Feuerengel - Elke Viergutz - E-Book

Feuerengel E-Book

Elke Viergutz

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Beschreibung

Landschaftsgärtnerin Caroline kauft mit ihrem Freund ein historisches Fachwerkhaus in Langendorf an der Elbe. Aus beruflichen Gründen können die beiden zunächst nicht im Wendland zusammenziehen und treffen sich deshalb dort an den Wochenenden, um die groß angelegten Umbaupläne für Haus und Garten zu verwirklichen. Während ihrer Aufenthalte in Langendorf kommt es immer wieder zu mysteriösen Bränden, die nicht aufgeklärt werden können. Caroline wird von Ängsten heimgesucht, nicht nur wegen der Brände, von denen sie und ihr Freund wiederholt direkt betroffen sind, sondern auch wegen der grausam getöteten Tiere, deren Kadaver sie immer wieder auf ihrem Grundstück abgelegt finden. Eine Warnung? Die Vorstufe zu einem schlimmeren Verbrechen? Zudem wird Caroline von Sorgen um ihre jüngere Schwester gequält, die unaufhaltsam auf den Abgrund zu driftet. Sie fühlt sich für sie verantwortlich, es gelingt ihr aber nicht, ihren Einfluss geltend zu machen. Die Personen in diesem Krimi sind erfunden, und Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig. Die im Buch vorkommenden Örtlichkeiten dagegen sind real.

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Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Buch

Landschaftsgärtnerin Caroline kauft mit ihrem Freund ein historisches Fachwerkhaus in Langendorf an der Elbe. Aus beruflichen Gründen können die beiden zunächst nicht im Wendland zusammenziehen und treffen sich deshalb dort an den Wochenenden, um die groß angelegten Umbaupläne für Haus und Garten zu verwirklichen. Während ihrer Aufenthalte in Langendorf kommt es immer wieder zu mysteriösen Bränden, die nicht aufgeklärt werden können. Caroline wird von Ängsten heimgesucht, nicht nur wegen der Brände, von denen sie und ihr Freund wiederholt direkt betroffen sind, sondern auch wegen der grausam getöteten Tiere, deren Kadaver sie immer wieder auf ihrem Grundstück abgelegt finden. Eine Warnung? Die Vorstufe zu einem schlimmeren Verbrechen?

Zudem wird Caroline von Sorgen um ihre jüngere Schwester gequält, die unaufhaltsam auf den Abgrund zudriftet. Sie fühlt sich für sie verantwortlich, es gelingt ihr aber nicht, ihren Einfluss geltend zu machen.

Die Personen in diesem Krimi sind erfunden,und Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig.

Die im Buch vorkommenden Örtlichkeiten dagegen sind real.

Autorin

Elke Viergutz studierte Anglistik und Romanistik und arbeitete am Gymnasium. Sie hat vier Kinder und lebt seit ihrer Pensionierung mit ihrem Mann im Sommerhalbjahr im Landkreis Lüchow-Dannenberg und im Winterhalbjahr im Nordschwarzwald.

Danksagung

Ich danke meiner Tochter Signe für das gründliche Korrekturlesen. Meinem Sohn Malte gilt mein besonderer Dank, da er mich mit seinen Kenntnissen im Layout sehr unterstützt hat.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

1. Kapitel

Der Tag, an dem wir Luc kennenlernten, war für Vera fatal, und ich konnte mich dem nicht entziehen. Wir waren mehr oder weniger inoffiziell zu der Party eines Studenten eingeladen, den wir gar nicht kannten. Jemand, der ihm schon mal über den Weg gelaufen war, wusste von jemandem, der ihn auch nur flüchtig kannte, aber von der Party gehört hatte, und so kam die Einladung zustande.

Wegen des vorweihnachtlichen Matschwetters hatten wir keine Lust, irgendwo hinzugehen. Wir hingen in meiner Wohnung herum, tranken Caipirinha, zogen uns einen Joint rein (Vera nicht nur einen) und hörten Musik, die eigentlich keine war, sondern nur aus unangenehmen Tönen bestand. Vera stand auf so was, und ich ertrug es.

Es war schon nach elf, als Vera plötzlich sagte: „Ich glaube, ich gehe doch noch. Bei Jan geht bestimmt was ab, und die meisten kommen sowieso spät. Kommst du?“

Ich stand auf und langte vom Garderobehaken meine schäbige Lammfelljacke, die vor zehn Jahren mein ganzer Stolz gewesen war. Wir fanden beide nicht, dass man sich aufbrezeln musste und gingen in unseren abgetragenen Jeans und Rollkragenpullovern los. Vera kämmte nicht mal ihre knallrot gefärbten, langen Locken durch, und ich brauchte wegen meines extrem kurz geschorenen Kopfes sowieso weder Kamm noch Bürste.

Wir gingen zu Fuß, und darüber gab es keine Diskussionen, da wir beide außer Fahrrädern kein Fahrzeug besaßen. Es war nicht durchdringend kalt, aber durch den Nieselschnee, der in wässrigen Flocken herabfiel, empfanden wir den Fußmarsch doch als sehr unangenehm. Da wir nicht an feste Schuhe gedacht hatten, wurden unsere Füße bald kalt und nass.

Wir hörten schon laute Musik, als wir in die Straße einbogen, in der Jan wohnte. Das Haus, in dem Jan in einer WG ein Zimmer hatte, lag im alten Stadtkern von Lüneburg. Es wirkte gepflegt und gut bürgerlich, bis auf die aufdringliche Musik.

Vera fühlte sich sofort in Stimmung gebracht, aber ich hatte Bedenken wegen des Lärms zu nächtlicher Stunde. Als ich diesbezüglich etwas verlauten ließ, lachte Vera mich aus. „Caro, du bist unverbesserlich. Warum soll man nicht seinen Spaß haben? Ich finde es nicht so schlimm, wenn die Spießer mal nicht schlafen können. Außerdem könnten sie ja mitfeiern.“

Ich schwieg, bis wir an der Haustür ankamen und Sturm läuteten. Es machte niemand auf, weil man wegen der dröhnenden Musik vermutlich die Klingel nicht hörte.

Wir waren zunächst ratlos, aber dann sah Vera, dass die Haustür mit einem eingeklemmten Stück Holz einen Spalt offen gehalten wurde.

Wir gingen nach oben, und die Musik wurde unerträglich. Vor der Wohnungstür stand ein zorniger Nachbar im Bademantel, traute sich aber offenbar nicht, ohne Verstärkung in die Wohnung zu dringen, um seiner Wut Luft zu machen. Uns hielt er wohl für Verbündete, denn er marschierte mit uns zusammen entschlossen durch die halboffene Wohnungstür.

Wir blieben alle drei im Flur stehen. Rauchwolken waberten durch die Luft, die nach Zigaretten und Hasch rochen, und ein paar junge Leute drängelten sich durch den Flur, um in die Küche zu gelangen, wo es vermutlich Nachschub an Alkoholika gab. Der Mann im Bademantel arbeitete sich durch bis zu dem Zimmer, aus dem die Musik dröhnte, und versuchte sich brüllend Gehör zu verschaffen. Einige lachten, aber irgend jemand ging an die Anlage und stellte sie ab. Es wurde nichts mehr geredet, und die plötzliche Stille wirkte fast unheimlich.

Eine frech aussehende junge Frau sagte unvermittelt in die Stille hinein: „Guckt mal, wir haben neue Gäste, erfreulicherweise ein Uhu dabei.“ Sie ging auf den Mann im Bademantel zu, zerrte an seinem Ärmel und fing an, mit ordinären Bewegungen vor ihm zu tanzen.

Er atmete tief ein und schrie: „Ihr seid ein Sauhaufen und habt noch nie was von Rücksichtnahme gehört. Ihr seid nicht allein auf der Welt. Ich werde jetzt die Polizei anrufen.“

„Nur zu“, rief jemand, und der Nachbar stürzte eilig zurück ins Treppenhaus.

Kaum war er außer Sichtweite, wurde die Musik wieder angestellt in gleicher Lautstärke. Ich war irritiert und besorgt, aber Vera, die wohl ziemlich zugekifft war, fand den Auftritt des Meckerers lustig.

„Hey“, schrie ein Typ über die tanzenden Paare hinweg, „habt ihr was mitgebracht?“

Zu meiner Überraschung zog Vera eine Flasche Jack Daniels aus ihrer riesigen Umhängetasche, grinste und schwenkte sie über ihrem Kopf. Ich wusste, wo der Whiskey herstammte, denn eine Flasche Jack Daniels leistete ich mir hin und wieder.

Ich hatte überhaupt keine Lust mehr zu bleiben, aber ich fühlte mich für Vera in ihrem Zustand verantwortlich, und das war keine Ausnahmesituation.

