Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Gluthitze des Sommers liegt bleiern über der Pfalz. Auf einem abgelegenen Feld macht Landwirt Franz Steiger eine grauenhafte Entdeckung: In seiner Strohballenpresse liegt eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche. Für Hauptkommissarin Anna Kastner beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Wer ist der Tote? Und war es ein Unfall oder Mord? Die Ermittlungen führen Anna Kastner zunächst nach Paris, auf die Spur des Kunsthistorikers Hugo de Louvois, der als vermisst gemeldet wurde. Und dann ist da noch Ben Wederquist, Sohn eines bekannten New Yorker Galeristen. Was verband die beiden Männer? Und welche Rolle spielt ein lang verschollenes Meisterwerk von Renoir, Zwei Frauen im Garten, das de Louvois verzweifelt sucht? Die Suche nach Antworten führt Anna Kastner zum Lanzenbrunnen, dem Hof der Familie Steiger. Hier stößt sie auf ein Netz aus Schweigen, Lügen und verborgenen Geheimnissen aus der Vergangenheit. Denn Frieda Steiger, die Mutter des Landwirts, hütet ein dunkles Geheimnis aus der Zeit des Nationalsozialismus. "Feuer.Kunst" ist ein spannender Kriminalroman, der die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte mit einem aktuellen Fall von Raubkunst und einer Leiche verbindet.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
ALEXANDRA SEIDL war über zwanzig Jahre Internationale Marketing- und PR-Verantwortliche in IT-Unternehmen in Mannheim und Kaiserslautern. Sie wurde 1968 in Worms geboren, zog als Kind nach Frankreich und wuchs dort an der Grenze zu Genf (Schweiz) auf. Das Studium der Rechtswissenschaften, später der Betriebswirtschaftslehre führte sie zurück nach Heidelberg und Mannheim. Heute lebt sie in Kaiserslautern und an der Côte d´Azur. Die Autorin ist zweisprachig aufgewachsen und ihr Erstlingswerk führt den Leser neben Kaiserslautern nach Paris. Sie verbindet präzise Recherche mit Kreativität und hat den ersten Band einer spannenden Lokal-Krimi-Reihe über Kaiserslautern geschrieben.
Mehr zur Autorin unter: www.alexandraseidl.de
Ein K-Town Krimi
www.ktownkrimi.de
KAPITEL 1
JULI 2018
KAPITEL 2
SOMMER 1942
JULI 2018
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
ELF TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
SOMMER 1942
JULI 2018
KAPITEL 11
ELF TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 12
KAPITEL 13
SOMMER 1942
JULI 2018
KAPITEL 14
KAPITEL 15
ACHT TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 16
SOMMER 1942
JULI 2018
KAPITEL 17
KAPITEL 18
ACHT TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 19
SOMMER 1942
JULI 2018
KAPITEL 20
KAPITEL 21
SIEBEN TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 22
KAPITEL 23
AUGUST 1945
JULI 2018
KAPITEL 24
FÜNF TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 25
DREI TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
ZWEI TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
ZWEI TAGE VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
EIN TAG VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 36
KAPITEL 37
EIN TAG VOR DEM LEICHENFUND
KAPITEL 38
KAPITEL 39
Franz Steiger entschloss sich, an diesem Morgen früher als sonst aufs Feld zu fahren. Je schneller er das Stroh verarbeiten würde, desto weniger Zeit würde er im Traktor verbringen müssen. Es war Anfang Juli und in den letzten Wochen war es nach turbulentem Wetter mit teils sturzflutartigen Regenfällen immer heißer geworden. Auch der heutige Tag versprach wieder viel Sonne und Temperaturen über dreißig Grad. Es war zum Verrücktwerden. Erst hatten die Unwetter seinen Feldern zugesetzt, jetzt die trockene Hitze. Franz Steiger zog es deshalb vor, die Ernte schon jetzt einzuholen, bevor sie Schaden nahm. Er bestieg seinen Traktor um sechs Uhr morgens, und auch wenn es noch angenehm kühl war, wusste er, dass er in ein paar Stunden zu seinem Leidwesen, die Klimaanlage würde einschalten müssen. Diese war für ihn Fluch und Segen zugleich: Er hatte beim Kauf seiner neuen Landmaschinen besonders darauf geachtet, dass sie jeden Schnickschnack boten, den die Technik heute ermöglichte. Besonders gefreut hatte er sich über die Klimaanlage. Damals wusste er noch nicht, dass er diese nur schlecht vertrug und schreckliche Halsschmerzen bekam, wenn er dem kühlen Luftstrom längere Zeit ausgesetzt war. Deshalb schaltete er diese mittlwerweile so selten wie möglich ein. Ganz würde er aber heute nicht darum herumkommen. Das war ihm klar.
Er packte sich zwei Flaschen Mineralwasser ein. Dann rief er nach Bella, seiner Labradorhündin. Er konnte an diesem Morgen ihre Gesellschaft gut gebrauchen. Das Wochenende hatte er bereits mit Arbeit auf den Feldern verbracht und kaum eine Menschenseele außer seiner Mutter zu Gesicht bekommen.
Franz Steiger war einsam und sehnte sich nach einer Frau, was er gegenüber Dritten natürlich nie zugegeben hätte. Er hatte es in den vergangenen Jahren verpasst, sich rechtzeitig um eine feste Beziehung zu kümmern. Heute, mit über siebzig, war er ein nahezu aussichtsloser Fall. Er hatte zwar ein, zwei Versuche unternommen, mit der ein oder anderen Frau aus der Gegend auszugehen, hatte sogar noch gelernt, mit dem Internet umzugehen, um über eine Dating-Plattform, wie man das heute neudeutsch nannte, ein paar Kontakte zu pflegen, aber wenn es soweit war, dass eine Frau sich näher für ihn interessierte, lief das Treffen fast immer nach dem gleichen Schema ab: Sobald sie erfuhr, dass er nur ein einfacher Bauer war, brach sie den Kontakt ab oder erfand irgendeine Ausrede, dass sie kein weiteres Treffen wünsche. Der Mensch, der sich hinter dem Landwirt Franz Steiger vom Lanzenbrunnen verbarg, interessierte keine der Frauen wirklich.
Seine Freunde am Stammtisch in Otterberg hatten sich oft über sein Junggesellenleben lustig gemacht. Sie hatten ihm geraten, sich doch mal im Fernsehen bei einer dieser Sendungen zu bewerben, bei denen Landwirte an interessierte Landwirtinnen oder solche, die es gerne werden wollten, vermittelt wurden. Das erschien ihm lächerlich und so hatte er es dabei belassen. Ab und zu fuhr er nach Saarbrücken ins Easy Love, einen Club, in dem er für einen guten Preis unkomplizierten Sex bekam. Und ehrlich gesagt reichte ihm das – meistens – auch, denn er musste sich keine Vorhaltungen anhören und konnte tun und lassen, was er wollte. Das Leben als Single hatte auch seine Vorteile. Nur überkam ihn eben manchmal eine Sehnsucht nach Zärtlichkeit – oder der Vorstellung von Zärtlichkeit, die er sich gemacht hatte. Empfangen hatte er nie welche, weder von seiner Mutter noch von einer anderen Frau. Seine wichtigste Bezugsperson, wenn man das sagen konnte, war seine Hündin Bella, die ihn fast immer begleitete.
Als er auf den Feldweg einbog und sich der Strohballenpresse näherte, spürte Franz Steiger plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Aber er konnte nicht sagen, woran es lag. Er schaute sich um, stellte jedoch nichts Außergewöhnliches fest. Dann auf einmal roch er, was ihn so beunruhigte. Es roch verbrannt. Und nun konnte er den Rauch auch schon sehen. Panik überkam ihn. Hatte seine Strohballenpresse durch das in der Maschine verbliebene Stroh womöglich Feuer gefangen? Bei dieser Hitze wäre das nicht verwunderlich und kam durchaus vor. In seiner Panik fiel ihm die Geschichte seines Nachbarn ein, dem vor drei oder vier Jahren das Stroh auf dem Feld in Flammen aufgegangen war und der dadurch seine ganze Ernte verloren hatte. Er fuhr so nahe wie möglich an das Gerät heran, ließ Bella vom Traktor springen, stoppte den Motor und stieg selbst von dem Fahrzeug herunter. Bella rannte sofort zur Strohballenpresse und fing laut zu bellen an. Noch kam ihm das normal vor, denn er wusste, dass Hunde ausgesprochen intelligente Tiere waren, besonders Bella.
