Fernweh im Herzen - Nina Sedano - E-Book

Fernweh im Herzen E-Book

Nina Sedano

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Beschreibung

Nina Sedano ist die Ländersammlerin. Ausgezogen, um alle 193 Staaten der UN zu bereisen, nahm sie hunderttausende Leserinnen und Leser mit auf ihre Reisen. Nun macht sie sich erneut auf, die Welt zu erkunden. Von Paris bis Sri Lanka, von Martinique bis nach Kasachstan, von Los Angeles bis Madagaskar, Nina Sedano ist Abenteurerin, Suchende, Liebende, Aufbrechende und Heimkehrende und schreibt sich damit auch dieses Mal wieder in die Träume ihrer Leser, denn sie trägt die Ferne im Herzen. »Wenn mich das Fernweh packt und ich mich wieder auf den Weg hinaus in die weite Welt mache, bedeutet das für mich, dem, was die Welt uns in ihrer schier unendlichen Vielfalt anbietet, mit Respekt und Demut zu begegnen. Ich ziehe los ohne Angst und mit dem Glauben an das Gute in den Menschen. Reisen schenkt mir einen unermesslichen Schatz an Erfahrungen, holt das Beste aus mir heraus und macht mich so unendlich reich.« Nina Sedano

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In Erinnerung an meine FamilieOma Ilse, Tante Lotte, Jutta und Monika

Inhalt

Mit Mut und Demut auf Achse um den Planeten

Eingeschneit in Westberlin

Aber bitte mit Toffee!

Vive la vie à Paris

Durchhängen? Nur in der Hängematte!

Sesam, öffne dich!

Intermezzo am Flughafen

Geisterstunde

Ein Zufall kommt selten allein

Von Eingängen und einem guten Ausgang

Lebensbedrohliche Notlage

Auf dem Dach der Welt

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Wollen sie mich reinlassen?

Lauf!

Auf der Strecke geblieben

Bonobos im Sonnenschein

Über Menschen und Menschlichkeit in der Ferne

Abenteuer Anreise … – Teil 1

… mit idyllischem Zwischenstopp auf dem langen Weg … – Teil 2

… auf die andere Seite des Erdballs zur magischen Osterinsel – Teil 3

Kalaalilit Nunaannut tikilluarit! Willkommen in Grönland!

Nachdenkliche Worte zum Abschied

Dankende Gedanken schwarz auf weißem Papier

Mit Mut und Demut auf Achse um den Planeten

Erst kürzlich wurde ich im Internet von einem Leser meines ersten Buchs Die Ländersammlerin gefragt: »Finden Sie es nicht oberflächlich, Länder zu sammeln? Haben Sie dabei überhaupt Zeit, ein Land richtig kennenzulernen? Oder reicht es Ihnen einfach, dass ein weiterer Stempel Ihren Pass bereichert?«

Diese unerwartete Interpretation meiner Wortkreation »Ländersammlerin«, die in keinem Wörterbuch zu finden ist, erstaunte mich. Immerhin hat das »Sammeln« aller 193 Staaten der Vereinten Nationen nicht nur zwei oder drei Jahre meines Lebens in Anspruch genommen, sondern mich vom ersten bis zum letzten Land genau vierzig Jahre und sieben Monate beschäftigt. Dieser Weg bedeutete für mich nicht, einfach nur einen Haken unter das bereiste Land zu machen oder ein Fähnchen in die Landkarte zu stecken. Auch die besagten Stempel in den Pässen – übrigens gibt es in vielen Ländern schon längst keine Stempel mehr – gelten für mich nur als Beweis für andere, die sie gern sehen möchten.

Nein, ganz im Gegenteil: Das Reisen in fremde Länder hat mir einen unermesslichen Schatz an Erfahrungen geschenkt. Der Aufenthalt in der Ferne holt meist das Beste aus mir heraus, und die Erlebnisse, die ich unterwegs mache, bereichern mein Leben nachhaltig. Wenn ich reise, lebe ich viel mehr in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Ich genieße die kleinen Augenblicke des Lebens und nähre meine Seele mit neuen Eindrücken.

Viel zu reisen heißt für mich nicht, dass es dabei rast- und ruhelos zugeht. Für viele Länder habe ich mir mehrfach und viel Zeit genommen, um sie kennenzulernen. Und solange ich gesund bleibe, freue ich mich darauf, viele bunte Flecken auf unserer Erde ganz neu oder wiederentdecken zu dürfen.

Und apropos Sammeln: Hat das nicht einst unser Überleben in schlechten Zeiten gesichert? Jemand, der sammelt, tut dies mit Leidenschaft und weil es ihn erfüllt. Er ist glücklich, wenn wieder ein neues Stück seine Sammlung bereichert. Sich an etwas Neuem zu erfreuen, ist alles andere, aber nicht oberflächlich. Gesammelt wird mit dem Herzen.

Unser Planet ist für mich das größte Wunder im Weltall. Bis heute haben wir nichts annähernd Vergleichbares im Universum gefunden. Unsere Erde mit ihrer wunderbaren Natur schenkt uns Lebewesen alles, was wir für die Zeit auf ihr benötigen – und noch so viel mehr. Die Weltkugel ist unser größter, kostbarster Schatz. Wir sollten sie gemeinsam sowie jeder für sich allein schätzen und unbedingt beschützen.