Vera hatte gerade angefangen, allein vor sich hinzutanzen, als sie plötzlich abrupt stehen blieb und mit offenem Mund zum Fenster schaute. Ich folgte ihrem Blick und sah einen Mann am Fensterbrett lehnen, der älter war als die meisten und eine äußerst auffällige Aufmachung hatte: Typ Wikinger mit blonder Rastafrisur, die bereits in unordentlicher Auflösung begriffen war, und einen Dreitagebart, der ihn auch nicht gerade gepflegt erscheinen ließ. Außer seinen schmutzigen und zerlöcherten Jeans hatte er nur eine abgegriffene Lederweste über seinen ansonsten nackten Oberkörper gestreift.

Ich beobachtete, wie er Vera ebenfalls ins Visier nahm, sich langsam vom Fensterbrett löste und auf sie zuging. Mir war überhaupt nicht wohl, denn ich kannte Veras ungezügelte Emotionen. Sie fühlte sich offenbar hemmungslos von dem Rastatypen angezogen, und das konnte jeder im Raum erkennen, der noch einigermaßen nüchtern war.

Ich lehnte immer noch neben Vera an der Wand, als er vor ihr stehen blieb. Ich konnte förmlich das Knistern in der Luft spüren, bis er sie ansprach: „Ich bin Luc. Wollen wir tanzen?“

Vera schmiegte sich bereitwillig in seine Arme, ohne ein Wort zu sagen. Ich verlor sie aus den Augen, weil ein wirklich nett aussehender Junge - Mann kam mir verkehrt vor wegen seines jugendlichen Aussehens - mich zu sich heranzog und anfing, mit mir zu tanzen. Ich ließ mich fallen und folgte einfach dem Rhythmus der Musik.

Es gab ein böses Erwachen, als plötzlich zwei Uniformierte in der Tür standen und lauthals forderten, die Musik auszumachen. Irgend jemand ging zur Anlage, ließ ein paar Sekunden verstreichen, um wie ein ungezogener kleiner Junge zu signalisieren, dass man nicht gleich folgsam sein wollte, und schaltete ab.

„Wer ist hier der Hauptmieter?“ fragte einer der Polizisten. Ein lässiger junger Mann drängte sich durch zur Tür. „Ich habe die Wohnung gemietet, und die anderen beiden sind meine Untermieter.“

„Falls Sie noch einmal so ein Fest abziehen sollten, wird die Anlage konfisziert. Außerdem wird der Vermieter von den Hausbewohnern, von denen keiner schlafen konnte, informiert, und wir werden ebenfalls der Anzeige wegen massiver Ruhestörung nachgehen. Das wird empfindliche Konsequenzen haben.“

Als die beiden Uniformierten gegangen waren, wurde gelacht, aber der Vorschlag, die Musik wieder anzustellen, stieß doch auf Ablehnung.

Man stand noch ein bisschen herum, trank die Reste aus und fing an, den Abflug zu machen.

Ich wollte auch gehen, konnte aber Vera nicht gleich entdecken. Ich fand sie schließlich in der Küche, wo sie und Luc sich heftig küssten. Ich bin nicht prüde, aber ihre Zügellosigkeit gefiel mir überhaupt nicht.

Ich zog an Veras Pullover und sagte ihr energisch, dass wir gehen sollten. Vera drehte sich zu mir um, warf mir einen verächtlichen Blick zu und sagte: „Okay, aber nicht du und ich zusammen.“ Ich war zutiefst erschrocken und machte mich allein auf den Heimweg.

2. Kapitel

Am Sonntag meldete sich Vera nicht bei mir. Ich wartete den ganzen Tag in Telefonnähe, kein Anruf. Ich machte mir heftige Sorgen, denn Vera konnte unberechenbar sein und spontan die sonderbarsten Ideen verwirklichen.

Sie hatte mir beispielsweise vor einigen Wochen erzählt, wie knapp sie davongekommen war, als sie von Lüneburg nach Büsum zu einem Freund trampen wollte. Ein freundlicher, älterer Herr nahm sie mit, entpuppte sich aber während der Fahrt als geil und hemmungslos. Während Vera auf dem Beifahrersitz fröhlich und unbesorgt mit ihm plauderte, wurde er übergriffig. Bei Wilster bog er unangekündigt von der Autobahn ab, und Vera ahnte endlich, dass ihr Vertrauen missbraucht werden sollte. Als der alte Knabe in einen Feldweg einbog und ernsthaft zudringlich wurde, setzte Vera bedenkenlos den Schlagring ein, den sie immer bei sich trug. Den Schlagring hatte ich ihr übrigens ein paar Jahre zuvor zum Geburtstag geschenkt, was Vera für einen makabren Scherz gehalten hatte.

Um ihren Angreifer außer Gefecht zu setzen, verpasste sie ihm einen Schlag auf die Nase, wohlweislich nicht auf die Schläfe, um kein Risiko einzugehen. Sie wollte nur die Möglichkeit haben abzuhauen.

Er blutete stark und jammerte, ihm sei das Nasenbein gebrochen. Vera reichte ihm noch im Aussteigen ein Taschentuch und sagte schnippisch: „Viel Spaß bei der Auseinandersetzung mit Ihrer Frau, wegen der Nase. Grüßen Sie sie herzlich von mir.“

Bedenken kamen bei Vera einfach nicht vor, und da ich mich für sie verantwortlich fühlte, ließ mich das oft nicht ruhig schlafen.

Am Montag Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad zur Gärtnerei unserer Eltern, obwohl das Wetter nach wie vor miserabel war, und ich ständig Gefahr lief, im Schneematsch abzurutschen und auf den Asphalt zu knallen. Dass ich Handschuhe nicht mochte, machte die Fahrt nicht besser.

Als ich in der Gärtnerei ankam, musste ich erstmal meine blau gefrorenen Hände unter warmes Wasser halten, um sie aufzutauen und damit arbeitstauglich zu machen.

Mama kam ins Bad, während ich die Hände unter den heißen Wasserstrahl im Waschbecken hielt. Sie gab mir ein Küsschen, fragte nach dem Wochenende und erklärte mir dann, welche Arbeiten anstanden: Geräte säubern und einfetten, (was ich hasste), Weihnachtsdekorationen zusammenstellen sowie Grabschmuck, den man den lieben Verblichenen entweder aus echter Trauer zu Weihnachten auf ‘s Grab legte, oder aus Pflichtgefühl, um den Nachbarn keinen Anlass zu Kritik zu geben.

Als ich in den Laden kam, der zur Gärtnerei gehört, waren schon zwei Kundinnen da. Mein Vater nickte mir kurz zu. Er war konzentriert damit beschäftigt, Tannenzweige mit Weihnachtskugeln und Schleifchen zu dekorieren.

Ich bediente die zweite Kundin, und da den ganzen Vormittag über Betrieb herrschte, musste die Arbeit an den Geräten erst einmal warten, was mir allerdings kein Kopfzerbrechen bereitete.

Als ich zwischendurch nach draußen ging, um beim Weihnachtsbaumverkauf zu helfen, flüsterte ich Mama im Vorbeigehen zu: „Vera ist wieder mit ihrer neuesten Liebe unterwegs, meldet sich aber nicht bei mir. Bei dir vielleicht?“ Meine Mutter zuckte mit den Achseln, und ihr Ausdruck wurde besorgt. „Wir reden in der Mittagspause darüber.“

Ich versuchte mehrfach erfolglos, Vera anzurufen. Normalerweise teilte sie mir sofort schamlos ihre Erfahrungen mit dem neuen Liebhaber mit. Das geschah diesmal nicht. Ich konnte mir vorstellen, dass sie mich öfter mal mit ihren wechselnden Freunden ärgern und neidisch machen wollte, weil mein Freund Matthias gerade für längere Zeit in Kanada war, um vor seinem Studienabschluss ein Praktikum in Biologie zu absolvieren.

Ich vermisste ihn sehr und wartete ungeduldig auf seine Rückkehr, aber das war weiß Gott kein Grund, auf Vera mit ihrem Luc neidisch zu sein. Boshaft, wie Vera meistens war, nannte sie meinen Freund verächtlich „der Haferkamp“, als wäre Haferkamp ein unzumutbarer Familienname, oder betont Matze, eine landläufige Koseform von Matthias, die ich nicht ausstehen kann. Ich hatte mich für Matti entschieden, und Matthias fand, dass das gut passte und freute sich, weil allmählich auch Freunde diese Kurzform der Anrede benutzten.

Beim Mittagessen jedenfalls hakte Mama wegen Vera nach, und ich erzählte vorsichtig von der Party und von Veras Weigerung, mit mir nach Hause zu kommen.

Mama dachte immer sehr praktisch und schlug deshalb vor, den Gastgeber Jan anzurufen und ein paar Erkundigungen über Luc einzuholen.