Die Strohballenpresse stand zwar noch dort, wo er sie am Wochenende abgestellt hatte, aber sie war nicht mehr wiederzuerkennen. Von der Form her war das immer noch seine Strohballenpresse, aber die dunkelgrüne Lackierung war vom Ruß nahezu komplett überdeckt. Aus allen Ritzen drang Rauch, insbesondere weiter oben an der Maschine. Franz Steiger war geschockt. Er hatte sich diesen dunkelgrünen Koloss erst Anfang des Jahres gekauft und dafür über hunderttausend Euro gezahlt. Noch hoffte er, dass kein größerer Schaden entstanden war. Er wünschte sich, dass die Maschine noch funktionierte, damit er die Ernte einbringen konnte. Aber er ahnte bereits, dass das wahrscheinlich nicht der Fall war.
»Bella, komm hierher, ist gut, ist gut ... nur ein Feuerchen«, rief er ihr zu. Aber der Hund ließ sich nicht beruhigen. Sie sprang nach links und rechts, dann stellte sie sich auf die Hinterbeine und lehnte mit den Vorderläufen an der Strohballenpresse, um die Maschine aufgeregt anzubellen. Dann drehte sie sich wieder um und rannte aufgeregt auf ihn zu. Franz Steiger konnte sich keinen Reim auf Bellas Verhalten machen. Er war selbst zu aufgeregt, um ihr große Beachtung zu schenken.
Er ging um die Strohballenpresse herum, um diese genauer zu untersuchen. Hier und da waren Seitenteile der Maschine geschmolzen und es sah so aus, als ob sie sehr hohen Temperaturen ausgesetzt gewesen war. Franz wagte einen genaueren Blick. Das Feuer schien nicht mehr zu lodern, nur noch Rauch und Qualm, aber der Schaden war dennoch bereits angerichtet. Franz Steiger war fassungslos. Er lief zum hinteren Teil der Strohballenpresse, wo man über eine kleine Leiter auf die obere Galerie gelangen konnte. Der beißende Geruch war jetzt noch stärker geworden als im Traktor und löste bei Franz Steiger einen Hustenreiz aus. Er zog das noch ordentlich gefaltete Taschentuch aus seiner Hosentasche und band es sich vor den Mund, um den Rauch nicht weiter einzuatmen. Oben angekommen, sah er, dass direkt neben der Haube, die ins Innere der Strohballenpresse führte, ein großes Loch klaffte. Der Blitz musste in seine Maschine eingeschlagen haben. Als er die Haube öffnete, waberte ihm eine große Rauchwolke entgegen. Trotz des Mundschutzes musste er wieder kräftig husten. Das Stroh innerhalb der Maschine hatte sich offensichtlich entzündet. Er wollte genauer hineinschauen, um sich einen Überblick über den angerichteten Schaden zu verschaffen. Als er sich in das Innere der Maschine beugte, war der Rauch, der ihm entgegenströmte, so stark, dass er die Augen schließen musste. Er versuchte in die Maschine hineinzuspähen, konnte aber nichts erkennen. Er blinzelte mehrmals hintereinander, um dem Rauch zu entkommen, aber es half alles nichts. Im Inneren der Maschine war es zu dunkel und der starke Qualm tat sein Übriges. Er beschloss, sein Handy als Taschenlampe zu benutzen, und griff an seine Hosentasche. Diese war leer. Wahrscheinlich habe ich es im Traktor liegen lassen, dachte er.
Franz Steiger schlug also den Rückweg ein, um es zu holen. Am Traktor angekommen, war er schweißgebadet und nutzte die Gelegenheit, um einen Schluck aus seiner Wasserflasche zu trinken. Durch den Rauch hatte er einen trockenen Hals bekommen. Die noch kühle Frische des Wassers tat gut. Er griff nach seinem Handy, fest entschlossen, auch das Innere der Strohballenpresse nach etwaigen Schäden zu untersuchen. Als er wieder oben auf der Galerie war, hatte sich der Rauch durch die offene Haube schon etwas gelichtet. Er schaltete die Taschenlampenfunktion seines Mobiltelefons ein und leuchtete ins Innere der Maschine. Seine Augen mussten sich trotz des kleinen Lichtstrahls erst an die Dunkelheit dort gewöhnen. Nachdem er noch ein, zweimal geblinzelt hatte – seine Augen hatten jetzt angefangen, zu brennen und zu tränen – konnte er endlich Details erkennen. Er sah zunächst eine Art schwarzen Klumpen. Es musste ein ganzer Strohballen sein, der sich entzündet hatte. Komisch war nur, dass brennendes Stroh außer Asche nichts zurückließ. Was also war das da unten? Franz Steiger strengte sich an. Er wollte wissen, was da lag. Hatte sich vielleicht etwas von der Maschine gelöst und war ins Innere gefallen? Sein Blick folgte der schwarzen Kontur und plötzlich erkannte er eine völlig verbrannte Hand, die an einem ebenso schwarzen Arm hing.
Erschrocken trat er einen Schritt zurück. Er nahm all seinen Mut zusammen, um erneut ins Innere der Strohballenpresse zu blicken. Sein Verdacht bestätigte sich. Was er da vor sich sah, waren die Überreste eines Menschen, der bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Es durchfuhr ihn ein Schauder und er erschrak bis ins Knochenmark. Ein Würgereiz ergriff ihn, er riss sich das Taschentuch vom Gesicht, taumelte zurück, ließ das Telefon fallen und hielt sich rechtzeitig an der Reling fest, um nicht rücklings herunterzufallen. Es war ihm schwindelig. Auf allen Vieren krabbelte er zurück zur Leiter. Er wollte weg von diesem schrecklichen Anblick. Er konnte es nicht verstehen. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Wie hatte das nur passieren können? Er wollte nur noch so schnell wie möglich die Polizei benachrichtigen. Sein Handy lag glücklicherweise in greifbarer Nähe, und als er es wieder in Händen hielt, wählte er am ganzen Körper zitternd die Notrufnummer.
Als Anna Kastner am Tatort ankam, war alles schon polizeilich abgesperrt. Sie zeigte automatisch ihren Dienstausweis, bevor sie unter dem Absperrband durchlief. Die meisten der Kollegen kannten sie zwar, aber das Hinhalten ihrer Legitimation, um durch die Absperrungen zu gelangen, war zu einer automatischen Geste geworden, die sie selbst schon gar nicht mehr richtig wahrnahm, aber nach wie vor abrief, wenn sie die rot-weiß gespannten Plastikbänder um einen Fundort herum erreichte. Die Temperaturanzeige in ihrem Wagen hatte 25,5 Grad angezeigt, in der prallen Sonne auf dem Feld, kam es ihr jedoch viel heißer vor. Bereits kurz vor acht Uhr morgens schien die Sonne kräftig und die Temperatur kletterte stetig in die Höhe. Prinzipiell hatte sie nichts gegen einen schönen Sommer, auch nichts gegen Hitze, aber dann bitte irgendwo in Italien, am Strand, mit einem kühlen Getränk, am liebsten ein Lillet auf Eis und mit Tonic Wild Berry aufgefüllt – momentan ihr neuestes Lieblingsgetränk.
»Guten Morgen, Frau Kästner, vielen Dank, dass Sie so schnell kommen konnten«, rief eine junge Stimme von der Landmaschine herunter und riss Anna aus ihren Gedanken. »Es wurde eine menschliche Leiche hier in dieser Strohballenpresse gefunden.« Anna schaute nach oben, von wo sie die Stimme vernommen hatte, und sah eine hübsche, junge, blonde Frau, etwa Ende zwanzig auf der Galerie der Strohballenpresse stehen.
