefano hatte den Eindruck, dass er sich verteidigen und erklären müsse, dass er wirklich keinen blassen Schimmer gehabt hatte, aber er hielt sich zurück, ohne den Grund selbst so richtig zu verstehen. Vielleicht war es das stillschweigende Eingeständnis, dass man in einer schwachen Position ist, wenn man anfängt, sich zu verteidigen.

»Es war eine unglaubliche Überraschung«, bestätigte Carlina.

»Das kann ich mir vorstellen.« Paulas Blick fiel auf den Boden. Ihr ganzer Körper versteifte sich. »Wie oft muss ich noch sagen, dass wir dieses Schwein nicht mit in Restaurants schleppen können, Luigi?«

Luigi zuckte zusammen und schaffte es, überrascht auszusehen. »Was? Wirklich? Ist Gloria auch hier?« Er beugte sich hinab und kratzte das kleine Schwein hinter den Ohren. »Wie hast du denn das schon wieder geschafft, Kleine? Du bist ein freches Mädchen.«

Paula seufzte. »Lass gut sein, Luigi. Sie kam nicht zufällig ins Auto.«

Luigi richtete sich auf. »Ich sehe wirklich kein Problem. Immerhin sind hier auch gut erzogene Hunde erlaubt, und Gloria ist immer ruhig und brav.«

Eleanora hatte das Schwein ihres Bruders mit verzogenem Mund betrachtet. Jetzt entspannte sie ihn zu einem Lächeln. »Ihr werdet es vermutlich nicht glauben, aber Luigi ist Metzger von Beruf.«

Carlina riss die Augen auf. »Ein Metzger?«

»Ja, warum auch nicht?« Luigi hob beide Hände. »Ich kann Tiere lieben und dennoch Metzger sein. Das ist kein Widerspruch.«

Francesco hob das Kinn. »Ich kann das auch nicht begreifen, aber zu dem Thema haben wir nun wirklich genug diskutiert.« Er lächelte Stefano und Carlina an.

Das Gesicht seines Onkels, das so sehr wie sein eigenes aussah, verursachte immer noch ein leichtes Schwindelgefühl in Stefano.

Francesco verzog den Mund. »Ich glaube nicht daran, dass man hilflose Tiere abschlachten sollte und –«.

Paula unterbrach ihren Schwager mit einem Seufzer. »Bitte lass uns das Thema nicht schon wieder durchkauen. Wir kennen deine Position, und ich bin überzeugt, dass es nicht natürlich ist, nur vegan zu essen. Schau dich doch nur einmal an. Du bist viel zu dünn.«

Francesco presste die Lippen zusammen. »Gut, dann lass uns über das neueste Gerücht sprechen. Ist es wahr, dass ihr das sechste Ladengeschäft in Olbia eröffnen möchtet? Ihr seid doch schon reich genug. Warum diese ständige Anhäufung von noch mehr Reichtum, noch mehr Macht, noch mehr Kadavern?«

Paula wurde rot. »Es ist keine Sünde, einen Betrieb zu erweitern. Wenn ich es nicht tue, macht es jemand anderes. So ist das Gesetz des Markts. Ich persönlich bin hocherfreut, dass unsere Kunden unser Fleisch lieben, und ich sehe überhaupt keinen Grund, sie nicht zu bedienen, wenn ich alles, was ich dafür benötige, griffbereit habe.«

»Also stimmt es? Ihr plant wirklich eine sechste Metzgerei?«

»Wer hat da geplaudert?« Paula warf Luigi einen drohenden Blick zu.

Ihr Mann hob vage die Hand. »Pula ist eine kleine Stadt, meine Liebe.« Sein Blick wich ihrem aus. Stattdessen tauchte er unter den Tisch, um das kleine Schwein zu streicheln.

Carlina runzelte die Stirn. »Aber sind wir hier nicht in Chia?«

»Doch«, bestätigte Eleanora. »Pula ist ungefähr zwanzig Minuten mit dem Auto von hier entfernt, und dort leben wir alle. Wir sind extra zum Osterfest hier in dieses Restaurant gekommen, weil es für seine Meeresfrüchte berühmt ist.«

In diesem Augenblick blieb eine Frau neben dem Tisch stehen. »Ach, hallo, was für eine Überraschung! Esst ihr heute Abend auch hier?«

Stefano blickte auf und hielt die Luft an. Er war an schöne Frauen gewöhnt – der Mantoni-Clan hatte viele davon – aber diese hier strahlte eine Vitalität und Sinnlichkeit aus, die über ihren unbestreitbar attraktiven Körper hinausging. Sie war mittelgroß, hatte Kurven an all den richtigen Stellen, und ihr voller Mund sah aus wie eine Einladung zu Lachen und Glück. Ihr schwarzes Haar fiel voll und glatt ihren Rücken hinab, und sie hatte dieses unbestimmte Flair der Reichen, obwohl er nicht genau sagen konnte, woher das stammte. Die breiten goldenen Kreolen in ihren Ohren passten zu der ebenso breiten goldenen Halskette. Es sah aus, als ob der Schmuck echt sei. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie sah ungefähr fünfzehn Jahre jünger aus als seine neu gefundenen Familienmitglieder, vermutlich um die vierzig.