Leider kannte ich weder Jans Familiennamen noch seine Telefonnummer. Es kostete mich die ganze Mittagspause, bis ich ihn nach einigen vergeblichen Versuchen bei jemandem, den ich kannte, der jemanden kannte, der Jan kannte, endlich erreichte.

Er war tatsächlich zu Hause, meldete sich aber äußerst muffig. Ich stellte mich vor, aber er konnte sich nicht an mich erinnern, weil die Hälfte der Gäste bei seiner Party weder zu seinem Bekanntenkreis gehörten noch eingeladen gewesen waren. Er erzählte mir gleich, dass er beim Packen sei und wenig Zeit habe. Noch am frühen Montag Morgen war sein Vermieter erschienen und hatte ihn rausgeschmissen samt seinen Untermietern. Jan wollte es nicht darauf ankommen lassen, sich durch Hinauszögern seines Auszugs weitere Scherereien einzuhandeln. Er hatte schon Verwandte, die in Lüneburg wohnten, angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass er für ein paar Tage ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen würde.

Ich unterbrach ihn unwirsch, weil er mir überhaupt nicht leid tat, und ich den Rausschmiss nicht im Detail hören wollte. Ich fragte einfach nach Luc. Er wusste nicht viel über ihn, aber das Wenige erzählte er bereitwillig: Student im 19. Semester, im Augenblick angeblich Chemie als Studienfach. Ewiger Schuldenmacher, der versuchte, alle anzupumpen, was ihm aber selten gelang, weil es sich herumgesprochen hatte, dass er geliehenes Geld als Geschenk ansah.

Als ich fragte, ob er gewalttätig sei, lachte Jan. „Ich glaube, er hat schon mal kleinere Schlägereien, aber ein Mörder ist er bestimmt nicht, wenn du das meinst. Ich habe gesehen, dass er mit einer geilen Tussi bei meiner Party etwas angefangen hat. Der tut Frauen nichts Böses an, solange er sie attraktiv findet. Kennst du sie?“

Er pfiff leise, als ich ihm sagte, dass es sich um meine Schwester handelte. Leider kannte Jan weder Lucs Anschrift noch Telefonnummer, allerdings meinte er, sein Familienname sei Heinrich oder Hinrich. Da war er sich nicht sicher. Ich bedankte mich und legte frustriert auf.

Der Nachmittag im Laden wurde ziemlich hektisch, und ich vergaß darüber, weiter über die problematische Vera nachzudenken.

Mama lud mich nach Geschäftsschluss noch zum Abendessen ein, aber ich zog es vor, in meine Wohnung zurückzukehren. Mama war wirklich bemüht und lieb, aber durch die Ausführlichkeit, mit der sie die für sie spannenden Themen ausbreitete, ohne zu bemerken, dass sie einen langweilte, konnte sie sehr nervig sein. Mein Vater war ein Künstler darin, einen aufmerksamen Gesichtsausdruck beizubehalten. Ich bewunderte ihn ob seiner Geduld.

Mamas Hauptinteresse galt Königshäusern, Models, Schauspielern, Sängern und am Himmel aufgehenden Sternchen. Ihrem Wissen aus Gala, Frau im Spiegel und ähnlichen „Schundblättern“, wie mein Vater solche Zeitschriften betitelte, verdankten wir auch unsere Namen: Ich hieß Caroline nach Caroline von Monaco (Mama sprach den Namen französisch aus) und Veras Vorbild war Vera Gräfin Lehndorff, Topmodel in den Sechzigern und Siebzigern, genannt Veruschka. Mama wagte es manchmal, Vera mit dem Kosenamen Veruschka anzusprechen, und das kam überhaupt nicht gut an.

Als Kinder setzten wir uns mit unseren berühmten Vorbildern auseinander, sahen uns Fotos an und spielten ihre Rollen. Als Vera ungefähr zehn Jahre alt war, fand sie an einem Bachrand eine tote Schlange. Sie zog sich nackt aus und drapierte sich die Schlange vor der Brust, die natürlich noch nicht im Ansatz weibliche Rundungen zeigte. Veras Ähnlichkeit mit Veruschka im hautengen Anzug mit einer Riesenschlange dekoriert, hielt sich in Grenzen. Das Foto von Veruschka ging um die Welt, das Foto, das ich von Vera machte, bekamen nicht mal unsere Eltern zu sehen.

Meine Wohnung war leider kalt, als ich nach Hause kam. Aus Ersparnisgründen stelle ich die Heizung ab, sobald ich das Haus verlasse, es sei denn, es friert Stein und Bein.

Die Wohnung hatte ich von unserer Großtante Gertrud geerbt, die kinderlos geblieben war. Es war Vera ein ständiges Ärgernis, dass sie leer ausgegangen war und deshalb bei meinen Eltern wohnen musste, wenn sie überhaupt in Lüneburg war.

Ich weigerte mich, sie bei mir einziehen zu lassen, weil sie ziemlich anstrengend war. Sie beteiligte sich nicht an der Hausarbeit, ließ ihre Sachen überall herumliegen und konnte stundenlang das Bad blockieren, wenn sie mal wieder das Bedürfnis hatte, ihre Haare umzufärben oder sich am ganzen Körper sorgfältig zu rasieren. Einmal führte sie mir sogar vor, wie sexy sie ohne Schamhaare aussah. Auf derlei Intimitäten konnte ich gern verzichten.

Ich hörte die ganze Woche nichts von Vera und machte mir die größten Sorgen. War sie verunglückt, hatte Luc sie in einen Keller gesperrt oder gar zum Messer gegriffen, weil er seine Perversitäten ausleben musste?

Am Wochenende rief sie endlich fröhlich zwitschernd an. Sie war mit Luc die ganze Woche in einem Ferienhaus in Dänemark gewesen und hatte herrliche Tage verbracht, weniger am Strand als im Bett.

Ich versuchte ihr klarzumachen, was für Sorgen sie mir und unseren Eltern gemacht hatte. Sie sagte, sie sei erwachsen und brauche keinen Babysitter. Auf die Frage, ob sie gedenke, mal wieder nach Hause zu kommen und sich nach einem Job umzusehen, antwortete sie lachend: „Ich brauche momentan keinen Job, ich brauche Luc.“

Meiner Frage nach dem Ferienhaus wich sie aus, und ich erfuhr erst sehr viel später, dass sie in ein reizendes, in der kalten Jahreszeit leerstehendes Häuschen eingebrochen waren und sich an allem bedient hatten, was es dort zu finden gab. Sie wollte mir auch nicht sagen, wo Luc wohnte, und ob sie bei ihm untergekommen war, wie ich vermutete.

Vera kam zwei Tage vor Weihnachten im Laden vorbei, zum Glück ohne ihren Freund, über den ich mir immer öfter hässliche Gedanken machte. Sie wollte mit mir einen Kaffee trinken, aber das war absolut nicht möglich wegen der Kunden, die sich im Laden drängten. Sie ließen sich schnell noch Gestecke und Sträuße machen, um sie zu Weihnachten zu verschenken.

Wir wechselten nur ein paar Worte. Immerhin verkündete Vera, dass sie Weihnachten nicht mit der Familie verbringen würde und tat ein bisschen geheimnisvoll, was ihre Pläne für die Festtage betraf. Auf meine naive Bitte, im Laden auszuhelfen, erklärte sie, sie habe etwas Dringendes vor, und weg war sie.

Nach Weihnachten wurde es ruhiger, und in der zweiten Januarhälfte blieb der Laden geschlossen. Leider ersparte es mir niemand, die Geräte zu reinigen und einzufetten, aber ich genoss trotzdem ein paar erholsame Tage mit Lesen, Schwimmbadbesuchen und Krimis im Fernsehen. Unsere Eltern hatten nach dem Weihnachtsstress dringend eine Ruhepause nötig und flogen auf die Kanaren, um wenigstens für kurze Zeit dem norddeutschen Winter zu entfliehen.

Mit meiner Ruhe war es vorbei, als ich eines Abends nach Hause kam, und Vera gemütlich auf meiner Couch saß. Sie rauchte und hatte sich an meinem Wein bedient.

Ich setzte mich zu ihr, und wir plauderten ganz gemütlich, bis ich ihren Koffer entdeckte, der hinter einem Sessel stand.

