9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Jen lebt im Island der nicht allzu fernen Zukunft und arbeitet als Expertin an der wirklichkeitsgetreuen Abbildung der Wikingerzeit. Als eines Tages ein Fehler passiert, findet sie sich im echten 10. Jh in Island wieder, an einem Strand, wo sie von einer Gruppe von Wikingern gefunden und verschleppt wird. Der Anführer des Clans, Heirik, ist geachtet und gefürchtet zugleich - denn durch ein Mal, das einen Teil seines Körpers entstellt, gilt der junge Nordmann als verflucht. Jen jedoch ist fasziniert von dem geheimnisvollen Wikinger und fühlt sich zu Heirik hingezogen. Doch die Verbindung steht unter keinem guten Stern: Wird Jen trotz aller Hindernisse und Gefahren den Mut haben, die Zeit zu überwinden und die Vergangenheit zu ihrer Zukunft machen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 916
Veröffentlichungsjahr: 2016
LARISSA BROWN
Feuer und Wind
Roman
Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold
Für Jen ist die Ära der Wikinger ein Traumgebilde der Vergangenheit. Eine Sehnsucht nach dem Wahrhaftigen, das der sterilen Welt ihrer Zeit abhanden gekommen ist. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern arbeitet sie an der Simulation eines Wikingerhofes, eine virtuelle Realität, die so nah an die Wirklichkeit herankommen soll wie nur irgend möglich. Doch bei einem Test geschieht das Unglaubliche: Jen wird in das wahre Island des 10. Jahrhunderts katapultiert, wo sie an einem schwarzen Strand von einer Gruppe Nordmänner aufgefunden wird. Heirik, der Anführer des Clans, der sie als Gast aufnimmt, ist zugleich geachtet und gefürchtet. Wegen eines Blutmals, das seinen Körper entstellt, gilt er als verflucht. Doch Jen sieht nicht sein Mal, sie sieht nur Schönheit, Güte und Stärke, eine unendlich einsame Seele, deren Schmerz zu ihrem eigenen zu sprechen scheint. Mit jedem Tag, der vergeht, wirft Jen ihr altes Selbst weiter ab, ertrinkt in der Wucht der Wirklichkeit, die ihre Sinne erweckt, der Wirklichkeit von Feuer, Wind und Erde. Sie taucht ein in das Lachen der Frauen, in Geschichten am abendlichen Feuer, in die berauschende und beängstigende Nähe der Menschen, die ihr zugleich vertraut und fremd sind. Jedes karge Wort, jeder Blick bringt sie Heirik näher, dessen ehelose Zukunft schon bei seiner Geburt festgeschrieben wurde, und der Bruch dieses Tabus beschwört eine Gefahr herauf, die ihre stille und machtvolle Liebe zu zerstören droht.
Bei der in diesem Roman verwendeten alten Sprache handelt es sich um eine künstliche Mischung aus erdichteten und realen Bestandteilen – sie ist absichtlich fiktional und entspricht damit weder exakt der historischen Wirklichkeit noch ist sie ganz korrekt. Ihre Grundlage bilden Worte aus dem Altisländischen, dem modernen Isländischen, dem Altnordischen und ein paar zusammengesetzten Worten, die dadurch entstanden sind, dass ich die Sprachen gemischt und darüber spekuliert habe, wie die Menschen damals über ihre Welt gedacht und welche Worte sie dafür benutzt haben könnten. An vielen Stellen habe ich auch isländische Buchstaben verwendet.
Island um 900
Alle haben sich zur Ruhe begeben.
Gute Nacht den Schafen und Kühen und Pferden. Dem Gras auf den Wiesen, den groben Mauern.
Den Sternen und dem Herdfeuer und dem starken Haus. Den Wäldern und den Walen und dem Meer.
Gute Nacht dem Kreis junger Mädchen, deren lange Zöpfe im Feuerschein leuchten.
In der Zukunft
Im Innern des Tanks
Der schale Geruch von simuliertem Bier wehte durch die Menge.
Normalerweise sehnte ich mich nach echten, intensiven Gerüchen, aber heute Abend war ich froh, dass das Programmierungsteam nicht in der Lage war, sie richtig hinzukriegen. Mit wirklichkeitsgetreuen Schweiß- und Bierausdünstungen und dem metallischen Geschmack von Blut wäre die Ultimate-Fighting-Simulation nur schwer zu ertragen gewesen.
Eine Wiese wäre schön gewesen. Hätte ich saftiges Gras zwischen meinen Zehen spüren oder wahrnehmen können, wie eine Brise an meinem Kleid zupft, wäre ich jeden Tag in den Tank gekommen. Noch verfügten die Programmierer allerdings nicht über die Fähigkeit, derart gewaltige und kraftvolle Szenerien zu erschaffen, wie es solche im Freien gewesen wären.
Abgesehen davon – wer würde nicht gern einen altmodischen Cage Fight der Jahrhundertwende besuchen, bei dem Männer in mehr als knielangen Hosen, wie sie für die ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts so typisch waren, gegeneinander kämpften? Für Jeff war es unvorstellbar, dass jemand sich nicht für diese Simulation begeisterte. Das gesamte Programmierungsteam liebte sie so sehr, dass es das Extraktionssignal aus dieser Art von Wrestling übernommen hatte. Wollte man den Tank verlassen, musste man einfach nur klopfen.
Unsere reale Welt, Island City, befand sich außerhalb dieses Labors. Hier drinnen indes tauchten wir in Kampfarenen, Burgen und grasbedeckte Langhäuser ein. Meine Aufgabe war es, altnordische Stimmen, Gesten und Redewendungen für die High-Tech-Company zu erfinden, die das alles erschuf.
Dabei war es nicht so, dass ich mit Jeffs Kampfsimulation gar nichts anfangen konnte. Einen Aspekt derselben genoss ich sogar sehr, und das waren die Stimmen. Die akustische Färbung dieser Simulation war komplex und nuanciert. Bei dem Schauplatz handelte es sich um Atlantic City in den alten Vereinigten Staaten, und die Sprache war mit einem starken Akzent konzipiert – Wochenendbesucher aus dem Norden. Ich ließ die aggressiven Stimmen, die von heftigen Gesten und dramatisch hochgezogenen Brauen unterstrichen wurden, auf mich wirken.
Der Klang von Unterhaltungen zog mich grundsätzlich an, in welcher Sprache auch immer. Ich genoss die Bewegungen und Rhythmen von Gesprächen, die Spitzen wie auch die Pausen in Auseinandersetzungen, das ruhige Gemurmel von Flirtenden. Ich sehnte mich nach den Geräuschen von verstohlenen, sehnsüchtigen Liebespaaren, den Stimmen und Bewegungen von Menschen, die wütend waren. Als Sprachkünstlerin war es mir fast unmöglich, einfach nur zuzuhören, ohne zu analysieren, aber wann immer ich konnte, stellte ich mir Menschen als Tiere vor. Große Schwärme und Herden, manchmal majestätisch, manchmal beängstigend oder auch abstoßend. Diese Arena klang wie eine Gänseschar.
Oder zumindest stellte ich mir vor, dass Gänse so klangen. Ich hatte sie in den elektronischen Archiven gesehen. Ich kannte Gänse und Falken und Raben, Hunde und Füchse dank jahrelanger persönlicher Nachforschungen. Tausend Nachmittage hatte ich mir die Nase an einem Archiv-Monitor platt gedrückt und versucht herauszufinden, wie sich die seidige Mähne eines Pferdes anfühlt.
Ich hatte gehört, dass es draußen, jenseits der Gletscher, Höfe geben sollte, auf denen fanatische Realisten lebten. Aber das waren nur Gerüchte. Ich hatte mich davon während eines Flugs selbst überzeugen können.
Morgan beugte sich zu mir und schrie mir regelrecht ins Ohr: »Sie haben immer noch Shorts dazu gesagt. Obwohl sie ihnen in den frühen 2000er Jahren fast bis zu den Knöcheln gingen.« Sie bezog sich auf die Hosen der Wrestler. Die glänzenden Stoffe in knalligem Rot, Grün und Gelb waren so krass, dass sie in ihrer einfältigen Pracht geradezu faszinierend wirkten.
Die Kleidung der Zuschauer war eine etwas komplexere Mischung aus Hoffnungen, Bedürfnissen und sexuellen Einladungen. Es gab Unmengen stolz zur Schau gestellter Tattoos oberhalb der Frauenhintern und gestylte Frisuren zu sehen. Die meisten trugen Westernstiefel und enge Jeans, und die Haut der Frauen schillerte, als hätten sie alle ihr Gesicht in einen sanften Puderregen gehalten – eine Garantie für ein langes Leben und einen kraftstrotzenden Lover.
Morgan – eine Schmiedin, die sämtliche Waffen, Schnallen und Spangen der Wikinger entwarf – konnte sich eigentlich nicht sehr für New Jersey um 2010 interessieren. Allerdings wies sie auf einige erstaunliche Ähnlichkeiten hin, die zwischen den langhaarigen, bärtigen Männern mit den schweren Stiefeln und den Wikingern bestanden. So trugen sie Tätowierungen an den Oberarmen, die an die kostbaren Metallringe der Häuptlinge erinnerten. Um den Hals hatten sie Schmuck, der wie ein Echo der Reife und silbernen Thor-Hämmer der Nordmänner des zehnten Jahrhunderts wirkte. Es war der Schmuck eines Volks von Bauern und Plünderern, die von den Rus-Staaten bis Nordamerika gesiedelt hatten.
