Feuerengel - Robert Crais - E-Book

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Robert Crais

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Beschreibung

Carol Starkey machte einst Karriere als Sprengstoffexpertin bei der Polizei von Los Angeles. Doch dann wurde ihr Freund David bei einem ihrer Einsätze getötet. Nun betäubt sich die depressive Starkey mit Zigaretten, Alkohol und Tabletten. Doch ein neuer Fall reißt sie aus ihrer Lethargie: Ein Bombenleger scheint es speziell auf ihre ehemaligen Kollegen abgesehen zu haben …

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Robert Crais

Feuerengel

Roman

Zum Buch

Carol Starkey machte einst Karriere als Sprengstoffexpertin bei der Polizei von Los Angeles. Doch dann wurde ihr Freund David bei einem ihrer Einsätze getötet. Nun betäubt sich die depressive Starkey mit Zigaretten, Alkohol und Tabletten. Doch ein neuer Fall reißt sie aus ihrer Lethargie: Ein Bombenleger scheint es speziell auf ihre ehemaligen Kollegen abgesehen zu haben …

Zum Autor

Robert Crais, 1953 geboren, begann seine Karriere als Drehbuchautor für das amerikanische Fernsehen und wurde unter anderem mit dem Emmy ausgezeichnet.1980 beschloss er, sich ganz dem Schreiben von Romanen zu widmen. Crais wurde mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet (u. a. mit dem Edgar Award und dem Anthony Award), seine Thriller erscheinen in 42 Ländern und belegen regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Robert Crais lebt mit seiner Frau, drei Katzen und Tausenden von Büchern in den Bergen von Santa Monica, Kalifornien.

Lieferbare Titel

978-3-641-11302-5 - Straße des Todes 978-3-641-13721-2 - Gesetz des Todes 978-3-641-15806-4 - Unter Verdacht

Die Originalausgabe Demolition Angel erschien bei Doubleday/Random House Inc., New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2000 by Robert Crais Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 Redaktion: Werner Bauer Umschlaggestaltung: Robert Schober, München, unter Verwendung eines

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightWidmungPrologTEIL EINS
Kapitel 1
Kapitel 2Kapitel 3
Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7
Kapitel 8
TEIL ZWEI
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13Kapitel 14
Kapitel 15Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20
Kapitel 21Kapitel 22
DanachDanksagungLeseprobe

Prolog

Zerrissen sein: wenn der menschliche Körper in Stücke gerissen wird, beispielsweise vom Detonationsdruck einer Bombe

Gradwohl’s Legal Medicine

Code-Drei-EinsatzBombendezernatSilver Lake, Kalifornien

Charlie Riggio starrte auf den Pappkarton, der neben dem Müllcontainer stand. Es war ein Jolly-Green-Giant-Karton, mit etwas, das aussah wie eine zerknüllte braune Papiertüte, die oben herausragte. Der Karton trug den Aufdruck GRÜNE BOHNEN. Weder Riggio noch die beiden uniformierten Beamten in seiner Begleitung gingen näher als bis zur Ecke der Ladenpassage am Sunset Boulevard heran; von dort aus konnten sie den Karton bestens sehen.

»Wie lange steht der da schon?«

Einer der beiden Streifenpolizisten, ein Filipino namens Ruiz, schaute auf seine Uhr.

»Wir haben unseren Einsatzbefehl vor ungefähr zwei Stunden bekommen. Seitdem sind wir hier.«

»Habt ihr jemanden getroffen, der gesehen hat, wie der da hingekommen ist?«

»Nein, Mann. Niemanden.«

Der andere Polizist, ein Schwarzer namens Mason, nickte. »Ruiz hat ihn entdeckt. Er ging rüber und schaute in die Tüte, dieser durchgeknallte Filipino.«

»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«

»Das hab ich Ihrem Sergeant bereits erzählt.«

»Mir sollen Sie’s erzählen. Ich bin der Trottel, der zu diesem blöden Ding hingehen muss.«

Ruiz erklärte, die zugeschraubten Enden von zwei galvanisierten Röhren gesehen zu haben, die mit silbernem Klebeband zusammengeklebt seien. Die Rohre seien lose in Zeitungspapier eingewickelt, so Ruiz, und deshalb habe er nur die Enden sehen können.

Riggio überlegte. Sie standen in einer Ladenpassage auf dem Sunset Boulevard in Silver Lake, eine Gegend, die in den vergangenen Monaten von zunehmender Bandenkriminalität heimgesucht worden war. Jugendbanden hatten auf Baustellen galvanisierte Rohre geklaut oder im Garten von irgendeinem armen Schwein Plastik-PVC ausgegraben und mit Pulver aus Silvesterraketen oder Streichholzköpfen gefüllt. Riggio hatte keine Ahnung, ob in dem Grüne-Riesen-Karton tatsächlich eine Bombe war oder nicht, aber er musste sich heranpirschen, als ob es der Fall wäre; das war bei einem Bombenalarm so üblich. Bei mehr als fünfundneunzig Prozent der Fälle handelte es sich um Haarspraydosen oder irgendwelche Büchertaschen von Teenagern oder – wie bei seinem jüngsten Einsatz – um nahezu ein Kilogramm Marihuana, eingewickelt in Pampers. Nur in einem von hundert Fällen traf zu, was die Bombentechniker als »improvisierte Munition« bezeichneten. Eine selbst gebastelte Bombe.

»Hat du ein Ticken oder etwas Ähnliches gehört?«

»Nein.«

»Irgendwas Verbranntes gerochen?«

»Auch nicht.«

»Hast du die Tüte aufgemacht, um mehr sehen zu können?«

»Um Himmels willen.«

»Hast du den Karton bewegt oder angefasst?«

Ruiz lächelte, als ob Riggio nicht ganz dicht wäre.

»He, Mann, ich hab die Röhren gesehen und mir vor Angst fast in die Hose geschissen. Das Einzige, was ich bewegt hab, waren meine Füße!«

Mason lachte.

Riggio ging zu seinem Wagen zurück. Das Bombendezernat fuhr blaue Suburbans, die mit einem hellen Streifen verziert und mit dem entsprechenden Werkzeugarsenal voll gestopft waren. Bis auf die Roboter. Brauchte man Roboter, musste man sie extra anfordern, aber das hatte er nicht vor. Der blöde Roboter würde sowieso in all den Schlaglöchern rund um den Papierkarton stecken bleiben. Riggios Blick traf seinen Vorgesetzten, Buck Daggett, der einen uniformierten Beamten anwies, die Gegend im Umkreis von einigen hundert Metern in allen Richtungen zu räumen. Die Feuerwehr war bereits alarmiert, die Sanitäter unterwegs, der Sunset Boulevard gesperrt und der Verkehr umgeleitet worden. Und all das wegen etwas, das sich als das Werk eines Hobbyklempners entpuppen könnte, der versucht hatte, einen Geruchsverschluss zu basteln.

»Hey, Buck, ich wäre so weit, mir das Teil mal anzusehen.«

»Ich will, dass du den Anzug anziehst.«

»Es ist zu heiß. Ich werde für den ersten Versuch den Brustschutz anlegen und den Anzug dann, wenn ich den Entschärfer einsetzen muss.«

Bei der ersten Inspektion würde Riggio nur einen tragbaren Röntgenapparat mitschleppen, um in die Tüte hineinzuschauen. Würde sich der Inhalt als Bombe erweisen, würden er und Daggett einen Schlachtplan ausarbeiten und die Bombe entweder entschärfen oder an Ort und Stelle detonieren lassen.

»Ich will, dass du den Anzug anziehst, Charles. Ich habe einfach ein ganz komisches Gefühl.«

»Du hast ja immer so ein komisches Gefühl.«

»Außerdem hab ich die Anordnung vom Sergeant. Du gehst nur im Anzug.«

Der gepanzerte Anzug wog etwa vierzig Kilo. Er bestand aus Kevlarplatten, war dick mit Nomex gefüttert und verhüllte Riggios Körper vollständig, bis auf seine Hände, die ungeschützt blieben; als Bombentechniker musste man seine Finger ungehindert bewegen können.

Als der Anzug richtig saß, nahm Riggio den Realtime-RTR3-Röntgenapparat und bewegte sich schwerfällig in Richtung Pappkarton. Sich im Anzug fortzubewegen war ein Gefühl, als wäre der Körper in nasse Decken gewickelt, nur heißer. Drei Minuten in dieser Rüstung, und schon lief einem der Schweiß in die Augen. Zu allem Übel schleifte er ein Sicherheitskabel und ein weiteres Kabel hinter sich her, durch das er über ein Telexgerät mit Daggett verbunden war. Ein separates Kabel verband den Röntgenapparat mit einem Computer im Laderaum des Suburban. Es kam ihm vor, als würde er einen Pflug hinter sich herziehen.

»Ich schwitz mir hier den Arsch ab, nur wegen dir.«

Diesen Arbeitsgang hasste Riggio am meisten, sich einem Objekt zu nähern, ohne zu wissen, was es war. Jedesmal dasselbe: Für Riggio war das unbekannte Objekt ein lebendiges Ungeheuer mit Leben und Verstand. Wie ein schlafender Pitbull. Näherte er sich vorsichtig und mit den richtigen Schritten, wäre alles in Ordnung. Reizte er den Hund, würde ihn das verdammte Ding zerfetzen.

Er erreichte den Pappkarton mit achtundzwanzig Schritten im Zeitlupentempo.