Mir stieg die Röte ins Gesicht, und ich fragte unwirsch: „Was hast du schon wieder vor?“ Sie antwortete lakonisch: „Ich mache ein paar Tage Zwischenstation bei dir.“

Ich sagte ihr deutlich, dass ich nicht begeistert war, aber das rührte sie überhaupt nicht. „Ich verspreche dir, dass ich diesmal brav sein werde, angenehm und hilfreich.“

„Na ja, das klingt ja ganz fremd aus deinem Mund. Ist es mit Luc vorbei?“

Vergebliche Hoffnung. Vera lächelte frech und sagte: „Überhaupt nicht.“

Sie brachte ihren Koffer einfach in mein Schlafzimmer, das ich auch als Arbeitszimmer mit Schreibtisch und Laptop benutze, und bedeutete mir, dass ich auf dem Sofa schlafen könne. Ich war sprachlos. Vera war schon immer impertinent und egoistisch gewesen, aber so unverschämt hatte ich sie noch nie erlebt. Was für einen üblen Einfluss übte dieser Luc auf sie aus!

Der Abend war natürlich nicht zu retten. Ich machte in der Küche ein paar Brote, schenkte mir selbst ein Gläschen Wein ein und setzte mich in den Sessel, der am weitesten entfernt von der Couch stand, um meinem inneren Abstand zu Vera auch äußerlich Ausdruck zu verleihen.

Wir schwiegen uns an, bis ich schließlich sagte, ich wolle jetzt schlafen gehen, und deshalb müsse sie sich verziehen. Das Bad könne sie nach mir benutzen.

Als ich gerade aus der Dusche stieg, hörte ich es klingeln. Das konnte nur meine Freundin Svenja sein, die um die Ecke wohnte und manchmal noch spät auf einen Plausch herüberkam. Ich fühlte mich sofort viel besser bei dem Gedanken, dass der Abend durch ihren Besuch sich doch noch nett gestalten würde. Ich zog mich in aller Eile wieder an, öffnete die Badezimmertür und glaubte, vom Schlag getroffen zu werden. Im Flur stand Vera eng umschlungen mit Luc. Luc hatte zwei schmuddelige Taschen neben sich abgestellt, nickte mir kurz zu und beschäftigte sich weiter mit Vera.

Ich zählte langsam bis zehn in der Hoffnung, mich etwas zu beruhigen, und als ich ansetzte, etwas zu sagen, kam Vera mir zuvor. „Du siehst, warum ich das Schlafzimmer haben wollte. Wir bleiben ja auch nur ganz kurz.“

Ich ging wortlos ins Wohnzimmer und schlug die Tür zu. Ich hatte nicht mal mehr Lust, mir Bettwäsche aus dem Schlafzimmer zu holen. Ich nahm eine Wolldecke und verkroch mich darunter. Trotzdem hörte ich aus dem Schlafzimmer Gelächter und später Veras Stimme, die immer lauter „ja, ja, ja,“ schrie.

Ich wusste nicht, wie ich das aushalten sollte, war aber nicht imstande, mir eine Abwehrstrategie zu überlegen.

Morgens machte ich mir in der stillen Wohnung in aller Eile einen Kaffee und steckte das restliche Kaffeepulver in meine Umhängetasche. Das Toastbrot nahm ich auch mit, sie sollten sich wenigstens selbst versorgen oder darben.

Ich frühstückte mit Mama in der Küche und beklagte mich.

„Irgendwie bist du selbst Schuld,“ sagte Mama. „Du hast Vera immer unterstützt und dir alles gefallen lassen“.

Ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich musste einen Weg finden, mein Verhalten zu ändern ohne einen kompletten Schlussstrich unter unsere Beziehung zu setzen. Schließlich war sie meine kleine Schwester, und wir hatten auch schöne und lustige Zeiten miteinander gehabt.

Ich blieb noch lange nach Geschäftsschluss und vertrieb mir die Zeit mit nicht wirklich dringend notwendigen Arbeiten. Schließlich machte ich mich schweren Herzens auf den Weg nach Hause. Vera und Luc waren nicht da, aber die Wohnung sah aus, als sei eine Herde Büffel durchgetrampelt. Überall lagen Kleidungsstücke verstreut, der Fernseher lief, und die Musikanlage war nicht ausgeschaltet. Ins Schlafzimmer warf ich lieber keinen Blick, die Küche, der Flur, das Wohnzimmer und das Bad reichten mir.

Ich räumte zunächst wutentbrannt das Bad auf, scheuerte das Waschbecken und die Dusche, um mich in einigermaßen ordentlicher Umgebung frischmachen zu können. Die Küche ließ ich, wie sie war. Die Lust auf Abendessen war mir gründlich vergangen.

In den nächsten Tagen änderte sich nichts. Ich redete ein paarmal auf Vera ein, wenn sie gerade da war, aber sie hörte nicht zu und verschloss sich gänzlich, wenn ich ihr signalisierte, dass sie mit ihrem Lover ausziehen müsse.

Nach ungefähr zehn Tagen hielt ich es nicht mehr aus. Mein einziger Lichtblick war Matthias, dem ich am Telefon mein Leid klagte. Matthias bedauerte mich zutiefst. Ich wusste, dass er Vera nie hatte leiden können, aber jetzt sagte er mir deutlich, was er von meiner Schwester hielt: Er habe nie einen rücksichtsloseren und unverschämteren Menschen kennengelernt. Er riet mir dringend, die verfahrene Situation zu beenden, notfalls durch Auswechseln des Türschlosses.

Zu so einem krassen Schritt konnte ich mich nicht entschließen. Ich war schon drauf und dran, die Wohnung zu verlassen und bei meinen Eltern Unterschlupf zu suchen, bis Vera und Luc abgezogen waren. Aber das war mir doch eine zu große Schlappe, und so bereitete ich mich seelisch auf die entscheidende Aussprache vor.

Ich wartete abends auf die beiden, las sehr unkonzentriert eine Abhandlung über Orchideen und zuckte bei jedem Geräusch von der Straße zusammen.

Als sie schließlich kamen, war ich über meiner Fachzeitschrift eingeschlafen. Ich brauchte nur ein paar Sekunden um festzustellen, dass sie mit Sicherheit alkoholisiert, bekifft oder beides waren, denn sie alberten herum, ohne von mir Notiz zu nehmen.

Ich erhob mich langsam aus meinem Sessel und baute mich vor ihnen auf. Mir war innerlich ganz kalt, aber ich spürte, dass sich so viel Wut aufgestaut hatte, dass mir der Rauswurf jetzt gelingen würde.

„Hört gut zu,“ sagte ich eisig. „Ich bin weder euer Geldautomat noch eure Putzfrau. Ihr verlasst jetzt sofort meine Wohnung, sonst gibt es Rausschmiss durch die Polizei. Schlaft auf einer Parkbank oder unter einer Brücke, das ist mir egal.“

Als Vera Anstalten machte zu antworten, fügte ich scharf hinzu: „Ich brauche keine Diskussionen. Klare Ansage.“

Vera bedeutete Luc, dass sie verstanden hatte. Sie fingen tatsächlich an, ihre Sachen zusammenzupacken. Ich stand mit zusammengebissenen Zähnen vorm Wohnzimmerfenster und wartete ab. Es wurde nichts mehr geredet bis auf Veras harte Abschiedsworte, die sie mir an der Wohnungstür entgegenschleuderte: „Du bist ein richtiges Arschloch. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“

Die Tür wurde zugeknallt, und sie waren weg. Ich weinte gleichzeitig Tränen der Erleichterung und Frustration, bezog mein Bett neu und nahm das Schlafzimmer wieder in Besitz. Leider stank es nach Rauch und nach Sex, und so behielt ich trotz der winterlichen Temperatur das Fenster offen.

Ich kann dazu nur noch bitter sagen, dass das bisschen Bargeld, das ich normalerweise in meinem Schreibtisch aufbewahre, fehlte, ebenso wie ein paar Klamotten und einige Pflegemittel aus dem Bad.

3. Kapitel

Im März kam Matthias aus Kanada zurück. Ich fuhr mit dem Auto meiner Eltern nach Hamburg, um ihn in Fuhlsbüttel abzuholen. Sein Flug hatte über zwei Stunden Verspätung, und vor lauter Nervosität verließ ich mehrfach die Ankunftshalle, um mich draußen mit einer Zigarette zu beruhigen. Endlich erschien auf der Anzeigentafel der grün blinkende Punkt, der signalisierte, dass das Flugzeug gelandet war.

Ich empfand die neuerliche Wartezeit als Ewigkeit, bis Matthias endlich mit seinem Gepäck aus dem Terminal kam. Ich flog ihm aufschluchzend in die Arme und hatte den Eindruck, dass auch Matthias sich ein paar Freudentränen männlich verkniff.

Nach einer innigen Umarmung und einem hungrigen Kuss schob Matthias mich von sich weg, um mich zu betrachten. „Du siehst umwerfend aus, und deine längeren Haare stehen dir blendend. Geht es dir auch richtig gut? Ich sehe eine kleine Sorgenfalte auf deiner Stirn. Erzähl!“

Ich wollte eigentlich nicht sofort zu jammern anfangen, weil Vera sich seit dem Rausschmiss tatsächlich nicht mehr gemeldet hatte, weder bei mir, noch bei unseren Eltern. Ich sagte Matthias nur, dass Vera mir schrecklich fehle, trotz ihres widerwärtigen Verhaltens, und dass ich nicht aufhören könne, mir die schlimmsten Gräuel auszumalen.