Luigi sagte: »Maristella, das ist Stefano Garini, Alfredos Sohn.«

Maristellas dunkle Augen weiteten sich. »Wer ist Alfredo?«

»Alfredo ist unser ältester Bruder.« Luigi strahlte.

Maristella blinzelte. »Es gab noch einen?«

»Ja.« Paulas Antwort war so kurz, dass sie schon unhöflich klang.

Maristella lächelte und offenbarte perlweiße Zähne. »Das wusste ich nicht.«

»Es gibt viele Dinge, die du nicht weißt. Du bist schließlich erst vor sechs Monaten hierhergezogen.« Paulas Stimme klang abgehackt.

Noch jemand, der wie ein Ausländer behandelt wird. Stefano lächelte Maristella an, um Paulas Unhöflichkeit auszugleichen.

Maristella starrte ihn an. »Die Ähnlichkeit ist wirklich überwältigend.«

Eleanora nickte. »Ja.« Sie wandte sich an Carlina und Stefano. »Maristella hat vor einem halben Jahr den Bauernhof neben Francesco geerbt.«

Maristella lachte. »Und war das ein Schock! Ich kam voller Erwartungen, freudig erregt, mein Erbe in Anspruch zu nehmen, und alles, was ich bekam, war ein olles Gebäude mit nutzlosen Wildblumen.«

Francesco blickte sie missbilligend an. »Aber Maristella, so solltest du nicht reden. Der Hof ist ein funktionierendes ökologisches System mit einem ungewöhnlichen Tierreichtum. Dein Großonkel liebte die Natur.«

Maristella lächelte ihn charmant an. »Ich gebe zu, dass es hübsch ist. Wenn man die ganzen Krabbeltiere nicht beachtet, natürlich. Aber wie um alles in der Welt soll jemand davon leben können?«

»Dein Großonkel konnte es«, sagte Francesco.

»Ja, aber seine Art zu Leben hat nichts damit zu tun, wie ich mein Leben leben will.«

»Wir wissen alle, dass du in Luxus gebettet leben willst.« Paula sprach mit hörbarer Bitterkeit in der Stimme.

Die beiden Frauen blickten sich an, Paula schlank und muskulös, mit ihrem fest zusammengepressten Mund, während Maristella Paula mit all der Ablehnung betrachtete, die sie auch den Krabbeltieren auf ihrer Farm entgegenbrachte.

Luigi tauchte wieder unter den Tisch, um sein Schwein zu kraulen. Das hatte er offensichtlich als ausweichende Taktik perfektioniert. Kein Wunder, dass er sich weigerte, ohne Gloria Schnüffel auszugehen. Als er wieder auftauchte, lächelte er vage in die Runde. »Setz dich doch zu uns. Es ist nicht schön, wenn man allein essen muss.«

»Sehr gern.«

Luigi sprang auf und zog ihr einen Stuhl heran.

Paula warf Maristella einen bösen Blick zu.

Eleanora seufzte leise, dann wandte sie sich wieder Carlina und Stefano zu. »Maristella kommt aus Iglesias, einer Stadt aus dem Inland. Iglesias war früher sehr wohlhabend, weil dort Silber und Kohle abgebaut wurde, doch die Minen sind mittlerweile alle aufgegeben worden, sodass die Stadt ein wenig wie eine Geisterstadt wirkt.«

»Nicht nur ein wenig«, korrigierte Maristella. »Aber wenn du dort geboren und aufgewachsen bist, ist es schwer zu gehen. Wir sardi sind extrem stolz auf unsere Dörfer.«

»Warum bist du dann hierhergezogen?«, fragte Paula.

Maristella ignorierte sie. »Ich habe sogar die Ehre erhalten, Teil der Prozession zu sein, die am ersten Mai in Cagliari stattfinden wird.« Sie wandte sich an Stefano. »Es ist die größte religiöse Prozession des Jahres auf der Insel. Unser Schutzheiliger, Sant’Efisio, wird von seiner Kirche in Cagliari entlang der Küste bis nach Pula getragen und zurück. Der Umzug dauert drei Tage an, und alle im Dorf machen mit.«

Paula hob die Augenbrauen. »Du darfst an der Prozession teilnehmen?« Ihre Stimme klang ungläubig.