»Mein Name ist Kastner. Guten Tag. Danke für die Information. Weiß man schon, wer es ist?«
»Hm, ja natürlich, Frau Kastner. Bitte entschuldigen Sie. Ich bin noch nicht lange dabei und habe so meine Schwierigkeiten mit Namen. Nein, die Überreste der Leiche konnten wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht identifizieren. Wir werden sie in die KTU bringen und hoffen, dass wir trotz der hohen Temperaturen, denen die Leiche ausgesetzt war, noch Reste von DNS-Spuren finden, die uns vielleicht über die Identität des Opfers Auskunft geben können.«
»Ja, das wäre gut … Weiß man schon, wie die Person hierherkam?« Anna begab sich auf den Weg nach oben auf die Galerie der Strohballenpresse.
»Nein, leider auch nicht. Es könnte vielleicht ein Landstreicher sein, der heute Nacht Schutz vor dem Gewitter gesucht hat. Es sieht alles nach einem Unfall aus.«
»Das werden wir sehen. Lassen Sie mich mal einen Blick riskieren. Und Frau...?«
»Julia Schmidt. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich arbeite erst seit ein paar Wochen bei Herrn Noller in der Pathologie.«
»Ja, Frau Schmidt, wie gesagt, bitte veranlassen Sie, dass die Überreste so vorsichtig wie möglich in die KTU gebracht werden, und rufen Sie mich an, wenn Sie mehr wissen. Können Sie mir noch sagen, wer die Leiche gefunden hat?«
»Franz Steiger, ein Landwirt aus der Gegend. Ihm gehören die Strohballenpresse und das Feld hier. Er sitzt da drüben neben seinem Traktor. Ich glaube, er steht unter Schock.«
»Danke, ich höre dann von Ihnen.« Anna schaute sich die Leiche noch einmal genauer an und musste sofort an einen Fall von vor zehn Jahren denken, bei dem sie als junge, angehende Kommissarin mitgewirkt hatte. Damals war eine völlig verbrannte Leiche von einem zufällig am Gelterswoog vorbeigehenden Passanten gefunden worden. Die Identität des Opfers war damals unklar, bis einen Tag nach dem Leichenfund eine Vermisstenmeldung eingegangen war und einen Treffer ergeben hatte. Das Opfer war eine einunddreißigjährige junge Frau, Michaela Winkelmann, die damals ein Nachbar, ein gewisser Peter Zuflowsky, missbraucht und erwürgt hatte. Die Leiche hatte er anschließend in einen Teppich gewickelt und in seinem Auto zum Gelterswoog gebracht, um sie zur Verschleierung seiner Tat anzuzünden. Den Teppich hatte er an einem anderen Ort verbrannt. Auf Zuflowskys Spur war man damals dank eines Zeugen gekommen, der in den frühen Morgenstunden einen Feuerschein und vor allem Zuflowsky gesehen hatte. Er hatte ihn zweifelsfrei identifizieren können. Der Nachbar der Frau konnte mit Hilfe eines DNS-Abgleichs überführt werden. Es war ein schreckliches Verbrechen gewesen, das die ganze Umgebung in Schockstarre versetzt hatte, denn man ging doch davon aus, dass solche Taten nur in Großstädten passierten und nicht hier, mitten in der Westpfalz, in Kaiserslautern.
Anna erinnerte sich gut an diese grausame Tat. Sie vergaß nie ein Opfer, und aus eigener Erfahrung wusste sie, wie schmerzhaft es war, einen geliebten Menschen zu verlieren, umso mehr, wenn dieser einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Sie empfand es als ihre Pflicht, den Täter ausfindig zu machen. Eine Verbindung zum jetzigen Fall erschien Anna – nach kurzem Nachrechnen – allerdings ausgeschlossen, da Zuflowsky noch mindestens fünf Jahre in der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken mit anschließender Sicherheitsverwahrung vor sich hatte. Trotzdem nahm sie sich vor, hier einmal nachzuhaken für den Fall, dass der Täter wider Erwarten frühzeitig aus der Haft entlassen worden war.
Anna schaute zu dem Traktor und sah einen kräftigen Mann, der sich daran anlehnte. Zu seinen Füßen saß ein brauner Labrador, der immer wieder mitfühlend zu ihm aufblickte, als wollte er fragen, ob es seinem Herrchen gutginge. Sie lief hinüber zu Franz Steiger und stellte sich kurz vor.
»Guten Tag Herr Steiger. Mein Name ist Anna Kastner. Ich kümmere mich um den Fall. Ist das Ihr Feld, auf dem das große landwirtschaftliche Gerät steht?« Anna zeigte auf die Strohballenpresse.
»Hallo, ich bin Franz Steiger. Ja, das Feld ist meins und die Strohballenpresse gehört auch mir. Ich wollte gerade die Ernte einholen.« Er schaute betroffen zu Boden.
»Wissen Sie, wer da verbrannt sein könnte?«
Franz Steiger zögerte einen kurzen Moment. »Nein, keine Ahnung.«
»Haben Sie irgendjemanden gesehen, der auf dem Feld war, als Sie das letzte Mal hier waren? «
Franz Steiger schüttelte den Kopf. »Nein, niemanden.«
»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Oder haben Sie vielleicht in der Gegend einen Obdachlosen gesehen?« Franz Steiger schüttelte erneut mit dem Kopf. Er konnte offensichtlich zum jetzigen Zeitpunkt nichts zur Aufklärung des Geschehnisses beitragen. Anna überreichte ihm ihre Karte. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, Herr Steiger, rufen Sie mich bitte an. Außerdem komme ich morgen noch mal bei Ihnen vorbei, wenn es Ihnen wieder etwas besser geht. Dann können wir uns noch einmal ausführlich über das Geschehene hier unterhalten.«
Franz Steiger murmelte etwas wie: »Können wir machen.«
Anna reichte ihm die Hand, verabschiedete sich und ging zurück zu ihrem Wagen.
Als Anna wieder im Auto saß, war ihr etwas flau im Magen. Sie entschloss sich zu einem Zwischenstopp in Otterberg bei ihrer Lieblingsbäckerei, um einen Cappuccino zu trinken. Vielleicht würde sie ein Einback dazu essen.
Jedes Mal, wenn sie zu einem Fundort gerufen wurde und es eine Leiche gab, fing sie an, darüber nachzudenken, wer diese Person wohl gewesen war, welches Leben sie geführt hatte, wem sie die Nachricht des Todes würde überbringen müssen. Sie hatte viel Einfühlungsvermögen und konnte sich sehr gut in andere hineinversetzen, was oft von Vorteil war, wenn es darum ging, einen Fall aufzuklären. Aber es konnte auch hinderlich sein, wenn zu viele Emotionen im Spiel waren, und das wusste sie. Bereits in den ersten Jahren bei der Kriminalpolizei hatte man sie oft davor gewarnt, einen Fall zu sehr an sich heranzulassen, wenn sie sich während der Ermittlungen voller Elan in die Aufklärung gestürzt und ihrer Fantasie freien Lauf gelassen hatte. Sie wusste um ihre Schwäche und versuchte sie gegenüber den Kollegen, hauptsächlich gegenüber den männlichen, in Schach zu halten, denn sie hatte keine Lust, deshalb Probleme zu bekommen. Auch um ihrer selbst willen musste sie aufpassen, sich nicht zu sehr in das Geschehene hineinreißen zu lassen und dafür zu sorgen, eine gewisse Distanz zu wahren. Der Job als Ermittlerin war schon schwer genug. Ein Kaffee und ein Einback würden helfen, ihre Gedanken zu sortieren. Ob es sich bei der Leiche in der Strohballenpresse um einen Unfall oder tatsächlich um einen Mordfall handelte, war noch nicht geklärt und würde sich erst noch herausstellen. Aber sie spürte bereits jetzt eine gewisse Nervosität.
Das Gespräch mit Franz Steiger, der die Leiche gefunden hatte, war nicht sehr aufschlussreich gewesen. Aber auch das kannte sie bereits aus vorherigen Fällen. Personen, die unmittelbar mit dem Tod eines Menschen konfrontiert wurden, standen erst einmal unter Schock und konnten wenig zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen oder wichtige Informationen weitergeben. Der Schockzustand legte sich allerdings nach ein, zwei Tagen und wenn man Glück hatte, fiel ihnen dann doch noch das ein oder andere wichtige Detail ein.