Wir fuhren erstmal zu mir, weil Matthias seine kleine Studentenwohnung vor seiner Abreise untervermietet hatte, und sein Mieter noch nicht ausgezogen war. Ich hatte ein aufwändiges Willkommensessen vorbereitet, und bei Kerzenlicht und Sekt ließ ich Matthias erzählen.

Wir hielten es schließlich nicht mehr aus, uns einfach gegenüber zu sitzen und Händchen zu halten. Wir waren völlig ausgehungert nacheinander, und unsere Liebesnacht im Bett endete erst im Morgengrauen, als wir beide erschöpft und wund waren.

Nach ein paar Tagen wurde die Wohnung von Matthias wieder frei, und er zog um. Er bedauerte zutiefst, mich zu verlassen, aber er musste seine Diplomarbeit über die Flora von British Columbia, die er weitgehend während seines Aufenthalts in Kanada geschrieben hatte, überarbeiten. Außerdem standen die letzten Prüfungen an. Er war in meiner Gegenwart unkonzentriert und brauchte seinen Freiraum. Während der nächsten zwei Monate trafen wir uns sporadisch bei ihm oder bei mir. Ich war ja außerhalb meiner Arbeitszeit völlig frei, mit ihm zusammen zu sein. Bedauerlicherweise waren mir unsere Treffen viel zu kurz, aber ich erkannte, dass Matthias ein richtiger Workaholic sein konnte, jetzt, wo es um den Endspurt ging.

Im Mai reichte er seine Diplomarbeit ein, und anschließend büffelte er besessen auf seine Abschlussprüfung.

Während des Sommers verbrachte ich ein paar Tage mit Svenja auf Sylt bei schönstem Wetter. Wir lagen am Strand herum, schwammen häufig, obwohl das Wasser nicht gerade mollig warm war, und gingen viel spazieren. Svenja hatte den Hund einer Tante mitgebracht, den sie für ein paar Wochen hütete. Sie erzählte mir, dass die Tante sich im Ersatzteillager einer Klinik eine neue Hüfte geleistet hatte. Trotz der gut verlaufenen Operation und einer anschließenden Kur in einer Rehaklinik hatte sie sich noch nicht so weit stabilisiert, dass sie mit ihrem lebhaften Briard zurecht kommen konnte.

Ich machte mir nicht viel aus Hunden, aber Svenjas Exemplar war so gelehrig und freundlich, dass ich meine Meinung revidierte. Der Hund war schon als Welpe fachgerecht erzogen worden, und es machte einfach Spaß, ihn bei Spaziergängen, Radfahrten oder Strandaufenthalten dabei zu haben. Ich hatte das Thema Hund nie angesprochen, aber ich dachte mir, dass Matthias vielleicht auch geneigt sein könnte, einen so umgänglichen Gefährten anzuschaffen.

Im übrigen bedauerte ich zutiefst, dass Matthias bei dem schönen Wetter nicht dabei sein konnte. Er saß in seiner Wohnung oder in der Unibibliothek und verpasste den Sommer. Aber es war ja ein Ende abzusehen.

Im September schloss er sein Studium mit gutem Ergebnis ab, und für uns fing eine spannende Zeit an mit großen Veränderungen. Matthias machte sich auf die Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle. Ein Forschungslabor kam für ihn nicht in Frage, ebenso wenig wie die gut dotierte Stelle in einer Chemiefabrik, die ihm nach einem Vorstellungsgespräch angeboten wurde. Auch die pharmazeutische Industrie schloss er aus ethischen Gründen aus. Und für die Landwirtschaft, die heutzutage in den meisten Fällen zu einem industriellen Agrarunternehmen mutiert ist, konnte er sich überhaupt nicht erwärmen, obwohl eine umweltfreundliche Form von Landwirtschaft ihm sehr gelegen hätte.

Matthias hatte betuchte Eltern, die nicht knausrig waren und ihm mehrere Monate intensiver Suche ohne eigene Einkünfte ermöglichten. Nach einer Reihe von Enttäuschungen stieß er auf ein Stellenangebot, das für ihn den absoluten Glücksfall bedeutete. Bei der Landesanstalt für Großschutzgebiete in Brandenburg war eine Teilzeitstelle ausgeschrieben. Matthias, der ein großer Bewunderer des leider früh verstorbenen Initiators des Elbtalaue war, reiste nach Eberswalde um sich vorzustellen. Er hatte sich gründlich eingelesen in die präzise dokumentierten Vorgänge, die zur Entstehung der Elbtalaue geführt hatten, und konnte selber einige Ideen vortragen zur Weiterführung der Großschutzgebiete.

Matthias kam richtig euphorisch zurück, denn er glaubte, einen guten Eindruck gemacht zu haben und sah sich schon in die Fußstapfen seines großen Vorgängers treten.

Die Wartezeit, bis der Bescheid kam, war für ihn zermürbend, aber letztendlich wurde er belohnt. Er erhielt die Stelle und sollte zu Beginn des neuen Jahres anfangen.

Natürlich konnte er nicht in Lüneburg wohnen bleiben wegen der langen Anfahrt zur Arbeitsstelle. Er würde zwar nicht täglich im Büro in Eberswalde sitzen, aber die wechselnden Orte seiner künftigen Aktivitäten in Brandenburg und bei der Unteren Naturschutzbehörde im Landkreis Lüchow-Dannenberg erforderten einen Umzug.

Für Matthias war das eigentlich kein Problem, denn er war im Wendland aufgewachsen und hatte das Gymnasium in Lüchow besucht. Sein Vater hatte eine gutgehende Zahnarztpraxis in Groß Gusborn, einige Freunde aus der Schulzeit waren in der näheren Umgebung hängen geblieben, und eine ganze Menge mehr oder weniger enge Verwandte wohnten über den ganzen Landkreis verstreut. Es lag für ihn nah, mit viel Enthusiasmus in die alte Heimat zurückzukehren.

Ich war schon mehrfach bei seinen Eltern zu Besuch gewesen und hatte vielen Aspekten des Wendlands einiges abgewonnen. Als Matthias vorschlug, dass wir endlich zusammenziehen sollten, konnte ich mich für den Gedanken, im Wendland zu leben, sehr begeistern. Der einzige Wermutstropfen waren meine Eltern. Sie würden mich nicht nur als Tochter vermissen – zumal von Vera immer noch nichts zu hören war -, sondern auch wegen der Arbeit in der Gärtnerei Schwierigkeiten bekommen. Sie mussten einen vollwertigen Ersatz für mich finden, und als das Thema anstand, gab sogar mein Vater zu, dass er meine Fachkenntnisse und meinen engagierten Einsatz sehr schätzte und meinte, es würde schwierig werden, ohne mich auszukommen.

Die Eltern von Matthias boten uns eine Wohnung in ihrem Haus in Groß Gusborn an, aber wir hatten beide keine Lust, so eng aufeinander zu hocken. Unsere Glücksserie riss nicht ab: Von einem entfernten Cousin wurde Matthias ein Haus in Langendorf angeboten, das seit einiger Zeit leer stand und eigentlich für die Schwester des Cousins reserviert gewesen war. Deren Beziehung ging aber kurz vor der Hochzeit in die Brüche, und sie nahm eine Stelle in England an, um die schmerzliche Niederlage schnell zu vergessen, und damit kam das Haus auf den Markt.

Ich nahm mir sofort frei, und wir fuhren nach Langendorf, um uns das Haus anzusehen. Es gibt ja im Wendland reichlich Auswahl an Objekten, die im Vergleich mit anderen Gegenden traumhaft günstig sind, aber so einen Glücksfall konnten wir kaum fassen. Das Haus war ein Dreiständer, eine Bauweise, die wir beide besonders schätzten. Es war glücklicherweise seit Jahrzehnten unverändert geblieben. Es gab keine Plastikböden, die man herausreißen musste, keine Plastikfenster und keine als Garage mit automatischem Tor genutzte Tenne. Das Rückgängigmachen von Umbausünden blieb uns erspart.

Das Grundstück samt ehemaliger Hauskoppel war riesig und bot alle Möglichkeiten der Nutzung. Es gab einen separaten Kuhstall aus der Nachkriegszeit, der aber so verfallen war, dass man ihn ohne zu weinen abreißen konnte. Natürlich stellten sich bei näherem Hinsehen einige Nachteile heraus. Das Haus lag ein Stück von der Dorfstraße zurückgesetzt mit dem Scheunenteil zur Straße. Leider war das die Sonnenseite. Der Wohnteil ging nach Norden und Osten, und im Osten verstellte ein kleiner Eichenwald die Sonne. Nach Norden grenzte das Grundstück an Felder, und in der Ferne lagen Kuhweiden, die man vermutlich vom Erdgeschoss im Sommer nicht sehen würde, falls wie üblich Mais angebaut wurde.