Wenn mich wieder mal das Fernweh im Herzen plagt und ich mich auf eigene Faust neugierig in die weite Welt hinausbegebe, brauche ich dazu nicht nur Mut, um das traute Heim in der Heimat hinter mir zu lassen. Reisen bedeutet für mich auch, unserer Erde und der schier unendlichen Vielfalt der Natur, die auf ihr zu Hause ist, mit Respekt und Demut zu begegnen. Der Welt mit viel Interesse an Mensch, Tier, Natur, Essen, Kunst und Kultur überall und immer mehr näherkommen zu wollen, ist im Lauf meines Lebens zu meiner Bestimmung geworden. Wie ein kleines Kind freue ich mich darüber, auf einer Safari wilde Tiere in ihrem ursprünglichen Lebensraum zu beobachten, auf einem Pferd durch die Natur zu reiten oder einfach nur auf dem Heimweg innezuhalten, um den Vögeln in einem Frankfurter Vorgarten bei der Futtersuche zuzuschauen. Ich finde es nach so vielen Jahren immer noch faszinierend, Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen und mit den verschiedensten Mentalitäten zu begegnen, mit ihnen in fremden Sprachen oder einfach nur mit Händen und Füßen zu kommunizieren. Ein fröhliches Winken, ein herzliches Lächeln, eine kurze Begegnung unterwegs können mich mehr beflügeln, als ich in hundert Worte packen kann. Ohne Angst ziehe ich los mit dem Glauben an das Gute in den Menschen. Ich werfe mein Herz voraus in die ferne Welt hinein, und meine geduldigen Füße folgen ihm brav bis an jedes Ziel.

Schöne Erlebnisse machen mich reich. Liebe, gute Freunde und das Reisen machen mein Leben wertvoll.

Eingeschneit in Westberlin

Dezember 1978/Januar 1979

Mit 12 Jahren habe ich von unserem Planeten noch sehr wenig gesehen. Zusammen mit Mama lebe ich in meiner eigenen kleinen, beschaulichen Welt – und die spielt sich seit drei Jahren in einer Zweizimmerwohnung im Frankfurter Nordend ab. Von hier erreiche ich in sieben Minuten zu Fuß die Schule im Westend. Jeden Freitag geht es zum Reiten nach Hofheim am Taunus, ansonsten komme ich aber nur selten raus. Das stört mich überhaupt nicht. In Deutschland kenne ich nur ein paar Orte. Immerhin war ich schon am Wattenmeer auf der Nordseeinsel Wangerooge und ganz im Süden in Garmisch-Partenkirchen. Hinzu kommen ein paar Städte in unseren unmittelbaren Nachbarländern, die ich leicht an einer Hand abzählen kann.

Weit weg in die Ferne zu reisen, ist für mich nie ein Kinderwunsch gewesen und bisher noch nicht zum Jugendtraum geworden. Stattdessen will ich mir die Welt tausendmal lieber in Gestalt von Tieren nach Hause holen. Kein Film über Tiere entgeht mir. Als Kind habe ich mir über Jahre bei jedem Besuch im Opel-Zoo das Flusspferd Schorschi von ganzer Seele in die heimische Badewanne gewünscht. Er hat mit seinem korpulenten Körper, dem riesigen Maul, den steilen gelben Zähnen und den schwarzen Glubschaugen mein Kinderherz berührt. Bald darauf wollte ich dann unbedingt noch ein Pony haben, am liebsten in meinem Zimmer. Am Ende hat es nur für ein Meerschweinchen in der Küche gereicht, für das ich mit zunehmendem Alter immer weniger Zeit finde. Die Wände in meinem Zimmer hängen voller Tierposter. Und beim Öffnen der vollen Schränke springen mir jede Menge Tierfiguren, darunter immer mehr Pferde, entgegen. Ich fühle mich wohl in meinem kleinen Reich, in dem es mir an nichts mangelt.

Das Einzige, was mir fehlt, ist ein guter Papa. Er ist schon so lange weg, dass ich gar nicht mehr weiß, wann genau er eigentlich gegangen ist. Ich war ziemlich klein und noch nicht in der Schule. Mittlerweile verblassen die Erinnerungen an ihn. Das letzte Mal habe ich ihn für ein paar Stunden gesehen, als ich zehn Jahre alt war – das ist bald drei Jahre her. Sein mangelndes Interesse macht mich traurig. Wenn er mir zum Geburtstag, zu Ostern und Weihnachten Briefe schreibt, bedrücken mich die wenigen lieblosen Zeilen, aber vor allem die Fragen zu meinen schulischen Leistungen – als ob es in meinem Leben nichts anderes gäbe. Mein Vater ist mir fremd, denn er ist nie für mich da.

Einen Tag vor Silvester fährt meine Mutter mit mir im Nachtzug durch die DDR nach Westberlin. Von der eingeschlossenen Stadt mit einer meterhohen dicken Mauer drum herum habe ich viel gehört, aber in meinem kleinen Kopf kann ich mir sie nur schwer vorstellen. So weit im Osten bin ich noch nie gewesen. Nur nach Eisfeld in Thüringen, die Heimat meiner Mama, hat es uns ein paarmal verschlagen. Die Fahrt nach Westberlin ist für mich – wie so vieles in diesem Alter – ein erstes Mal.

Nach der Grenzkontrolle, die so lange dauert, als ob dabei der komplette Zug auseinandergenommen und wieder zusammengebaut würde, erzählt Mama mir eine persönliche Gutenachtgeschichte. Mit einem Lächeln in ihrer warmen Stimme setzt sie an:

»Als du noch klein warst, sind wir wieder mal nach Eisfeld gefahren und wurden hier an der Grenze kontrolliert. Der Grenzbeamte hat jede Ecke des Zuges genau unter die Lupe genommen. Er ist sogar unter die Sitze gekrochen. Und du, du bist einfach zu ihm gekrabbelt.«

»Warum das denn?«, unterbreche ich sie ungläubig. Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

»Du warst wohl neugierig, was er da sucht, und wolltest ganz genau wissen, ob er auch was findet.«

»Hast du mich denn nicht festgehalten, damit ich sitzen bleibe?«

»Nein, wieso denn? Ich hätte platzen können vor Lachen und musste mich sehr zu einer ernsten Miene zwingen«, sagt sie schmunzelnd.

»Hat der Grenzbeamte auch über mich gelacht?«, will ich neugierig wissen.

»Nein, er hat nicht mal gelächelt. Der blieb todernst! An der DDR-Grenze habe ich noch nie einen Beamten lächeln sehen. Sie sind immer so ernst, dass mir ganz unbehaglich zumute wird. Ich komme mir dann vor, als hätte ich etwas Schlimmes verbrochen.«

»Dürfen sie nicht lächeln?«, frage ich mit großen Augen.