Maristella lächelte und zeigte wieder ihre schimmernden Zähne. »Ja. Ich habe schon meine Tracht vorbereitet.«

»Das klingt interessant«, sagte Carlina. »Wir werden am ersten Mai noch hier sein.«

Eleanora nickte. »In dem Fall müsst ihr wirklich hingehen. Die Prozession ist ein Augenschmaus, weil jedes Dorf eine andere traditionelle Tracht hat. Ausgesuchte Teilnehmer aus jedem Dorf dürfen sie anlegen und die Prozession begleiten. Jedes Dorf trägt dabei ein Banner, das den Namen der Stadt zeigt, aber wenn du dich ein wenig auskennst, brauchst du das gar nicht. Die Trachten sind so einzigartig, dass man an ihnen sofort erkennt, aus welchem Dorf jemand kommt.«

Luigi tauchte wieder unter dem Tisch hervor und strahlte sie alle an. »Aber das Beste sind die Pferde. Alle Würdenträger der Insel dürfen auf einem wunderschönen Pferd reiten.«

»Was geschieht, wenn sie nicht reiten können?«, fragte Stefano.

»Ach, in dem Fall geht jemand neben ihnen her«, sagte Maristella mit einer nonchalanten Geste.

Der Kellner kam und nahm ihre Bestellungen entgegen. Als Luigi ihm etwas zumurmelte, unterbrach Paula ihn. »Du kannst jetzt keine sebadas bestellen, Luigi. Das ist ein Nachtisch.«

Luigi wurde rot. »Aber ich möchte sie eben jetzt schon haben.« Er blickte den Kellner an. »Zwei Portionen bitte. Und bitte servieren Sie sie sofort, zusammen mit den antipasti.«

»Was ist eine sebada?«, fragte Carlina.

Eleanora lächelte. »Ein typisch sardisches Dessert. Es ist eine mit Ricotta gefüllte Teigtasche, die erst frittiert und dann mit bitterem Honig beträufelt wird.«

Paula beugte sich zu ihrem Mann. »Du kannst genauso gut ehrlich sein und zugeben, dass du sie für das Schwein bestellst.«

Luigi schaute Carlina und Stefano entschuldigend an. »Gloria Schnüffel hat eine Schwäche für sebadas.«

Kapitel 3

Carlina unterdrückte ein Kichern. »Gloria ist ziemlich klein«, sagte sie. »Ist sie noch sehr jung?«

»O nein.« Luigi schüttelte den Kopf. »Sie ist leider schon eine betagte Dame. Sie ist nur so ungewöhnlich klein, weil sie mit einem Herzfehler geboren wurde.« Wieder blickte er zu seiner Frau, als ob er ihre Reaktion abschätzen wolle. »Es war sehr schwierig, sie aufzuziehen. Sie hat allerdings einen exzellenten Stammbaum, und wir dachten, sie könnte eine ausgesprochen gute Zuchtsau werden, darum haben wir uns besonders viel Zeit und Mühe mit ihrer Aufzucht gegeben. Deshalb hänge ich so an ihr. Als wir festgestellt haben, dass sie niemals ihre Rolle als Zuchtsau erfüllen können wird, nun …« Er spreizte die Hände. »Zu dem Zeitpunkt war es schon zu spät. Ich hatte mich schon verliebt.«

Paula seufzte.

Luigi blickte Carlina mit seinen hellen Augen an. »Aber so ist es ja immer, glaube ich. Man hängt am meisten an den zartesten seiner Kinder, oder?«

Carlina zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, ich habe keine Kinder. Es klingt ein wenig unfair.«

»Das Leben ist nicht immer fair«, sagte Paula.

Nun war es Luigi, der seufzte. »Wie wahr.«

Der Kellner kritzelte etwas auf seinen Bestellblock, lächelte Luigi verschwörerisch zu und wandte sich an Francesco. »Den Salat wie immer?«

Francesco nickte.

Paula betrachtete den Kellner, als ob sie ihn am liebsten aufspießen würde.

Plötzlich fühlte sich Carlina überwältigt von der Dichte der Emotionen, die um den Tisch herumwirbelten. Sie brauchte dringend ein wenig Abstand und musste allein sein, nur für ein paar Minuten. Sie sprang auf, gab Stefano einen schnellen Kuss auf die Wange und sagte: »Ich bin gleich zurück.« Sie wand sich durch die Tische hindurch, die dicht besetzt waren mit den Familien, die ihr Osteressen genossen und trat mit einem erleichterten Seufzer in die Toilette. Es war sauber und roch frisch. Gut. So konnte sie einige Minuten bleiben und ihre Gefühle in Ordnung bringen. Was für eine unerwartete Entwicklung. Der arme Stefano. Sie kicherte, als sie ihre Hände wusch. Er hatte so sehr darauf bestanden, dass es in diesem Urlaub keine störenden Familienmitglieder geben sollte.