Erfreulicherweise gab es eine Treppe nach oben mit einem kleinen Flur. Die Treppe war zwar baufällig und wurmstichig, aber das hielt uns nicht ab, hinauf zu steigen. Nach vorsichtigem Tasten Stufe für Stufe erreichten wir den Flur, und ich ging durch eine schief in den Angeln hängende Tür in eines der beiden nach Norden ausgerichteten Zimmer. Durch die erblindeten Scheiben von einem der Fenster konnte man erkennen, dass es tatsächlich einen Elbblick gab. Ich versuchte natürlich gleich, eins der Fenster zu öffnen, aber die Rahmen waren so verquollen, dass ich schnell von meinem Unterfangen abließ aus Angst, ich könnte im nächsten Moment das ganze Fenster aus dem Fachwerk hebeln und in der Hand halten.

Wir waren uns aber sofort einig, dass dieser alte Dreiständer unser Zuhause werden würde. Die Schwierigkeiten schoben wir beiseite und sprudelten während der Rückfahrt nach Lüneburg über vor Umbauideen.

Da ich mich schon lange für Fachwerkhäuser begeisterte, besaß ich eine ganze Sammlung von Bauzeitschriften, die ich nach den verschiedensten Gesichtspunkten in einem gesonderten Regal geordnet hatte: Schöne Eingänge, tolle Bäder, moderne Küchen, Wohnzimmer mit Kaminen, ausgefallene Treppen und wunderschöne Gärten. Wir kuschelten uns in meinem Wohnzimmer auf der Couch aneinander und nahmen uns die Zeitschriften vor. Ich fing natürlich mit den Gärten an, was Matti sehr lustig fand, aber zum derzeitigen Zeitpunkt der Planungen ziemlich daneben. Er meinte, ich würde schon die Gardinen aufhängen, bevor ich überhaupt von einem Objekt Kenntnis hatte. Er dagegen konzentrierte sich vernünftigerweise auf das Haus.

Nach einigen verworfenen Plänen und mehreren Gläsern Rotwein fiel mir plötzlich ein Punkt ein, den wir bisher völlig vernachlässigt hatten: die Finanzierung. Ich war wohl schon so angeheitert, dass ich unser Versäumnis komisch fand, aber Matti konnte dem Problem keine heitere Seite abgewinnen. Er legte die Zeitschrift, die er gerade studierte, weg, nahm mich in den Arm und sagte: „Du bist wirklich realistisch. Ich dagegen habe den Gedanken an die Kosten bisher bewusst unterdrückt. Es ist so trübselig, an etwas so Prosaisches wie die Finanzierung zu denken, wenn man seinen Platz im Himmel gefunden hat. Lass uns jetzt schlafen gehen und morgen an Geld denken.“

Über die Finanzierung des Hauskaufs gerieten wir uns fast in die Haare. Meine Eltern hatten für Vera und mich vor etlichen Jahren Bausparverträge abgeschlossen, als man vor den drastischen Zinssenkungen so etwas noch tat, und sie wollten mir sofort das angesparte Geld zur Verfügung stellen. Die Rückzahlung des Darlehens sollte ich allerdings selbst leisten. Matti bekam von seinen Eltern ebenfalls einen stattliche Summe geschenkt als Voraberbe, damit er seinen Traum vom Wohnen im Wendland in der Nähe seiner Eltern verwirklichen konnte. Matti kam mit einem ganz altmodischen Gedanken, der mich richtig in Rage brachte. Er wollte nämlich allein das Haus auf seinen Namen erwerben und die gesamte Finanzierung übernehmen.

„Du bist dann so gnädig, mich da auch wohnen zu lassen? Und wenn du dich nach einer jüngeren Frau umsiehst so in zehn, fünfzehn Jahren kann ich meine Koffer packen? Das läuft überhaupt nicht. Das Haus wird halbe-halbe erworben, sonst lassen wir‘s“. Ich wollte weiter giften, aber Matti bremste mich. Er war total entsetzt, weil er solche Ausbrüche nicht von mir kannte, jedenfalls nicht ihm gegenüber.

Mit Matti konnte man sich nicht wirklich streiten, zumindest nicht mit Anschreien und dem Werfen von Gegenständen. Wir besprachen also das Problem in Ruhe, und schließlich waren wir uns völlig einig, dass die Finanzierung je zur Hälfte von uns getragen werden sollte.

Ich sagte Matti, dass ich es richtig toll fände, in welch friedlicher Zeit wir aufgewachsen waren mit großzügigen Eltern, die es sich durchaus leisten konnten, uns zu unterstützen. Ich dachte an meine Großeltern, die nach dem Krieg alle Hände voll zu tun hatten, überhaupt wieder Boden unter die Füße zu bekommen und sich kaum in der Lage sahen, für ihre Kinder viel zu tun, so wie es in Millionen Familien der Fall gewesen war.

Der Kauf des Hauses zog sich ein paar Wochen hin bis zum Notartermin, aber da Matti verwandt mit dem Verkäufer war, bekamen wir den Schlüssel ausgehändigt ohne offizielle Ermächtigung, nachdem die üblichen Details geklärt waren.

Am liebsten wären wir gleich eingezogen, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Nicht nur, dass es einen einzigen Kaltwasserhahn in der düsteren Küche gab, und draußen ein Plumpsklo, von dem wir nicht mal wussten, ob die Grube darunter noch richtig funktionierte, sondern auch außer dem alten Kohleherd nur einen hässlichen Kachelofen im Wohnraum, der von der Tenne aus beheizt werden konnte. Der Kachelofen und das fließende Wasser in der Küche waren immerhin eine Konzession an die Neuzeit, die man nach dem Krieg gemacht hatte.

Am Sonnabend nach Übergabe des Schlüssels fuhr ich mit dem VW Pritschenwagen meiner Eltern, den sie in der Woche für die Gärtnerei benutzten, nach Langendorf, um trotz aller Widrigkeiten das Haus einzuweihen. Wir holten bei Mattis‘ Eltern alte Matratzen, dicke Decken und einen Tisch mit ein paar ausgemusterten Plastiksesseln für den Garten.

Leider war es nicht nur ziemlich kalt, sondern auch extrem windig, und der Wind pfiff durch die undichten Fenster und Türen, so dass man fast glauben konnte, im Freien zu sein. Wir heizten zunächst den Kachelofen an, der nicht ziehen wollte, und dann den Küchenherd, bei dem der Qualm aus allen Ritzen drang, bis wir die Hand nicht mehr vor Augen sahen und hustend die Küche verlassen mussten.

Matti mutmaßte, dass es am kalten Schornstein liegen müsste, der seit Jahren nicht benutzt worden war. Er schlug vor, einen Spaziergang an der Elbe zu machen und anschließend zu sehen, ob unsere Heizquellen sich in der Zwischenzeit besonnen hatten.

Es klappte tatsächlich. Als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, hatte sich der Rauch einigermaßen verzogen, und es fing sogar an, ein bisschen warm zu werden. Ich hatte einen Eintopf mitgebracht und fand es höchst vergnüglich, ihn auf dem Kohleherd warmzumachen.

Leider hatten wir keine Teller, aber immerhin hatten wir altes Besteck in einer Schublade gefunden, dass zwar nicht gerade appetitlich aussah, aber nach einigem Schrubben benutzbar war.

Wir saßen also leise frierend an unserem Campingtisch und löffelten die Suppe aus dem Topf.

Uns kam es vor, als seien wir bei einem Überlebenstraining, und die Vorstellung, dass früher fast alle Menschen ein so hartes Leben gehabt hatten, machte mich schaudern.

Am Nachmittag wurde es besser mit der Wärme. Ich hatte ein Thermometer im Auto und nahm es mit ins Haus um festzustellen, welch tropische Temperatur wir erreicht hatten. Immerhin zwölf Grad!

Es wurde sehr schnell dunkel, und da wir in der Küche nur eine nackte Birne hatten und im Wohnzimmer eine alte Stehlampe, fingen wir nicht mehr viel an. Lesen konnte man bei der miserablen Beleuchtung nicht, und ohne sich in eine Daunendecke zu wickeln auch nicht kuschelig herumsitzen. Wir beschlossen also, früh ins Bett zu gehen. Ich machte noch einen Glühwein heiß, nach dessen Genuss uns etwas wärmer wurde, und dann schlüpften wir unter die dicken Daunendecken. Ich warf Matti seine Pudelmütze zu, damit er am Kopf nicht so frieren musste, und lachte ihn dann aus, weil er mit der Mütze aussah wie der Deutsche Michel.