»Ist das nicht beeindruckend, Jen?«, schmetterte Jeff mir ins Ohr. »An diesen Stimmen habe ich zusammen mit Shank gearbeitet.«
Im Grunde hatte auch Jeff mit seinen hellen Haaren, der Silberkette und seiner Größe etwas Nordisches an sich. Er trug die Kleidung der zweiten technischen Revolution und um den Hals Kopfhörer – und keine stilisierten Drachen –, aber in seinen Adern floss echtes Wikingerblut. Heute Abend saß er wieder dicht bei mir und berührte mich gelegentlich, als läge das an der engen Bestuhlung der Arena. Natürlich hatten wir die besten Plätze überhaupt, schließlich waren wir die einzigen richtigen Menschen hier. Daher hatten wir auch einen perfekten Blick auf den achtseitigen Käfig.
Ich ließ die Symbole und Statistiken vor meinen Augen auftauchen. Mateus Vida war sogar in gelben Shorts beeindruckend; sie leuchteten regelrecht auf seiner dunklen Haut. Informationen wehten jetzt neben ihm her, verrieten mir, dass er einsachtzig groß war. Neben seinem kahlen Kopf stand in Weiß: Gewicht: 83 kg, Reichweite: 188 cm. Und er hatte eine ganze Reihe von Schwarzen Gürteln: Brasilianisches Jiu Jitsu, Judo, Taekwondo. Er hatte sich auf Muay Thai spezialisiert.
»Das ist Kickboxen«, erklärte Jeff und deutete auf den Käfig.
Alle Kämpfer trugen Beinamen im Wikingerstil, so wie Aud der Tiefsinnige oder Eirik Blutaxt. Im Augenblick kämpften Vida die Heuschrecke und sein Gegner Yusef »Superior« Cruz, dessen Name ich aufgeblasen fand. Mit seiner Größe von einsachtzig, den 93 Kilo und ähnlich vielen Schwarzen Gürteln war er meiner nichtfachmännischen Einschätzung nach ein angemessener Gegner für Vida.
Es gab auch Augenblicke, die ich nicht scheußlich fand. Die Zeit schien sich zu dehnen, und ich konnte sehen, wie der eine wie ein Tänzer von dem anderen hochgehoben wurde, wie er sich mitten in der Luft im Kampf überschlug. Oder das mürrische Gesicht eines Schiedsrichters, der mich zwischen den Beinen eines Kämpfers hindurch ansah. Solche klaren Momentaufnahmen waren allerdings selten. Meistens lagen sie auf dem Boden, grunzten und schlugen bösartig aufeinander ein. Manchmal schleuderten sie einander auch gegen die Seite des Käfigs direkt vor uns, und eine Adrenalinwoge ließ meine Hände und Füße prickeln. Ein Sprühnebel aus Blut und Spucke verfehlte uns nur knapp. Ich tat, als wäre er echt. Ich ließ die Statistiken in sich zusammenfallen und beobachtete die Männer.
Es war ein kurzer Kampf. Nur drei Minuten umkreisten sie einander, schlugen aufeinander ein und forderten einander mit gebleckten Zähnen heraus. Es gab ein paar schreckliche Hiebe, die so hart und derb waren, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich nach auch nur einem einzigen solchen Treffer in der Lage hätte sein sollen, wieder aufzustehen, ganz davon zu schweigen, so etwas mehrmals zu schaffen. Cruz umkreiste seinen Gegner, wartete, wollte zuschlagen, ihn niederringen. Und dann trat Vida ihn.
Es war nicht einfach nur ein Tritt gegen das Schienbein oder die Brust. Aus dem Stand trat er ihm heftig ins Gesicht. Die Wiederholung lief jetzt in Zeitlupe. Ein eleganter Kick. Vidas Tritt war ein Gedicht, präzise gezielt, sodass sein Fußballen von unten gegen Cruz’ Kinn traf. Dessen Gesicht verzog sich wie Gummi.
Dann lief die Zeit wieder normal weiter, und Cruz knallte auf die Matte, verlor das Bewusstsein. Jetzt sprangen alle auf, regelrecht wahnsinnig vor Erschrecken, Wut und Schadenfreude. Große, jubelnde Menschen bedrängten mich von allen Seiten. Nur noch mit Mühe konnte ich den Käfig sehen. Vida wirbelte im Kreis herum, ekstatisch und die Hände triumphierend zu Fäusten geballt. Er sah aus wie ein riesiger Eiskunstläufer, der sich in einer Pirouette herabsinken ließ. Auf die Matte. Auf die Knie.
Da spaltete ein metallisches Kreischen meinen Kopf – als würde etwas in meinem Hirn brutal reißen. Ich presste die Hände auf die Ohren, aber das zermürbende Geräusch war in meinem Innern. Ich konnte es nicht beeinflussen. Etwas unbeschreiblich Zartes riss. Ich schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, sah ich den Ozean.
Die grünen Wellen waren fast schwarz, gekrönt von weißer, vom Mondlicht beschienener Gischt. Ich kniete nieder, grub meine Hände in den kalten, feuchten Sand. Jedes einzelne Korn fühlte sich scharf umrissen an. Die letzten Kräuselungen einer Welle kamen dicht an mich heran, schienen sich wie Finger nach meinen Knien auszustrecken. Ein Glühen tauchte den Strand in ein bläuliches Weiß. Ich drehte mich zu der Quelle des Lichts um und war wie geblendet. Gigantische Buchstaben leuchteten am Himmel, jeder einzelne mindestens drei Stockwerke hoch. Sie hoben sich strahlend vom schwarzen Weltraum ab. STEEPLECHASE. In kleineren Buchstaben kämpfte THEFUNFACTORY darum, zahllose weiße Lichtgirlanden zu überstrahlen, die an der Fassade eines Märchenschlosses emporrankten.
Mein Kopf tat weh und sackte zur Seite, sodass ich jetzt alles aus einer schrägen Perspektive sah. Vielleicht hundert Leute schienen von einem jetzt gekippten Holzpier zu rutschen, in Farben angeleuchtet, die sie wie Tote wirken ließen, die Gesichter blau unter einer Million leuchtender Birnchen, von den Krempen breiter Hüte beschattet. Dann kam vom Wasser her ein scharfer Wind auf und wirbelte die vielen knöchellangen Röcke gleichzeitig auf. Er blies mir die Haare ins Gesicht und raubte mir die Sicht. Ein starker Geruch wie nach Salz und Fisch brannte mir in der Nase.
Und dann vernahm ich einen rauschenden, sich rasant steigernden tosenden Applaus und Jubelgesang. »Vida!, Vida!« Die Zuschauer zerdrückten mich. Ich taumelte gegen Jeff, der sich schwer auf seinen Stuhl sinken ließ. Seine Wangen und seine Augen glühten vor Begeisterung. Die reißende Empfindung und die Szenerie draußen am Ozean schien er nicht miterlebt zu haben. Und ich hatte ihn am Strand auch gar nicht gesehen. Ich hatte Sand und Wind und Wasser gespürt. War das ein Outdoor-Szenario gewesen? Aber wenn, dann ohne Jeff und Morgan. Ich war allein dort gewesen.
Vida sprach auf Portugiesisch mit einem Reporter. Die englischen Untertitel erschienen in der Luft, kurz bevor der menschliche Übersetzer, der exakt nach dem historischen Vorbild programmiert worden war, seinen Einsatz hatte. Vida dankte den Menschen, seiner Familie, seinem Trainer. »Wie fühlt es sich an, Mittelgewichtsweltmeister zu sein?« Er grinste. Lächelte in die blitzenden Kameras.
Man reichte ihm einen riesigen silbernen Gürtel, der so gewaltig war, dass er seine beachtlichen Bauchmuskeln verbarg. Vida hielt ihn vor seinen Körper, damit alle ihn sehen konnten, aber er zog ihn nicht an. Stattdessen ging er zu Cruz und legte ihm den Gürtel zu Füßen. Er kniete sich hin, beugte sich tief darüber und berührte mit der Stirn die Matte. Es wirkte, als würde er jenem Mann die Treue schwören, den er gerade mit einem Tritt ins Gesicht ausgeknockt hatte. Dies war etwas, was ich zwar vom Kopf her verstand, was ich aber niemals mit dem Herzen begreifen würde. Dass man einander so heftig schlagen und sich dann voreinander verneigen konnte wie ehrenvolle Brüder. Für diese Art von Ehre kannte ich viele Worte im Altnordischen. Ich wusste, dass es sie gab. Ich sah sie. Aber mir war sie fremd.
In der Zukunft
Island City
»Was war da eben los?«, versuchte ich Jeff zwischen zwei Küssen zu fragen. Wir standen vor dem Gebäude, in dem ich wohnte, und er drückte mich mit dem Gewicht seines wohlriechenden Körpers an die Mauer. Seine Hitze brachte mich zum Schmelzen, und ich musste mir alle Mühe geben, mich auf meine Frage zu konzentrieren. »Am Strand.«
»Was?« Er war abgelenkt, gab mir weiter Küsse auf den Mund.