»Hm, das weiß ich nicht«, sagt Mama und schüttelt nachdenklich den Kopf.

»Werden sie bestraft, wenn sie lächeln?«, bohre ich neugierig weiter.

»Wundern würde es mich nicht.«

Ich dagegen lächle über diese Episode aus meinem frühen Leben. Die Menschen in der DDR tun mir leid, weil sie nicht einfach so reisen dürfen wie wir. Die Schulkameradin meiner Mama in Eisfeld darf uns nicht einmal besuchen kommen.

Glücklich, dass ich meine Mama habe und mit ihr zusammen ohne Probleme überallhin reisen kann, schlafe ich sofort ein.

In Westberlin werden wir am Morgen am Bahnhof Zoo abgeholt. Dorte, die ehemalige Kollegin meiner Mama, entdeckt uns schnell in der Menschenmenge. Die beiden haben früher gemeinsam im Chor des Hessischen Rundfunks gesungen. Mutters Freundin mit den lebhaften braunen Augen und der glasklaren Sopranstimme ist trotz ihrer hoch auf dem Kopf aufgetürmten braunen Haare etwas kleiner als Mama und ich. Sie gehört für mich so gut wie zur Familie, denn sie kannte mich schon als Baby. Der Kleinste von uns vieren ist ihr sechsjähriger Sohn Folkert. Ihm begegne ich heute zum ersten Mal. Ich habe mir immer einen älteren Bruder gewünscht. Jetzt habe ich für die nächsten Tage ein kleines Brüderchen, das mich nun aus wachen hellblauen Augen neugierig mustert. Genauso wie ich ist er Einzelkind einer alleinerziehenden Mutter – da haben wir schon mal etwas gemeinsam.

Unsere Spielfreude kennt keine Grenzen. Begeistert toben Folkert und ich am Silvesterabend wie zwei Wilde durch die Wohnung. Draußen hat es schon vor Stunden begonnen zu schneien. Ich weiß nicht, wie wir das Kunststück schaffen, aber im Eifer des Gefechts stoßen wir plötzlich die große Glasvase von der Fensterbank. Wir hätten nicht besser zielen können: Ihr Inhalt schwappt in hohem Bogen über den Farbfernseher. Plötzlich ist es mucksmäuschenstill. Wohin ich auch mit gesenktem Kopf durch meine Brille nach oben schiele, sehe ich entsetzte Gesichter. Wie peinlich! Hättest du nicht besser aufpassen können, schimpfe ich in Gedanken mit mir selbst. Jetzt hilft nur noch die Kraft eines besonders saugfähigen Lappens, der, schnell herbeigeholt, hoffentlich das Schlimmste verhindern wird. Warten wir’s ab. Kurz vor Mitternacht schalten wir den Fernseher an – und was sind wir doch für Glückskinder! Er hat seinen Geist nicht aufgegeben und lässt uns rechtzeitig wissen: Jetzt haben wir das Jahr 1979. Draußen fallen weiter dicke Schneeflocken.

Am Neujahrsmorgen liegt der Balkon unter einer dicken Schneedecke. Wir Kinder stürmen natürlich sofort aus dem Wohnzimmer, um uns im Schnee zu wälzen und mit Schneebällen zu bewerfen. Dorte und Mama bekommen regelrecht Angst, dass der Balkon unter der Schneelast und unserem Gewusel abfallen könnte. Später gehen wir nach draußen. Vom Hindenburgdamm laufen wir über eine geschlossene Schneedecke in den Park mit dem Otto-Lilienthal-Denkmal. Gegenseitig spannen wir Kinder uns abwechselnd vor den Schlitten. Die Muttis lassen wir auch mal ziehen, doch sie geben ziemlich schnell wieder auf.

Die wenigen Tage in Westberlin sind für mich wie im Flug vergangen. An einem Tag standen wir sogar vor der meterhohen Betonmauer, die zusätzlich von Stacheldraht umhüllt ist. Dieses graue Ungetüm, das sich schier endlos durch die Stadt schlängelt, hat mich völlig sprachlos gemacht. Ich glaube, sie war mein allererster Kulturschock. Wie kommen erwachsene Menschen auf die Idee, eine solch hässliche Mauer mitten durch Berlin zu bauen? Ich will es nicht verstehen, und von Politik habe ich in meinem Alter sowieso noch keine Ahnung.

Heute, an unserem letzten Tag in Berlin, gehen Folkert und ich zusammen mit meiner Mama bei eisigen Temperaturen in den Zoo. Bei diesen Wetterverhältnissen muss Mutti besonders gut auf uns zwei Quatschmacher aufpassen. Um das Geländer eines Tiergeheges hat sich eine dicke Eisschicht gebildet. Ehe wir uns versehen, streckt Folkert seine Zunge heraus und versucht, daran zu lecken. Mama, plötzlich kreidebleich im Gesicht, schreit gerade noch so: »Nein! Nicht!«

Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, an dem gefrorenen Geländer zu lecken, weiß aber nicht, was daran so schlimm sein soll. Das wird mir jetzt aber ziemlich schnell klar. Ein klitzekleines Stückchen von Folkerts Zunge, die das Eis doch berührt hat, bevor er erschrocken aufgehorcht hat, ist abgerissen und klebt jetzt am Geländer. So schnell muss sie festgefroren sein. Die Zunge blutet aber nur ein kleines bisschen. Glück gehabt – und wieder eine Lektion gelernt!