Außer einem feuchten Fleck an einer Ecke, der aussah wie Hundepisse, hatte der Karton nichts Auffälliges an sich. Die zerknitterte und deformierte braune Papiertüte war offen. Riggio starrte in die Tüte, ohne sie zu berühren. Es war schwierig, sich vornüberzubeugen, und als er es tat, tropfte der Schweiß wie Regen auf das Lexanvisier. Er sah die beiden Rohre, die Ruiz beschrieben hatte. Die Rohrverschlüsse hatten einen Durchmesser von etwa 6,5 cm und waren mit Isolierband zusammengeklebt, sonst ließ sich nichts Auffälliges entdecken. Sie waren lose in Zeitungspapier eingewickelt, und man konnte nur die Rohrenden sehen. Daggett fragte:

»Und, wie sieht’s aus?«

»Wie ein Stück Doppelrohr. Wart’s ab. Ich mach uns ein Foto.«

Riggio stellte den Röntgenapparat auf den Boden vor den Pappkarton, visierte die Seitenansicht an und schaltete den Röntgenapparat ein. Damit konnte man dieselben durchsichtigen Schattenbilder herstellen wie Flughafen-Sicherheitspersonal mit ihren Gepäckdurchleuchtungsanlagen und das Bild auf zwei Bildschirmen wiedergeben: eines für Riggio oben auf dem Röntgenapparat und das andere auf dem Computer draußen im Suburban.

Charlie Riggio strahlte.

»Himmelarsch. Volltreffer, Buck. Hier haben wir unsere Bombe.«

»Ja, das sehe ich jetzt auch.«

Die beiden Rohre waren undurchdringliche Schatten mit etwas, das aussah wie eine Drahtspule oder eine dazwischengeklemmte Sicherung. Es sah nicht so aus, als gäbe es einen Zeitzünder oder eine komplizierte Zündvorrichtung, sodass Riggio davon ausging, dass die Bombe in irgendeiner Garage von einem pfiffigen Mitglied einer Jugendbande zusammengebastelt worden war. Technisch simpel, schlampig gemacht und nicht besonders schwierig zu entschärfen.

»Das reinste Kinderspiel, Buck. Ich versuch’s mit einer Zündschnur nach der Streichholz-dran-und-nichts-wie-weg-Methode.«

»Sei vorsichtig. Vielleicht ist da noch irgendwo ein Bewegungssensor dran.«

»Ich werd nichts anrühren, Himmel noch mal. Sei doch nicht so misstrauisch.«

»Reg dich ab. Schick lieber ein paar Fotos, damit wir sehen, was Sache ist.«

Bei dieser Prozedur wurde mit dem Röntgengerät eine Reihe digitaler Computerfotos des Sprengkörpers gemacht, und zwar in einem Winkel von 45 Grad. Nachdem er den Sprengkörper aufgenommen hatte, sollte Riggio langsam in Richtung Suburban zurückweichen, wo er und Daggett dann entscheiden würden, wie sie die Bombe am geschicktesten vernichten oder entschärfen konnten.

Riggio schlurfte um den Pappkarton herum und richtete den Echtzeiter auf die verschiedenen Seiten. Während er das tat, hatte er keine Angst, weil er mit der Materie bestens vertraut und zuversichtlich war, das Ding in den Griff zu bekommen. In den sechs Jahren beim Bombendezernat hatte sich Riggio mehr als achtundvierzig verdächtigen Objekten genähert, von denen nur neun auch tatsächlich Sprengsätze waren. Und keiner davon war je auf eine Weise detoniert, die er nicht hatte kontrollieren können.

»Charlie, ich hör ja gar nichts von dir. Alles okay?«

»Ich muss nur um die Schlaglöcher herumkurven, Sarge. Bin gleich so weit. Hey, weißt du, was ich habe? Ich hab gerade eine total verrückte Idee.«

»Nun mal sachte. Pass lieber auf dich auf.«

»Nein, hör mal. Du kennst doch diese Typen aus der Infowerbung, die mit ihrer stupiden Scheiße, die sie den Leuten andrehen, einen Haufen Kohle machen? Wir sollten diese bescheuerten Anzüge an irgendwelche Fettsäcke verkaufen. Man steigt hinein, und das Fett schmilzt wie Schnee in der Sonne.«

»Konzentrier dich gefälligst auf die Bombe, Riggio. Wie steht’s mit deiner Körpertemperatur?«

»Alles im grünen Bereich.«

In Wirklichkeit war ihm so heiß, dass ihm schwindlig wurde, aber er wollte sicher sein, dass er brauchbare Bilder hinkriegte. Er umkreiste den Karton wie ein Mann im Marsanzug, machte Aufnahmen von vorn und von der Seite, hielt schräg drauf und hob den Röntgenapparat dann für eine Draufsicht hoch. In diesem Augenblick sah er einen Schatten, der bei den Seitenansichten nicht zu sehen gewesen war. »Buck, siehst du das? Ich glaub, ich hab was gefunden.«

»Was denn?«

»Hier, bei der Draufsicht. Ich schick’s dir mal.«

Auf einer Seite des Rohrs war ein dünner, haarfeiner Schatten zu erkennen, der bis zur Spule hinaufragte. Dieser Draht war nicht mit den anderen verbunden, was Riggio stutzig machte, bis ihm plötzlich ein überraschender Gedanke durch den Kopf schoss: Vielleicht war die Spule nur dazu da, um den anderen Draht zu verdecken.

In diesem Augenblick stieg Panik in ihm hoch, und sein Magen verkrampfte sich. Er wollte nach Buck Daggett rufen, aber er brachte keinen Ton heraus.

Riggio dachte nur: O mein Gott.

Die Bombe explodierte mit einer Geschwindigkeit von 8.534 Metern pro Sekunde, zweiundzwanzigmal schneller, als eine 9-mm-Kugel aus einer Pistolenmündung schießt. Die Hitze entlud sich in einer Explosion aus gleißendem Licht, heiß genug, um Eisen zu schmelzen. Der Luftdruck stieg schlagartig von den normalerweise ungefähr sechs Kilo pro Quadratzentimeter auf satte 880 und zerfetzte die Eisenrohre, die dann als scharfkantige Bombensplitter den Kevlar-Anzug wie hyperschnelle Kugeln durchlöcherten. Die Schockwelle wirkte mit einem Überdruck von 13.600 Kilo auf seinen Körper ein und zertrümmerte seine Brust, zerfetzte Leber, Milz und Lungen und riss ihm seine ungeschützten Hände ab. Charlie Riggio wurde rund 10 Meter hoch in die Luft und über 30 Meter weit geschleudert.

Selbst so dicht am Detonationsherd hätte Riggio vermutlich überlebt, wäre es wirklich eine in irgendeiner Garage von einem pfiffigen Jugendbandenmitglied mit improvisierten Zutaten zusammengebastelte Bombe gewesen, wie er anfänglich vermutet hatte.

War es aber nicht.

TEIL EINS

1

»Erzählen Sie mir von dem Daumen. Ich weiß, was Sie mir bereits am Telefon mitgeteilt haben, aber erzählen Sie es mir bitte jetzt noch einmal.«

Starkey inhalierte tief und schnippte die Asche kurzerhand auf den Boden. Das machte sie jedes Mal, wenn sie sich darüber ärgerte, hier sein zu müssen. Was die Regel war.

»Benutzen Sie den Aschenbecher, Carol.«

»Oh, ich habe wohl daneben getroffen.«

»Sie haben nicht daneben getroffen.«

Detective-2 Carol Starkey zog noch einmal kräftig an ihrer Zigarette und drückte sie aus. Als sie diese Therapeutin zum ersten Mal aufgesucht hatte, hatte Dana Williams ihr das Rauchen während der Sitzungen verboten; das war jetzt drei Jahre und vier Therapeuten her. In der Zeit, als Starkey sich mit ihrem zweiten und dritten Therapeuten herumschlug, hatte sich Dana selbst das Rauchen wieder angewöhnt, und jetzt war es ihr egal. Manchmal rauchten sie gemeinsam, bis das verdammte Zimmer mit einer derart undurchdringlichen Wolkenschicht verhangen war wie das Imperial Valley bei einem Wetterumschwung.

Starkey zuckte mit den Schultern.

»Nein, ich glaube, ich habe nicht daneben getroffen. Mir geht das alles nur ziemlich auf den Geist. Das läuft mittlerweile seit drei Jahren so, und jetzt bin ich wieder da, wo ich angefangen habe.«

»Bei mir.«

»Genau. Als ob ich in drei Jahren nicht über diese Scheiße hinweggekommen sein dürfte.«

»Erzählen Sie mir bitte, was passiert ist, Carol. Erzählen Sie mir vom Daumen des kleinen Mädchens.«

Starkey zündete sich eine weitere Zigarette an und lehnte sich zurück, um sich an den Daumen des kleinen Mädchens zu erinnern. Starkey rauchte mittlerweile nur noch drei Schachteln pro Tag. Im Zuge dieses Fortschritts sollte es ihr eigentlich besser gehen, tat es aber nicht.