»Als am Ende alle gejubelt haben.« Ich bekam einen Arm frei und schob seinen Oberkörper von mir weg. »Eine Sekunde lang war ich draußen am Meer.«
»Oh.« Er hielt kurz inne, während sein auf Störungssuche geeichter Geist arbeitete. Dann übernahm jedoch sein Körper wieder, und er schob mein Haar zurück und küsste meinen Hals. »Du bist wahrscheinlich kurz in einen vermasselten Test gerutscht.« Er schmiegte sich wieder an mich. »Ich kümmere mich morgen darum.« Und damit vergaßen wir die Sache, überwältigt von einem ungelenken Drängen unserer Körper und einem tieferen Kuss.
Es war nicht so, dass ich ihn nicht wollte. Manchmal schon. Manchmal verfiel ich in einen Rausch aus Haut und Zungen und durcheinandergeratenen langen blonden Haaren – seinen und meinen –, und es gab Momente reiner Schönheit. Dann sah ich auf ihn hinunter, sah ich auf uns hinunter, und ich bemerkte, wie blond und gut aussehend wir waren – und empfand gar nichts. Oder vielmehr, ich spürte durchaus etwas, aber es war so schal wie die Gerüche im Tank.
Als er an diesem Abend vor meinem Wohnhaus seinen Unterleib gegen meinen schob, kam es nicht zu mehr. Mein Körper, ein besserer Richter als der Verstand, schien irgendeine emotionale Fehlanpassung zwischen uns wahrzunehmen. Jeff gab auf und zog sich enttäuscht zurück, aber er war nicht wirklich verärgert. Er fragte mich nicht, warum ich allein sein wollte. Er machte sich auch keine Sorgen, ob ich ihn liebte oder auch nur wollte. Ich würde ihn im Labor sehen. Er würde mir Kaffee einschenken, wir würden lächeln, und er würde mir zuzwinkern.
Niemals würde er erfahren, was ich an den Abenden tat, an denen ich allein in meine Wohnung ging.
Ich zog den Reißverschluss meines Schneeanzugs hoch und schlüpfte in warme, mit Spikes versehene Stiefel. Dann verließ ich das Gebäude durch die Hintertür, die für seltsame Leute wie mich gedacht war, die sich auf die andere Seite des Tores begaben. Ich trat in die Nacht und begann, die erstarrten Wellen eines reglosen Meeres zu ersteigen.
Mein Wohngebäude grenzte an der einen Seite an den Gletscher – den einzigen, der noch übrig war, stabilisiert und ausgeweidet von dem Unternehmen, dem auch der Tank gehörte. Jenseits des Tores erstreckte sich die schier unendlich weite weiße Fläche, über die ich mich jetzt bewegte. Ein Ozean, der mitten im Wogen und Krachen zu Eis erstarrt war. Marmoriertes tiefstes Grün und Weiß, uralt und reglos. Ich hatte gelesen, dass es einst dreizehn Gletscher gegeben hatte, von denen einige unermesslich groß gewesen waren – mindestens fünfzehn Mal so groß wie der hier und so weit weg von hier, dass ich ihn mit den Augen nicht hätte sehen können.
Als ich hoch genug gestiegen war, drehte ich mich um und blickte zum Atlantik, der zwanzig Meilen entfernt war. Die gesamte Fläche bis zu dem fernen Wasser war bis auf das letzte Fleckchen mit Türmen aus Glas und Metall zugebaut. Unzählige Lichter leuchteten gleichmäßig hinter den Fensterscheiben, bewegten sich nie in einer Brise oder einem Windhauch. Zwanzig Millionen Menschen lebten hier, und es scherte sie nicht, dass diese Lichter niemals flackern konnten. Die Gebäude türmten sich wie Felsklötze. Das Ganze ein einziges Hügelgrab, eine Gruft für wandelnde Tote.
Ich flüsterte ein uraltes Schlaflied für sie.
Alle begaben sich zur Ruhe.
Ich sprach die Worte aus den Hofnotizen, einem Tagebuch aus der Wikingerzeit, das ich übersetzt hatte.
Gute Nacht den Smali und Kyr und Hross. Den Schafen und Kühen und Pferden.
Dem Gras auf den Wiesen, den groben Mauern.
Den Sternen und dem Herdfeuer und dem starken Haus. Den Wäldern und den Walen und dem Meer.
Ich flüsterte schläfrig von jungen Mädchen, deren Zöpfe im Feuerschein leuchteten.
Die Enden meiner eigenen langen Zöpfe leuchteten fahl in der Nacht. Warmer, synthetischer Pelz kratzte an meiner Stirn und meinen Wangen, aber meine Nase und meine Lippen spürten gar nichts. Steif drückte ich einen Kuss auf meine behandschuhte Handfläche, hob die Hand und ließ den Kuss frei, damit er irgendjemanden erreichen konnte.
Danach kehrte ich ins Haus zurück, um zu lesen.
Auf den Monitoren an den Wänden leuchteten grüne Wiesen mit unzähligen Blumen und Pferden darauf – es waren die einzigen Farben in meiner ansonsten sachlich gehaltenen Wohnung. Meine nackten Zehen bohrten sich in die Rillen der Küchenfliesen, nachdem ich Stiefel und Anzug ausgezogen und im Wohnzimmer auf dem Boden liegen gelassen hatte. Während ich darauf wartete, dass die Kaffeemaschine stotternd und lärmend zum Leben erwachte, teilte ich meinen Kontaktlinsen mit, dass ich das Tagebuch sehen wollte.
Jeff behauptete, dass es unmöglich sei, den Moment zu spüren, in dem sich die undurchsichtige farbige Iris der Kontaktlinsen wie eine Blende schloss, sodass die Augen zum Lesen bedeckt wurden. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass ich es sehr wohl spüren konnte. Fast hörte ich ein Klicken, als würde ein Schlüssel im Schloss umgedreht.
Die Buchstaben erwachten zum Leben. Der Scan des uralten Buches zeigte sie so, wie sie niedergeschrieben worden waren, im allgemein gültigen Alphabet und nicht in den heiligen Runen. Winzige Buchstaben erstreckten sich über die Seiten aus Birkenrinde, die zu grobem Papier verarbeitet worden war. Die Wörter an den Rändern und ganz oben – auf dem Kopf stehend – waren so klein, dass viele Dutzend Bemerkungen auf jedes einzelne dieser kostbaren Blätter passten. Die Tinte war allerdings so zerflossen, dass die Worte fast nicht mehr leserlich waren; es sah vielmehr so aus, als hätte jemand sie mit einem Borstenpinsel geschrieben.
Ich hatte sie selbst übersetzt und konnte mich an jede einzelne Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Wort erinnern, an jede Zeile und jede Redewendung. Dennoch wollte ich alles noch einmal lesen.
Ich hatte das Tagebuch in einem aufgegebenen Museum gefunden, einer Wikingerruine, die sich drei Ebenen tief unter der Stadt befand. In dessen Magazin gab es elektronische Dateien, die irgendwann von jemandem zusammengetragen worden waren, dem das alles einmal etwas bedeutet hatte, und die später nie gelöscht worden waren. Es gab Dateien zur Datierung von Steinen, umfangreiche Listen von Artefakten, Bilder von Spindeln und Kämmen und Miniaturkellen zum Säubern der Ohren. Auch das Bild einer Holzpuppe war dabei, zerbrochen und in einem elektronischen Grab ruhend.
Zwischen all diesen Datenmassen fanden sich auch Schnipsel und Zitate aus späteren Sagen und Geschichten, die der einst hier lebenden Familie zugeschrieben wurden. Sie berichteten von einem beeindruckenden Häuptling mit Augen aus kostbarem Metall und einem Gesicht, das aussah wie der Tod selbst. Einem Mann, der mit den eigenen Händen neue Götter formen konnte. Seine Frau war eine Gestaltwandlerin. Das Ganze war fantasievoll und elektrisierend und typisch Wikinger.
Aber selbst in einem derart dramatischen Haushalt musste jemand die Wolle gesponnen haben. Jemand musste die Kinder gefüttert, das Feuer geschürt, den Fisch an Trockengestelle gehängt haben.
Ich suchte in der Datenbank herum und fand sie – die Bauersfrau dieses Hofes. Zwischen einem Haufen uralter wissenschaftlicher Abhandlungen über die Zerstörung der isländischen Wälder und langen Listen ausgestorbener Tiere sowie Bildern von tapsigen Alken und springenden Lachsen befand sich ihr Tagebuch.
Ihre Worte ruhten in einem hölzernen Kästchen mit Eisenscharnieren. Dem Scan zufolge war es nicht größer als meine zwei Handflächen. Die Vorderseite schwang auf wie zwei Türen, die den Eingang zu einer Märchenwelt bildeten. Bewacht von einer metallenen Schnalle in Form eines Drachenkopfs.
Das Bild des Kästchens schwebte neben den groben Blättern, die allesamt eingerissen und fleckig waren. Die ersten paar enthielten nichts als auf den Handel, unter anderem mit Vieh, bezogene Angaben. Erst nach dem letzten Eintrag tauchten Worte auf, bei denen mir der Atem stockte, als hätte mich der Blitzschlag getroffen: ein Wiegenlied! Nach all den alltäglichen Auflistungen, die diese Frau verfasst hatte, war dies der erste richtige Eintrag.
Ihre Worte zogen sich über ein weiteres Dutzend Seiten, füllten sie von Rand zu Rand, nutzten jeden Quadratzentimeter. Hier, auf dem letzten Rest Birkenrindenpapier, stand ein Liebesgedicht. Jene Art von Gedicht, von der man annahm, dass sie erst ein Jahrhundert später entstanden war. Die gefährlich war und einem Wikinger den Tod bringen konnte.