Einige Schritte später – wir haben uns mittlerweile von dem Schrecken erholt – bleiben wir vor dem Becken mit den Seehunden stehen. Mir ist so kalt, dass ich zum Aufwärmen von einem zum anderen Ende der Beckenumrandung laufe. Dabei bemerke ich, wie ein einzelner Seehund meinem Gang folgt. Das entwickelt sich schnell zu einem richtigen Spiel. Er ist in seinem Element, dem Wasser, viel eleganter und schneller unterwegs als ich im Schnee zu Fuß. Neugierig lugt er immer wieder prustend aus dem Becken heraus und schaut, wo ich bin. Warum macht er das? Ob ihm langweilig ist? Spieltrieb? Jagdinstinkt? Ich finde es lustig. Egal, wo ich jetzt stehen bleibe, – er hält Ausschau nach mir und kommt in dieselbe Richtung hinterher, in der ich mich am Beckenrand bewege. Vom Rennen ist mir inzwischen ganz warm geworden. Am liebsten will ich hier gar nicht weg, aber wir gehen weiter. Schweren Herzens verabschiede ich mich von meinem neuen Spielgefährten.

Noch viel schwieriger gestaltet sich am nächsten Tag der Abschied von Westberlin. In der DDR herrscht nach dem katastrophenartigen Wintereinbruch weiterhin das totale Schneechaos. Meterhohe Schneeverwehungen haben den kompletten Eisenbahnverkehr zum Erliegen gebracht – nichts geht mehr. Damit haben wir und viele andere Menschen, die nach Hause wollen, nicht gerechnet. Länger bleiben können wir auch nicht, denn Mama muss morgen zurück ins Büro. Da ist Improvisation gefragt! Unsere abenteuerliche Situation finde ich spannend. Bis die Schule wieder beginnt, dauert es noch ein paar Tage. Zu gern würde ich noch ein wenig länger bei Dorte und Folkert in Westberlin bleiben. Aber das geht leider nicht.

Und tatsächlich finden wir eine Lösung: Dorte bringt uns zum Flughafen Berlin-Tegel. Mit viel Glück ergattern wir die letzten beiden Sitzplätze in einem Flieger nach Frankfurt am Main. Pan Am ist die einzige Fluggesellschaft, die aus Westberlin durch die Luftkorridore über der DDR andere deutsche Flughäfen anfliegen darf. Dorte leiht Mama sogar noch das Geld für die Flugtickets, weil wir damit natürlich nicht gerechnet haben. Sonst hätten wir tatsächlich bleiben müssen.

Ich habe keine Zeit, mich richtig auf den ersten Flug meines Lebens zu freuen oder gar Angst davor zu haben. Alles geht viel zu schnell. Kaum haben wir die Tickets bezahlt, müssen wir uns verabschieden und rennen auch schon mit unserem kleinen Gepäck zum Flugzeug. Als letzte Gäste lassen wir uns auf die vorderen Plätze plumpsen und schnallen uns an. Wenige Minuten später rollen wir zur Startbahn, beschleunigen, heben ab und schwingen uns mit dröhnenden Motoren in die Lüfte. Ich summe das Lied Über den Wolken von Reinhard Mey vor mich hin und schaue hinunter auf das geteilte Berlin, das aus meiner Perspektive ganz wie aus einem weißen Schneeguss gezaubert aussieht und dessen Häuser mich an weihnachtliche Lebkuchenhäuschen mit Zuckerdächern erinnern. Doch nur hier oben scheint die Freiheit hinter dem langen Zaun und der hohen breiten Mauer wohl grenzenlos zu sein.

Aber bitte mit Toffee!

Juni/Juli 1981

In der neunten Klasse, mit 15 Jahren, spielte sich mein Leben vorwiegend im altsprachlichen Lessing-Gymnasium ab – seit der fünften Klasse lerne ich Latein, und dieses Jahr ist Altgriechisch dazugekommen. Beides tote Sprachen, für die ich täglich neben anderen Hausaufgaben jede Menge neue Vokabeln büffeln muss. Dabei würde ich so viel lieber Französisch, Spanisch und Italienisch lernen – Sprachen, in denen man sich tatsächlich mit Leuten unterhalten kann! Stattdessen übersetze ich uralte Texte, die ich in meinem Alter alles andere als spannend finde.

Ich wünsche mir seit Jahren nichts sehnlicher, als eine bessere Schülerin zu sein. Das will mir leider auch mit Nachhilfe in Mathe und Latein nicht gelingen. In Physik, Biologie und Altgriechisch sieht es leider auch nicht viel besser aus – aber wenn ich in diesen Fächern auch noch Nachhilfeunterricht nehmen würde, hätte ich gar keine freie Zeit mehr. Meine schlechten Noten haben nichts damit zu tun, dass ich faul, schlampig oder unaufmerksam wäre. In Kunst, Geschichte und Sport bin ich gut und in den restlichen Schulfächern Mittelmaß. Lernen tue ich auch genug, daran liegt es nicht. Aber es ist für mich eher eine leidige Pflicht – mein Herz ist nicht wirklich mit dabei. Und dann ist da natürlich noch meine Prüfungsangst, die das Ganze auch nicht besser macht. Oft habe ich mich super vorbereitet, wie verrückt gepaukt, und wenn ich dann die Fragen lese, ist plötzlich alles weg. Mein Kopf ist so leer, als hätte ich kurz vorher mein Gehirn beim Hausmeister abgegeben.

Meine Stärke liegt eindeutig eher im Umgang mit Pferden und anderen reitbegeisterten Menschen. Zum Ausgleich bin ich neben der Schule weiterhin regelmäßig im Reitstall in Hofheim am Taunus, der mittlerweile zu meiner innig geliebten zweiten Heimat geworden ist. Unter den pferdevernarrten Mädchen, ein paar Jungen und vielen Erwachsenen fühle ich mich wohl. Das ganze Jahr über ist im Stall mit den rund vierzig Pferden, dem Schäferhund Kuno, ein paar Katzen und natürlich uns Zweibeinern jede Menge los. Hier finde ich Halt, kann völlig in diese Welt eintauchen und vergesse meine Sorgen in der Schule. Der Hof dient mir auch als Familienersatz und macht es erträglich, dass mein Vater seit fünf Jahren keinerlei Interesse mehr daran zeigt, mich zu sehen. Ein anderes Mädchen, dem es mit ihrem Papa genauso geht, ist mir noch nie begegnet, – damit fühle ich mich ziemlich allein.