Der Piepton einer eingehenden WhatsApp holte Anna in die Realität zurück, als sie gerade auf den Parkplatz vor der Stadtverwaltung Otterberg fuhr. Sie parkte ihren 3er BMW auf einem der letzten freien Plätze und ging hinüber ins Café. Dort bestellte sie wie geplant einen Cappuccino und ein Rosinenbrötchen. Die Einbacke waren leider schon ausverkauft. Sie setzte sich etwas weiter nach hinten an einen kleinen Tisch und holte ihr Handy hervor. Die Nachricht war von Jean-Luc, der sie fragte, ob sie dieses Wochenende Zeit hätte, nach Paris zu kommen. Er hatte zwar am Samstagabend eine Vorstellung, aber danach die ganze Nacht und den Sonntag für sie reserviert. Sie zögerte noch mit ihrer Antwort, denn sie wollte ihn nicht enttäuschen. Sollte sich zudem die Leiche in der Strohballenpresse als Opfer eines Verbrechens erweisen, würde sich sicherlich keine Zeit finden, am Freitagabend in den TGV nach Paris zu steigen. Deshalb schrieb sie nur kurz zurück, dass sie sich auf das Wochenende freue, aber noch nicht genau wisse, ob sie kommen könnte.
Die Beziehung zu Jean-Luc war leicht und ganz anders als ihre Ehe damals. Er war Schauspieler an der Comédie Française, fünf Jahr älter als sie und zeitlich auch nur sehr eingeschränkt verfügbar. Genau wie sie. Gemeinsame freie Momente zu finden, war deshalb nicht immer leicht – zumal sie knapp fünfhundert Kilometer voneinander entfernt lebten –, aber dafür war das Verständnis füreinander umso größer. Es war für Jean-Luc ebenso wie für sie selbstverständlich, dass der Job an erster Stelle stand und bis jetzt nie zum Problem zwischen ihnen geworden. Sie liebten beide ihren Beruf und akzeptierten, dass es dem anderen genauso ging. Einen gemeinsamen Alltag kannten sie nicht, und nach ihrer Scheidung vor zehn Jahren wusste Anna auch nicht genau, ob dieser unbedingt so erstrebenswert war. Sie und Jean-Luc waren jetzt seit knapp zwei Jahren ein Paar und hatten sich schon etliche Male getroffen, mal in Paris, mal in Kaiserslautern und Umgebung. Manchmal flogen sie auch in eine ihnen fremde Stadt, um diese gemeinsam zu entdecken. Sie gingen dann ins Museum, in Cafés und beobachteten das Kommen und Gehen der Menschen, die dort lebten. Anna liebte Jean-Lucs Humor und die Souveränität, die er ausstrahlte. Als Schauspieler hatte er zum einen eine klare, kraftvolle Aussprache und verstand es zum anderen, das, was er sagen wollte, genau auf den Punkt zu bringen. Ganz anders als sie. Dazu kam, dass er mit einem Meter neunundachtzig und etwas über neunzig Kilo gut gebaut und größer war als die meisten Männer, die sie kannte. Alleine dadurch wirkte er unglaublich männlich. Er war spontan und interessierte sich für sie als Mensch, für ihr Leben in der Kleinstadt und für die Probleme, die ihr Beruf manchmal mit sich brachte.
Kennengelernt hatten sie sich zufällig, als Anna bei ihrer Freundin Sophie in Paris zu Besuch gewesen war und sie gemeinsam ins Theater gegangen waren, um sich Le Malade Imaginaire von Molière anzuschauen. Jean-Luc hatte damals eine kleine Nebenrolle inne und war Anna gar nicht aufgefallen. Später, als sie mit Sophie noch in eine Bar unmittelbar in der Nähe der Comédie gegangen war, um sich einen Drink zu genehmigen, kamen ein paar der Schauspieler zufällig dazu und stellten sich zu ihnen an den Tresen. Jean-Luc und sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen und waren sofort ins Gespräch gekommen. Durch ihr bilinguales Abitur am Rittersberg Gymnasium und die regelmäßigen Besuche bei ihrer besten Freundin Sophie in Paris fühlte sich Anna im Französischen sehr wohl. Das hatte ihr an diesem Abend im Gespräch mit Jean-Luc geholfen. Erst als Sophie sie weit nach Mitternacht an der Schulter tippte und vorschlug, langsam nach Hause zu gehen, bemerkte Anna, dass sie die letzten zwei Stunden alles um sich herum ausgeblendet hatte. Das war der Anfang von Jean-Luc und ihr gewesen.
Anna verließ das Café in Otterberg, nicht ohne ein Trinkgeld zu hinterlassen, und machte sich zurück auf den Weg ins Präsidium. Sie würde sich am Abend bei Jean-Luc melden. Wichtiger war ihr jetzt, herauszufinden, wer in dieser Strohballenpresse verbrannt war und vor allem warum.
Frieda Steiger stand in ihrer großen Küche und blickte ins Leere. Sie legte ihre schwarze Handtasche auf die Eckbank und zog langsam ihre schwarzen Lederhandschuhe aus. Natürlich war es an diesem Sommervormittag viel zu heiß für Handschuhe, aber es war ihr ein Bedürfnis gewesen, sie anzuziehen, wenn sie ihrer besten Freundin das letzte Geleit gab. Sie hatte die Handschuhe, die aus feinstem Kalbsleder gefertigt waren und ein paar Gebrauchspuren aufwiesen, vor langer Zeit einmal von Antonia Albrecht, ihrer besten Freundin, die sie schon ein Leben lang kannte, zu Weihnachten geschenkt bekommen. Sie hatte sie wie einen Schatz gehütet. In der damaligen Zeit war es nicht üblich gewesen, so teure Geschenke zu machen, schon gar nicht an eine Freundin, aber Antonia hatte sie einmal von ihrer eigenen Mutter erhalten und war der Meinung gewesen, sie würden sehr viel besser zu Frieda passen als zu ihr.
Und jetzt war Antonia gestorben.
Dem Anlass entsprechend hatte Frieda ein schlichtes schwarzes Kleid und schwarze Strümpfe getragen und, als sie das Haus verlassen hatte, einen schwarzen Mantel übergeworfen. Die Beerdigung hatte auf dem Friedhof in Otterberg mit nur wenigen Trauergästen stattgefunden. Kein Wunder, denn mit neunundachtzig Jahren hatte man nicht mehr viele Freunde und Bekannte, die noch am Leben waren. Das war auch Frieda schmerzlich bewusst geworden. Die meisten von Antonias Altersgenossen, die auch die ihren waren, waren schon vor ein paar Jahren verstorben. Außer der Familie und Frieda waren nur noch die Pflegekraft, die Antonia in den letzten Monaten versorgt hatte, sowie Geschäftsleute, bei denen Antonia früher ihre Einkäufe getätigt hatte, gekommen, um von ihr Abschied zu nehmen. Nach der Beerdigung war kein Leichenschmaus vorgesehen gewesen. Also hatte Frieda Antonias Söhnen samt Frauen die Hand geschüttelt und war nach Hause gelaufen. Sie hatte über eine Stunde gebraucht, um durch den Wald den Weg zum Lanzenbrunnen zurückzulegen, denn in den letzten zwei Jahren war sie immer schlechter zu Fuß geworden, und die Trauer über den Verlust ihrer wichtigsten Weggefährtin und Freundin lastete auf ihr wie ein Mühlstein. Als Frieda zu Hause angekommen war, hatte sie erschöpft einen Moment auf der Bank vor dem Haus verschnaufen müssen.