… von gelben Birkenblättern getüpfeltes Licht
auf einem Gitterwerk aus strahlend weißen Knochen
wo Küsse nicht von Fragen begleitet werden und keine Folgen haben
wo meine Hand auf deinem Bauch ruht
um sich nur mit deinem Atem zu bewegen.
Die Worte waren von einer Person geschrieben worden, die es nicht gewohnt war zu schreiben, denn die Buchstaben waren zittrig und ungleichmäßig. Sie wanderten an den Rand des Blattes, wo sie aufhörten, als wäre das Gedicht irgendwo anders weitergegangen.
Es musste mühsam gewesen sein, die zerbrechlichen Seiten zu scannen, und einige fehlten ganz. Nur wenige waren übrig geblieben, in unterschiedlichem Ausmaß zerfallen. Drei für die Tiere und die Wochen und das Silber – und dann das Tagebuch, das den ganzen Rest einnahm.
Die Frau, die es geschrieben hatte, hatte sich mit Kabeljau und Vliesen und Butter beschäftigt und nicht mit Geistern. Ich sah sie als Nichte des furchterregenden Häuptlings vor mir. Eine junge Frau, die verstohlen im Dunkeln schrieb und ihre Worte in Leder band, das ein normaler Ehemann liebevoll hergestellt hatte. Ein Bauer, der mit Gras und Tieren und Äxten zu tun hatte und nicht nach Furcht einflößender Macht über Siedler und Geister strebte.
Das gut bewahrte Geheimnis dieses Buches stellte für mich etwas sehr Kostbares dar. Es musste sich um eine der frühesten umgangssprachlichen Schriften handeln, die noch erhalten waren. Die Sprache war seltsam und wunderbar – eine poetische, unerwartete Mischung aus Nordisch und Isländisch und etwas Unbekanntem, etwas Zwischenweltlichem. Die Worte stammten aus einem vollkommen unbekannten Land – einer zerklüfteten Wildnis, die kurz davor stand, zu einem regierten Land zu werden. Das Buch war in einer Sprache geschrieben, die sich allmählich von dem entfernte, was in Norwegen zurückgelassen worden war, und sich einem neuen Kanon von Lauten zuwandte, sodass eine neue Sprache entstand.
Ich liebte vor allem die Beschreibungen ihres Alltags. In einer Zeit, da lebhafte Einbildungskraft die Menschen sonst überlebensgroß aufblähte, stellte dieses Tagebuch etwas Vertrauliches dar, das dem wirklichen Leben viel mehr entsprach.
Ich konnte es so flüssig lesen, wie ich Wasser trank. Die Wortwahl, die Reihenfolge, der Rhythmus offenbarten sich mir bereitwillig. Ein Aufblitzen von rabenschwarzem Haar auf kühlem Leinen; der Geruch von Birkenpech und der Wurzel einer Pflanze namens Schneeblüte; der Blick über eine winterlich glitzernde Landschaft von der Schwelle des Hofes dieser Frau auf die blaue Morgendämmerung.
Andere Übersetzer hätten vielleicht von »dunklen Haaren auf einem Hemd« gesprochen oder von einem »schneereichen Morgen«. Ich jedoch sah sie in allen Einzelheiten vor mir, als würden die Erinnerungen und Worte auf meiner Zunge und unter meinen Händen lebendig werden. Wimpern auf Wangen, die geliebte Form eines Ohres. Zerdrückter Wacholder auf meinen Händen und meinem Hals, der Wärme wegen, schrieb sie. Des Duftes wegen.
Manchmal ließ ich ihre Worte riesengroß auf einem Wandmonitor erscheinen. Schlittschuhlaufen auf dem Fluss. Der Himmel heute war herrlich, ganz Eis und violett. Ich konnte mich tiefer und tiefer in die Tintenstriche eingraben. Jedes Jahr, jede Nacht, jedes vergangene Wort. Ich sah genauer hin, noch genauer, als könnte ich hineinklettern.
In einsamen Nächten versuchte ich, nicht zu viel darin zu lesen. Es fühlte sich erbärmlich an, wenn ich in meine Decken eingehüllt dasaß, umgeben von ihren Bäumen und summenden Fliegen, ihrem Gras und den Pferden und dem riesigen Himmel. Ihrer Familie und ihrem Ehemann.
Irgendwo musste es für mich jemanden geben, der wirklich war. Jemanden, den ich wirklich kennen würde, wirklich lieben konnte. Ein Teil von mir gestand sich ein, dass ich ihn niemals hier in meinem Zimmer finden würde, solange ich die Augen verschloss und mit dem Herzen in der Vergangenheit weilte.
Die Grenzen wurden diffuser. Der Kaffee, die Kissen und Decken, meine Vorstellung davon, wie echter Pelz riechen musste, das grüne nasse Gras und die abgeschälte bittere Rinde. Die Menschen schienen wirklich da zu sein. Auch der Bauer, ihr Ehemann, war so deutlich, dass ich ihn fast berühren konnte. Er war ihre Knochen, ihr Blut und ihr Heim – ihr Haus selbst –, und zwar auf eine Weise, wie ich es noch nie erlebt hatte. Die Worte berauschten mich. Abenddämmerung, orangefarbenes Licht auf vierzehn guten Vliesen. Er wäscht sich die Hände, und in meinen Augen wird er immer schön sein.
Der leere Becher in meinen Händen wurde kalt und die Heizung für die Nacht heruntergefahren. Ich ließ mich in die Kissen sinken, meine Augen müde unter den Kontaktlinsen. Ich stellte den Becher sanft auf den Boden, verkroch mich tiefer unter den Decken und schlief allmählich ein. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern schwebten immer noch Worte. Erschöpft und hungrig vom Heuen. Alle haben alles gegeben, um im Winter zu essen zu haben. Er schläft sorglos wie ein Kind.
Mit einem Ruck öffneten sich meine Lider und zeigten mir mein Zimmer im grellen Tageslicht, während die Hofnotizen aufgeschlagen wurden. Ich beschattete meine Augen und drehte mich vom Fenster weg, blinzelte heftig.
Ich dachte, ich hätte an den Wänden eine Bauernhofszene zurückgelassen, aber jetzt sah ich dort ein unheimliches, dunkles Grünblau. Ich befand mich im Meer, und durch die Wasseroberfläche schickte die kristallklare, eisfarbene Sonne ihr Licht hier herab. Meine Zimmerdecke glühte in einem frostigen, sonnig glitzernden Blau.
Etwas Dunkles bewegte sich, ein Schatten nur, in einem noch tieferen Blau vor dem Hintergrund des Wassers. Ein mir vertrautes Tier, das ich in Archiv-Videos gesehen und gehört hatte.
»In der Dunkelheit zur Straße der Wale aufgebrochen«, flüsterte ich, und dann erinnerte ich mich an die übrigen Worte, die ich mir eingeprägt hatte. Ich sehe vor mir, wie sie im Lager sind, lauter Speere und Feuer. Vier Nächte jetzt, die ich allein in unserem Bett verbringe. Meine Hand schließt sich um dieses weiße Fell, seine um schwarzen Sand. Die eindringliche Stimme des Wals, ganz wie die in den Archiv-Videos, schwoll an und erfüllte mein Zimmer.
Wieder erwachte ich, und diesmal plärrte meine Wohnung lauthals die Zeit heraus. Ich würde zu spät kommen.
Benommen zog ich mich an, träufelte mir Tropfen in die Augen und befahl meiner Wohnung murmelnd, den Wecker abzustellen. Dann legte ich die Kleider an – ein Unterhemd aus Leinen, ein Überkleid, eine Schürze. Meine charakteristische Kette mit dem Perlen- und Nadelkästchen wickelte ich mir doppelt um den Hals. Der geflochtene Ledergürtel rutschte mir immer wieder durch die Finger, verhedderte sich. Heute sollten Tests im Tank durchgeführt werden. Wir wussten, dass wir uns nicht verspäten durften, hatten eine Vorstellung davon, wie es war, wenn die Minuten verrannen, während der Tank online und niemand darin war.
Ich rief meiner Wohnung »wie immer« zu. Sie würde sich hinter mir verschließen, um neunzehn Uhr die Temperatur hochfahren, für gedämpftes Licht sorgen. Ich griff nach meinem kleinen Messer auf der Ablage im Flur und schob es in die Kunstlederscheide an meiner Taille. Im letzten Augenblick nahm ich noch die Perlenkette, die ich für Morgan gemacht hatte. Zehn Minuten insgesamt, und ich war draußen.
Kaffee spritzte auf mein Kleid. Reglos und benommen stand ich in der Tür zum Café und starrte auf den Fleck, der sich auf dem seltenen, handgesponnenen Flachs ausbreitete.
»Götter, das tut mir so leid.«
Ein großer Wikinger berührte mich am Ellbogen. Mein Blick fiel auf sein kräftiges Handgelenk; ein ramponierter Armschutz wie aus Leder mit Schnallen aus Eisen schützte es. Die Hand war von Narben und die Armschiene von tiefen Schrammen gezeichnet, die von Dutzenden von Waffen zu stammen schienen. Mein Herz raste. Waren sie womöglich echt? Stammte das Leder etwa wirklich von einer Kuh? War er vielleicht ein fanatischer Realist?