Für die Pferde übernehme ich viel Verantwortung. Sie werden immer zuerst versorgt, danach sind wir Reiter dran. Wenn es den Tieren gut geht, bin auch ich glücklich. Seit ein paar Monaten gebe ich Anfängern sogar Reitunterricht und verdiene damit meine ersten paar Mark. Dabei lerne ich, wie viel Spaß es mir macht, anderen etwas beizubringen. Auf diese Weise entwickle ich viel Geduld, die ich oft mit mir selbst nicht habe, und fühle mich richtig erwachsen. Mein Durchhaltevermögen wird durch das Reiten ebenfalls trainiert: Obwohl ich kein eigenes Pferd habe, durfte ich vor anderthalb Jahren das Jugend-Reiterabzeichen in Bronze auf meinem Lieblingspferd Zar, einem schlanken Fliegenschimmel aus Ungarn, machen. Beim Springtraining in der Halle fiel ich mehrere Male schon vor dem Hindernis vom Pferd, das aus vollem Galopp heraus plötzlich stehen geblieben war. Kaum unsanft auf dem Hallenboden gelandet, stand ich sofort auf, schwang mich wieder auf das Tier und machte weiter. Aufgeben? Ich? Bestimmt nicht! Überglücklich bestand ich am Ende zusammen mit den anderen die Prüfung in Dressur, Theorie und Springen und darf seitdem sogar an Turnieren in der Umgebung teilnehmen.

In diesem Sommer ist das 25-jährige Jubiläum des Reitstalls, an dem ich in einer Quadrille auf meinem Lieblingspferd mitreiten darf. Dabei sein ist für mich alles! Aber ausgerechnet in dieser Zeit will mich meine Mutter zu einem Sprachkurs nach England schicken. Für mich steht fest: Ich will nicht nach England!

Verzweifelt versuche ich, meine Mutter zu überreden: »Kann ich nicht erst in den letzten drei Wochen der Schulferien nach England gehen? Ich möchte so gern bei der Jubiläumsveranstaltung mitreiten!«

Meine Mutter ist total enttäuscht, weil sie mir mit dem Aufenthalt im Ausland eine Freude machen wollte. »Das geht leider nicht. Ich habe schon eine Anzahlung für den Zeitraum geleistet. Du warst doch vor zwei Jahren so gern in England zum Reiten und beim Sprachkurs in Bournemouth«, erinnert sie mich.

Das stimmt, aber statt ihr dankbar zu sein, wieder nach England zu dürfen, veranstalte ich das wohl größte Theater meines bisherigen Lebens. Ich werde zur Dramaqueen: Wie ein kleines Kind flenne ich, bin hochfrustriert und werde wütend – das volle Programm. Mir ist alles egal. Auch bei der Anmeldung zum Sprachkurs kann ich mich nicht beherrschen. Obwohl meine Mutter meinetwegen vor Scham fast im Erdboden versinkt, lässt sie nicht locker. Es hilft alles nichts: Ich muss nach England!

Kurz nach Ferienbeginn ist es so weit! Am letzten Samstag im Juni bringt mich meine Mutter zum Flughafen. Ob sie wohl Angst hat, ich könnte vorher noch abhauen? Dafür bin ich doch viel zu anständig! Stattdessen werde ich heute zum zweiten Mal ein Flugzeug besteigen. Vor zwei Jahren war ich zum Sprachkurs in England noch den ganzen Tag mit dem Zug, Schiff und Bus unterwegs.

Am Abflugschalter lerne ich zuerst Beate aus Wiesbaden kennen, die mit ihrem Vater vor uns in der Schlange steht. Ich beneide sie sofort glühend heiß um ihre blonden lockigen Haare, die durch zwei weiße Klammern an ihren Schläfen gebändigt werden. Meine Haare sind so langweilig glatt wie Schnittlauch, nur viel dünner. Kaum geschnitten, hängt mein im Turbomodus wachsender Pony mir schon wieder in den Augen. Zu ihrer Lockenpracht trägt Beate ein sportliches hellrosa Sweatshirt und bequeme Jeans und Turnschuhe. Sie ist mir sofort sympathisch, und wir unterhalten uns aufgeregt. Nach ein paar Minuten stellen wir fest: Wir gehören dem gleichen Jahrgang an – unsere Geburtstage im Februar liegen nur eine Woche auseinander. Auch ihre Eltern sind geschieden. So haben wir schon eine Menge gemeinsam.

Zwei zwölfjährige Mädchen, die von ihren Eltern gebracht werden, gesellen sich zu uns. Isabel und Talin kennen sich schon länger aus der Schule und kommen ausgerechnet aus Hofheim! Während Isabels dunkelblonde Locken und die lebhaften grünen Augen ihr eine offene Ausstrahlung verleihen, hat Talin einen viel dunkleren Teint, warme schwarze Augen und lange schwarze Haare, die sie in einem Pferdeschwanz aus ihrem schmalen Gesicht gebunden hat. Sie ist armenischer Herkunft, was sie Beate und mir jetzt erst einmal erklären darf. Wie oft sie das wohl schon tun musste? Für mich ist Armenien nichts weiter als eine Region in der unendlich weit entfernten, abgeschotteten Sowjetunion, über die ich in der Schule noch nichts gelernt habe.

Auf Anhieb fühle ich mich wohl mit den drei Mädels. Allmählich beginne ich, mich auf den Sprachaufenthalt in St. Leonards-on-Sea/Hastings in East Sussex zu freuen.

Im Flugzeug sitze ich neben Beate. Wir schnattern wie zwei aufgeregte Gänse, so viel haben wir uns zu erzählen. Schwuppdiwupp sind wir über den Ärmelkanal geflogen und landen auf dem Flughafen Gatwick südlich von London. Die Flugzeit ist ungefähr genauso kurz wie bei meinem ersten Flug vor zweieinhalb Jahren. Kaum sind wir oben, geht es kurz darauf auch schon wieder runter.