Wenig später saß sie auf der Eckbank in der Küche und dachte darüber nach, wie schnell die Jahre vorbeigegangen waren und was sie zusammen mit Antonia alles erlebt hatte. Es kam ihr wie gestern vor, dass sie beide zusammen in Kaiserslautern gewesen waren, an dem Abend, an dem alles begonnen hatte, was ihr Leben ausmachte. Innerlich fühlte sich Frieda genauso stark wie damals. Ihr Verstand war weiterhin messerscharf, selbst jahrzehntealte Erinnerungen so präsent, als wären sie gestern erst geschehen. Einzig ihr Körper wollte nicht mehr so, wie sie es wollte. Sie musste sich ihm immer öfter geschlagen geben. Es war ihr bewusst, dass auch ihr, die bereits neunzig Jahre alt war, nur noch wenig Zeit blieb. Sie fragte sich, warum es eigentlich so schwer war, das Gestrige los und hinter sich zu lassen. Zu gerne hätte sie ihrem Sohn Franz erzählt, wie es damals war, in der Zeit kurz vor Kriegsende, aber er hatte nur selten ein Ohr für sie. Das konnte sie ihm auch nicht verübeln. Sie war ihm zwar eine aufmerksame Mutter gewesen, aber hatte es nicht zugelassen eine starke emotionale Bindung zu ihm zu entwickeln. Andere Dinge waren ihr immer wichtiger gewesen. Außerdem hatte sie Franz alleine großgezogen und wollte aus ihm, trotz des fehlenden Vaters, einen starken Mann machen. Da war zu viel Gefühl fehl am Platz. Das hatte sie zumindest damals gedacht. Was für ein Mensch Franz genau war, welche Bedürfnisse er hatte und was für ihn von Bedeutung war, hatte sie nie hinterfragt. Das hatte sie im Laufe der Jahre irgendwann verstanden, aber da war es zu spät gewesen, um damit anzufangen.
Sie schaute sich in der Küche um und erinnerte sich gut an die Zeit, die ihr Leben von Grund auf verändert hatte. Als sie wieder einigermaßen bei Kräften war, ging sie hinüber in die Stube und betrachtete einige der alten eingerahmten Fotos aus jener Zeit. Eine Träne lief ihr über die Wange, als sich die Erinnerungen aufdrängten. Frieda setzte sich in den Sessel vor dem Kamin und machte einen Moment die Augen zu.
Frieda hatte ihr Fahrrad genommen, um an diesem Freitagabend nach Kaiserslautern zu fahren. Sie wollte unbedingt an der schon vor Wochen angekündigten NSDAP-Versammlung teilnehmen, um zu erfahren, wie es in diesen schwierigen Zeiten weitergehen sollte. Die Luft war angenehm warm und sie genoss den Fahrtwind auf ihrem Gesicht. Ihre blonden, leicht gelockten Haare wehten im Wind. Es gab ihr das Gefühl von Freiheit, das in diesen Tagen nicht mehr ganz selbstverständlich war. Es war erst kurz nach achtzehn Uhr, das Licht war nicht mehr so grell und ließ die Natur in ganz besonders weichen Farben erstrahlen. Frieda liebte die Natur und empfand sich als Teil davon. Mit ihrem Hof, mitten im Wald, fühlte sie sich wohl, und für nichts in der Welt wäre sie in die Stadt gezogen, wo jederzeit ein Bombenalarm ertönen konnte. Da war sie auf ihrem Hof viel besser aufgehoben.
Nachdem sie ein Stück am Weiher entlanggefahren war, der noch zu ihrem Grundstück gehörte, lenkte sie ihr Fahrrad nach links und radelte auf der Hauptstraße weiter. Diese überquerte sie, um gleich auf der anderen Straßenseite, nach einem kleinen Stück Feldweg, wieder in den Wald einzubiegen. Sie würde am alten jüdischen Friedhof vorbei Richtung Mehlingen fahren und so auf schnellstem Wege die Strecke nach Kaiserslautern bewältigen. Sie hätte auch über Morlautern fahren können, aber der Weg wäre mit viel mehr steilen Passagen verbunden gewesen und das wollte sie vermeiden.
Sie war gespannt, was der Abend bringen würde. Um nicht zu spät zu kommen, trat sie noch stärker in die Pedale. Schließlich wollte sie nicht die Ansprache der Parteiführung verpassen. Laut der letzten Nachrichten aus dem Radio war der Angriff auf Moskau gescheitert, was im Volksempfänger natürlich so nicht gesagt wurde, aber durch die Art, wie man darüber berichtete, ahnte sie, dass die Truppen hohe Verluste erlitten hatten. Es bereitete ihr zunehmend Sorge, dass der Krieg so zäh verlief, sich schon lange hinzog, und sie wollte mehr über die bevorstehende Sommeroffensive durch die Wehrmacht erfahren, die sicherlich den erwünschten Erfolg, wenn nicht sogar den Sieg, mit sich bringen würde. Frieda wollte den Abend außerdem nutzen, um ein paar gleichgesinnte Freunde zu treffen, einen Wein zu trinken und mitzubekommen, was es Neues gab. Es ging das Gerücht um, dass erneut zehn Juden aus Kaiserslautern festgenommen worden waren. Sie sollten nach Gurs deportiert werden. Sie wollte wissen, um wen es sich handelte und ob sie die Personen vielleicht kannte, zumindest vom Sehen.
Als Frieda im Gasthaus Spinnrädl ankam, war schon einiges los. Sie sah viele bekannte Gesichter, aber auch einige neue. Die Versammlung hatte zum Glück noch nicht angefangen und es blieb noch genug Zeit, um sich einen Platz zu suchen. Gerade als sie der Bedienung zuwinken wollte, hörte sie ihren Namen rufen. Sie drehte sich um und entdeckte ihre Freundin Antonia, die ihr zuwinkte. Zusammen mit ihrem Mann und den zwei Buben hatte sie Sitzplätze im überfüllten Schankraum sichern können. Die Albrechts wohnten nicht weit vom Lanzenbrunnen, ihrem Hof, entfernt, Richtung Otterberg. Die beiden bewirtschafteten auch einen Bauernhof. Allerdings hatten Antonia und ihr Mann Friedrich mehr Glück gehabt als Frieda mit ihrem Wilfried. Friedrich war mit seinem Bauernhof ein wichtiger Bestandteil der Lebensmittelversorgung in der Region und war nicht an die Front geschickt worden. Der Lanzenbrunnen war zu klein und warf damals noch nicht genug ab, um die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem hatte Wilfried sich freiwillig für den Krieg gemeldet und war bereits in den ersten Monaten gefallen. Der Gedanke an ihren Mann versetze Frieda einen Stich. Sie hatte Wilfried schon immer gekannt und es war von vornherein klar gewesen, dass sie einmal heiraten würden. Aber es war anders gekommen … und das tat immer noch weh.
Frieda ging zu ihren Freunden und begrüßte alle mit einer Umarmung. Antonia lud sie sofort ein, bei ihnen Platz zu nehmen. Frieda nahm dankend an. Friedrich fragte, ob er für alle etwas zu trinken organisieren solle. Er machte sich sogleich auf den Weg, um an der Theke etwas für sie zu bestellen. In der Zwischenzeit waren noch mehr Menschen im Spinnrädl angekommen. Die Gaststätte war brechend voll, alle Sitzplätze belegt. Hier und da hatte man noch weitere Stühle aus Nebenräumen dazu gestellt. Auch an den Wänden standen viele Menschen dicht aneinandergedrängt. Frieda war froh, dass sie nicht gezögert hatte, bei Antonia und Friedrich Platz zu nehmen. Nach dem heutigen Arbeitstag auf dem Hof und jetzt noch die weite Strecke mit dem Fahrrad nach Kaiserslautern wäre sie kaum noch in der Lage gewesen, den ganzen Abend zu stehen. Die Bewegung mit dem Fahrrad hatte ihr gutgetan, aber trotzdem war es auch anstrengend gewesen. Und schließlich musste sie noch zurückradeln.
Umso mehr freute sie sich, als Friedrich schon mit der Weinkaraffe und einer Limonade für die Kinder zurückkam. Nachdem sie alle miteinander angestoßen und ein paar belanglose Neuigkeiten ausgetauscht hatten, wurde es plötzlich ganz ruhig im Raum. Friedrich schenkte allen noch mal nach, als ein gutaussehender, großer Mann auf die Bühne trat, um das Wort zu ergreifen. Friedrich flüsterte Antonia etwas zu und die gab es sogleich an Frieda weiter.