Kettenglieder klirrten, als er mich zur Seite zog, in Richtung Türrahmen. Ich sah ihm in die Augen und bemerkte, dass sie freundlich waren und himmelblau. Ich sah, wie sie aufleuchteten, als er meine Haare und die Kleidung bemerkte – die langen Zöpfe, das schlichte Stirnband. Das Kästchen mit den Glasperlen und den Nadeln über meiner Brust.
Er sprach jetzt Altnordisch. »Kann ich dir helfen, Maid?« Die Art, wie er redete, klang fast perfekt, als wäre er mit der Sprache vertraut. Seine Stimme war tief, und eine Sekunde lang stellte ich mir vor, dass er irgendwie traumhaft war. Aber ich musste gehen.
»Nei«, antwortete ich fast seufzend in der alten Sprache. »Es ist nichts passiert. Und ich bin ganz in der Nähe meines Arbeitsplatzes.«
Ein ungeduldiger Ninja drückte sich an uns vorbei, und die eisgekühlte Latte in seinem Becher schwappte hin und her.
Der Wikinger und ich sahen uns noch einen Moment lang an, dann wurden seine Augen weicher und verloren ihren Fokus. Er las etwas. Vielleicht meine Größe oder eine Wetterwarnung. Geistesabwesend, wie er war, verschwand das Lächeln von seinem bärtigen Gesicht.
»Leb wohl, Wikinger«, sagte ich zu ihm und zog davon.
Er sagte nichts. Ich ließ ihn in den Text vor seinen Augen versunken zurück. Er war also doch kein fanatischer Realist. Dabei hatte er auf so ungewöhnliche Weise lebendig gewirkt. Aber er schien mir auch zu gutmütig zu sein, um ernsthaft echte Tiere zu opfern oder eine junge Frau wie mich zu schänden oder mir Schmerzen zuzufügen. Abgesehen davon, hatte er einen winzigen Espresso in der Hand gehalten.
Es war klar und sonnig, und wir hatten achtzehn Komma vier Grad Celsius, wie mir meine Kontaktlinsen verrieten. Für einen Morgen im August war das kühl, aber immerhin waren die Sonnenstrahlen warm genug, dass der Kaffeefleck vorn auf dem Kleid zu trocknen begann – und auch bitter zu riechen. Na schön. Dann würde ich eben im Tank den ganzen Tag etwas Echtes zu riechen haben.
Eine Gruppe von lachenden Männern kam mir entgegen; sie trugen die grauen Jacken der Konföderation. Der eine trug beiläufig die Attrappe einer Muskete auf der Schulter. Worte tauchten vor meinen Augen auf, schwebten neben den Soldaten her.
Die Wurzeln der Civs liegen in den Reenactments zur Hundertjahrfeier des Amerikanischen Bürgerkriegs in den 1960er Jahren, als lebendige Geschichte noch ein Hobby war, das nur von wenigen gepflegt wurde.
Jetzt, im zweiundzwanzigsten Jahrhundert, bewegten sich in einem gewissen Maße alle in Zeiten und Welten, die vor unserer existiert hatten. Wir studierten und diskutierten und reanimierten die Worte und die Moden von einhundert Vergangenheiten und adaptierten sie, als gäbe es nichts grundlegend Neues, Eigenständiges mehr. In den Nullerjahren und dem anschließenden Jahrzehnt war es noch ungewöhnlich gewesen, Teil einer anachronistischen Kultur zu sein. Jetzt war es die Norm. Jeder hatte ein Land und eine Zeit, die er besonders schätzte, und lebte sooft wie möglich darin.
Ich bahnte mir meinen Weg durch eine Menge, die sich zu einem Picknick im Park versammelt hatte. Diejenigen, die standen, erzeugten ein Dach aus Sonnenschirmen über mir. Dieser kleine grüne Flecken umgab eines der wenigen noch intakten alten Bauwerke der Stadt, eine bezaubernde steinerne Brücke, die von denen erhalten wurde, die sich die Illusion von Picknicks am Flussufer verschaffen wollten. Aber es floss längst kein Wasser mehr unter der Brücke hindurch. Krähen – die einzigen Vögel, die wir kannten – hockten links und rechts auf der geschwungenen Brüstung, warteten auf Brot und Fleisch.
Die vielen Picknickkörbe und Decken sorgten dafür, dass nur ein paar Quadratmeter Gras zu sehen waren, und das wenige war auch noch schmutzig und schwach. Ich sank auf die Knie und kämmte die Grashalme mit den Fingern, half ihnen, sich aufzurichten. Ich tätschelte das Gras, so wie Menschen es früher mit Hunden getan hatten.
Ein scharfer Absatz trat auf meine Hand, und eine Frau stolperte und fiel über meinen Rücken.
»Verdammt, was soll das?«, bellte sie mich an. Ihr Kleid hatte kleine weiße Puffärmel wie Jane Austens Kleider während ihrer Zeit im sommerlichen Bath. Ein Mann in einem Gehrock mit einer Art Schwalbenschwanz half ihr auf und richtete ihren winzigen Sonnenschirm. Die beiden verschwanden verstimmt.
Während ich dastand, schwammen Worte vor meine Augen. Diese Steinbrücke wurde 1928 erbaut. Ich schüttelte den Kopf. Irgendwie war ich im Touristenmodus stecken geblieben. Ich klimperte ungeduldig mit den Augenlidern, und die Kontaktlinsen stellten sich ab.
Ich wischte mir Schmutz von der Nase.
In einer Welt, in der wir primär durch immaterielle Fäden miteinander verbunden waren, hätten wir eigentlich in der Lage sein sollen, einander im physischen Wirrwarr der Vergangenheit zu finden. Schmerzhaft, fröhlich, widerlich, romantisch. Die Leute verbrachten Tage und Nächte mit unterschiedlichem Fanatismus in authentisch wirkenden Settings. Sie lechzten nach ihren Welten. Sie tauchten inbrünstig in sie ein.
Aber da war doch stets eine tröstliche Wahrheit: dass es nur ein Spiel war. Sie wollten die Festgelage, Speere und Walküren, aber nicht die chaotische Schönheit eines echten Hofes, nicht den Gestank von Tieren und Arbeit, die auf viele Hände angewiesen war. Sie wollten ein Fass Met opfern, kein Pferd, und sie wollten, dass jemand hinterher für sie aufräumte.
In dieser gegenwärtigen realen Welt wollte das Unternehmen, für das ich arbeitete, den »Tank« platzieren. Eine Umgebung, die sich absolut real anfühlen und die Menschen miteinbeziehen würde.
Die Leute würden verrückt danach sein. Die Chance, in eine vollkommen reale Welt abzutauchen, mit Menschen zu interagieren, die nicht wussten, dass sie keine echten Wikinger waren – oder Ninjas, Grafen, Kurtisanen oder Ritter –, würde wie eine Art Erleuchtung sein. Alles, was die Leute tun mussten, war, eine Menge Geld zu bezahlen und die Empfindung auszuhalten, die mit dem Betreten des Tanks verbunden war. Und am Ende der Feste und Kämpfe würde sich praktischerweise alles hinter ihnen auflösen, und sie konnten rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein.
Das Unternehmen hatte ein Team zusammengestellt, das dieses Projekt entwickelte und testete. Unser Fachwissen spiegelte die vermeintlichen Wünsche und Begierden der Bewohner unserer heutigen Welt und ganz besonders all jener Menschen, die bereit sein würden, viel Geld auszugeben, sobald der Tank erst allgemein zugänglich wäre. Wir waren Kostümbildner und Sprachkünstler, altertümliche Silber- und Eisenschmiede, Textilhandwerker und Kürschner. Wir spezialisierten uns auf die Rüstungen und die galanten Worte der mittelalterlichen Ritter; auf die typischen wollenen Umhänge von Männern, die romantisch durch die schottischen Hochlande streiften; auf den Faltenwurf der Togen und die geschnörkelte Sprache römischer Aristokraten, die Lumpen und Waffen der Gladiatoren. Auf elegante Gatsby-Anzüge und die Düsternis der Punkszene im London der 1980er Jahre.
Ich hatte die Sprache, den Dialekt für das Wikinger-Herzstein-Szenario erschaffen, einen Schauplatz in einem authentischen Langhaus des zehnten Jahrhunderts. Ich liebte die Geräusche, die Worte und die Stimmen, aber heute wollte ich nicht in diese Umgebung eintauchen. Ich würde diesen Tag in der Wirklichkeit verpassen, wenn ich an diesen Schauplatz ging, das Haus betrat, das nur von Flammen erhellt wurde und von dem Licht, das durch eine quadratische Aussparung im Dach hereinfiel, durch die man den Himmel erahnen konnte. Meine Schritte wurden langsamer, während ich mich dem Unternehmen näherte.
Die unscheinbare Tür verriet wenig über das Gebäude, das nur zwei Stockwerke hoch zu sein schien. Der größte Teil der riesigen Korridore des Unternehmens, die glänzenden, sauberen Büros, die Labore und die Wellnesseinrichtungen waren in den stabilisierten Gletscher hineingebaut worden. Sie erstreckten sich weiter ins Eis, als irgendjemand wusste – endlose Stockwerke tief. Wenn ich hineinging, würde ich anschließend durch eine weitere Glastür gehen – die dreimal so hoch war wie ich – und in einen Raum gelangen, der wie das glitzernde blaue Innere einer Kathedrale wirkte.