Wir kuschelten uns aneinander, und Matti trug mir seine neueste Umbauidee vor. Er stellte sich vor, dass wir die Tenne, die ja auf der Sonnenseite lag, als Wohnzimmer nutzen würden. Da der Raum sehr viel Tiefe hatte, würde ein verglastes Scheunentor als Lichtquelle nicht ausreichen. Deshalb könnte man die Tenne bis ins Dach offenlassen und im First einen gläsernen Dachreiter einsetzen.

Ich war begeistert von der Idee, aber mir kamen gleich Bedenken wegen des Denkmalschutzes. Es war kaum vorstellbar, dass das Denkmalamt einen gläsernen Dachreiter bei einem Dreiständer genehmigen würde.

Wir hingen eine Weile unseren Gedanken nach und hatten unsere Hände unter der Decke liebevoll verschränkt. Irgendwann kuschelte ich mich an ihn und sagte: „Es ist unglaublich schön, so könnte es immer bleiben.“ „O.k.,“ antwortete Matti. „Wenn du es so schön findest, lassen wir alle Umbaumaßnahmen weg. Wird billiger und ist auch weniger Arbeit.“

Ich trat ihn kräftig in die Seite, und wir fingen zu kabbeln an. Unsere kleinen Handgreiflichkeiten endeten damit, dass ich von der Matratze fiel und die Daunendecke mitriss. Matti hievte mich sofort mitsamt der Decke zurück auf meine Matratze, und dann wurde er sehr zärtlich.

Ich wachte irgendwann in der Nacht davon auf, dass Matti sich von seiner Matratze hoch stemmte und barfuß durch den kalten Raum lief, um offenbar den Lichtschalter zu suchen. „Was machst du denn?“ fragte ich schlaftrunken.

Matti hatte den Lichtschalter gefunden und stand ganz still, als würde er auf etwas lauschen. Dann hörte ich ihn laut einatmen und schnüffeln wie ein Hund. „Es riecht nach Rauch,“ sagte er. „Ich muss mal checken, ob unsere beiden Heizquellen in Ordnung sind.“

Damit verschwand er in der Küche, kam aber gleich darauf zurück. „Es muss woanders herkommen, hier kann ich nichts entdecken.“

Jetzt bemerkte ich auch einen schwachen Rauchgeruch und wurde unruhig. Das fehlte noch, dass uns die Bude abbrannte, bevor wir sie richtig in Besitz genommen hatten!

Wir zogen uns beide notdürftig etwas Warmes über und gingen durch eine der beiden Stalltüren neben dem Scheunentor ins Freie, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Zunächst konnten wir nichts Ungewöhnliches sehen, aber als wir uns der Dorfstraße näherten, nahm der Rauchgeruch zu, und wir entdeckten auf der gegenüberliegenden Seite eine kleine Rauchwolke, die aus einem unbewohnten Haus quoll.

Matti reagierte blitzschnell. Er rannte zurück ins Haus, griff sein Handy, das neben der Matratze in seiner ledernen Umhängetasche steckte, und wählte die 112. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er im Haus keinen Empfang und stürzte fluchend in den Garten, mit dem Handy in der Luft herumfuchtelnd. Irgendwann zeigte sein Handy Empfang an, und er erreichte die Feuerwehr.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die erste Sirene ertönte, und schon gingen in ein paar Häusern an der Dorfstraße Lichter an. Die ersten Autos fuhren nach erstaunlich kurzer Zeit Richtung Feuerwehrmagazin, so dass es mir vorkam, als würde es sich um eine vorangemeldete Übung handeln. Nach einigen weiteren Minuten wurden auch die Feuerwehren der umliegenden Orte alarmiert, und der erste Löschzug aus Langendorf traf ein.

Gerade als sie vor dem schwelenden Haus hielten, gab es ein merkwürdiges Zischen, und eine gewaltige Flamme schlug aus einem der oberen Fenster. Im Nu stand das ganze Gebäude in Flammen, und man konnte schnell erkennen, dass es keine Rettung mehr geben würde. Mit geübter Schnelligkeit wurden die Schläuche ausgerollt, und der Wasserstrahl zischte in die Flammen. So würde wenigstens ein Ausbreiten des Feuers in den Garten und die umliegenden Bäume verhindert werden.

Matti wollte zurück ins Haus gehen, aber ich konnte mich von dem Anblick nicht lösen. Ich fand das Flammenmeer zugleich schauerlich und schön. Ich umklammerte Mattis‘ Taille, und er legte beschützend seinen Arm über meine Schultern.

Wir blieben auf der Straße stehen, bis die Balken nachgaben, und das Gebäude funkenstiebend zusammenfiel. Die Gaffer – zu denen ich uns ja auch zählen musste - zerstreuten sich langsam, und wir gingen zurück ins Haus.

Ich konnte lange nicht einschlafen. Mich beschäftigte die Frage, aus welchem Grund dieses unbewohnte Haus mitten in der Nacht in Flammen aufgegangen war. Natürlich kam mir zuallererst der Gedanke an Versicherungsbetrug, aber dazu musste ich wissen, ob das Haus überhaupt versichert war, und ob der Eigentümer vielleicht versucht hatte, es zu verkaufen und es nicht losgeworden war.

Während Matti am nächsten Morgen unsere beiden Feuerstellen versorgte, zog ich meinen Anorak über und lief auf die Straße um zu sehen, was aus dem Brand geworden war. Ein kleines Feuerwehrauto stand noch da mit zwei Mann Besatzung. Vermutlich waren sie eingeteilt, um Brandwache zu halten. Sonst war alles still, und die Brandstelle schwelte noch mit kleinen weißlichgrauen Wölkchen. In der Luft stand noch durchdringend der überaus unangenehme Brandgeruch.

Wir verbrachten den Sonntag weitgehend mit Planen für den Umbau. Mittags wären wir gern essen gegangen, aber in Langendorf und den nächsten Orten bot sich kein einschlägiges Restaurant an, und auf eine längere Autofahrt hatten wir keine Lust. Ich hatte ein paar Lebensmittel mitgebracht, und so briet ich Rührei mit Pilzen auf dem Kohleherd in der gammeligen Küche.

Am Nachmittag machten wir einen Spaziergang an der Elbe. Das Wasser stand ziemlich hoch, und man hatte bereits Warnungen ausgegeben, dass es ein Hochwasser geben könnte, wenn weiter Regen oder Schnee fiel.

An der Elbe wehte ein unangenehmer Ostwind, und wir fingen schnell zu frieren an. Ich mag unter meiner langen Hose nur Söckchen tragen, aber ausnahmsweise sehnte ich mich in der jetzigen Situation nach einer langen Unterhose. Wir kürzten also unseren Spaziergang ab, kehrten in „unser“ Haus, wie wir es bereits bezeichneten, zurück, und stellten erfreut fest, dass es mittlerweile einigermaßen warm geworden war.

4. Kapitel

Am Montag nach dem Wochenende in Langendorf überraschte mich Matti durch einen Anruf in der Gärtnerei. Eigentlich wollte ich während der Geschäftszeiten nicht privat telefonieren, aber diesmal war es dringend. Wie Matti berichtete, hatte er, als er die Feuerwehr über den Brand informierte, seinen Namen und seine Adresse angeben müssen. Am Montag in aller Frühe stand die Kriminalpolizei vor der Tür seines Elternhauses, wo er wieder eingezogen war, um von dort aus so bald wie möglich die Arbeiten in Langendorf in Angriff nehmen zu können.

Ein Herr Bartoschak stellte sich als Hauptkommissar vor.

Er sagte, sein Besuch sei reine Routine, aber die Polizei müsse überprüfen, wie das Feuer von Matti mitten in der Nacht entdeckt worden war, und unterschwellig konnte Matti heraushören, dass man ihn verdächtigte, es selbst gelegt zu haben. Matti amüsierte sich darüber, dass alle Vorurteile bedient worden waren: Der Pyromane verständigt selbst die Feuerwehr, aber so spät, dass nicht mehr viel zu machen ist, und dann genießt er als Zuschauer oder häufig als Helfer den Brand.

Es war notwendig, dass auch ich eine Aussage machte, um die Situation, die Matti geschildert hatte, zu bestätigen. Herr Bartoschak erklärte, dass man zuerst einmal von Brandstiftung ausgehe und dann überprüfen müsse, ob es sich um einen Versicherungsbetrug handelt. Matti und ich hatten natürlich über das Thema gesprochen, und es war uns ein Rätsel, wie das unbewohnte Haus einfach so in Flammen aufgehen konnte.