Die Tür zum Bad öffnete sich, und Maristella erschien mit einer voluminösen Handtasche auf der Schulter. »Was ist so lustig?«, fragte sie mit ihrem attraktiven Lächeln.

»Ach, nur ein privater Scherz«, sagte Carlina. »Du würdest es nicht lustig finden.«

Maristella nickte. »Ich weiß, was du meinst. Manche Witze sind nur lustig, wenn man den Hintergrund von Anfang an miterlebt hat.« Sie stellte die riesige Tasche aufs Waschbecken.

»Warum hast du die Tasche nicht am Tisch gelassen?«, fragte Carlina.

Maristella hob die Augenbrauen. »Soll ich riskieren, dass dieses Schwein seine Nase in meine Sachen steckt? Nie im Leben. Ich habe meine Tracht für die Prozession in der Tasche, denn ich habe sie gerade von der Schneiderin abgeholt, die sie für mich geändert hat. Ich will auf keinen Fall, dass ein Schwein darauf herumkaut. Willst Du sie mal sehen?«

Carlina nickte.

Maristella zog eine Kopfbedeckung in blau und weiß aus der Tasche. Sorgfältig setzte sie sie auf ihren Kopf, dann strahlte sie Carlina an. »Wenn du eine Frau mit so einer Kopfbedeckung in leuchtendem Blau mit einem weißen Dreieck auf dem Rücken siehst, kannst du sicher sein, dass sie aus Iglesias stammt. Sie wird mit einem langen, schwarzen Rock kombiniert. Theoretisch sollen wir alle gleich aussehen, aber ich möchte nicht in der Menge untergehen.«

Carlina blickte sie nachdenklich an. Maristella sah mit der Kopfbedeckung, die ihr Haar komplett bedeckte und nur das Gesicht sichtbar ließ, zwar ein wenig wie eine Nonne aus, aber das glänzend leuchtende Blau des Materials, kombiniert mit dem frischen Weiß, vermittelte eine besondere Festlichkeit.

»Iglesias hat leider nicht die schönste Tracht auf Sardinien«, sagte Maristella bedauernd. »Andere Städte haben rote Röcke und wunderschöne Kopfbedeckungen mit Blumen und Gold.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber du kannst nun einmal nicht den Ort ändern, an dem du geboren wurdest.« Sie lächelte und blickte Carlina unter ihren langen Wimpern hervor an. »Doch das ist auch das Einzige, was ich je als unabänderlich akzeptiert habe.«

Widersprüchliche Gefühle erfüllten Carlina. Sie bewunderte Menschen, die ihr Schicksal nicht einfach hinnahmen und für ihre Träume kämpften. Aber irgendwo unter diesem hinreißenden Lächeln hatte sie eine Rücksichtslosigkeit hervorblitzen sehen, die sie beunruhigte. Es war jedoch nur ein flüchtiger Eindruck gewesen, zu kurz, um zu zählen. Vielleicht hatte sie sich in dem schummrigen Licht der Damentoilette auch nur getäuscht.

Nun lächelte Maristella. »Ich verrate dir ein Geheimnis, wenn du mir versprichst, es den Leuten da draußen nicht weiterzusagen.« Sie machte eine Kopfbewegung Richtung Tür und wartete gar nicht erst auf Carlinas Antwort. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich nicht in der Masse untergehen möchte. Eigentlich müssen wir in der Prozession alle gleich aussehen, weil wir ja schließlich die traditionelle Tracht von Iglesias zeigen sollen. Das ist Dreh- und Angelpunkt der ganzen Sache.« Sie hob die langen Zipfel des Kopftuchs, die von ihrem Kopf über ihre Schultern fielen und in langgezogenen Dreiecken bis zu ihrer Hüfte reichten. Ihr Lächeln wurde schelmisch. »Schau hier. Ich habe den Saum innen mit goldenem Brokat versehen lassen. Er zeigt sich nur, wenn ein plötzlicher Windstoß kommt, oder wenn ich ein wenig damit spiele.« Sie faltete das Material in ihren Händen, und das Gold blitzte auf. »Ist es nicht hübsch? Sie werden sich natürlich beschweren und sagen, dass ich mich nicht an die Regeln halte, aber wenn sie das herausfinden, wird es schon zu spät sein.« Ihr Gesicht leuchtete vor Triumph.

Carlina konnte dem Lächeln nicht widerstehen und gab es zurück. Maristella war bezaubernd, ein wenig wie ein Kind, das jedes bisschen Luxus genoss.