Ein ausgesprochenes Zögern ergriff mich.
Ich verabschiedete mich von der chaotischen Gebäudelandschaft um mich herum. Verabschiedete mich von den bauschigen Wolken, die sich endlos in Glasscheiben spiegelten. In den Fenstern war ein Flugzeug zu sehen, dessen verschiedene Abbilder sich in hundert Richtungen gleichzeitig zu bewegen schienen. Es brummte, und ich wurde von einer starken Trägheit ergriffen. Jahrelang hatte ich nicht gewusst, dass es sich um einzelne Maschinen handelte. Erst, als ich den unterirdischen Zug zum Flughafen genommen hatte und zum Studieren nach Norwegen geflogen war, hatte ich es begriffen.
Ich hatte nach unten geschaut, weil ich unbedingt die fanatischen Realisten sehen wollte, die im Innern Islands in ihren Häusern lebten, dort feiern und wüten und jenen Festlichkeiten und Kämpfen Leben einhauchen konnten, die wirkliche Wikinger erlebt hatten. Dort draußen, jenseits des Gletschers, wo die Realisten lebten, musste mein Flugzeug den Eindruck erwecken, als würde es ganz von allein vorbeifliegen. Ich stellte mir vor, dass es ein Geräusch machte wie eine Biene.
Ich sah allerdings keine Höfe, sondern nur die Stadt, die sich von der Küste bis zum Gletscher erstreckte. Ich hatte das Gebäude gesehen, in dem ich wohnte, das allerletzte vor der natürlichen Grenze – einem gefrorenen, gegen seine Mauern klatschenden Ozean.
Ich fürchtete die ersten Momente im Tank. Jeff sagte, dass das Gefühl von Wasser zu den ersten komplexen virtuellen Triumphen gehörte, welche die Pioniere dieser Art von Programmierung vor langer Zeit zustande gebracht hatten. Selbst jetzt war die Empfindung von sich bewegendem Wasser das beste Tool, das sie besaßen, um die Sinne aufzuschrecken und den Geist zu klären. Nach diesem »Eindruck einer kräftigen Dusche«, wie er es nannte, war der Geist bereit, überall einzutreten, in jede erdenkliche Zeit. Und so musste ich darin ertrinken, um in der Zeit der Wikinger wiederauftauchen zu können.
Die schlicht aussehende Tür des Unternehmens glitt mit einem weichen Zischen auf.
Morgans rotbraunes Haar loderte wie Feuer vor einem Meer aus Grau. Ihre Werkstatt war voller Metall in allen möglichen Versionen und Zuständen, angefangen vom hellen, silbrigen Glanz ihrer Werkbank bis hin zum eisengrauen Rauch, der kurz in der Luft schwebte, bevor er vom Filtersystem eingesaugt wurde. Die einzige Farbe, die genauso intensiv leuchtete wie ihr Haar, war die der Flammen eines echten Holzfeuers in der Ecke. Eine riesige Abzugshaube befand sich darüber und nahm den Rauch auf. Dennoch blieben ein paar Reste zurück und vermischten sich mit dem metallischen Geruch von Werkzeugen, Metallstaub, Zinn und Kupfer. Alles zusammen machte den Geruch von Morgan aus.
Die kleine Halskette, die ich für sie hergestellt hatte, war nichts Besonderes und bestand nur aus ein paar hübschen Perlen, die ich gefunden hatte. Ich war nicht sehr geschickt mit den Händen und hatte bei dem kleinen Metallverschluss etwas gemogelt. Trotzdem dachte ich, dass sie ihr gefallen könnte.
Noch hatte sie mich nicht gesehen. Sie formte leise ploppende Geräusche mit den Lippen, die zu der Musik aus ihren Kopfhörern passen musste, während sie ein paar Hundert winzige Dellen in einen mächtigen Armreifen hämmerte.
Die gereinigte Luft kehrte abgekühlt in den Raum zurück. So ähnlich, dachte ich, musste sich ein Bach im Wald anfühlen. Ich hob die Hand und hielt die Finger vor die Lüftung; die Luft bewegte sich wie sich kräuselndes Wasser. Ich stellte mir vor, dass meine Hand eintauchte, schimmernd und verzerrt zu sehen war. Erschaff’ für mich einen Bach, Jeff.
Ich schickte ihm sanft meine Bitte, als könnte er sie wirklich hören. Auf der Stelle hätte ich mich in einen Mann verlieben können, der mir einen Bach und ein Pferd gab.
Aber Jeff konnte so etwas nicht tun, und das wusste ich auch. Weitreichende Outdoor-Szenen waren im Tank nicht möglich. Noch nicht.
Morgan hörte auf, zur Musik Geräusche zu machen, und als ich mich zu ihr umdrehte, stellte ich fest, dass sie mich musterte. Sie hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ich zog meine Hand aus dem Strom der sauberen Luft und begrüßte sie. Sie stellte mit einem Blinzeln die Musik ab und sagte: »Du siehst fantastisch aus, Jen.«
Ich hob die Röcke meines neuen, herrlichen Kleides und machte einen Knicks. »Auf dem anderen sind Kaffeeflecken.«
»Nein!« Sie war entsetzt, und dann prustete sie vor Lachen. »Götter, ich wünschte, ich hätte Veras Gesicht sehen können.« Morgan blies die Backen auf, wie die Kostümhistorikerin es immer tat.
»Es lag nicht an mir«, erzählte ich. »Es war ein Mann. Im Eingang zum Café.«
»Zum Linux Club?«, fragte Morgan. So nannten wir den Coffee-Shop, in dem Jeff derzeit gern abhing. Jeffs bevorzugte Zeit war die der technischen Revolution um die Wende zum 21. Jahrhundert. Er und seine Freunde liebten es, so zu tun, als würden sie zum Programmieren nichts anderes als die alten Tools verwenden. Außerdem verbrachten sie eine Menge Zeit mit den Baristas.
»Ja. Ein Rabenfütterer.« Ich seufzte. »Und er trug eine Kettenrüstung.« Der Mann war ein Krieger gewesen, mindestens ein Plünderer. »Er hat mich mit seiner Axt angerempelt.«
Noch immer war ich wie benebelt, wenn ich an meinen tiefen Blick in die zwei großen Wikingeraugen dachte, kurz bevor diese glasig geworden waren. »Hm. Und dann war es auch noch im Park ein bisschen schmutzig geworden«, erklärte ich.
Ich hob den Arm und musterte die hübschen, sanft geschwungenen Konturen der glockigen Ärmel. In der kirschroten Farbe der handgefärbten Wolle leuchtete ein Hauch von Bernstein. Ich hatte nur dieses Kleid als Ersatz. Der große Wikinger und mein Verhalten im Park hatten dafür gesorgt, dass ich jetzt kein Bauernmädchen mehr war, sondern eine nordländische Prinzessin. Eine überaus reiche junge Frau im Island des zehnten Jahrhunderts. Nicht gerade authentisch für das »Herzfeuer«-Szenario, das ich testen sollte, aber es würde genügen müssen. Und immerhin fühlte ich mich auf diese Weise hübsch.
»Ich bin spät dran und noch nicht fertig«, fuhr ich fort. »Und wahrscheinlich werden mich alle umbringen, aber ich wollte noch kurz mit dir reden.«
»Ja, ich möchte, dass du ein paar neue Sachen trägst.« Sie trat zu mir und kniete sich vor mich hin, nahm mir das Messer ab und ersetzte die bisherige Scheide durch eine neue. Ich hob die Hände, damit sie nicht im Weg waren. Im künstlichen Licht wirkten die Knochen meiner Finger starr und steif. Ich krümmte sie, träumte immer noch von einem kühlen Bach. Ein Stückchen ungebleichtes Leinen kam an beiden Handgelenken zum Vorschein, blitzte unter der roten Wolle hervor.
»Nein, ich wollte mit dir reden«, sagte ich zu ihr. »Ich möchte dir etwas geben.« Ich holte die Halskette aus meiner Tasche.
Morgan unterbrach ihre Arbeit an meinem Gürtel und sah kurz auf die Perlen.
»Verstehe«, sagte sie. »Der Verschluss ist hier und hier falsch.« Sie deutete auf die Metallteile, dann legte sie die Kette zur Seite. »Ich kann später für dich daran arbeiten.«
Oh.
Ich spürte plötzlich einen Stich und kniff die Augen zusammen.
Sie bat mich, mich hinzusetzen, damit sie mir die Haare machen konnte. Der Kamm, den sie benutzte, hatte frische Ätzverzierungen. Während sie meinen Kopf drehte und beim Kämmen an meiner Kopfhaut zerrte, schloss ich vorsichtshalber die Augen, falls mir die Tränen kommen sollten. Einmal öffnete ich sie kurz, um mit einem Blinzeln in den Lesemodus zu schalten. Die Iriden meiner Kontaktlinsen schlossen sich, und ich murmelte: »Steeplechase, Atlantic City.«
Worte erschienen. New Jersey, Vereinigte Staaten, Wende zum 20. Jahrhundert. Steeplechase hatte einen von vielen Holzpiers, die sich in den Atlantischen Ozean erstreckten und Unterhaltungsattraktionen und Fahrgeschäfte beherbergten. Eröffnung im August 1899. Dreimal zerstört …
Ich blinzelte mit den Augen, damit der historische Teil schneller ablief und ich endlich zu den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts kam. Aber die Daten endeten vorher. Im Jahr 1932 entstand durch die 26 000 Glühbirnen einer Leuchtreklame ein Feuer, und …
»Es ist nicht möglich, weißt du.« Morgans kalter Finger ließ mich zusammenzucken, und die Worte verschwanden. »Es hier zu machen.«
Sie berührte meinen Nacken.