»Das ist Karl Weisheimer aus Berlin. Friedrich kennt ihn persönlich. Ist doch ein Bild von einem Mann, oder?«
»Ja, da hast du recht«, flüsterte Frieda zurück, ohne zu viel Emotionen zu zeigen. Sie hatte sich seit Wilfrieds Tod nach keinem Mann mehr umgedreht und das Interesse an den Männern verloren. Ihr war der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Wilfrieds Tod, der jetzt immerhin schon über zwei Jahre zurücklag, machte ihr immer noch zu schaffen. Dazu kam, dass es etwas Surreales hatte, da sie Wilfried nicht hatte beerdigen können. Somit hatte sie auch keine Möglichkeit, an sein Grab zu gehen, um zu trauern. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie wie selbstverständlich davon ausging, dass Wilfried bald wieder zurückkommen und sie dort weitermachen würden, wo sie bei seinem Weggang stehengeblieben waren. Seit der Nachricht seines Todes blieb sie die meiste Zeit lieber für sich. Sie versuchte, so gut es ging, zusammen mit einem Stallburschen aus Polen den Bauernhof zu bewirtschaften, auch wenn sie wusste, dass sie nicht ganz den Kontakt zu ihren Freunden und Bekannten verlieren durfte. Arbeit war das beste Heilmittel. Das hatte früher auch schon ihre Oma gesagt. Ob sie jemals wieder jemanden lieben würde, stand in den Sternen. Im Moment bedeutete Liebe nur Leiden für sie und sie konnte sich nicht vorstellen, wie sich das noch einmal ändern sollte.
Da war ihre Freundin Antonia ganz anders. Sie flirtete gerne mit den Männern und war immer auf der Suche nach einem Blickkontakt, einer Geste, die ihr signalisierte, dass das andere Geschlecht sie wahrgenommen hatte. Politik war nicht so ihre Sache, aber sie liebte es, zu feiern und mit Freunden zusammenzusitzen. Dafür war ihr jede Gelegenheit recht. Frieda dagegen ging es um die Inhalte, um den Endsieg und wie dieser zu erreichen war. Sie wollte Teil dieses neuen Deutschlands sein, das so vielversprechend und geradlinig war. Und sie war bereit, etwas dafür zu tun, sich einzubringen. Sie wartete nur auf eine Gelegenheit.
»Hast du schon gehört, dass man wieder zehn Juden festgenommen hat? Man sagt, sie sollen deportiert werden.«
»Ja, Friedrich hat es mir erzählt«, gab Antonia ihrer Freundin zurück. »Wie schrecklich.«
»Wieso schrecklich? Die können doch etwas tun für unser Land und uns nicht nur die Arbeit wegnehmen. Schließlich muss jeder seinen Beitrag leisten.«
»Du redest schon wie Friedrich. Das hat er auch gesagt. Vielleicht habt ihr recht. Ich kenne mich da nicht so aus. Aber wenn ich mir vorstelle, dass Herr Becker von der Papierfabrik mit seiner netten Frau und den vier Kindern einfach alles genommen wird und – noch schlimmer – in ein Lager in Gefangenschaft kommt, tut mir das schon irgendwie leid. Dir nicht?«
»Die Beckers? Ich wusste gar nicht, dass die Juden sind?«
»Ja, siehst du! Eigentlich sind das doch normale Leute wie du und ich!«
»Na ja, nicht ganz«, erwiderte Frieda. »Es sind halt Juden, und die passen einfach nicht zu uns.«
Die beiden Frauen wurden durch Friedrichs strengen Blick unterbrochen, der ihnen signalisierte, dass sie den Mund halten sollten. Tatsächlich war Karl Weisheimers Ansprache an die Parteifreunde immer lauter geworden und ließ keinen Zweifel daran, dass Deutschland eine Siegermacht war, die, auch wenn sie kurzzeitig etwas zurückgefallen war, doch schnell wieder die Oberhand gewinnen würde. Die bevorstehende Sommeroffensive würde die Wende bringen und man durfte gerade jetzt nicht nachgeben und alles tun, um dem Endsieg ein Stück näher zu kommen. Frieda war beeindruckt von der Rede, der Kraft und der Energie, die von diesem Herrn Weisheimer ausgingen, und fühlte sich gleich etwas beruhigter. Wie hatte sie nur Zweifeln können? Und was die Beckers anging, hatten die sicherlich irgendetwas Unrechtes getan. Schließlich waren sie Juden.
Sie merkte, wie sie ganz aufgewühlt in die Hände klatschte, als die Ansprache vorbei war und sie in den tosenden Applaus der Parteifreunde einstimmte. Überall waren anschließend hitzige Diskussionen zu hören, die, angefacht durch das Auftreten des Parteifreundes aus Berlin, immer lauter wurden. Alle hatten das Bedürfnis, ihre Sorgen zu teilen, ihre Zweifel zurückzudrängen und sich in der trügerischen Sicherheit der Versammlung Mut zuzusprechen, dass alles zu einem guten Ende kommen würde. Die Festnahme der zehn Juden, die deportiert werden sollten, wurde hier und dort auch erwähnt, aber mehr wie ein notwendiges Übel auf dem Weg zum Sieg. Frieda wollte sich gerade zu Friedrich umdrehen, um ihn zu fragen, ob er mehr darüber wüsste, als Karl Weisheimer direkt auf ihren Tisch zukam. Er war viel größer, als Frieda gedacht hatte. Eine stattliche Figur. Sie schaute ihm geradeheraus in die leuchtend blauen Augen, als er Friedrich die Hand reichte und fragte, wie es ihm gehe.
»Sehr gut, vielen Dank der Nachfrage. Übrigens Gratulation! Das war eine sehr gute Ansprache, die allen hier aus der Seele gesprochen hat.«
»Danke, das höre ich gerne. Aber wen haben wir denn hier?« Er schaute erst zu Antonia, die Friedrich sogleich als seine Frau vorstellte, und dann zu Frieda. Sein Blick war fest, aber Frieda hielt ihm stand.
»Das ist Frieda Steiger, eine gute Freundin.«
»Sehr angenehm, junge Frau. Mein Name ist Karl Weisheimer aus Berlin.«
»Ganz meinerseits. Friedrich hat schon von Ihnen erzählt. Auch von mir herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ansprache. Das waren klare Worte.«
»Sie hatten doch nicht etwa Sorge, dass Deutschland in Gefahr ist, oder?«
»Na ja, so ganz weiß man ja nicht genau, was passiert. Ich würde liebend gerne etwas mehr erfahren und näher dran sein. Dann hätte ich sicher ein besseres Gefühl.«
Er schaute sie an und sprach kurz mit Friedrich, den er bereits von früher kannte, ob er ihm bei einer Sache behilflich sein könnte. So viel bekam Frieda noch mit. Um was es aber im Detail ging, leider nicht. Zu gerne hätte sie sich weiter mit den beiden unterhalten und erfahren, um was es Weisheimer bei dem Gefallen ging. Sie hatte das Gefühl, dass er möglicherweise der Schlüssel zu mehr Aktion in der Partei, für ihr Land, sein könnte und wollte diese einmalige Gelegenheit nicht einfach so verstreichen lassen. Plötzlich drehten die beiden Männer sich zu ihr um und fragten sie, ob sie das mit etwas tun ernst gemeint habe. Wollte sie tatsächlich etwas für das Vaterland tun? Frieda war zu überrascht und nickte nur. Hatten die beiden Männer etwa ihre Gedanken lesen können. Wie war das möglich?
»Um was geht es denn genau? Was soll ich machen?«, fragte sie nach.
»Nicht hier. Lassen Sie uns einen Treffpunkt ausmachen, wo wir ungestört reden können. Vielleicht morgen gegen siebzehn Uhr? Ich sage Ihnen Bescheid, wo wir uns treffen.« Frieda wollte gerade etwas erwidern, doch Karl Weisheimer drehte sich schon um und begann ein Gespräch mit einem seiner Leute. Sie konnte gerade noch ein »in Ordnung« erwidern und da war er auch schon wieder weg. Frieda schaute Friedrich fragend an.
»Er hat ja gar nicht meine Adresse. Wie soll er mich denn finden?«, fragte sie verblüfft.
»Mach dir mal keine Gedanken. Er findet dich bestimmt.«
»Hast du eine Idee, um was es genau geht?«
»Keine Ahnung. Das besprechen wir morgen.«
Sie blieben noch eine Weile sitzen und unterhielten sich über dies und das. Die beiden Kinder waren auf der Bank neben ihnen eingeschlafen und auch Frieda merkte, dass es langsam Zeit zum Aufbruch wurde. Sie musste noch mit dem Fahrrad zurückfahren, teilweise durch den Wald, und dazu brauchte sie mindestens eineinhalb Stunden. Sie wollte Antonia gerade darüber informieren, dass sie sich jetzt auf den Weg machen wollte, als diese ihr zuvorkam und ihr vorschlug, das Fahrrad hinten auf die Ladefläche ihres grünen Kleintransporters zu packen und sie mit nach Hause zu nehmen. Dann müsste sie nicht noch den langen Weg zurückradeln. Frieda nahm dankend an, nahm den kleinsten der zwei Buben auf den Arm, Friedrich den größeren. Zu fünft schlugen sie schließlich den Heimweg ein.