»Es war der 4. Juli. Dieser Vollidiot da draußen in Venice hatte beschlossen, seine eigenen Feuerwerkskörper zu basteln und an die Nachbarn zu verschenken. Für ein kleines Mädchen endete das damit, dass sie Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand verlor und wir einen Anruf von der Notrufzentrale kriegten.«

»Wer ist wir?«

»Ich und mein damaliger Arbeitskollege Beth Marzik.«

»Eine Kollegin, nehme ich an.«

»Ja, bei der CCS gibt’s nur zwei Frauen.«

»Okay.«

»Als wir dort ankamen, war die Familie schon nach Hause gegangen, also folgten wir ihnen. Der Vater weinte, sagte, sie hätten zwar den Finger, aber nicht den Daumen gefunden, und dann zeigte er uns die selbst gebastelten Knallkörper. Das waren so verdammt dicke Apparate, dass das Mädchen froh sein konnte, nicht die ganze Hand dabei verloren zu haben.«

»Hat der Vater sie gebaut?«

»Nein, ein Typ aus der Nachbarschaft, aber der Vater wollte uns den Namen nicht verraten. Er meinte, dass der Mann nichts Böses vorgehabt hätte. Ich sagte ihm, Ihre Tochter ist verkrüppelt, Sir, andere Kinder sind in Gefahr, aber der Typ wollte nicht raus mit der Sprache. Dann fragte ich die Mutter, woraufhin ihr Mann irgendetwas auf Spanisch sagte, und plötzlich wollte sie auch nichts mehr sagen.«

»Warum wollten sie Ihnen nichts erzählen?«

»Weil manche Leute Arschlöcher sind.«

Das war die Welt der Carol Starkey, Detective-2 bei der Criminal Conspiracy Section des Los Angeles Police Department, kurz CCS genannt. Dana notierte diesbezüglich etwas in einem ledergebundenen Notizbuch, eine Sache, die Starkey nicht ausstehen konnte. Die Notizen gaben ihren Aussagen eine physikalische Substanz und verursachten bei Starkey ein Gefühl der Verletzlichkeit, weil sie die Aufzeichnungen als Beweismaterial ansah. Starkey zog nochmals an der Zigarette, zuckte mit den Schultern und setzte ihren Bericht fort.

»Diese Knallkörper sind fünfzehn Zentimeter lang, okay? Wir nennen sie Mexikanisches Dynamit, denn diese Dinger werden ständig in die Luft gejagt. Marzik findet, dass sich das anhört wie auf dem Schießstand der Polizeiakademie. Also fangen Marzik und ich an, uns in der Nachbarschaft umzuhören. Aber die Nachbarn sind genau wie der Vater – keiner macht das Maul auf, und mir platzt bald der Kragen. Marzik und ich gehen zurück zum Auto, und als ich mal auf den Boden schaue, liegt da der Daumen vor meinen Füßen. Ich schaute einfach nur auf den Boden, und da lag er, dieser niedliche kleine Daumen. Also hob ich ihn auf und brachte ihn der Familie zurück.«

»Am Telefon haben Sie mir erzählt, Sie wollten den Vater zwingen, ihn zu essen.«

»Ich packte ihn am Kragen und rammte ihm den Daumen in den Mund. Das habe ich wirklich getan.«

Dana rutschte auf ihrem Stuhl herum. An ihrer Körperhaltung konnte Starkey ablesen, wie mulmig ihr bei dieser Vorstellung zumute war. Wofür Starkey volles Verständnis hatte.

»Ich kann gut nachvollziehen, weshalb die Familie eine Beschwerde eingereicht hat.«

Starkey rauchte ihre Zigarette zu Ende und drückte sie aus. »Die Familie hat keine Beschwerde eingereicht.«

»Aber wieso kam es dann …?«

»Marzik. Ich glaube, ich habe Marzik einen Schrecken eingejagt. Sie hatte eine Unterredung mit meinem Vorgesetzten, und anschließend drohte Kelso mir, mich für eine gründliche Beurteilung zur Bank, wie man das bei uns nennt, zu schicken.«

Das LAPD unterhielt eine eigene Abteilung für Verhaltensforschung, die im Gebäude der Fernost-Bank am Broadway in Chinatown untergebracht war. Die meisten Beamten lebten in ständiger Angst, zur Bank zitiert zu werden, im berechtigten Glauben, dass dadurch ihr vermeintlich sicherer Posten arg ins Wanken geraten könnte und sie ihre Hoffnungen auf eine Beförderung getrost begraben konnten. Dafür gab es eine Bezeichnung: »Man hatte das Karrierekonto überzogen.«

»Wenn ich erst mal zur Bank gehe, kann ich nie zum Bombendezernat zurück.«

»Und Sie haben um eine Rückkehr gebeten?«

»Das war seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus das Einzige, was ich wollte.«

Starkey war irritiert, deshalb stand sie auf und zündete sich noch eine Zigarette an. Dana taxierte sie, was Starkey auch nicht mochte. Sie fühlte sich beobachtet, als ob Dana nur darauf wartete, dass sie irgendetwas tat oder sagte, das sie hätte notieren können – eine legitime Befragungstechnik, die Starkey selbst auch anwandte. Wenn man selbst nichts sagte, fühlten sich die Leute genötigt, die Stille zu durchbrechen.

»Der Job ist alles, was ich noch habe, verdammt noch mal.« Starkey bedauerte ihren defensiven Tonfall, und es irritierte sie noch mehr, als Dana sich erneut Notizen machte.

»Also sagten Sie Lieutenant Kelso, dass Sie auf eigene Faust Hilfe suchen würden?«

»Um Himmels willen. In den Arsch bin ich ihm gekrochen, um meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich weiß, dass ich ein Problem habe, Dana, aber ich werde eine Art Hilfe finden, die mir meine Karriere nicht versaut.«

»Wegen des Daumens?«

Starkey starrte Dana Williams mit demselben leeren Blick an, den sie auch bei internen Angelegenheiten aufgesetzt hätte. »Weil ich kaputtgehe.«

Dana seufzte, und eine Wärme erfüllte ihre Augen, die Starkey rasend machte, weil sie es hasste, sich auf eine Weise zu offenbaren, bei der sie sich schwach und verletzlich vorkam. Carol Starkey konnte einfach nicht »schwach« sein, das war noch nie ihre Stärke gewesen.

»Carol, falls Sie in dem Glauben zu mir gekommen sind, ich könnte Sie wieder zusammenflicken, weil Sie kaputtgegangen sind, muss ich Sie leider enttäuschen. Therapie funktioniert anders, als lediglich einen gebrochenen Knochen zu heilen. Es braucht Zeit.«

»Drei Jahre sind es jetzt. Ich sollte langsam darüber hinweg sein.«

»Es geht hier nicht um sollen, Carol. Überlegen Sie mal, was Ihnen zugestoßen ist. Denken Sie mal darüber nach, was Sie überlebt haben.«

»Ich habe die Nase voll von diesem ganzen Nachdenken. Ich denke jetzt schon seit drei Jahren darüber nach.«

Sie spürte einen stechenden Schmerz hinter den Augen. Musste wohl vom Nachdenken sein.

»Warum glauben Sie, wechseln Sie weiterhin die Therapeuten, Carol?«

Starkey schüttelte den Kopf und log.

»Was weiß denn ich.«

»Trinken Sie immer noch?«

»Seit einem Jahr keinen einzigen Tropfen.«

»Und wie sieht’s mit Ihrem Schlaf aus?«

»Ein paar Stunden, dann bin ich putzmunter.«

»Liegt es an diesem Traum?«

Carol spürte, dass ihr kalt wurde.

»Nein.«

»Irgendwelche Panikattacken?«

Starkey überlegte sich gerade, was sie antworten sollte, als der Pager zu vibrieren begann, den sie an die Taille geklemmt trug. Sie sah, dass es die Nummer von Kelsos Handy war, gefolgt von der 911, ein Code, den die Detectives der Criminal Conspiracy Section benutzten, wenn sie sofort zurückgerufen werden wollten.

»Sorry, Dana, ich muss hierauf sofort reagieren.«

»Möchten Sie, dass ich rausgehe?«

»Nein, nein, ich gehe raus.«

Starkey nahm ihre Handtasche mit ins Wartezimmer, in dem eine Frau mittleren Alters auf dem Sofa saß, die ihr kurz in die Augen schaute und dann den Kopf abwandte.

»Entschuldigung.«

Die Frau nickte, ohne aufzuschauen.

Starkey kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy, drückte die Schnellwahltaste, um die Verbindung mit Kelsos Pager wiederherzustellen. Sie konnte erkennen, dass er im Auto saß, als er abnahm.

»Ich bin’s, Lieutenant. Was gibt’s?«

»Wo bist du?«

Starkey sah die Frau an.

»Ich wollte Schuhe kaufen.«

»Ich habe dich nicht gefragt, was du gemacht hast, Starkey. Ich habe dich gefragt, wo du gewesen bist.«

Sie spürte einen Anflug von Zorn, als er das fragte, und Scham, dass es ihr nicht scheißegal war, was er dachte. »Westseite.«

»Alles klar. Das Bombendezernat ist alarmiert worden, und ich bin jetzt auf dem Weg dorthin. Carol, wir haben Charlie Riggio verloren. Er ist am Tatort getötet worden.«

Starkeys Finger wurden kalt, ihr Kopf kribbelte. Man nennt das »nach innen gehen«. Eine Art Selbstschutz des Körpers, indem das Blut ins Körperinnere gezogen wird, um Blutungen zu verringern – ein Relikt aus unserer tierischen Vergangenheit, als eine Bedrohung noch mit Krallen und Giftzähnen, die einen zerfleischen wollten, vonstatten ging. In Starkeys Welt taten Bedrohungen das immer noch.

»Starkey?«

Sie wandte sich ab und begann zu flüstern, damit die Frau nichts mitbekam.

»Das tut mir Leid, Lieutenant. War es eine Bombe? Oder ein Sprengsatz, der hochgegangen ist?«

»Ich habe bislang noch keine Details. Es war auf jeden Fall eine Explosion.«

Sie bekam Schweißausbrüche, und ihr Magen verkrampfte sich. Unkontrollierte Explosionen waren selten, ein Bombendezernatsangestellter, der in Ausübung seines Jobs starb, noch seltener. Das war zum letzten Mal vor drei Jahren passiert.