»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Der Rabe.«
Ich wollte unbedingt ein Tattoo haben – einen stilisierten Vogel aus Schnörkeln und Linien im dunkelsten Blauschwarz. Ich wollte es schon eine ganze Weile und hatte Morgan gebeten, so etwas zu entwickeln, aber in den Archiv-Videos fand sich kein Hinweis darauf, dass es diese Art von Körperschmuck im besiedelten Island gegeben hatte. Aus keinem Wikingerland waren flächige Tätowierungen bekannt, schon gar nicht bei einer Frau. Ich stellte mir vor, dass ein Tattoo mir etwas Grimmiges und zugleich Gleichgültiges verleihen würde – das, wonach ich mich sehnte. Ich wollte, dass der Schnabel des Vogels nach oben hin geöffnet war, als würde er an meiner Wirbelsäule aufschreien und nach meinen Haaren schnappen wollen, und die einzige Farbe in dem Bild sollte sein rundes bernsteinfarbenes Auge sein. Aber letztlich würde ich mich entscheiden müssen. Authentizität oder Rabe?
»Skyndi, Kona!« Plötzlich war Jeff da. Er stand in der Tür, hielt einen angeschlagenen Kaffeebecher in der Hand und gab mit seinem amateurhaften Altnordisch an. Dabei konnte er genau drei Dinge sagen: Beeil dich, Frau sowie Wie mache ich das ungeschehen? und Das war nicht meine Schuld.
Ich nahm ihm den Kaffee ab, hielt ihn in sicherer Entfernung zu meinem Kleid und nippte vorsichtig daran. »So spät heute Morgen«, sagte er, »und dabei hast du mich letzte Nacht nicht mal mit zu dir genommen.«
Er zwinkerte, wie ich es geahnt hatte, und sofort wurde es hell im Zimmer. Jeff war großartig, sein rotblonder Pferdeschwanz fiel in unordentlichen Strähnen auf die zwei übereinander getragenen T-Shirts. Die Art, wie die Kopfhörer an seinen Hals stießen, erinnerte an den Reif eines Wikingers. Ich schüttelte den Kopf, erstaunt über mich selbst, weil ich es vorgezogen hatte, die Nacht mit dem Tagebuch zu verbringen.
Aber es wäre einfach nicht richtig gewesen. Er schläft. Ich rief mir die Worte der Bauersfrau in Erinnerung. Ich wusste, dass Jeff nicht zu mir gehörte und auch niemals gehören würde.
»Gehen wir«, sagte er. »Ich brauche dich jetzt auf den Knien.«
Er zog mich damit auf. Das Gefühl beim Betreten des Tanks herabrauschendem Wasser ausgesetzt zu sein – sein »rascher Eindruck einer kräftigen Dusche« –, war so mächtig, dass es mich mehr als einmal buchstäblich umgehauen hatte. Inzwischen hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, mich beim Herzstein hinzuknien, wenn ich eintauchte.
Ich winkte Morgan noch schnell zu, während Jeff mich aus der Werkstatt und weiter hinter sich herzog.
»Ich werde heute Abend nicht da sein«, sagte sie noch und deutete auf das Halsband, das ich ihr gemacht hatte. »Es ist die Nacht der Jahrhundertwende.«
Bei dem Wort erinnerte ich mich wieder. Oh. Richtig. Atlantic City.
Ich hatte vorgehabt, den beiden von den flatternden Röcken auf dem Holzpier zu erzählen, von den vielen Hüten. Alles hatte so falsch, so deplatziert gewirkt, denn die Kostüme stammten aus einer früheren Epoche als aus der Ära der Ultimate Fighting Championships. Aber Jeff nahm meine Hand, und wir gingen einen eiskalten Korridor entlang, wurden von einer Dampfwolke verschluckt, die aus den Lüftungsschächten kam.
Ich erwachte mit dem Gesicht auf schwarzem Sand.
An meiner Wange spürte ich die feuchten, beißenden Sandkörner, und ich nahm die Eindrücke dieses Schauplatzes aus einer schrägen Perspektive wahr. Nach und nach fügten sich die einzelnen Elemente zusammen. Kieselsteine und Felsbrocken in allen Größen erstreckten sich, so weit ich sehen konnte, schimmerten in tausend Schattierungen von Schwarz und Grau.
Über mir erblickte ich einen Felsüberhang, bedeckt mit struppigem, grauem und rostfarbenem Seetang. Ein Stück weiter weg zwei Felsformationen, größer als jedes Gebäude, als knieten gigantische Trolle vor dem schäumenden Meer. Grelles Licht stach mir in die Augen, und dann informierte mich eine leuchtende Nachricht über die Umgebungstemperatur. 12,4 Grad Celsius. Meine Kontaktlinsen. Ich hatte vergessen, sie rauszunehmen, bevor ich in den Tank eingetaucht war. Keine Koordinaten gefunden, berichteten sie, und die Energie war fast verbraucht.
Die Feuchtigkeit des Sandes musste schon einige Zeit in mein Leinenhemd gesickert sein, denn es klebte überall unangenehm an mir. Ein übler Wind kam auf, zerrte jaulend an meinen Haaren und dem Wollumhang.
Dunkelheit eroberte mein Gesichtsfeld wie eine sich über meinen Augen schließende Blume. Als ich erneut erwachte, war alles wie vorher.
Ich zählte die Kiesel, begann wieder von vorn, wenn ich einen Fehler machte. Sie waren eher bläulich als schwarz, einige von ihnen fast violett. Ein wässeriges Licht spielte auf ihnen, das von hoch oben aus dem Himmel kam, aber es war mir schier unmöglich, mich umzudrehen, um nach der Sonne zu sehen. Sehr vage spürte ich ihre Wärme in meinem Nacken, aber bei Weitem nicht stark genug, um die Kälte zu vertreiben.
Das hier war nicht richtig. Es war nicht das Herzstein-Szenario. Und ich wusste nicht, wo ich stattdessen war.
Ich versuchte, den Kopf zu heben, sank jedoch wieder auf den Sand zurück. Meine Arme konnte ich nicht fühlen, aber immerhin ließen sich die Finger bewegen. Bei den Füßen war es genauso. Sie waren in den schweren Stiefeln vor Kälte steif geworden. Ich versuchte, mir die Symptome einer Unterkühlung, die ich aus einem alten Dokumentarfilm kannte, in Erinnerung zu rufen. Mühsame Bewegungen, Verwirrung – das war alles, was ich noch wusste. Ich zog meinen Arm so weit hoch, dass ich meine Finger betrachten konnte. Sie waren bläulich und runzelig wie die Klauen einer Krähe. Ich verglich ihre Farbe mit der des Strandes. Finger wie entrahmte Milch vor dem Schwarzblau des Feuersteins.
Eine Welle schlug sanft gegen mein Bein und weckte mich abrupt wieder. Ich versuchte, mich aufzurappeln, aber meine Gliedmaßen waren völlig taub. Meine Hände und Füße bewegten sich, als wären sie aus Stein. Überall um mich herum hockten geduldig Felsbrocken, vom feuchten Seetang pelzig geworden. Zerklüftet und nass. Oh. Das bedeutete, dass das Wasser bis hierher kommen würde. Diese Stelle würde überspült werden, und ich würde in kürzester Zeit sterben. Ich würde ertrinken.
Ich kämpfte mich weiter vor, fort von den drängenden Wellen. Ich versuchte, mich auf den Rücken zu rollen und aufzustehen, aber mehr als kriechen konnte ich nicht. Es gelang mir immerhin, erst das eine Knie ein Stück nach vorn zu bringen, dann das andere und auf diese Weise durch den vulkanischen Schlamm zu robben. Ich hatte das Gefühl, als würde ich einhundert Pfund Kleidung und Umhang hinter mir herschleppen. Das herrliche rote Kleid war mit Dreck nur so vollgesogen.
Ich zog mich weit genug an Land, dass ich sicher sein konnte, vom Wasser nicht wieder zurückgezerrt zu werden, und dann schloss ich dankbar die Augen. Über dem Rauschen der Brandung war eine schwermütige, nichtmenschliche Stimme zu hören. Der Gesang der Wale. Es klang schön, und lächelnd glitt ich in den Schlaf.
Zwei Gesichter sahen auf mich herab.
Zwei Männer, aber es waren weder Techniker vom Labor noch Wissenschaftler mit ihrer hellen Haut und den ordentlichen Haaren, die darauf hinwiesen, dass sie in einer sauberen Umgebung arbeiteten. Diese Gesichter hier waren von der Sonne gebräunt und vom beißenden Wind und von der Kälte gerötet. Beide hatten aschblonde, wellige Haare mit Zöpfen an den Schläfen, die auf mich herabfielen.
Sie stammten aus der Simulation. Wikinger. Ich befand mich also immer noch im Tank.