Maristella nahm einen Lippenstift aus der Tasche, beugte sich zum Spiegel und zog ihre Lippen nach. »Hast du gesehen, wie erstaunt Paula war, als ich erzählt habe, dass ich an der Prozession teilnehme?« Sie lächelte wie eine zufriedene Katze. »Die Plätze sind hart umkämpft, und eigentlich hätte ich in der Tat keine Chance gehabt.«

»Aber?«

Maristella zwinkerte ihr zu. »Es gibt immer Mittel und Wege. Ich lasse mich doch nicht von Konventionen aufhalten. Ich habe mir zwar eine Feindin in Iglesias gemacht, der ich wohl besser nicht im Dunklen begegnen sollte, aber mit Feinden kann ich umgehen.« Sie lachte. »Wir Frauen müssen darauf achten, dass wir nicht untergebuttert werden, nicht wahr?«

Carlina schluckte.

Maristella begutachtete sich im Spiegel. »Nein, ich glaube, die Tracht wirkt wirklich besser ohne Lippenstift. Schade. Ich hätte die guten Leutchen gern ein wenig mit Scharlachrot provoziert.« Sie nahm das Kopftuch ab und faltete es sorgfältig zusammen. Während sie das Material glattstrich, sagte sie: »Dein Mann sieht wirklich gut aus. Wie lange seid ihr schon verheiratet?«

Schlagartig fühlte Carlina sich unwohl, aber sie rief sich sofort zur Ordnung. »Noch nicht sehr lange. Wir haben im letzten Oktober geheiratet.«

»Oh, wie süß!« Maristella lächelte. »Und was macht er so?«

»Er arbeitet bei der Mordkommission in Florenz.«

Maristella klatschte in die Hände. »Wie wunderbar! Ein echter commissario.«

»Ja.« Es ärgerte Carlina, dass Maristella sie nicht nach ihrem Beruf fragte. Ging sie davon aus, dass Carlina zu Hause herumsaß und nur darauf wartete, dass Stefano zurückkehrte? »Und ich bin die Inhaberin eines luxuriösen Lingeriegeschäftes in Florenz.«

Maristella klatschte erneut in die Hände. »Lingerie? Großartig! Gib mir unbedingt die Adresse. Ich plane später im Jahr noch eine Reise nach Florenz, dann schaue ich bei dir vorbei.«

Carlina lächelte und reichte ihr eine der Visitenkarten, die sie immer in der Handtasche bei sich trug.

Maristella betrachtete die Karte mit dem geprägten, goldenen Logo. »Sieht ja edel aus. Da fällt mir ein, dass ich Ihnen noch gar nicht meine kleine Sonderanfertigung gezeigt habe.« Sie nahm die traditionelle Kopfbedeckung und klappte eine der langen Ecken um, sodass der Brokatstoff erneut sichtbar wurde. »Ich habe hier eine kleine Tasche eingebaut.« Sie steckte die Karte hinein. »So kann ich ein paar nötige Dinge bei mir tragen. Praktisch, oder?«

»Ja, sehr.«

»Und so wichtig. Die Prozession dauert ewig, das ist ganz schön anstrengend. Aber als Verkäuferin sind Sie es ja vermutlich gewöhnt, ständig auf den Beinen zu sein.«

»Das stimmt. Was machen Sie beruflich?«

»Ach, dies und das.« Maristella zeigte ihre strahlend weißen Zähne. »Ich war nie besonders gut in irgendeinem Beruf, also habe ich mich entschieden, eine Dame der Freizeit zu werden. Ich habe das mal auf Englisch gelesen: A lady who lunches. Ist das nicht eine herrliche Berufsbeschreibung?« Sie lachte mit einem weichen Geräusch, das sie Luft zu streicheln schien. »Ich wusste sofort, dass das mein Ziel ist.«

Carlina nickte. Sie konnte sich ein Leben ohne die Herausforderungen und Anregungen ihres eigenen Geschäftes nicht vorstellen, aber die Welt bestand schließlich nicht nur aus Leuten wie ihr.

Sie kehrten ins Restaurant zurück, in dem das Hauptgericht gerade serviert worden war. Carlina hatte spaghetti all’ astice, Spaghetti mit Hummer, bestellt, der einfach köstlich schmeckte, obwohl es nicht ganz einfach war, die Scheren zu öffnen. Das Essen zog sich entspannt hin, und alle Garinis sprachen ohne Unterbrechung, selbst Stefano, der so viele Fragen über sein Leben, seinen Vater und seine Arbeit beantworten musste, dass er seine gewohnte ruhige Position im Hintergrund nicht aufrechterhalten konnte. Als sie endlich die viel gepriesenen sebadas zum Nachtisch gegessen und der braven Gloria unter dem Tisch unauffällig noch ein paar Stücke zugesteckt hatte, überkam Carlina eine Welle an Müdigkeit. Ihre Glieder fühlten sich so schwer an, dass sie ihre rechte Hand mit ihrer linken stützen musste, um die Espressotasse anzuheben.