»Egal, ich bin jetzt auf dem Weg dorthin. Übrigens, Starkey, ich könnte auch jemand anderen auf den Fall ansetzen, falls dir das lieber wäre.«

»Ich bin an der Reihe, Lieutenant. Das ist mein Fall.«

»Alles klar. Ich wollte es dir nur anbieten.«

Er nannte ihr den Ort und beendete das Gespräch. Die Frau auf dem Sofa taxierte sie, als ob sie Starkeys Schmerz erkennen könnte. Starkey sah sich selbst im Spiegel des Wartezimmers und wurde unter ihrer normalen Gesichtsfarbe auf der Stelle blass. Sie bemerkte ihre eigene Atmung: flache, schnelle Atemzüge.

Starkey verstaute ihr Telefon, ging zu Dana zurück und teilte ihr mit, dass sie die Sitzung abbrechen müssten. »Wir müssen zu einem Einsatz raus, deshalb muss ich jetzt sofort gehen. Und noch etwas. Ich möchte, dass meine Versicherung nichts von all dem hier erfährt. Ich zahle wie gehabt aus eigener Tasche.«

»Niemand kann in Ihre Versicherungsunterlagen Einsicht nehmen. Nicht ohne Ihre Erlaubnis. Das Geld können Sie sich wirklich sparen.«

»Ich zahle lieber selbst.«

Als Starkey den Scheck ausstellte, sagte Dana: »Sie haben die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Haben sie den Mann gefasst, der die Knallkörper gebastelt hat?«

»Die Mutter des kleinen Mädchens führte uns in eine Garage zwei Blocks weiter, und da fanden wir ihn, mit 350 Kilo rauchlosem Schießpulver. 350 Kilo, und in der ganzen Garage stinkt es nach Benzin. Und wissen Sie, womit der Typ seinen Lebensunterhalt verdient? Er ist Gärtner. Wäre die Garage in die Luft geflogen, hätte es den ganzen verschissenen Block erwischt.«

»Ach du liebe Zeit.«

Starkey gab ihr den Scheck, verabschiedete sich und ging zur Tür. Die Klinke bereits in der Hand, drehte sie sich noch einmal um, weil ihr einfiel, dass sie vorgehabt hatte, Dana etwas zu fragen. »Dieser Typ hat etwas an sich, das mir schleierhaft ist. Vielleicht können Sie mich aufklären.«

»Inwiefern?«

»Dieser Typ, den wir verhaftet haben, behauptete, er hätte sein Leben lang Knallkörper gebastelt. Wissen Sie, woran wir erkannt haben, dass das nicht gelogen war? Er hat an seiner linken Hand nur noch drei Finger und an seiner rechten nur noch zwei. Es hat ihm einen nach dem anderen weggefetzt.«

Dana wurde blass.

»Von seiner Sorte habe ich ein Dutzend eingelocht. Wir bezeichnen sie als notorisch. Warum tun die das, Dana? Was halten Sie von solchen Leuten, die einfach ihre Finger nicht von Bomben lassen können?«

Daraufhin nahm Dana sich eine von ihren eigenen Zigaretten und zündete sie an. Sie blies Rauchschwaden in die Luft und musterte Starkey, bevor sie antwortete.

»Ich glaube, die wollen sich selbst vernichten.«

Starkey nickte.

»Ich rufe Sie wegen eines neuen Termins wieder an. Danke, Dana.«

Starkey ging nach draußen zu ihrem Auto und hielt den Kopf gesenkt, als sie an der Frau im Wartezimmer vorbeikam. Sie setzte sich ans Steuer, ließ aber den Motor nicht an. Stattdessen öffnete sie ihre Handtasche und nahm einen zierlichen silbernen, mit Gin gefüllten Flachmann heraus. Sie genehmigte sich einen kräftigen Schluck, öffnete die Wagentür und kotzte auf den Parkplatz. Als sie fertig war, packte sie den Gin wieder ein und nahm eine Tagamet.

Nachdem sie sich mit größter Mühe wieder unter Kontrolle gebracht hatte, fuhr Carol Starkey durch die Stadt, an einen Ort, absolut identisch mit demjenigen, an dem sie einst gestorben war.

Hubschrauber markierten das Zentrum des Geschehens und umkreisten den Tatort wie Geier den Kadaver am Straßenrand und zogen ihre Kreise wie die Schichten einer Torte. Starkey nahm sie in dem Augenblick wahr, als der Verkehr einen Kilometer vor dem Tatort umgeleitet wurde. Sie installierte ihr Blaulicht, hielt bei einer Aamco-Tankstelle, ließ dort ihr Auto stehen und ging die restlichen acht Häuserblocks zu Fuß weiter.

Neben einem Dutzend Radiostationen hatten sich am Tatort zwei Suburbans des Bombendezernats und eine wachsende Pressemeute versammelt. Kelso hielt sich mit Dick Leyton, dem Chef des Bombendezernats, und drei Bombentechnikern von der Tagesschicht in der Nähe des Suburban auf, der weiter vorn stand. Kelso, ein kleiner Mann mit herunterhängendem Schnauzbart, trug eine schwarz gescheckte Sportjacke. Als Kelso Starkey sah, winkte er, um sich bemerkbar zu machen, aber Starkey tat, als würde sie ihn nicht sehen.

Riggios Leiche lag als Häufchen auf dem Parkplatz, auf halber Strecke zwischen dem Suburban, der weiter vorn stand, und dem Gebäude. Ein Polizeiarzt lehnte an seinem Transporter und beobachtete den LAPD-Kriminalbeamten John Chen, der die Leiche untersuchte. Den Polizeiarzt kannte Starkey nicht, denn sie war vorher noch nie in einen Fall verwickelt gewesen, bei dem jemand getötet worden war, aber sie kannte Chen.

Starkey bahnte sich ihren Weg vorbei an den uniformierten Beamten, die an der Einfahrt des Parkplatzes standen. Einer der Uniformierten, ein junger Typ, den sie nicht kannte, sagte: »He, dieser Typ ist völlig in Stücke gerissen worden. Ich an Ihrer Stelle würde da nicht hingehen.«

»Tatsächlich nicht?«

»Nein, nicht, wenn ich es mir aussuchen könnte.«

Rauchen am Tatort verstieß gegen die Regeln des LAPD, Starkey zündete sich aber trotzdem eine Zigarette an, bevor sie den Parkplatz überquerte und Charlie Riggios Leiche inspizierte. Starkey kannte ihn aus ihrer Zeit beim Bombendepartment und wusste, dass es hart werden würde. Und das wurde es dann auch.

Die Rettungssanitäter hatten Riggio für Wiederbelebungsversuche Helm und Brustschutz abgenommen. Bombensplitter hatten sich durch seinen Anzug gebohrt und an Brust und Bauch blutige Wunden hinterlassen, die in der hellen Nachmittagssonne bläulich schimmerten. In sein Gesicht hatte sich ein einziges Loch gebohrt, direkt neben dem linken Auge. Starkey schaute sich den Helm an und sah, dass das Lexanvisier zertrümmert war. Es hieß, ein solches Visier könne Jagdgewehrkugeln abhalten. Dann warf sie nochmals einen Blick auf seine Leiche und stellte fest, dass er keine Hände mehr hatte.

Starkey nahm eine Tagamet und wandte sich ab, damit sie die Leiche nicht länger sehen musste.

»Hey, John, was haben wir denn hier?«

»Hey, Starkey, leitest du die Ermittlungen?«

»Allerdings. Kelso sagt, Buck Daggett wäre auch hier, aber ich sehe ihn nirgends.«

»Er ist ins Krankenhaus geschickt worden. Ihm fehlt zwar nichts, aber er ist reichlich durcheinander. Leyton wollte, dass er sich untersuchen lässt.«

»Okay, was hat er gesagt? Irgendwas Brauchbares für mich?«

Chen schaute noch einmal auf die Leiche und zeigte dann auf den Müllcontainer.

»Der Sprengsatz war da drüben beim Müllcontainer. Buck sagte, Riggio ist mit dem Röntgenapparat dort gewesen, als das Ding losging.«

Starkey folgte seiner Kopfbewegung in Richtung eines großen Fragments des tragbaren Röntgengeräts, das bis auf die Straße geflogen war. Sie schaute nochmals zum Müllcontainer und schätzte, dass der Röntgenapparat mehr als fünfunddreißig Meter weit geschleudert worden war, Riggio selbst lag auch ungefähr dreißig Meter vom Müllcontainer entfernt.

»Haben Daggett oder die Sanitäter ihn dorthin transportiert?«

Jedesmal, wenn sich eine Explosion ereignet hatte, waren die Bombentechniker darauf trainiert, einen zweiten Sprengsatz zu vermuten. Sie glaubte, dass Daggett Riggio möglicherweise aus diesem Grund vom Müllcontainer weggezerrt hatte.

»Da musst du Daggett fragen. Ich glaube, dass er genau hier aufgeschlagen ist.«

»Meine Güte, wir sind hier schätzungsweise dreißig Meter vom Detonationsherd entfernt.«

»Buck sagt, es war eine Höllenexplosion«

Sie hob den Schutzanzug mit der Fußspitze an, um das Explosionsmuster zu untersuchen; der Anzug sah aus, als hätte man aus nächster Nähe zwanzig Gewehrschüsse darauf abgefeuert. Sie hatte vergleichbare Beschädigungen an Schutzanzügen gesehen, wenn »dreckige« Bomben mit massivem Feuer und Granatsplittern explodiert waren, aber diese Bombe hatte die Splitter durch zwölf gepanzerte Schichten gebohrt und den Mann über dreißig Meter weit geschleudert! Die freigesetzte Energie musste gewaltig gewesen sein.

Chen nahm eine Plastiktüte aus seinem Beweismaterialkoffer, zog das Plastik straff und zeigte ihr ein geschwärztes, briefmarkengroßes Metallstück.