»Häuptling«, rief einer von ihnen in donnerndem Altnordisch. »Sie ist wach.« Sein Atem verriet, dass er vor Kurzem Fisch gegessen hatte. Es war ein eindringlicher und komplexer Geruch, einerseits abstoßend, aber auch frisch, ganz und gar nicht wie irgendein übel riechender Mundgeruch. Jeff musste einen Durchbruch geschafft haben. Ich wunderte mich allerdings über den Störimpuls, der dem Mann einen seltsamen Akzent verlieh. Er hatte nur ein paar Worte gesprochen, aber ich kannte die Sprache in- und auswendig und wusste, wie sie hätte klingen sollen. Schließlich hatte ich sie entwickelt, und das hier war sie nicht. Noch nie zuvor hatte ich gehört, dass jemand diese lyrische Sprache so rau hervorbrachte.
Er half mir, mich aufzusetzen, und stützte mich. Mir drehte sich alles vor Augen, und meine Kontaktlinsen bemühten sich stotternd, Informationen zu finden. LX89.9scssXXZ998 877zp. Sie versuchten sich an der Temperatur, an der Größe von irgendetwas, aber es war nichts als ein letztes Aufflackern. Die Daten verblassten, und jetzt waren vier Männer da. Vier Pferde. Einer der Reiter schwang elegant und mit Leichtigkeit ein Bein über den Pferderücken und stieg ab. Ich dachte über dieses Detail nach, fragte mich, wer von den Genies im Labor sich die Mühe gemacht hatte, eine solche Anmut zu programmieren. Die beiden Männer, die über mir kauerten, hatten ihn Herra genannt. Dann war er also ihr Häuptling. Ihr Anführer, der Beschützer und Befehlshaber ihres Clans. Vielleicht hatte sich die Bedeutung dieses Wortes aber auch ein bisschen verschoben, und es hieß einfach nur noch Boss, oder – ich lächelte schläfrig – vielleicht war es die Art gewesen, wie man einen kleinen Jungen anredete: »Hey, Chef!«
Wie auch immer, ich hatte nicht damit gerechnet, im Rahmen des heutigen Tests einem Häuptling zu begegnen.
Meine zwei Retter machten ihm rasch Platz. Er ließ sich vor mir im feuchten Sand auf ein Knie nieder. Er war kein kleiner Junge. Seine Stirn, die lange, gerade Nase und die hohen Wangenknochen schimmerten golden im Licht der untergehenden Sonne. Die markanten Gesichtszüge wurden von Haaren in tiefstem Schwarz umrahmt, durchzogen vom Blauschwarz einer Krähe. Sie waren nach hinten gekämmt, fielen in unordentlichen Wellen über seine Schultern. Sein Bart war kurz geschnitten. Die rabenschwarzen Haare und Augenbrauen bildeten einen Kontrast zu seinen verblüffenden Augen, die wie sonnenbeschienenes Stroh wirkten. Sie schätzten mich ab. Aber hinter dem wissenschaftlichen, wölfischen Blick war eine Spur von etwas Weicherem.
Im nächsten Moment verblassten Haare und Augen gegenüber dem Mal. Ich sog scharf die Luft ein. Es war ein Geburtsmal. Ein gewaltiges sogar, in den Farbtönen von Matsch und Blut und Beeren. Es verdunkelte den größten Teil der linken Gesichtshälfte. Die Ränder waren unscharf wie eine zerklüftete Küstenlinie, gegen die eine wütende Brandung klatschte. Ich folgte dem Mal den Hals hinab, bis es in seinem Leinenhemd verschwand. Der Mann wirkte so real, dass es mir fast leidtat, wie ich ihn mit meinem Blick beleidigte.
Er erhob sich abrupt, und mit äußerst sparsamen Bewegungen drehte er sich um und stieg auf sein Pferd.
»Nehmt sie mit«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Er ging einfach davon aus, dass die anderen gehorchen würden. Tatsächlich war seine Stimme auf ruhige Weise gebieterisch, und ich dachte träge, dass ich ihr überallhin folgen würde. Zugleich weckte sie erneut einen Gedanken in mir. Der Akzent, die nicht ganz richtigen Worte. Ich wusste, auf welche Aussprachekonventionen sich die historischen Linguisten geeinigt hatten; ich kannte auch die Möglichkeiten in den Fällen, in denen die Experten nicht einer Meinung waren; und ganz sicher wusste ich, was ich für diese Simulation ausgesucht hatte. Seit ich in dem Schlamm wach geworden war, hatte ich nur ein paar Worte gehört, aber die genügten mir, um zu erkennen, dass sie anders waren, eine abweichende Variante jener Sprache, die ich in- und auswendig kannte.
Ich wurde auf ein Pferd gehoben und lehnte mich, ohne nachzudenken, mit dem Rücken an den Körper des starken Mannes, der hinter mir saß. Ich hatte keine Ahnung, wie er programmiert war, aber er fühlte sich warm an.
Das Tier wendete in einem engen Kreis, orientierte sich an dem dunklen Pferd des Anführers, und der warme, sich bewegende Körper unter mir versetzte mir einen regelrechten Schock. Ich fühlte mich benommen, und mir war übel, und so klammerte ich mich an das Erstbeste, was ich fand: die Mähne vor mir, die sich überraschend drahtig anfühlte. Ich konzentrierte mich auf den Anführer, der direkt vor mir ritt. Sein Haar war üppig. Von einem ledernen Stirnband gehalten, wehte es im Takt der unaufhörlichen Bewegungen seines Reittiers. Er saß in völliger Harmonie und ganz entspannt auf dem Pferd; sein Körper bewegte sich im Einklang mit dem des Tieres. Ich fragte mich, wer die Frau war, die ihn programmiert hatte. Er war mit Faszination und Liebe erschaffen worden. Hatte sie vorgehabt, selbst in den Tank einzutauchen und ihn zu treffen? Ich ging in Gedanken die Angehörigen des Programmierungsteams durch, und mir fielen ein paar unscharfe Gesichter ein, zwei Frauen und vielleicht ein Mann, die sowohl die erforderlichen Kenntnisse als auch die nötige Leidenschaft besitzen mochten. Dann konnte ich mich nicht länger darauf konzentrieren. Ich war so müde, und ich fror so sehr. Ich musste mich hinlegen.
Der Häuptling drehte sich zu mir um und sah mich an. Er lächelte schief und so kurz, dass ich nicht sicher war, ob ich es wirklich gesehen hatte.
»Name?«, fragte er.
Ich verlor das Bewusstsein.
Als ich wach wurde, saß ich auf einem sich bewegenden Pferd, und ich spannte mich augenblicklich an und fasste nach der staubigen Mähne. Ein riesiger Arm schloss sich fester um mich. Mit einem Anflug von Ironie dachte ich, dass ich schon immer auf einem Pferd hatte reiten wollen. Aber der Körper des Tieres und die Art und Weise, wie er sich – unentwegt die Unebenheiten des Geländes ausgleichend – bewegte, waren mir fremd. Und es war falsch, dass ich überhaupt spüren konnte, wie sich die Knochen unter meinen Oberschenkeln bewegten, wie lebendig dieses Tier war. Der Bart des Mannes berührte meine Schläfe, und während am Strand noch die untergehende Sonne am Horizont geleuchtet hatte, ging der Himmel jetzt in ein purpurnes Glühen über.
Der Strand. Ja, ich erinnerte mich daran, dass ich für den Test in den Tank gegangen war. Und dann waren da der Ozean und der schwarze Sand gewesen.
Im Sommer währte die Nacht nicht lange. Vielleicht zwanzig Minuten, wenn der Himmel sich so wie dieser verfärbte. Allerdings hatte ich noch nie einen solchen Himmel gesehen – eine über mir wogende epische Wildnis aus Farben und Wolken.
Der Tank erschuf eine klar umrissene Örtlichkeit. Um so etwas wie das hier zu bewerkstelligen und mich durch eine komplexe und weite Landschaft zu befördern, war die Technik noch bei Weitem nicht gut genug.
Ich spürte, wie Säure in meiner Kehle aufstieg. Ich konnte mich an nichts erinnern, was ich für den Fall gelernt hatte, dass bei einer Simulation etwas schiefging. Ich hatte mir so viele gute Ideen gemerkt und sie auch wiederholt. Mein Kopf war jedoch wie vollgesogen mit Wasser. Die Kontaktlinsen erwachten stotternd zum Leben und teilten mir wieder die Umgebungstemperatur mit. Sie hätten hier eigentlich gar nicht funktionieren dürfen. Sie funktionierten im Tank nicht.
Ich war schon viel zu lange hier. Ich musste hier raus, musste mich rausklopfen. Daran hatte ich noch nicht einmal gedacht!
Ich schob meine rechte Hand unter den linken Ärmel meines Kleides und begann, oberhalb des Handgelenks die kurze Sequenz zu klopfen. Nichts geschah.
Kälte breitete sich jetzt in meinen Eingeweiden aus, trotz der Hitze dieses namenlosen Wikingers, der mich festhielt. Ich klopfte noch einmal, rechnete damit, das unangenehme Kribbeln der Extraktion zu spüren. Keine Reaktion. Ich versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Der Wind fuhr mir durch Mark und Bein, und ich weinte, auch wenn ich nicht hätte sagen können, ob vor Kälte oder vor Angst. Es war egal. Bei den lauten Geräuschen, die er und die Pferdehufe verursachten, hörte mich ohnehin niemand.
Ich flüsterte englische Worte in den Wind: »Was hat das zu bedeuten?«