Stefano blickte sie an. »Erledigt?«, fragte er leise.

»Völlig.«

»Wir gehen in einer Minute.«

Es dauerte doch länger, aber endlich schafften sie es, sich für die Nacht zu verabschieden.

Obwohl Carlina so müde war, lächelte sie, als sie in ihre villetta eintraten, das kleine Ferienhäuschen in den Hügeln von Chia. Die Wände außen waren in einer Mischung aus taupe und dunkelbraun gestrichen, und die Fenster waren mit dicken Holzläden gesichert. So viel konnte sie in dem kleinen Licht über der Eingangstür erkennen. Sie drehte sich um und genoss den Ausblick. Ein heller Mond war aufgegangen und badete die gesamte Landschaft in seinem silbrigen Licht. Unten am Fuße des Hügels sah sie einige Autos, die die Straße mit ihren Scheinwerfern erleuchteten, während sie die Küstenstraße entlangfuhren. Dahinter schimmerte das Mondlicht auf dem Wasser einer Salzlagune. Und von noch weiter draußen, hinter einigen Dünen und Felsen, hörte sie das Rauschen des Ozeans, der mit großen Wellen auf den Strand aufschlug. Von Zeit zu Zeit sprühte eine Wolke wie ein Strahl in die Luft, unheimlich weiß in dem Mondlicht. Der Wind brauste in ihren Ohren.

»Komm rein, Carlina.« Stefano legte ihr den Arm um die Schultern. »Es ist kalt.«

Carlina drehte sich um und folgte Stefano nach innen. Er schloss die dicke Tür und schob die Riegel vor, dann breitete er die Arme aus. »Komm her.«

Sie kuschelte sich an seine Schulter und atmete tief seinen Duft ein, diesen typischen Geruch von Leder und Seife. »Wie fühlst du dich?«

»Benommen.«

Carlinas Schultern bebten vor Lachen. »Überhaupt keine Familie«, kicherte sie. »Was für ein Witz! Und nun hast du zwei Onkel, eine Tante, ein Familienschwein und eine ganze Stadt, die fasziniert jeden deiner Schritte verfolgt.«

»Das ist nicht lustig«, sagte er mit gespielter Strenge, dann seufzte er. »Das hat man nun davon, dass man Pläne macht.«

Sie umarmte ihn tröstend.

»Aber dies hier ist unser kleines Haus, und es gehört uns ganz allein. Lass uns die Telefone ausstellen und den Frieden genießen, solange er anhält.«

»Schon erledigt.« Carlina lächelte.

»Ich mache die Schlossführung.« Er nahm sie bei den Schultern und drehte sie herum. »Hier unten, ein Raum: Zur Rechten sehen Sie die Küche, in der Mitte ist das Esszimmer mit dem Tisch und rechts das Sofa, ergo das Wohnzimmer.«

Sie lächelte. Als ob sie das nicht selbst sehen würde. »Sehr hübsch.«

Er nahm sie an der Hand und führte sie eine Treppe hoch, die aus massivem Stein gefertigt war. »Hier oben ein Badezimmer, eine kleine Galerie und ein Schlafzimmer.« Er öffnete die jeweiligen Türen, während er sprach.

Sie fühlte, wie das Glücksgefühl in ihr überschwappte. »Es ist einfach wunderbar.«

»Es ist einfach winzig.«

»Ja, aber genau das macht es so wunderbar. Lass uns ins Bett gehen.«

»Das klingt nach einem guten Plan, signora Garini.«

 

* ~ *

 

Als Stefano am nächsten Morgen aufwachte, konnte er immer noch den Wind draußen brausen hören. Carlina hatte sich neben ihm zusammengerollt und schlief tief und fest. Er schaute auf die Uhr. Sechs Uhr morgens. Wenn er seine Frau richtig kannte, würde sie noch einige Stunden schlafen.

Er schob die Decken beiseite, machte sich frisch und kochte einen Kaffee. Dann öffnete er die Tür und stellte sich auf die kleine Terrasse vor dem Haus. Der Blick war atemberaubend. Dunkle Wolken fegten über den Himmel, von einem starken Wind gejagt. Das Meer streckte sich weit bis zum Horizont, eine riesige Fläche in graublau, während die Lagune davor ein anderes grau hatte, grünlicher.

Der Wind fegte ihm um die Ohren, aber darunter gab es noch ein Geräusch, das ihn an unheilverkündende Trommeln erinnerte, die einen Rhythmus schlugen, den niemand aufhalten konnte. Der Ozean. Diese Wellen konnten problemlos solide Felsen zu Staub zerschlagen.