»Das hier ist irgendwie auch nicht uninteressant. Ein Stück Röhrenfragment, das in seinem Anzug steckte.«

Starkey untersuchte es eingehend: In das Metallstück war eine Wellenlinie eingraviert.

»Was soll das sein, ein S?«

Chen zuckte mit den Schultern.

»Oder irgendein Symbol. Erinnerst du dich an die Bombe, die letztes Jahr in San Diego gefunden wurde? Wo lauter Schwänze draufgemalt waren?«

Starkey ignorierte ihn, denn Chen redete gern. Sollte er jetzt beginnen, über eine Bombe mit aufgemalten Schwänzen zu schwadronieren, würde sie nie mit ihrer Arbeit fertig werden.

»John, tu mir den Gefallen, und mach mir bis heute Abend ein paar Abstriche von den Beweismaterialproben, okay?«

Chen war eingeschnappt.

»Bis ich hier fertig bin, wird es spät werden, Carol. Ich muss den Müllcontainer untersuchen und dann all das, was die Spezis von der Spurensicherung gefunden haben. Allein für das Auflisten werde ich bestimmt zwei oder drei Stunden brauchen.«

Sie würden im Umkreis von hundert Metern nach Bombensplittern suchen, inklusive der umliegenden Dächer, der gegenüberliegenden Apartmentfassaden und Häuser, der Autos, des Müllcontainers sowie der Wand hinter dem Container. Sie würden nach allem und jedem suchen, das für die Rekonstruktion der Bombe nützlich sein oder ihnen Hinweise auf ihren Ursprung liefern konnte.

»Hör auf zu jammern, John. Das ist albern.«

»Ich mein ja bloß.«

»Wie lange dauert die chromatografische Untersuchung?«

Mr. Eingeschnappt tat beleidigt und fühlte sich ausgenutzt. »Sechs Stunden.«

Auf allen Bombensplittern, die sie gefunden hatten, und auch im Sprengkrater und auf Riggios Anzug würde man Rückstände nachweisen können. Chen würde die Substanz anhand einer chromatografischen Untersuchung identifizieren, eine sechs Stunden dauernde Prozedur. Als sie fragte, wusste Starkey natürlich, wie lange so etwas dauerte, aber sie fragte trotzdem, um Chen ein schlechtes Gewissen zu machen.

»Könntest du nicht ein paar Proben vorziehen, einfach um schon mal eine Chromatografie zu machen, und alles andere hinterher eintragen? Eine Explosion mit diesem Energiepotenzial schränkt den Kreis der Idioten, hinter denen ich her bin, wirklich enorm ein, John. Und du könntest mir damit einen immensen Vorsprung verschaffen.«

Chen hasste es, nicht methodisch und nach Protokoll vorzugehen, aber in diesem Punkt konnte er ihr nicht widersprechen. Er sah auf die Uhr und stoppte die Zeit. »Mal sehen, wann wir hier fertig sind. Okay. Ich werd’s versuchen, aber ich kann nichts versprechen.«

»Ich pfeife schon lange auf Versprechen.«

Buck Daggetts Suburban stand achtundvierzig Schritte von Riggios Leiche entfernt. Starkey zählte während des Gehens. Als Kelso und Leyton sie kommen sahen, ließen sie die anderen stehen und gingen auf sie zu. Kelso hatte einen verbitterten Gesichtsausdruck; Leyton wirkte gefasst, professionell; er war nicht im Dienst gewesen, als ihn der Anruf erreichte, deshalb trug er Jeans und Poloshirt.

Leyton lächelte mild, als ihre Blicke sich trafen, und Starkey entdeckte einen traurigen Ausdruck darin. Leyton war seit zwölf Jahren Chef des Bombendezernats und hatte Carol Starkey für das Dezernat ausgesucht, ebenso Charlie Riggio und alle anderen Bombentechniker unter dem Rang eines Sergeant Supervisor; er hatte sie auf die Bombenschule des FBI in Alabama geschickt und war drei Jahre ihr Vorgesetzter gewesen. Als sie im Krankenhaus lag, kam er jeden Abend nach Dienstschluss und besuchte sie – fünfundvierzig Tage hintereinander. Und als sie um ihren Job kämpfte, hatte er sich sehr für sie eingesetzt. Es gab unter ihren Kollegen niemanden, den sie mehr respektierte und der ihr mehr bedeutete.

»Dick, ich möchte den Tatort so schnell wie möglich begehen. Könntest du möglichst viele Leute freistellen?«, fragte Starkey.

»Alle, die nicht im Dienst sind, werden kommen. Wir stehen uneingeschränkt zu deiner Verfügung.«

Sie wandte sich an Kelso.

»Lieutenant, ich würde gern mit diesen Typen vom Rampart-Polizeirevier sprechen, um zu hören, ob wir ein paar von den Uniformierten zur Unterstützung haben könnten.«

Kelso sah sie verdutzt an.

»Das hab ich bereits mit deren Chef abgesprochen. Du solltest hier nicht rauchen, Starkey.«

»Entschuldigung. Wäre wohl besser, mal mit ihm zu sprechen und die Sache in die Hand zu nehmen.«

Sie machte keine Anstalten, ihre Zigarette auszumachen, und Kelso ignorierte ihre offensichtliche Protesthaltung.

»Bevor du das tust, bearbeitest du mit Santos und Marzik erst mal das hier.«

Starkey brauchte noch eine Tagamet.

»Muss es unbedingt Marzik sein?«

»Ja, Starkey, es muss unbedingt Marzik sein. Ihr seid jetzt ein Team. Und noch etwas. Lieutenant Leyton sagt, dass es möglicherweise einen Durchbruch gibt, bevor wir überhaupt angefangen haben: Unter der Notrufnummer 911 ist in dieser Angelegenheit ein Anruf eingegangen.«

Sie sah Leyton an.

»Gibt es etwa einen Zeugen?«

»Ein Streifenwagen hat den Anruf entgegengenommen, aber Buck sagt, es sei eine Meldung vom Notdienst gewesen. Wenn das stimmt, sollten wir ein Tonband und eine Adresse haben.«

Das wäre ein erheblicher Durchbruch.

»Okay, ich kümmere mich darum. Danke.«

Kelso schaute wieder zur Presse hinüber und runzelte die Stirn, als er einen Pressesprecher des LAPD herankommen sah. »Ich denke, es ist besser, wenn wir ein Statement abgeben, Dick.«

»Schon zur Stelle.«

Kelso beeilte sich, den Pressesprecher abzufangen, während Leyton mit Starkey dablieb. Sie warteten, bis der andere Mann gegangen war, dann wandte Leyton sich an Starkey.

»Wie geht es dir, Carol?«

»Mir geht’s gut, Lieutenant, mache wie immer den anderen die Hölle heiß. Ich würde immer noch gern aufs Dezernat zurück.«

Leyton bemerkte, dass er zustimmend nickte. Sie hatten die Geschichte vor drei Jahren überstanden und wussten beide, dass das Personalbüro des LAPD da niemals mitmachen würde.

»Du warst immer ein zähes Mädchen, aber du hast auch verdammtes Glück gehabt.«

»Sicher. Ich scheiße morgens immer Glück.«

»Hör auf, so unflätig zu sprechen, Carol. Das ist nicht sehr attraktiv.«

»Alles klar, Chef, ich gelobe Besserung, sobald ich das Rauchen aufgegeben habe.«

Sie lächelte ihn an, und Leyton lächelte zurück, weil beide wussten, dass sie weder das eine noch das andere tun würde. Starkey beobachtete ihn, als er wegging, um an der Pressekonferenz teilzunehmen, und dann erkannte sie Marzik und Santos, die sich mit einem Uniformierten in einer Menschenansammlung vor einem der Apartmenthäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite unterhielten. Marzik sah zu ihr herüber, aber Starkey ging um die Vorderseite des Suburban und untersuchte ihn. Der Wagen hatte in circa sechzig Metern Entfernung vom Detonationsherd gestanden. Telexkabel und Sicherheitsleine, die Riggio hinter sich hergezogen hatte, hingen aus dem Heckfenster des Suburban und waren immer noch mit Riggios gepanzertem Anzug verbunden – infolge der Wucht der Explosion allerdings als Kabelsalat.

Der Suburban schien unbeschädigt, bei näherer Untersuchung entdeckte sie jedoch einen Sprung im rechten Scheinwerfer. Sie bückte sich, um ihn eingehender zu betrachten. Ein schwarzes Metallstück, das aussah wie ein E, hatte sich im Glas verkeilt. Starkey berührte es nicht, begutachtete es aber so lange, bis sie erkannte, dass es ein Teil der Metallschnalle des Riemens war, der Riggios gepanzerten Anzug zusammengehalten hatte. Sie machte einen langen, tiefen Seufzer, stand auf und schaute zu seiner Leiche hinüber. Die Obduktionsbeamten packten ihn gerade in einen Leichensack. John Chen hatte am Fundort die Konturen der Leiche mit weißer Kreide auf den Asphalt gezeichnet, stand daneben und besah es sich mit völlig desinteressiertem Gesichtsausdruck.

Starkey wischte sich ihre Handflächen an den Hüften ab, zwang sich, tief durchzuatmen und ihre Rippen und Lungen zu strecken, was sich wegen ihrer Narben als sehr schmerzhaft erwies. Marzik stand noch immer auf der anderen Straßenseite und winkte ihr zu, Santos schaute herüber und wunderte sich möglicherweise, weshalb sie ausgerechnet dort stand. Starkey winkte zurück.

Die Ladenpassage war nicht besonders lang. Es gab dort ein paar Billigklamottenläden, ein Buchantiquariat, einen Zahnarzt, der auf Spanisch mit »familienfreundlichen Honoraren« warb, und ein kubanisches Restaurant; alles war evakuiert worden, bevor Riggio sich der Bombe genähert hatte.