Als die Tür ins Schloss fiel und Frieda ein paar Sekunden später Bellas warme, feuchte Schnauze auf ihrer Hand spürte, wachte sie auf und streichelte den Kopf der Hündin. Sie rief nach ihrem Sohn Franz, der zu ihr in die Stube kam. Er sah blass und verwirrt aus.
»Wolltest du heute nicht das ganze Stroh pressen? Oder bist du etwa schon fertig damit?«, fragte sie ihn.
»Es ist etwas Schreckliches passiert, Mutter, und ich musste die Arbeit erst einmal einstellen.«
»Was meinst du mit etwas Schreckliches? Ist die Strohballenpresse defekt?«
»Ja, das auch. Aber das ist es nicht.« Franz Steiger zögerte noch etwas und erzählte seiner Mutter schließlich von dem grausigen Fund und was dann folgte.
»Um Himmels willen! Wer soll das denn gewesen sein, der in eine Strohballenpresse klettert?«
»Das habe ich mich auch gefragt und komme zu keiner plausiblen Erklärung.« Franz Steiger schaute betroffen zu Boden. »Die Polizei ist eingeschaltet und hat den Fall übernommen. Es könnte sich vielleicht um einen Obdachlosen handeln, der Schutz vor dem Gewitter gesucht hat, aber keinem ist etwas aufgefallen. Oder hast du jemanden gesehen. Hat dich jemand hier besucht?«
»Nein, niemand.«
Im Präsidium angekommen, fragte Anna nach, ob die Kriminaltechnik schon etwas herausgefunden hatte. Im Gegensatz zu den Krimis, die man immer öfter im Fernsehen sah, war der Pathologe, Manfred Noller, nicht zum Ort des Geschehens auf das Feld in Otterberg gekommen, sondern man hatte die Leiche zu ihm in die Pathologie gebracht. Die Spurensicherung hatte den Rest der Arbeit erledigt. Ob sie nach dem Feuer allerdings noch Spuren hatte sichern können? Anna konnte nur schwer warten und entschloss sich, Manfred selbst anzurufen.
Sie hatten sich während Annas Studium kennengelernt, als sie auf der Polizeihochschule in Frankfurt-Hahn gewesen war. Manfred, damals angehender Pathologe und Assistenzarzt, hatte Vorlesungen gehalten, die Anna immer wieder gerne besuchte. Sie waren interessant und Manfred sorgte mit seiner humorvollen Art, neben dem fachlichen Wissen, das er vermitteln wollte, auch immer dafür, dass in seinen Vorlesungen eine gute Stimmung herrschte. Er förderte den Dialog mit den Studenten, die er in seine Überlegungen stets mit einband. Anna hatte sich nach ihrer Scheidung sogar näher für ihn als Mann interessiert, bis sie herausfand, dass er homosexuell war und in einer Beziehung lebte. Das war im ersten Moment eine bittere Enttäuschung gewesen, aber im Laufe der Zeit hatte sich eine stabile Freundschaft zwischen den beiden entwickelt, die sie heute nicht mehr missen wollte.
»Manfred, hallo! Hier ist Anna. Wegen des Toten aus der Strohballenpresse – hast du schon etwas herausgefunden?«
»Hallo Anna. Wie geht es dir? Hast Du es mal wieder eilig?«
»Ach entschuldige. Du kennst mich ja. Eigentlich gut und dir?«
»Sehr gut. Frank und ich kommen gerade aus dem Urlaub. Wir waren zwei Wochen auf den Seychellen. Wunderbare Inseln. Und die Strände, die Vegetation, sage ich dir.«
»Das hört sich wirklich verlockend an. Aber sag mal: Hast du etwas für mich?«
»Also, so wie es aussieht, handelt es sich um eine Männerleiche, wahrscheinlich mittleren Alters. Mehr kann ich dazu noch nicht sagen. Die Laboruntersuchungen laufen noch.«
»Gibt es irgendwelche Hinweise auf ein Verbrechen? Kannst Du schon sagen, ob die Leiche irgendwelche außergewöhnlichen Verletzungen aufweist?«
»Nein, leider nicht. Es gibt nichts Auffälliges. Gar nichts.«
»Ja, das ist in der Tat merkwürdig. Bitte halte mich auf dem Laufenden, falls du noch etwas in Erfahrung bringst, okay?«
»Klar, mache ich. Tschüss, Anna.«
»Tschüss, Manfred … ach warte! Was ist eigentlich mit der Strohballenpresse? Hat die KTU Fingerabdrücke sicherstellen können?«
»Wie gesagt, die Auswertungen dauern an. Ich melde mich.«
»Okay, danke dir.«
Anna schob ihren Bürostuhl zurück und schaute aus dem Fenster. Sie ließ ihren Blick auf den Bahnhof und die Schienen schweifen. Was war da passiert? Wieso war dieser Mann in der Strohballenpresse verbrannt? Die einzigen Ansätze, die sie hatte, waren das Feld und der Landwirt, dem es gehörte. Deshalb beschloss sie, am nächsten Tag noch einmal zu Franz Steiger zu fahren, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht war ihm in der Zwischenzeit etwas eingefallen. Irgendjemand musste diesen Mann doch kennen oder ihn gesehen haben.
Für heute war soweit alles Wichtige auf den Weg gebracht und sie konnte nichts mehr tun. Am Bahnhof gegenüber waren die Pendler schon auf dem Nachhauseweg. Sie beschloss, es ihnen gleichzutun.
Als sie das Präsidium verließ, war es siebzehn Uhr dreißig. Anna fiel ein, dass sie nichts mehr im Kühlschrank hatte. Das Rosinenbrötchen in Otterberg war das Einzige, was sie an diesem Tag gegessen hatte, und ihr knurrte ganz schön der Magen. Sie beschloss, schnell einen Abstecher in den Supermarkt zu machen, um ein paar Lebensmittel für den Abend einzukaufen. Sie wollte sich etwas Leckeres kochen. Vielleicht etwas Italienisches. Spaghetti Carbonara oder einen Risotto mit Pilzen? Sie liebte die italienische Küche, und auch wenn sie keine Gourmet-Köchin war, konnte sich das, was sie auf den Teller brachte, sehen lassen. Das erzählten zumindest ihre Freunde, wenn sie bei ihr eingeladen waren. Sie entschloss sich für Spaghetti Carbonara. Anna stieg in ihr Auto und fuhr in die Zollamtstraße zum Edeka. Dieser war gut sortiert. Sie würde dort alles bekommen, was sie brauchte. Anna legte Wert auf hochwertige Lebensmittel. Es musste nicht unbedingt immer BIO sein, aber sofern das möglich war, kaufte Anna stets frisches Obst und Gemüse ein. Als Polizistin trieb sie viel Sport, und eine ausgewogene Ernährung trug dazu bei, fit und gesund zu bleiben. Das war ihr besonders wichtig.
Sie freute sich auf einen gemütlichen Abend zu Hause. Sie würde Nudeln kochen und sich ganz entspannt mit ihrem Teller aufs Sofa setzen. Sie würde ganz in Ruhe noch einmal ihre Informationen durcharbeiten, um die nächsten Schritte zu planen. Als sie nach dem Einkauf gerade die Haustür zu ihrer Wohnung aufgeschlossen hatte und mit zwei Tüten beladen im Flur stand, klingelte ihr Telefon im Wohnzimmer. Das konnte eigentlich nur ihre Mutter sein. Die meisten ihrer Freunde und Bekannten riefen sie eigentlich immer auf dem Handy an. Sie nahm ab und war überrascht Jean-Luc am anderen Ende der Leitung zu hören.
»Anna, ma chérie, c´est moi Jean-Luc. Ça va?«
»Ja, alles okay, aber warum rufst du mich auf dem Festnetz an? Ist etwas passiert?«, fragte Anna.