Ein blumiger Duft flog vorbei, dann war er verschwunden und ließ nur die salzige Frische zurück. Was war das? Flieder? Er schaute sich die blühende Pflanze an, die die dicke Steinmauer ihrer kleinen villetta zu umarmen schien. Die dunkelgrünen Blätter waren lang und schmal, ein wenig wie Rhododendron, aber die weißen Blüten sahen anders aus. Er ging näher heran und atmete tief ein. Wunderbar. Er würde Carlina fragen müssen. Vielleicht kannte sie den Namen dieser Pflanze.

Aus den Augenwinkeln sah er weit draußen wieder den Strahl an Schaum hochspritzen, dort, wo der Ozean auf die Felsen aufprallte. Was für ein wilder Wind. Er streckte sich und genoss den Ausblick noch ein wenig länger, während er es sorgfältig vermied, darüber nachzudenken, was gestern geschehen war. Auf einem Hügel zu seiner Linken konnte er einen gedrungenen runden Turm ausmachen. Das musste der torre di Chia sein. Kaum vorstellbar, dass er da schon seit dem sechzehnten Jahrhundert stand. Plötzlich wollte er hingehen und ihn ansehen.

Sollte er warten, bis Carlina wach wurde? Er blickte auf die Uhr. Es war noch viel zu früh. Er würde ihr eine Nachricht hinterlassen und die Umgebung ein wenig erforschen. Das würde ihm helfen, den Kopf zu klären und sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er eine fertig gemachte Familie hatte, in die er nun eintreten konnte. Himmel, würde das eine Umstellung werden! Ob er seinen Vater anrufen und ihn wissen lassen sollte, dass er sein Geheimnis entdeckt und den ganzen Garini-Clan durch Zufall getroffen hatte? Er schüttelte den Kopf und nahm die Schultern zurück. Nein. Manche Dinge ließen sich nicht am Telefon besprechen.

Er brach eine Blüte von dem Busch ab, ging wieder nach drinnen und schrieb Carlina eine Nachricht. Dann legte er die Blume und den Zettel in die Mitte des Küchentischs, zog sich einen dicken Pulli gegen die Kälte über, steckte sich das Handy in die Tasche und ging los.

Der Wind fuhr ihm durch die Haare. Die ganze Welt hatte noch diesen Zauber des frühen Morgens, taufrisch und unverdorben, als ob noch alles möglich wäre. Er fühlte, wie sein Herz sich weitete. Alles wird gut. Ich werde meine neue Familie schon verkraften. Jeder einzelne hatte sie schon zum Essen nach Hause eingeladen, und während er sich einerseits freute und neugierig und aufgeregt war, wünschte er doch, sie wären nicht ausgerechnet in dem Augenblick aufgetaucht, in dem er ein paar ruhige Tage mit Carlina verbringen wollte. Wann würde er die Möglichkeit haben, mit ihr über die Frage zu sprechen, die ihn bewegte? Es sollte eigentlich nicht so schwierig sein, mit seiner Frau über Nachwuchs zu sprechen. Er ging schneller.

Ein Haus weiter traten eben ein betagter Pudel und ein ebenso betagter Herr durch ein schmiedeeisernes Tor. Das Tor war in eine traditionell gebaute Steinmauer eingesetzt, die den Garten eines attraktiven Ferienhauses umgab. Eine Bougainvillea mit tausend pinkfarbenen Blüten schäumte über die Steinmauer. Stefano grüßte den alten Herrn mit einem freundlichen buongiorno. Dieses Haus war viel größer als die villetta, die sie gemietet hatten. Er würde gern eines Tages so ein Haus besitzen. Mit Carlina und den Kindern. Ob sie dem wohl zustimmen würde?

Seine Tanten und Onkel schienen selbst keine Kinder zu haben. Also gab es in der nächsten Generation niemanden, außer ihm selbst und seiner Schwester, die in der Schweiz lebte. Er musste sie dringend anrufen, aber erst, nachdem er mit seinem Vater gesprochen hatte. Gedankenverloren überquerte er die größere Straße, die die gesamte Küste entlangführte. Selbst hier war kaum Verkehr, doch er hörte einen röhrenden Motor näherkommen. Ja, da hinten war ein weißes Motorrad, aber es war noch ein ganzes Stück weit weg.