Starkey bahnte sich ihren Weg zum Restaurant und bewegte sich auf Beinen, die plötzlich kraftlos waren, als würde sie auf einem Drahtseil gehen, von dem sie nur durch diese bestimmte Tür wieder herunterfände. Marzik war ausgeblendet, Charlie Riggio war ausgeblendet. Starkey fühlte nichts außer ihrem eigenen pochenden Herzen; und sie wusste, dass sie höchstwahrscheinlich ihrem eigenen Tod in die Arme laufen würde, wenn sie darüber und über sich selbst die Kontrolle verlor.

Als Starkey das Restaurant betrat, begann sie vor Wut derart zu zittern, dass es völlig aussichtslos war, diese Wut unter Kontrolle zu bekommen. Sie musste sich an der Theke festklammern, um sich auf den Beinen zu halten. Würden Leyton und Kelso jetzt hereinkommen, wäre das das Ende ihrer Karriere. Kelso würde sie garantiert zur Bank zitieren, und sie wäre gezwungen, per ärztliches Attest ihre Rente einzureichen. Angst und Leere wären das Einzige, was von Carol Starkeys Leben übrig bliebe.

Starkey öffnete ihre Handtasche, kramte den silbernen Flachmann heraus, trank und merkte, wie ihr der Gin im selben Augenblick im Hals kratzte, als sie ihre eigene Labilität verfluchte und sich dafür schämte. Sie atmete schwer und zwang sich, stehen zu bleiben, weil sie wusste, dass sie sonst nicht wieder aufstehen könnte. Dann nahm sie noch einen kräftigen Schluck, und das Zittern legte sich.

Starkey kämpfte gegen die Erinnerungen und Ängste und redete sich ein, dass alles, was sie tat, nötig und alles in bester Ordnung wäre. Für so etwas war sie viel zu hart. Sie würde es bezwingen, sie würde gewinnen.

Nach einer Weile hatte sie sich wieder im Griff.

Starkey steckte den Flachmann wieder ein, benutzte ihr Mundspray und ging an den Tatort zurück.

Sie war schon immer ein hartes Mädchen gewesen.

Starkey traf die beiden Streifenpolizisten, die ihr die genaue Zeit angaben, zu der sie ihren Einsatzbefehl erhalten hatten. Sie nahm ihr Handy und rief die Koordinatorin der Notrufzentrale an, nannte ihren Namen, bestimmte eine ungefähre Zeit, bat um einen Tonbandmitschnitt des Telefongesprächs und die Adresse des Anrufers. Die meisten Leute wussten nicht, dass alle auf der Nummer 911 eingehenden Anrufe automatisch mitgeschnitten und mit der Telefonnummer, von der der Anruf stammte, und der Adresse dieser Telefonnummer aufgezeichnet wurden. Das war nötig, weil man von Menschen in einer Notsituation, vor allem, wenn sie bedroht wurden oder im Sterben lagen, keine korrekte Adressangabe erwarten konnte. Das Anrufsystem war entsprechend konzipiert worden und lieferte automatisch die Adressangabe.

Starkey hinterließ ihre Dienstnummer und bat die Koordinatorin, ihr schnellstmöglich die Informationen zu liefern.

Als Starkey das Gespräch mit dem Notdienst beendet hatte, ging sie zu den Apartmenthäusern hinüber, wo Marzik und Santos einige Anwohner befragten, die wieder in ihre Wohnungen zurückgelassen worden waren.

Jorge Santos war ein kleinwüchsiger Mann mit fragender Miene. Er sah stets so aus, als würde er sich an etwas zu erinnern versuchen, das er vergessen hatte. Sein Name wurde »Chorche« ausgesprochen, was ihm den zweifelhaften Spitznamen »Hure« eingebracht hatte. Beth Marzik war geschieden und hatte zwei Kinder, die während ihrer Arbeitszeit von ihrer Mama beaufsichtigt wurden. Um ihr Gehalt aufzubessern, verkaufte sie nebenbei Amway-Produkte. Dabei ging sie jedoch dermaßen aggressiv vor, dass die Hälfte der Belegschaft in der Spring Street vor ihr Reißaus nahm, sobald sie im Anmarsch war.

»Gute Nachrichten«, verkündete Starkey, »Leyton sagt, dass die Streife wegen eines 911-Anrufs ausgerückt ist.«

Marzik grinste.

»Hat dieser brave Bürger zufällig seinen Namen genannt?«

»Ich habe bereits beim Notdienstservice angerufen. Sie werden die Tonbänder durchgehen und uns informieren, sobald sie etwas gefunden haben.«

Marzik knuffte Santos in die Seite. »Ich wette um einen Blow-Job für einen Dollar, dass der seinen Namen nicht genannt hat.«

Santos errötete. Er war sehr religiös, verheiratet, hatte vier Kinder und ertrug es nicht, wenn sie so obszöne Andeutungen machte.

Starkey unterbrach sie.

»Ich muss jetzt mal die Leute für die Feinermittlung zusammenstellen. Dick sagt, die Kollegen vom Rampart-Revier hätten ihre Hilfe für die Nachbarbefragung zugesichert.«

Marzik runzelte die Stirn, als würde ihr diese Vorstellung gegen den Strich gehen.

»Na ja, viele von diesen Leuten werden wir heute Abend wohl nicht zu Gesicht bekommen. Ich habe gehört, dass die meisten Evakuierten zu Freunden oder Verwandten gegangen sind, nachdem dieses Scheißding hochgegangen ist.«

»Die Hausverwaltung hat dir eine Namensliste der Anwohner gegeben, oder?«

»Stimmt. Und?«

Marzik sah misstrauisch aus. Starkey fand ihre Haltung ermüdend.

»Sag den Verwaltern, sie sollen auch die Mietanträge rausrücken. Über die sollte es Akten geben. Bei den meisten Mietanträgen, die ich ausgefüllt habe, wurde verlangt, den Namen eines Verwandten oder eines Bürgen anzugeben. Dorthin werden sich die meisten Leute vermutlich verzogen haben.«

»Scheiße, so was dauert ja ewig. Normalerweise hätte ich heute Abend eine Verabredung.«

Santos’ Gesicht wurde länger, als es ohnehin schon war. »Ich übernehme das, Carol.«

Starkey schaute in Richtung Müllcontainer, wo Chen gerade in etwas herumstocherte, das auf dem Boden lag. Sie deutete auf die Apartmenthäuser hinter ihm.

»Hör mal, Beth, ich verlange doch nicht, dass du’s mit jedem in diesem verschissenen Block treiben sollst, du sollst nur fragen, ob jemand was gesehen hat. Frag, ob jemand von ihnen die 911 angerufen hat. Wenn sie sagen, sie hätten nichts gesehen, sag ihnen, sie sollen noch einmal scharf nachdenken und dass wir in ein paar Tagen wiederkommen.«

Marzik schien noch immer nicht zufrieden, aber das war Starkey egal.

Sie überquerte die Straße, ging zurück zum Müllcontainer und überließ Marzik und Santos die Apartments. Chen untersuchte die Wand hinter dem Container auf Bombensplitter, und draußen auf dem Parkplatz justierten zwei der Bombentechniker ihre Metalldetektoren, mit denen sie den Rasen ablaufen würden, der vor dem Apartmentgebäude wuchs. Es trafen zwei weitere Bombentechniker außer Dienst ein, und sehr bald standen alle dumm herum und warteten darauf, dass man ihnen Befehle erteilte.

Starkey ignorierte sie und ging zurück zur Einschlagstelle. Sie hatte einen Durchmesser von einem Meter und schien circa dreißig Zentimeter tief zu sein, der schwarze Asphalt war durch die Hitze geschmolzen und weiß geworden. Starkey wollte mit ihrer Hand die Oberfläche berühren, ließ es aber sein, weil die Explosionsrückstände möglicherweise giftig waren. Sie sah die Kreideumrisszeichnungen, wo Riggios Leiche gelegen hatte, und schritt sie ab: fast vierzig Schritte.

Starkey stellte sich in Riggios Umrisszeichnung, stand also exakt dort, wo sein Körper aufgeschlagen war; in Gedanken versunken schaute sie zur Einschlagstelle zurück. Sie hatte einen Zeitlupenblitz vor Augen, der sich über drei Jahre erstreckte. Plötzlich sah sie ihren eigenen Tod, als wäre er gefilmt und ihr später als Wiederholung vorgeführt worden. Ihre Therapeutin, Dana, bezeichnete dies als »Erinnerungsverarbeitung«. Sie hatte die Tatsachen akzeptiert, wie sie sie ihr im Nachhinein präsentiert wurden, den Rest hatte sie sich vorgestellt und sah nun die Ereignisse, als könnte sie sich daran erinnern. Dana glaubte, dass ihr Unterbewusstsein auf diese Weise versuchte, das Geschehen zu verarbeiten, dass ihr Unterbewusstsein sie auf diese Weise vom jüngsten Ereignis verbannte, indem es sie aus dem Moment heraustreten ließ, und dass ihr Unterbewusstsein dem Unheil auf diese Weise ein Gesicht verlieh, mit dem sie sich auseinander setzen konnte. Starkey zog kräftig an ihrer Zigarette und blies den Rauch verärgert auf den Boden. Falls ihr Unterbewusstsein auf diese Weise versuchte, mit dem Ereignis Frieden zu schließen, dann machte es einen verdammt beschissenen Job. Sie überquerte die Straße, um mit Marzik zu reden.

»Beth? Ich habe eine andere Idee. Versuch die Leute zu finden, denen diese Geschäfte hier gehören, und erkundige dich, ob irgendjemand bedroht worden ist oder Geld schuldet oder was auch immer.«

Marzik nickte und sah sie schief an.