Am Flughafen werden wir von einem Angestellten der Sprachschule abgeholt. Zu viert passen wir bequem mit ihm in ein Auto, in dem er uns anderthalb Stunden durch die ländliche, leicht hügelige Landschaft von Sussex kutschiert. Am Ziel angekommen, wird eine nach der anderen bei ihrer Gastfamilie abgeliefert. Als Letzte werde ich vor einem typisch englischen Reihenhaus an der Marina, der Küstenstraße, abgesetzt.

Meine Gasteltern Kath und Norman empfangen mich herzlich mit einer Tasse schwarzem Tee mit Zucker und ohne Milch. Durch seine Brille mit dem silberfarbenen Gestell zwinkert der große, schlanke Norman mir freundlich zu. Kath ist wesentlich kleiner als ihr Mann, hat wachsame braune Augen und kurze blond gefärbte Haare. Die beiden teilen sich ihre geräumige Wohnung mit dem Hund Perry, einem braun-weißen Jack Russell Terrier, und dem grau-weißen Kater Ary.

Ich bin sofort von Mensch und Tier begeistert. Den Hund darf ich sogar mitnehmen, als ich am Nachmittag bei herrlichem Wetter meine Umgebung erkunde. Das Kofferauspacken verschiebe ich auf später. Voller Lebensfreude zeigt mir der quirlige Rüde an seiner roten Leine, wo es langgeht. Wir überqueren einen Zebrastreifen, wo ein mehrere Tonnen schwerer Lkw mit quietschenden Bremsen für uns stehen bleibt, und durchqueren auf der anderen Seite der Straße die Grosvenor Gardens bis zur Sea Road. Dahinter führt schon eine Treppe an den Kieselstrand. So nah bin ich am Meer, besser gesagt am Ärmelkanal. Er verbindet den Atlantik mit der Nordsee. Die Sonne scheint, es weht eine frische Brise, der Hund schnüffelt begeistert umher – und mich durchströmt ein Glücksgefühl, wie ich es sonst nur beim Umgang mit den Pferden erlebe. Ich bin nicht nur einfach so da, wo ich gerade bin. Ich fühle mich willkommen und gut aufgenommen. Zum ersten Mal spüre ich, was ich vorher noch nie empfunden habe: Ich bin angekommen! Dass ich hier bin, hat einen tieferen Sinn. Den kann ich zwar gerade noch nicht so richtig erfassen, aber irgendwas hier fühlt sich ganz und gar richtig an.

Am Abend lerne ich meine italienische Zimmergenossin kennen, die tagsüber auf einem Ausflug gewesen ist. Die braun gebrannte Stephania kann nur wenig Englisch, und ich nur ein paar vereinzelte Brocken Italienisch, trotzdem kriegen wir das mit der Verständigung irgendwie hin. Gemeinsam fahren uns unsere Gasteltern am nächsten Tag in das wenige Kilometer entfernte Städtchen Rye. Der Bilderbuchort verzaubert mich sofort mit seinen kleinen Straßen und typisch englischen Geschäften, die sogar am Sonntag geöffnet haben. An einem großen Stück Toffee, das von durchsichtigem Papier mit einer blauen Schrift umhüllt ist, komme ich in einem kleinen Laden mit Süßigkeiten nicht vorbei. Die Leckerei ist klebrig-süß und wird nur durch ausgiebiges Lutschen weich. Bis ich es – nicht in einem Schwung – komplett weggelutscht habe, werden einige Tage vergehen. Es schmeckt besser als alle Karamellbonbons, die ich jemals zuvor gegessen habe.

Von hier aus geht es weiter zum Pier in Hastings – und es ist Liebe auf den ersten Blick! Auf den Brettern über dem Wasser, die einen erstaunlich großen Gebäudekomplex tragen, ist ordentlich was los. Familien mit Kindern tummeln sich draußen an den Buden und stehen drinnen vor den Spielautomaten, die sich mit nur ein bis zwei Pence bedienen lassen. Ich komme mir vor wie in einem Mini-Casino, in dem ich mir mit fünfzig Pence lange genug die Zeit vertreiben kann.

Auf dem Heimweg zeigen mir meine Gasteltern noch, wo die Sprachschule ist. So weiß ich, wo ich morgen früh um acht Uhr dreißig sein muss.

Erst am Montag sehe ich meine drei Mädels in der Embassy School of English am Warrior Square wieder. Aber zuerst lerne ich Debbie im Büro kennen. Auf ihrem Tisch liegen jede Menge Unterlagen. Die sympathische junge Frau aus Nordirland begrüßt mich mit meinem Vornamen, bevor ich ihn ihr überhaupt sagen kann. Ich bin platt. Neugierig frage ich sie: »Woher weißt du meinen Namen?«

Lächelnd antwortet sie: »Ich habe mich um eure Anmeldungen gekümmert und euch den Gastfamilien zugeteilt, so weiß ich alle Namen.«

»Toll«, strahle ich und schiebe gleich hinterher: »Meine Gasteltern sind super! Und an der Strandpromenade entlang kann ich so schön zur Schule laufen … Das ist perfekt.« Fast komme ich aus dem Schwärmen nicht mehr heraus.

Vor Unterrichtsbeginn bekommen wir internationalen Neuankömmlinge eine kleine Führung durch die Räume der Sprachschule und werden den Organisatoren vorgestellt. Um rund zweihundert Studenten kümmert sich die Schule jede Woche. Last but not least machen wir nach diesem freundlichen Empfang noch einen Einstufungstest.

Ich komme in eine Klasse mit acht weiteren Teenagern aus verschiedenen europäischen Ländern. Das gefällt mir. Wir haben von Montag bis Freitag vormittags wie nachmittags Unterricht, mit einer längeren Pause dazwischen. Danach gibt es Aktivitäten, an denen wir teilnehmen können. Englisch zu lernen, ist hier ein Vergnügen – und ich werde mit ungeahnten Erfolgserlebnissen buchstäblich überhäuft. Schokolade interessiert mich nicht mehr: Englisch, schwarzer Tee und Toffee tun es auch.