Er blieb stehen, um einen interessanten Kaktus anzusehen. Es war diese Art mit flachen, fleischigen Blättern, die oft wie Mickey-Mouse-Ohren aussahen. Der Kaktus stand weit ausladend allein auf weiter Flur, über zwei Meter hoch, ganz anders als die Hecken, die sie am Tag zuvor gesehen hatten. Am oberen Rand der grünen Kaktusohren konnte er die rötlichen Ansätze für spätere Kaktusfrüchte ausmachen. Aber das war nicht der Grund, warum er stehengeblieben war. Er lächelte eines der Blätter an. Jemand hatte an der linken Seite ein Loch gebohrt und an der rechten Seite an zwei Stellen oben und unten eine Ecke herausgeschnitten, sodass es wie ein Fisch aussah.

Das näher kommende Motorrad war nun fast direkt neben ihm. Er blickte hoch. Ich bin zu weit auf der Straße. Rasch trat er einen Schritt zurück, bevor er sich wieder über den Kaktus beugte. Hier war noch ein Blatt, das wie ein kleines Monster aussah, weil jemand scharfe Zähne an die Unterseite eingeritzt hatte. Das muss ich Carlina zeigen. Sie wird diese Kaktus-Kunst lieben. Sie konnten ja ein Foto davon machen und es den Mantonis nach Hause senden. Ein Monster für die Monster. Er verzog den Mund. Jetzt, wo er einen ganzen Schwarm eigener ›Monster‹ hatte, gab es keinen Grund mehr, überlegen über seine Schwiegerfamilie zu lächeln.

Er richtete sich auf und überquerte die Straße, dann ging er mit schnellen Schritten zu der Salzlagune. Warum fühlte er sich überhaupt so gespalten, wenn es um die Familie ging? Vielleicht war es nicht nur seine Erfahrung mit dem überschäumenden Mantoni-Clan. Vielleicht hatte sein Vater ganz unbewusst sein tiefes Misstrauen an ihn weitergegeben. Wenn er eines Tages Kinder haben sollte, würde er sie niemals verstoßen, egal, was sie taten. So. Jetzt waren seine Gedanken wieder im Kreis gegangen. Er musste wirklich mit Carlina sprechen.

Er erreichte einen Holzsteg, der die Lagune umfasste. Seine Schritte hörten sich unter seinen Füßen ganz hohl an, während er ihn entlang ging. In der Lagune waren kugelige Formen verteilt. Flamingos, die gerade auf der Suche nach Futter den Kopf im Wasser hatten. Sie sahen wie schwebende Federbälle aus. Carlina würde begeistert sein.

Der Pier endete in einem breiten Sandstrand. Stefano spürte ihn unter seinen Schuhen, sanft und willkommenheißend. Es erinnerte ihn so sehr an den Sommer, dass er spontan seine Bootsschuhe und Socken auszog und barfuß weiterging. Der Sand unter seinen Füßen fühlte sich kühl an und passte sich ihm auf eine Art und Weise an, die das Laufen zu einem puren Vergnügen machte. Er fühlte, wie er mit mehr Schwung ging, gefüllt mit Energie. Voller Vorfreude erreichte er den Wassersaum. Die Bucht war zwar vom Wind geschützt, aber trotzdem hatten die Wellen weiße Kronen und schäumten mit so viel Kraft gegen den Sand, dass er Respekt vor dieser Kraft verspürte.

Stefano rollte sich die Hosenbeine hoch und blickte sich um. Er war ganz allein am Strand, weit und breit kein Mensch. Hinter ihm befand sich ein verlassenes Gebäude. Es musste mal ein Restaurant gewesen sein, denn ein altes Schild hing schief neben dem heruntergekommenen Eingang. Es verkündete, dass das Restaurant aperto, offen, war, obwohl die Bretter, die vor die Fenster genagelt waren, ganz eindeutig eine andere Sprache sprachen. Stefano fühlte sich frei und ungebunden. Er machte ein paar Hopser, dann rannte er in einem plötzlichen Sprint los. Aaah, das fühlte sich großartig an. Ab und zu platschte eine Welle gegen seine Knöchel, der Wind fegte ihm durch die Haare, der nasse Sand unter seinen Füßen federte leicht und – ein heftiger Stich fuhr ihm in den Fuß. Er stolperte und fiel der Länge nach in den Sand, während der Schuss einer Pistole wie ein Peitschenknall erschallte.

Kapitel 4

Für einen Augenblick lag Stefano bewegungslos, zu erstaunt, um sich zu rühren. Hatte er das richtig gehört? War das ein Schuss gewesen? Sein Kopf weigerte sich, die Information zu verarbeiten. Zu seiner Linken donnerte eine Welle an den Strand, so viel bedrohlicher nun, wo er flach auf dem Boden lag. Instinktiv kam ihm sein Training zu Hilfe. Biete ihnen keine Zielscheibe. Er kroch höher den Strand hinauf, hob vorsichtig den Kopf und blickte sich um.

---ENDE DER LESEPROBE---