»Carol, was ist denn das?«

»Was ist was?«

Marzik kam näher und schnupperte.

»Das riecht nach Odol.«

Starkey sah Marzik wütend an, überquerte die Straße und verbrachte den Rest des Abends damit, der Spurensicherung bei der Suche nach Bombensplittern zu helfen.

Im Traum stirbt sie.

Sie öffnet die Augen, liegt auf dem harten Boden des Trailerparks, des nicht nur für sie so verhängnisvollen Campingplatzes, als die Sanitäter über ihr ihre Arbeit verrichten, ihre Latexhandschuhe blutverschmiert. Das Summen in ihren Ohren lässt sie an einen Mixer auf kleinster Stufe denken. Die dünnen Zweige der Wintergummibäume über ihr überlappen sich wie harte, fein gewebte Spitze und bewegen sich noch immer infolge der Druckwelle hin und her. Einer der Sanitäter drückt auf ihren Brustkorb und versucht, ihr Herz zu reanimieren, ein anderer injiziert eine lange Nadel. Kalte silberne Schaufeln drücken sich in ihr Fleisch.

Tausend Meilen jenseits des Summens schreit eine Stimme: »Fertig!« Ihr Körper bäumt sich durch den Stromstoß auf. Starkey findet die Kraft, seinen Namen auszusprechen. »Sugar?«

Sie ist nie ganz sicher, ob sie seinen Namen tatsächlich sagt oder nur glaubt, dass sie es tut.

Ihr Kopf hängt herab, und sie kann ihn sehen. David »Sugar« Boudreaux, ein Cajun, der schon lange nicht mehr in Louisiana lebt, aber noch immer diesen weichen französischen Akzent hat, den sie so sexy findet. Ihr Sergeant Supervisor. Ihr heimlicher Liebhaber. Der Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hat.

»Sugar?«

Die Stimmen aus der Ferne rufen: »Kein Puls!«, und: »Fertig!«

Dieser entsetzliche Elektroschock.

Sie greift in Sugars Richtung, aber er ist zu weit weg. Das ist nicht fair, dass er so weit weg ist. Zwei Herzen, die auf derselben Frequenz schlagen, sollten nicht so weit voneinander entfernt sein.

Die Entfernung macht sie traurig.

»Shug?«

Zwei Herzen, die aufgehört haben zu schlagen.

Die Sanitäter, die Sugar behandelt haben, treten beiseite. Er ist tot.

Ihr Körper bäumt sich nochmals auf, aber es hat nichts genützt, sie hat ihren Frieden gefunden.

Sie schließt die Augen und merkt, wie sie durch die Zweige der Gummibäume in den Himmel getragen wird. Und sie spürt nichts als Erleichterung.

Aus diesem Traum erwachte Starkey morgens um kurz nach drei, und ihr war klar, dass für sie die Nacht vorbei war. Sie zündete sich eine Zigarette an, lag im Dunkeln und rauchte. Kurz vor Mitternacht hatte sie den Tatort verlassen, war aber erst gegen ein Uhr nach Hause gekommen. Dann hatte sie geduscht, Rührei gegessen und einen Becher Bombay-Sapphire-Gin getrunken, um sich den Rest zu geben; trotzdem war sie nach zwei Stunden wieder hellwach.

Nach weiteren zwanzig Minuten, in denen sie den Rauch zur Decke geblasen hatte, stieg sie aus dem Bett, ging durch das ganze Haus und machte überall das Licht an.

Die Bombe, die Starkey erwischt hatte, war eine von einem Methadondealer geschickte Paketbombe gewesen, mit der er die Familie eines Informanten hatte in die Luft jagen wollen. Er hatte sie auf der einen Seite von dessen Wohnwagen mit doppelter Breite hinter einem dichten Gebüsch deponiert, deshalb konnten Sugar und Starkey den Roboter nicht benutzen, um das Röntgengerät oder den Entschärfer heranrollen zu lassen. Es war eine dreckige Bombe, die aus einer Farbbüchse bestand, gefüllt mit rauchlosem Pulver und Dachdeckernägeln. Wer immer diese Bombe gebastelt haben mochte, musste ein Dreckschwein gewesen sein, denn er wollte sichergehen, dass es die drei Kinder des Informanten erwischte.

Wegen der Büsche mussten Starkey und Sugar die Bombe gemeinsam bearbeiten, also hielt Starkey das Gebüsch beiseite, damit Sugar sich mit dem Röntgenapparat nähern konnte. Als zwei uniformierte Streifenpolizisten wegen des verdächtigen Päckchens anriefen, hatten sie ausgesagt, das Päckchen würde ticken. Bei einer derartigen Klischeevorstellung brachen Starkey und Sugar in schallendes Gelächter aus, das ihnen allerdings in dem Augenblick im Halse stecken blieb, als das Päckchen aufhörte zu ticken. Mit Hilfe des Röntgenapparats konnten sie erkennen, dass die Zeitschaltuhr nicht funktionierte; der Bombentüftler hatte als Zeitschaltuhr einen Wecker mit Handaufzug benutzt, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund war der Minutenzeiger eine Minute vor dem Zeitpunkt stehen geblieben, an dem die Bombe hätte detonieren sollen. Er war einfach stehen geblieben. Sugar machte darüber einen Witz.

»Ich glaube, der hat vergessen, das Scheißding aufzuziehen.«

Sie lachte über diesen Witz, als im selben Moment das Erdbeben losging – ein Ereignis, das jeder Bombentechniker fürchtet, der in Südkalifornien arbeitet. Später hieß es, es habe die Stärke 3,2 auf der Richterskala gehabt und sei für den kalifornischen Durchschnittsbürger kaum wahrnehmbar gewesen. Der Minutenzeiger lief jedoch weiter, der Kontakt wurde hergestellt, und die Bombe ging hoch.

Die erfahrenen Bombentechniker hatten Starkey immer gesagt, dass der Anzug sie nicht vor Bombensplittern schützen würde, womit sie Recht hatten. Sugar hatte sie geschützt. In dem Moment, als die Bombe hochging, hatte er vor ihr gekniet, demzufolge hatte sein Körper die meisten Nägel abbekommen. Allerdings wurde ihm der Röntgenapparat aus den Händen gerissen, von dem sie dann getroffen wurde. Zwei massive gezackte Fragmente hatten sich durch ihren Anzug gebohrt: Ihre rechte Körperseite wurde aufgeschlitzt und in ihre rechte Brust eine klaffende Furche gegraben. Sugar war Mikrosekunden nach dem Röntgenapparat auf sie zurückkatapultiert worden. Die Wucht, mit der er auf ihren Körper aufprallte, gab ihr das Gefühl, als hätte der liebe Gott ihr einen Tritt verpasst. Der Schock war so gewaltig, dass ihr Herz stehen blieb: Carol Starkey war für zwei Minuten und vierzig Sekunden tot. Zwei Notärzteteams eilten herbei, obwohl ihnen Teile des Wohnwagens und entwurzelte Azaleenbüsche entgegengeflogen kamen. Das Team, das zuerst bei Starkey eintraf, konnte keinen Puls feststellen, schälte sie aus ihrem Anzug, injizierte ihr das Herzstimulans Epinephrine direkt ins Herz und machte Wiederbelebungsversuche. Sie arbeiteten fast drei Minuten um die Stelle mit dem geronnenen Blut herum, die einmal ihre Brust gewesen war, und hatten endlich – welche Heldentat! – ihr Herz reanimiert.

Ihr Herz hatte wieder zu schlagen begonnen, das von David »Sugar« Boudreaux nicht.

Starkey saß am Küchentisch, dachte an den Traum und an Sugar und qualmte eine nach der anderen. Es war erst drei Jahre her, aber die Erinnerungen an Sugar verblassten allmählich. Es wurde schwieriger, sich sein Gesicht vorzustellen oder seinen weichen Cajun-Akzent zu hören. Manchmal schaute sie sich seine Fotos an, um ihre Erinnerungen aufzufrischen, und hasste sich dafür, dass sie das nötig hatte. Als ob sie ihn betrügen würde, indem sie ihn vergaß. Als ob die Beständigkeit, die sie einst über ihre Liebe und Zuneigung empfunden hatte, nur ein großes Lügenmärchen gewesen wäre, das irgendjemand anders einer Frau erzählte, die nicht mehr existierte.

Alles hatte sich verändert.

Starkey hatte bereits kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus mit dem Trinken angefangen. Einer ihrer Therapeuten – sie glaubte, es war Nummer zwei – hatte geäußert, dass ihr Problem das Schuldgefühl des Überlebenden war. Schuldgefühle, weil ihr Herz reanimiert werden konnte, das von Sugar aber nicht; Schuldgefühle, weil sie am Leben geblieben war und er nicht; tief sitzende Schuldgefühle, tief unten im Zentrum ihres Selbst, dort, wo die geheime Schöpfungskraft ihren Sitz hat, weil sie dankbar war, überlebt zu haben, und das auf Kosten von Sugars Leben. Starkey hatte damals die Praxis des Therapeuten verlassen und sich dort nie wieder blicken lassen. Sie war in eine Bar namens Shortstop gegangen, in der hauptsächlich Polizisten verkehrten, und hatte sich dermaßen betrunken, dass zwei Beamte des Raubdezernats in Wilshire sie aus dem Laden hatten raustragen müssen.

Alles hatte sich verändert.