»Nein, aber ich wollte dich nicht stören. Wenn ich dich zu Hause erreiche, weiß ich, dass du ein paar Minuten Zeit für mich hast.«
Anna schmunzelte und fand den Gedanken eigentlich gar nicht so abwegig. Tatsächlich war man tagsüber immer mit irgendetwas beschäftigt und zu Hause ließ es sich viel angenehmer telefonieren. Man musste keine Angst haben, dass einem jemand zuhörte, und konnte so lange sprechen, wie man wollte, ohne schräge Blicke einzufangen.
»Ja, da ist etwas dran. Wie klug du bist ...« Anna lachte ins Telefon.
»Machst du dich gerade über mich lustig?«, fragte Jean-Luc lachend zurück.
»Das würde ich mich niemals wagen!« Jetzt mussten beide lachen. »Aber jetzt einmal Spaß beiseite. Wir haben heute eine völlig verbrannte Person in einer Strohballenpresse auf einem Acker gefunden. Wir versuchen gerade, die Identität der Leiche zu klären, haben aber noch keinerlei Informationen.«
»Was ist eine Stroh-ba-presse bitte?«, fragte Jean-Luc mit stark ausgeprägtem französischem Akzent. Anna musste erneut lachen.
»Das ist eine landwirtschaftliche Maschine, die dazu dient, das Stroh in Ballen zu verarbeiten, damit man sie nachher besser transportieren kann.«
»Ach so, jetzt verstehe ich. War es vielleicht ein Unfall?«
»Das versuchen wir gerade zu klären. Es wird noch niemand vermisst. Aber das kann sich natürlich noch ändern. Ich weiß deshalb noch nicht genau, ob ich am Freitag zu dir nach Paris kommen kann.«
»Okay, kein Problem. Du wirst mich auf dem Laufenden halten.«
»Ja, das mache ich auf jeden Fall. Jetzt koche ich mir erst einmal ein paar Spaghetti Carbonara.«
»Die du dann wahrscheinlich auf deinem Sofa isst und dabei auf deinen Laptop schaust. Ich kenne Sie, Frau Kastner.«
»Genau das habe ich vor.« Wieder mussten beide lachen. Sie sprachen noch ein, zwei Minuten weiter, um sich dann für den nächsten Tag zu verabreden. Vielleicht würde Anna dann schon abschätzen können, ob sie das Wochenende über frei machen konnte oder nicht.
Als sie aufgelegt hatte, schaute sie auf die große Küchenuhr, die links von ihrer Kochinsel angebracht war, und wunderte sich, wo die Zeit geblieben war. Wenn sie mit Jean-Luc zusammen war, vergingen die Minuten und Stunden wie im Flug. Aber das Gespräch mit ihm hatte ihr gutgetan und sie von dem stressigen Tag entspannt. Anschließend setzte Anna den Topf mit Wasser auf. Parallel dazu erhitzte sie den Speck in einer Pfanne. Als dieser schön kross war, goss sie die Nudeln ab, gab sie zu dem Speck dazu und übergoss das Ganze mit der Käse-Ei-Mischung. Jetzt kam es darauf an, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen, denn wurde die Pfanne zu heiß, konnte das Eigelb ins Stocken geraten. Das galt es auf jeden Fall zu vermeiden. Zur Sicherheit hatte sie noch etwas von dem Nudelwasser aufgehoben, um es gegebenenfalls noch in die Pfanne zu geben, sollte das Gericht zu trocken sein. Aber Spaghetti Carbonara war nicht umsonst ihre Spezialität. Auf dem Sofa sitzend gab sie noch etwas frischen Parmesan und Pfeffer über ihren Teller. »Guten Appetit Anna, lass es dir schmecken.«
Am nächsten Morgen wachte Anna mit leichten Kopfschmerzen auf. Das war wahrscheinlich dem ein oder anderen Glas Lugana geschuldet, das sie gestern Abend getrunken hatte. Sie beschloss, noch vor dem Frühstück eine Ibuprofen zu nehmen, schnell einen starken Kaffee zu trinken und sich dann gleich auf den Weg ins Präsidium zu machen. Es stand zwar noch das Geschirr vom Vorabend mit den Spaghettiresten herum, aber sie wollte auf keinen Fall Zeit mit Aufräumen verlieren. Sie war gespannt, ob Manfred Neuigkeiten für sie hatte. Deshalb ließ sie alles stehen, schnappte sich ihre Jeans-Jacke und ging aus dem Haus.
Als Anna im Auto saß, ließ sie die Ereignisse des vorherigen Tages Revue passieren. Das tat sie oft, wenn sie im Auto unterwegs war, denn da konnte sie sich besonders gut konzentrieren. Ein Mann war in der Strohballenpresse des Landwirts Franz Steiger verbrannt. Niemand hatte jemanden gesehen oder wusste, wer die Person war. Vielleicht hatte Manfreds neue Mitarbeiterin – wie hieß sie noch gleich, Frau Schmidt? – doch Recht und es war einfach ein Obdachloser, der in der Strohballenpresse Unterschlupf vor dem Gewitter gesucht hatte. Aber komisch war das schon. Zufälle waren selten und meistens steckte doch irgendetwas dahinter.
Im Präsidium angekommen, fragte sie Harald und Kathrin, die beide zusammen mit einem Studenten, dessen Namen sie gerade vergessen hatte, ihr Team bildeten, ob Manfred schon angerufen hatte. Da alle den Kopf schüttelten, vereinbarten sie, dass sie sich in einer halben Stunde noch mal zusammensetzen würden. Vielleicht wüsste sie dann schon mehr. Sie ließ sich noch einen Kaffee aus der erst vor kurzem neu gekauften Espressomaschine laufen und ging zu ihrem Schreibtisch, um Manfred anzurufen. Er nahm nicht ab. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche heraus, um es auf seinem Mobiltelefon zu versuchen. In dem Moment hörte sie Schritte im Flur und Manfreds Stimme.
»Hallo, Manfred, gut dass du kommst«, begrüßte sie ihn, als er ihr Büro betreten hatte. »Ich wollte dich gerade noch mal auf dem Handy anrufen, weil ich dich nicht erreicht habe.«
»Guten Morgen, schöne Frau. Ja, ich konnte es nicht lassen, dich persönlich zu informieren, da ich ja weiß, wie eilig du es hast. Also: Der Mann ist zirka einen Meter achtundsiebzig groß und ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an einem Blitzeinschlag gestorben und anschließend verbrannt. Leider haben wir keine äußeren Gewaltspuren gefunden, sodass wir eigentlich davon ausgehen können, dass es ein Unfall war. Ob es sich allerdings um einen Wanderer oder jemanden handelt, der einfach zu Fuß unterwegs war und den Weg durch das Feld abkürzen wollte, kann ich dir nicht sagen. Es könnte sich auch um einen übermütigen Jugendlichen handeln. Wer weiß? Das herauszufinden ist eure Aufgabe. Merkwürdig ist allerdings, dass die Spurensicherung in der Strohballenpresse keinerlei persönliche Sachen gefunden hat, die wir der Leiche hätten zuordnen können. Das finde ich etwas seltsam.«
Anna schaute Manfred aufmerksam an und hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, denn sie wusste von früheren Fällen, dass das noch nicht alles sein konnte, sonst wäre Manfred nicht persönlich vorbeigekommen, um mit ihr zu sprechen. Irgendetwas musste er für sie haben. »Deshalb habe ich die KTU gebeten, sich noch einmal die gesamte Umgebung der Strohballenpresse hinsichtlich möglicher Indizien vorzunehmen – und sie sind tatsächlich fündig geworden!« Manfred zog eine Art weiße Scheckkarte aus der Manteltasche, die sorgfältig in einer kleinen Plastiktüte verwahrt und beschriftet war.
»Was ist das?«
»So wie es aussieht, könnte das eine Codekarte oder etwas Ähnliches sein. Ich weiß es nicht genau. Außer dieses Codes hier, der in der Karte eingeprägt ist, hat es keinerlei Aufschrift. Sie könnte auch schon vor dem Brand da gelegen haben. Aber ich dachte, einen Versuch ist es wert.« Manfred reichte Anna den kleinen Plastikbeutel und sie nahm es verdutzt an sich.
»Und das ist alles?«