Herr Bartoschak deutete an, dass unter Umständen mit dem veralteten Stromnetz etwas nicht in Ordnung gewesen sein könnte, wobei er es erstaunlich fand, dass der Strom nicht längst abgeklemmt worden war. Matti sagte ihm, dass auch bei unserem Objekt der Strom weiter vorhanden war, weil man ihn gelegentlich benötigte, um kleinere Reparaturen auszuführen. Außerdem war es natürlich eine Frage des Geldes, ob man bei einem unbewohnten Haus für etwas zahlen wollte, das man eigentlich nicht brauchte. Wer genug Geld hatte, um sich diesen Luxus zu leisten, dachte oft nicht einmal über so kleinliche Sparmöglichkeiten wie das Abstellen von Strom und Wasser nach.

Die Kriminalpolizei rief noch am gleichen Tag bei mir an. Am Telefon konnte ich natürlich nichts klären, und ich machte deutlich, dass ich nicht willens war, wegen meiner lächerlichen Aussage nach Lüchow zu fahren. Also kündigten die Beamten einen Besuch bei mir zu Hause für den Abend an.

Ich war ein bisschen entrüstet, dass die Kripo mit so einem aufwändigen Unternehmen unsere Steuergelder verschleuderte: Zwei Beamte, die sich auf den Weg nach Lüneburg machten. Ich vermutete zudem, dass ihnen die kleine Ausfahrt besser gefiel, als vor dem Computer zu sitzen. Na ja, es sei ihnen gegönnt. Sie hatten doch sicherlich bedacht, dass ich einen ganzen Tag Zeit gehabt hatte, um mich mit Matti abzusprechen, falls wir eine krumme Tour gedreht haben sollten.

Ich war kaum aus der Gärtnerei zurück, als es schon klingelte. Besagter Herr Bartoschak stellte sich und seinen Begleiter vor. Herr Bartoschak gefiel mir überhaupt nicht. Er hatte einen leicht überheblichen Zug um den Mund, und seine Kleidung war nicht gerade vorteilhaft. Er trug eine Jeans, die über dem Bauch spannte, und ein dunkelblaues, enges Kurzmäntelchen, wie es gerade bei jungen Bankern modern war.

Ich war gespannt auf seine Fragen. Zunächst musste ich den Verlauf des Tages schildern, und dann kamen wir auf die Nacht zu sprechen. „Was haben Sie gemacht, als Sie im Bett waren?“ Die Frage forderte mich geradezu zu einer frechen Antwort heraus: „Was man im Bett eben so macht. Erst ficken und dann schlafen.“

Herr Bartoschak zuckte nur ganz kurz mit den Augenbrauen und hatte sich sofort wieder gefangen. „Wovon Sind Sie aufgewacht?“„Davon, dass mein Freund im Dunkeln herumtapste und den Lichtschalter suchte. Dann hat er mir erklärt, dass er dem Rauchgeruch nachgehen wolle, den ich dann auch bemerkte.“

„Sie waren also nicht noch einmal im Garten? Oder Ihr Freund hat sich unbemerkt herausgeschlichen?“

Jetzt musste ich wirklich lachen. „Ich schlafe so leicht, dass ich eine Maus husten höre. Ungehört rausschleichen ist bei mir nicht. Was unterstellen Sie uns eigentlich?“

Herr Bartoschak und sein Begleiter bedankten sich ziemlich unvermittelt für meine Aussage und verabschiedeten sich. Als ich meine Wohnungstür schloss, kam mir die ganze Situation überaus merkwürdig vor. War es wirklich üblich, denjenigen, der einen Unfall, einen Mord oder ein Feuer meldete, zuerst einmal zu verdächtigen?

Zu meiner Genugtuung wurden die Bewohner der umliegenden Häuser von der Brandstätte auch befragt. Wer war nachts unterwegs gewesen? Hatte man ein Auto bemerkt, dass auffällig parkte? Niemand konnte irgendwelche sachdienlichen Hinweise geben, dafür wurde um so mehr spekuliert. Außer einer Schlägerei beim letzten Schützenfest und einer Scheidung war schon lange nichts so Aufregendes mehr passiert. Man erzählte sich, dass die Feuerversicherung Experten geschickt hatte, um ein eventuelles Fremdeinwirken festzustellen, aber es kam nichts dabei heraus. Natürlich hatte die Versicherung großes Interesse daran, dem Hausbesitzer warmes Abbauen nachzuweisen, um die Versicherungssumme nicht zahlen zu müssen.

Der Besitzer, ein junger Mann aus Uelzen, der das Haus überraschend geerbt hatte und keinerlei Verwendung dafür fand, war zur Zeit des Brandes überhaupt nicht in erreichbarer Nähe gewesen. Er war dem kühlen, unangenehmen Wetter ausgewichen und hatte mit seiner Familie die Vorweihnachtszeit beim Schnorcheln und Schwimmen in Sharm-el-Sheik auf der Halbinsel Sinai in Ägypten verbracht. Ein besseres Alibi konnte man kaum haben.

Ich fand es allerdings etwas unangebracht, sich bei der derzeitigen Situation in Ägypten sorglos in die Sonne zu legen und die massiven Probleme, die es im arabischen Raum gibt, auszublenden. Na ja, es sind eben nicht alle Leute so vernünftig wie ich.

Das Haus war bereits seit zwei Jahren beim Maklerbüro der Sparkasse ausgeschrieben gewesen, aber das Interesse hielt sich in Grenzen. Die Zeiten, wo die Städter auf ‘s Land drängen und schwärmerisch die alten Bauernhäuser wieder herstellen, sind vorbei.

Allmählich beruhigten sich die Gemüter, und wir hörten kaum noch etwas über den Brand.

5. Kapitel

Zu Weihnachten hatten wir immer noch kein Lebenszeichen von Vera erhalten. Unsere Mutter war ganz verzweifelt und weinte oft. Ich fand es an der Zeit, die Polizei einzuschalten, aber unser Vater wollte davon nichts wissen. „Das Aas hat sich einfach versteckt und will uns eins auswischen. Warum, weiß ich nicht, ich habe ihr jedenfalls nichts getan.“

Wir saßen um den Esstisch am ersten Weihnachtstag. Matti und seine Eltern waren eingeladen, und es gab eine Gans, die garantiert biologisch und ökologisch einwandfrei aufgewachsen war. Sie stammte von Nachbarn, die vor Weihnachten ihr Geflügel auf pfiffige Weise versteigerten. Beim Versteigerungstermin gab es zum Aufwärmen Sekt, Häppchen und Musik, und wenn alle ein bisschen angeheitert waren, ging die Versteigerung los. Der Erlös, den unsere Nachbarn für jede einzelne Gans erzielten, konnte sich sehen lassen, und alle hatten ihren Spaß.

Jedenfalls beleuchteten wir den Fall Vera von allen Seiten. Mir war es ein bisschen peinlich, Einzelheiten über Veras Verhalten in den vergangenen Jahren vor Mattis Eltern auszubreiten, aber sie würden sowieso früher oder später von Veras unmöglichem Benehmen erfahren.

Natürlich kamen wir zu keinem Ergebnis und beendeten die Überlegungen. Mama weinte noch ein bisschen, aber dann fing sie sich, und der Abend wurde noch ganz lustig, zumal die Gans hervorragend gelungen war.

Matti trat zum Jahreswechsel seine neue Stelle an und wurde in Eberswalde in sein Arbeitsgebiet eingewiesen. Er konnte nur kurz ins Wendland kommen, als der Kaufvertrag für das Haus in Langendorf fertig war, und ein Notartermin vereinbart wurde

Es klappte alles hervorragend, und wir beide waren stolzgeschwellte Hausbesitzer. Unsere Ideen und Pläne ließen wir von einem Architekten umsetzen, der bekannt dafür war, dass er alte Häuser sachgerecht sanierte, indem er Altes und Modernes gekonnt kombinierte. Unser Dachreiter fiel natürlich weg, weil nicht genehmigungsfähig, aber das Scheunentor konnten wir durch ein Glastor ersetzen. Die ehemaligen Stalltüren links und rechts von der Tenneneinfahrt erhielten fest verglaste Fenster, die bis zum Boden heruntergezogen waren. Es sah toll aus und brachte sehr viel Licht, zumal wir die Nachmittagssonne auf Tor und Stalltüren hatten.

Es ging natürlich nicht so schnell, wie ich es jetzt hier sage. Es mussten Balken ausgewechselt, zwei Schwellen erneuert und Wände in den Fachwerkfächern neu ausgemauert werden.

Ich versuchte, so oft wie möglich vor Ort zu sein, um den Bau zu beaufsichtigen. Ich konnte wirklich über den Architekten nicht klagen. Er war ständig da, ging geschickt mit den Handwerkern um und packte auch mal selber mit an.