Starkey mied den Kontakt zu anderen Menschen, wurde abweisend. Sie schützte sich durch eine sarkastische und distanzierte Haltung und wurde in ihrem Job zur Einzelkämpferin, bis der Job das Einzige war, was sie noch hatte. Ein anderer Therapeut – sie glaubte, es war Nummer drei – vermutete, sie hätte möglicherweise einen gepanzerten Anzug gegen einen anderen ausgetauscht. Er war neugierig, ob es ihr je gelingen würde, diesen Panzer abzulegen.

Starkey hat es ihm niemals verraten.

Starkey hatte keine Lust mehr nachzudenken, rauchte ihre Zigarette zu Ende und ging zurück ins Schlafzimmer, um zu duschen. Sie zog sich ihr T-Shirt aus und betrachtete sich selbst, ohne jegliche Gefühlsregung.

Die rechte Hälfte ihres Unterleibs war von der Brust bis zur Hüfte durch die sechzehn Metallsplitter, die sich in ihren Körper gebohrt hatten, vernarbt und verschrumpelt. An einer Seite ihres Körpers schlängelten sich zwei lange Furchen bis hin zu den unteren Rippen. Ihre einst walnussbraune Haut war inzwischen weiß wie eine Tischdecke, denn seit ihrem Unfall hatte Starkey nie mehr einen Badeanzug getragen. Am schlimmsten hatte es ihren Busen erwischt: Ein fünf Zentimeter langes Teilstück des Röntgenapparats war auf ihre rechte Brust geprallt, direkt neben der Brustwarze, hatte einen Großteil des Hautgewebes zerfetzt, sich in ihre Rippen gebohrt und eine ziemliche Furche geschlagen und war dann aus ihrem Rücken wieder herausgetreten; es hatten sich entsprechende Narben gebildet. Die Ärzte hatten eine Brustentfernung erwogen, sich dann aber doch für die Erhaltung entschieden. Was dann auch geschah, aber selbst nach zwei Rekonstruktionen sah ihr Busen immer noch aus wie eine deformierte Avocado. Die Ärzte erklärten, dass ihr Aussehen im Laufe der Zeit durch weitere kosmetische Operationen verbessert werden könne. Nach vier Operationen hatte Starkey allerdings beschlossen, dass es genug sei.

Seit Sugar an jenem Morgen ihr Bett verlassen hatte, hatte sie sich mit keinem anderen Mann eingelassen.

Starkey duschte, zog sich an, rief im Büro an und hörte zwei Mitteilungen ab.

»Starkey, ich bin’s, John Chen. Ich habe hier was Erstklassiges aus dem Detonationskrater. Ich werde es gleich mal in den Chromokocher stecken, das heißt allerdings, dass ich hier nicht vor drei rauskomme. Die Ergebnisse der Chromatografie werden wir gegen neun haben. Ruf mich zurück. Ich hab was bei dir gut.«

Die zweite Nachricht stammte von der Koordinatorin der Notrufzentrale. Sie erklärte, vom Mitschnitt des 911-Anrufs wegen des verdächtigen Sprengkörpers eine Kopie gemacht zu haben: »Das Band liegt bei den Security-Leuten, Sie können es jederzeit abholen. Der Anruf kam aus einer Telefonzelle auf dem Sunset Boulevard um vierzehn nach eins, gestern Mittag also. Ich habe hier eine Straßenangabe.«

Starkey notierte die Angaben und machte sich eine Tasse Pulverkaffee. Dann nahm sie zwei Tagamet, steckte sich eine Zigarette an und trat hinaus in die schwüle Nachtluft.

Es war noch vor fünf Uhr und die Welt ruhig. Ein Teenager in einem roten Auto mit offener Heckklappe verteilte die L.A. Times, wechselte von einer Straßenseite zur anderen und schleuderte die Zeitungen heraus. Ein Alta-Dena-Lebensmittel-Lastwagen donnerte vorbei.

Starkey beschloss, noch einmal nach Silver Lake zu fahren, um den Ort der Explosion zu begehen. Das war besser, glaubte sie, als der Stille ihres immer noch schlagenden Herzens zu lauschen.

Starkey parkte vor einem kubanischen Restaurant neben einer Funkstreife, die den Tatort überwachte. Der Parkplatz war leer, bis auf drei Zivilfahrzeuge, die sie bereits am Vorabend dort gesehen hatte.

»Hallo Jungs, alles in Ordnung?«

Das Team bestand aus einem Mann und einer Frau; der männliche Beamte war dünn und saß am Steuer, die Frau war klein und mollig und hatte einen blonden Kurzhaarschnitt. Sie tranken Minimart-Kaffee, der bestimmt schon seit Stunden kalt war.

Die Polizistin nickte.

»Ja, Detective, uns geht’s blendend. Können wir Ihnen helfen?«

»Ich leite die Ermittlungen. Ich seh mich mal ein bisschen um.«

Die Polizistin hob die Augenbrauen.

»Wir haben gehört, es hat einen Bombenspezi erwischt. Stimmt das?«

»Allerdings.«

»Das ist ja entsetzlich.«

Ihr Kollege zwinkerte Starkey zu und fragte: »Hätten Sie was dagegen, wenn wir uns kurz verziehen? Ein paar Blocks weiter ist ein In-’n’-Out Burger. Schwache Blase, verstehen Sie? Wir könnten Ihnen auch was mitbringen.«

Starkey hob die Schultern und war insgeheim froh, sie loszuwerden.

»Lasst euch ruhig Zeit, aber ihr braucht mir nichts mitzubringen. So lange bin ich nicht mehr hier.«

Als die Funkstreife wegfuhr, klemmte sich Starkey ihre Pistole an die rechte Hüfte, überquerte den Sunset und wollte die Adresse ausfindig machen, die ihr die Koordinatorin der Notrufzentrale gegeben hatte. Ihre Taschenlampe hatte sie zwar dabei, benutzte sie aber nicht, denn die Gegend war durch die Sicherheitsbeleuchtung ringsum ohnehin hell genug.

Direkt gegenüber der Ladenpassage hing ein öffentliches Telefon an der Außenmauer eines guatemaltekischen Supermarkts. Starkey verglich die Adressen: Sie stimmten nicht überein. Vom guatemaltekischen Supermarkt aus konnte sie den Müllcontainer sehen, wenn sie über den Sunset schaute. Sie fand heraus, in welche Richtung die Hausnummern verliefen, und folgte ihnen, um das öffentliche Telefon zu suchen. Es war in einer der alten Zellen aus Glas, deren Betrieb Pac Bell inzwischen eingestellt hat, einen Häuserblock Richtung Osten, auf der gleichen Seite einer Wäscherei, gegenüber von einem Blumenladen.

Starkey schrieb die Namen von Wäscherei und Blumenladen in ihr Notizbuch, ging noch einmal zum ersten Telefon und prüfte, ob es funktionierte. Es funktionierte. Starkey fragte sich, weshalb derjenige, der die 911 angerufen hatte, es nicht von hier aus getan hatte. Der Müllcontainer war von hier aus sehr gut zu sehen, vom anderen Telefon hingegen nicht. Starkey mutmaßte, der Anrufer habe vielleicht befürchtet, vom Bombenleger – oder wer auch immer dahinter steckte – gesehen werden zu können, doch wollte sie sich darüber nicht länger den Kopf zerbrechen, bevor sie nicht das Tonband gehört hatte.

Als Starkey den Sunset noch einmal überquerte, fand sie auf der Straße ein gebogenes Metallstück: ungefähr drei Zentimeter lang, geformt wie eine Spiralnudel und auf einer Seite mit einem grauen Rückstand überzogen. Am Abend vorher hatte sie neun ebensolche Metallteile eingesammelt. Sie brachte es zu ihrem Wagen, steckte es in einen leeren Beweismaterialbeutel, den sie im Kofferraum aufbewahrte, und ging dann am Gebäude entlang zum Müllcontainer. Starkey vermutete, dass die Bombe nicht gezündet worden war, um ein Gebäude zu verwüsten, fragte sich aber, weshalb sie ausgerechnet neben dem Müllcontainer aufgestellt worden war. Sie wusste, dass auf solche Fragen selten befriedigende Antworten gefunden werden konnten. Während ihrer Zeit beim Bombendezernat war sie zweimal auf Bomben ausgerutscht, die am Rand des Highways zurückgelassen worden waren, weit weg von Überführungen oder Ausfahrten oder etwas, an dem sie hätten Schaden anrichten können. Es sah so aus, als hätten die Arschlöcher, die sie gebastelt hatten, nichts Besseres damit anzufangen gewusst, als sie einfach am Straßenrand abzuwerfen.

Nachdem Starkey weitere zehn Minuten am Tatort herumgegangen war, fand sie noch ein weiteres Metallteilchen und steckte es in den Beutel. Genau in dem Augenblick fuhr die Funkstreife wieder auf den Parkplatz. Die Polizistin stieg aus, zwei Tassen in der Hand.

»Ich weiß, dass Sie gesagt haben, Sie wollten nichts, aber wir haben Ihnen trotzdem einen Kaffee mitgebracht, falls Sie es sich anders überlegt haben.«

»Das ist sehr nett. Vielen Dank.«

Die Polizistin hätte gern geplaudert, aber Starkey schloss den Kofferraum und sagte, sie müsse jetzt ins Büro. Als die Polizistin zu ihrer Einheit zurückging, lief Starkey um ihr eigenes Auto herum, schüttete den Kaffee weg und beschloss, noch einmal die Privatautos zu inspizieren.

Zwei der Fahrzeuge waren von Bombensplittern getroffen worden. Bei dem Auto, das in unmittelbarer Nähe stand, war die Windschutzscheibe zerbrochen; auch sonst war es extrem beschädigt. Es hatte am dichtesten am Detonationsherd gestanden und gehörte dem Antiquar. Als die Polizei ihn auf das Gelände zurückließ, starrte er sein Auto an, trat dagegen und lief wortlos davon.