Was es nicht tut: die typisch englischen Weißbrotscheiben, die mit Thunfisch, einem Stück Tomate und Salatblättern belegt sind. Die labbrigen quadratischen Scheiben sind mittags aufgeweicht, die Salatblätter längst welk. Kein besonders leckerer Lunch, über den sich besonders die italienischen Gastschüler zur Mittagszeit gern lustig machen. Denn Lunch klingt ähnlich wie das italienische Wort »lanciare« – zu Deutsch »werfen«. Und das tun viele am Kieselstrand dann auch. Die Möwen freuen sich über die entsorgten Brotscheiben. Ich schließe mich den Italienern gern an: Den Thunfisch und das Stück Tomate esse ich noch, dann überlasse ich den unappetitlichen Rest auch lieber denen, die sich daran freuen …

Nach fünf Tagen Unterricht in England kann ich sagen: Ich habe hier in so kurzer Zeit schon mehr für den Alltagsgebrauch gelernt als in vielen Monaten Gymnasialunterrichts daheim. An diesem Abend bin ich mit dem Lehrer Simon, den Organisatoren Debbie und Andy sowie einigen Schülern zum ersten Mal in einem urigen englischen Pub. Vor der Theke aus dunklem Holz stehen hohe Barhocker und im Raum sind ein dunkelrotes, nicht mehr ganz so neues Ledersofa und ein paar Sessel, Tische und weitere Stühle verteilt. Es gibt einen Billardtisch und eine Dartscheibe.

Mit Dartpfeilen auf eine Scheibe gezielt und dabei relativ gut getroffen habe ich schon mal. Billard spielen kann ich noch nicht. Wie das geht, bekomme ich jetzt von Andy gezeigt. Anfangs stelle ich mich ziemlich ungeschickt an. Ich weiß gar nicht, wie ich den Queue locker halten und nach vorn stoßen soll, ohne dabei jemanden hinter mir ernsthaft zu verletzen. Entweder der lange Spielstab rutscht mir von der Hand und trifft die weiße Kugel nur am Rand, was sie lediglich drei Zentimeter vom Fleck bewegt. Oder ich stoße so heftig zu, dass sie – ups – über den Tischrand auf den Boden springt. Ich kugle mich fast vor Lachen über meine Missgeschicke und werde dabei ganz rot im Gesicht. Und auch auf die unbeteiligten Zuschauer, die sich angeregt unterhalten, hat mein fröhliches Gelächter eine ansteckende Wirkung. Hauptsache, keiner hinter mir kriegt bei dem Spaß meinen Queue in empfindliche Stellen.

Der Umgang mit den Menschen hier ist so locker und lustig. Ich fühle mich überhaupt nicht fremd. Mit den humorvollen Engländern und den glücklichen Sprachschülern könnte es mir nicht besser gehen. Ich bleibe mit ihnen bis zur letzten Runde im Pub und will mich am liebsten gar nicht von dieser unbeschwerten Atmosphäre trennen. Als ich später die knappe Meile entlang der Strandpromenade bei sternenklarem Himmel nach Hause gehe, bleiben meine Gedanken lange bei diesem abwechslungsreichen Abend hängen. Erst um Mitternacht falle ich erschöpft von der Woche ins Bett.

Am Samstag machen wir einen Ausflug nach London. Zuerst bekommen wir ein paar Sehenswürdigkeiten vom Bus aus gezeigt. Danach dürfen wir für mehrere Stunden die Hauptstadt auf eigene Faust erkunden. Natürlich tue ich mich gleich mit Beate zusammen!

Vor zwei Jahren war ich schon einmal auf einer Tagestour in der größten Stadt Großbritanniens. Der Aufenthalt hängt mir leider eher unangenehm in Erinnerung. Ahnungslos hatte ich mich damals mit meinen 13 Jahren als Zweitjüngste einer ausschließlich deutschen Gruppe Jugendlicher ein paar Mädchen angeschlossen, die alle ein paar Jahre älter waren als ich. In einem der Läden in der Oxford Street beschlossen sie plötzlich, etwas zu klauen, obwohl sie es eigentlich nicht nötig hatten. Das Ganze war wohl eher als Mutprobe gedacht. Sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, schaffte ich nicht, wegrennen konnte ich auch nicht. Mich unschuldig aus dem Diebeszug rauszuhalten, klappte gerade noch so, ohne dass sie es mir übel nahmen. Ich kann eins der Mädchen noch immer sehen, wie sie mit ihren geflochtenen blonden Zöpfen direkt vor mir steht und den Mund aufmacht: Lauter bunte Haarspangen und Klämmerchen liegen auf ihrer Zunge – alles geklaut. Dieses merkwürdige Bild kriege ich seitdem nicht mehr aus meinem Kopf.

Ausgerechnet diese Geschichte ruft plötzlich eine traurige Erinnerung aus meiner Kindheit wach: Ich war etwa acht Jahre alt und habe gern mit zwei Nachbarinnen aus der Wohnung über uns gespielt. Ihre Mutter und deren Freund, der Vater der jüngeren Tochter, gönnten den beiden so gut wie nichts. Im Wohnzimmer stand ein Glas mit abgezählten Bonbons – nehmen durften sie sich davon nichts. Die Ältere wurde sogar mit einer Kleiderbürste verprügelt. Die beiden Mädchen hatten regelrecht Angst vor ihren Eltern, die sie oft allein zu Hause ließen. Eines Tages bemerkte ich beim Spielen in ihrem Zimmer eine Puppe, die ich zu Hause ebenfalls hatte. »So eine habe ich auch«, rief ich aufgeregt. Wieder in meinem Zimmer fiel mir auf, dass genau diese Puppe fehlte, und nicht nur die. Statt wütend zu werden, weil meine Freundinnen mich beklaut hatten, wurde ich traurig. Die beiden taten mir leid. »Warum habt ihr mich nicht einfach gefragt, ob ihr die Sachen haben könnt?«, fragte ich sie. »Ich hätte sie euch doch gern gegeben!«

Sie weinten und schämten sich. »Wir bekommen von unseren Eltern doch nichts. Und haben uns einfach nicht getraut, dich zu fragen.«

Ich hatte so viel Mitleid mit ihnen. »Ihr könnt die Spielsachen behalten. Ich hab doch sowieso genug!« Doch sogar das verboten ihre Eltern. Sie mussten die Geschenke zurückgeben.

Die negativen Gedanken sind schnell verflogen. Mein Aufenthalt in London ist kein Vergleich zum letzten Besuch. Stehlen, auf so eine Idee würde auch Beate nie kommen. Entspannt spazieren wir zum Piccadilly Circus, schlendern durch die Geschäfte der Oxford Street, bestaunen die Westminster Abbey, und ausgerechnet bei den Horse Guards angelangt, passiert mir dann etwas Unglaubliches. Plötzlich sehe ich zwei bekannte Gesichter vor mir: Birgit und Dagmar aus dem Hofheimer Reitstall! Sprachlos traue ich zuerst meinen Augen nicht, dann sprudelt es aus mir heraus: »Was macht ihr denn hier?« Im gleichen Moment denke ich: Was für eine blöde Frage! Wahrscheinlich dasselbe wie wir … Und schiebe hinterher: »Ich wusste gar nicht, dass ihr in England seid! Wo macht ihr euren Sprachkurs?« – »Wie lustig! Wir sind in Ramsgate.« Wir unterhalten uns noch eine Weile, bevor wir wieder getrennte Wege gehen. Das ist neu – Bekannte in einem anderen Land treffen.

Unser Ausflug nach London ist der perfekte Abschluss meiner ersten Woche in England. Was, eine Woche schon? Die Zeit vergeht viel zu schnell … Ich will nicht, dass sie jemals zu Ende geht! Hier an der Küste haben wir jeden Tag herrlich warmes Wetter, und England zeigt sich uns von seiner schönsten Seite. Nur selten gibt es ein paar Regenschauer. Es ist fast so, als würde während meines Aufenthalts jemand die Regenwolken extra für uns zur Seite blasen, damit wir so richtig viel Spaß haben können.

Jede Woche bekommen wir ein neues Programm voller Aktivitäten geboten. Mit den Organisatoren spielen wir Frisbee, Ball und Badminton im Park und gehen gemeinsam zum Rollerskating. Ein italienischer Abend findet in der Christchurch statt. Im Yelton Hotel wird für uns eine Disco veranstaltet. Eine weitere Tagestour führt uns nach Brighton. Und mehrere Male lande ich zum Ausklang eines wundervollen Tages mit den anderen bis spät abends im Pub. Noch nie habe ich so viele Leute aus ganz Europa auf einem Haufen getroffen. Und es wird einfach nicht langweilig.

Am vorletzten Abend komme ich bei einem Tischtennisturnier im Keller der Sprachschule mit einem blonden kurzhaarigen Mädchen aus Flensburg ins Gespräch. Auf ihrem roten T-Shirt prangt ein schwarzer Pferdekopf. Anne reitet auch und hat sogar ein eigenes Pferd. Erst letzten Samstag ist sie hier angekommen und hat noch zwei Wochen vor sich. Sie hat es gut – ich beneide sie! Zu gern würde ich meine Mutter fragen, ob ich verlängern darf. Sie würde bestimmt staunen, wie brav ihre anfangs so widerspenstige Tochter geworden ist. Doch die Reise war teuer genug für sie. Noch mehr Kosten will ich ihr nicht aufbürden.

Zusammen mit Anne mache ich mich über die kitschigen Preise für die Gewinner lustig. Es sind Teller, Tassen und sonstiger Schnickschnack mit den Konterfeis von Prinz Charles und Diana, die in zwölf Tagen heiraten werden. Das ganze Land scheint deswegen in einem ekstatischen Ausnahmezustand zu sein. Alle fiebern dem großen Ereignis von Tag zu Tag mehr entgegen. An diesem Abend stört es mich ausnahmsweise nicht, beim Tischtennis zu den Verlierern zu gehören.

Am letzten Tag findet zum krönenden Abschied unseres Sprachkurses noch ein wunderbarer »English Folk Dancing Evening« statt. Den letzten Tanz des Abends schmettere ich mit dem witzigen Englischlehrer Simon aufs Parkett, der hervorragend Deutsch mit schwäbischem Akzent spricht, weil er mal in Stuttgart gearbeitet hat. Dummerweise knicke ich dabei mit dem rechten Fuß so ungeschickt um, dass ich nicht mehr richtig auftreten und nur noch humpeln kann. Simon tut es sichtlich leid. Aber was kann er für mein Malheur? Der Fuß wird zum Glück nicht dick, grün oder blau. Er tut nur weh. Viel mehr schmerzt mich jedoch der Abschied von allen, den wir später im Pub feiern. Ich weiß genau, dass ich viele von ihnen nie wiedersehen werde.

Am nächsten Morgen bekomme ich von meinen Gasteltern noch zwei Toffees geschenkt. Lachend zeige ich ihnen weitere zwanzig Stück, die ich mir im Laufe der letzten Tage schon als Vorrat für zu Hause angelegt habe. Der muss bis zum nächsten Besuch in England reichen. Denn ich komme bestimmt wieder. Da bin ich mir ganz sicher. Mein Fuß tut heute noch mehr weh, doch das ist nichts verglichen mit dem brennenden Abschiedsschmerz. Tapfer humple ich mit denselben drei Mädels, mit denen ich auch angekommen bin, zurück über den Flughafen Gatwick. 22 Toffees und viele Geschenke liegen in meinem Koffer. Vor allem aber nehme ich wunderbare Eindrücke und ganz besondere Erinnerungen mit nach Hause. Ich bin diesem Land und seinen Menschen so unendlich dankbar. Sie haben mein Herz für eine andere Welt geöffnet. Ich könnte ins Universum hinaus oder zumindest über den Ärmelkanal schreien: Ich will in England bleiben!

Vive la vie à Paris

März/April 1985