Feuerseelen - Annie Francé-Harrar - E-Book

Feuerseelen E-Book

Annie Francé-Harrar

0,0

Beschreibung

Goldene Zeiten scheinen für die Menschheit anzubrechen, das Leben in großen Städten ist komfortabel und nun wurde mit künstlicher Nahrung auch der Hunger auf der Welt besiegt. Doch der Forscher Henrik 19530 macht eine Entdeckung, die ihn an dieser Utopie zweifeln lässt. Aber niemand möchte seine Zweifel hören. Auch nicht, als unerklärliche Brände die Städte bedrohen. Annie Francé-Harrar war Biologin und ihr Forschungsschwerpunkt war Fruchtbarkeit von Böden. Ihr 1920 erschienener Roman liest sich wie eine zeitgemäße Warnung, nicht die Augen vor der Umweltausbeutung zu verschließen. Aus diesem Grund wurde der Titel in der Reihe "Vergessene Sterne" des Plan9 Verlags aufgenommen. Mehr zur Reihe unter plan9-verlag.de/vergessene-sterne

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 260

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Annie Francé-Harrar
Hrsg. Sandra Thoms
Feuerseelen
Climate-Fiction

Inhaltsverzeichnis

Feuerseelen

Kultur

Vergangenheit

Natur

Warnung

Hochmut

Angst

Hoffnung

Apokalypse

Panik

Flucht

Leben

Nachwort

Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Kultur

Die Weltstadt A 15 bereitete sich auf das Fest vor. Den Tag über hatte sie in der Herbstsonne gelegen, wie ein wimmelnder Ameisenhaufen. Von ihren mehrstöckigen Häusern aus, die straßenweise miteinander verbunden waren und gemeinsame Balkone und Dachgärten besaßen, sah man die vor der Stadt liegende Ebene wie einen flachen grünen Seespiegel, den ein Uferband schwarzer Wälder umfasst hielt. Mittendrin lag die junge Weltstadt wie eine Insel aus blendendem Kalkstein, rotem Porphyr und gelbem Basalt. Wie alle großen Städte zur Zeit der vereinigten Kontinente und Inselreiche der Erde stand sie kaum hundert Jahre und war gleichförmig und zweckmäßig gebaut.
In dieser Abendstunde dröhnten in den tieferen Straßenetagen die dahin schießenden Wagen und jene kleineren Fahrzeuge, die man zur Erinnerung an eine längst vergangene Zeit »Autinos« genannt hatte. Sie wurden an den Fußknöcheln befestigt und trugen den Besitzer von alleine in rasender Eile zu seinem Ziel.
In den fünf oberen Straßenzügen war es wie immer lautlos und vornehm still. Hier arbeiteten die Schallentzerrungsapparate und sorgten dafür, dass jeder Lärm im Augenblick seines Entstehens auch schon getilgt wurde. Denn hier begannen die menschlichen Wohnungen, die sich von der obersten Straßenebene aus immer noch zehn Stockwerke erhoben. Bürger gingen aus und ein und glitten auf ihren Autinos die leicht geneigten Steilflächen entlang, die an Stelle von Treppen das Dutzend übereinander gelagerter Straßenzüge verbanden und es ermöglichten, die Fabriken, die Waren- und Werkräume der unteren Stockwerke ohne Mühe zu erreichen.
Einige Bürger sammelten sich vor den großen, durchsichtigen Glastafeln, die in Verbindung mit den riesigen drahtlosen Telegrafenstationen standen, und ununterbrochen die wichtigsten Ereignisse aus der übrigen Welt in schnell verschwindenden Zeilen auftauchen ließen. Aber dennoch war ein gemeinsames Bestreben merkbar, für heute das Tagewerk zu beschließen.
Allmählich füllten sich die breiten Dachgärten mit Menschen und Stimmen. Aus dem abendlichen Himmel floss ein Hauch von Rosenschein und zarter Kühle. Ein getürmtes Wolkengebirge tief im Westen entglomm langsam zu brennendem Purpur. Die feinen Antennen, welche die Wünsche der Bürger aufnahmen und weitertrugen, glitzerten auf allen Dächern. Ein paar große Sonnennetze, die tagsüber in ihren metallischen Fäden Licht eingefangen hatten, begannen in mattem Glanz zu leuchten. Von unten herauf, gleichmäßig und einschläfernd, drang schwach das Rollen der Wagen, die Tag und Nacht ohne Unterbrechung durch die Stadt jagten, von elektrischen Strömen angetrieben, und dabei Kräfte erzeugten und weiterleiteten. Dazu kam eine Schar von Maschinen, von denen eine die andere ergänzte. Denn längst schon hatten es die Menschen gelernt, alle hässliche, schmutzige und schädliche Arbeit von sich fernzuhalten, wie etwas Unwürdiges und Zweckloses, und sie ihren Dienern aus Holz und Metallen, Glas und Säuren aufzubürden. Längst gab es keine Sklaven der Arbeit mehr, sondern nur noch Herrscher und Herren.
Nur eine Abhängigkeit hatte die Menschheit bisher noch an die Natur gebunden: die Nahrung. Und wenn auch verfeinert, durch Zucht verändert, durch Willkür und Laune bis zur Unkenntlichkeit umgewandelt – der Körper bedurfte dessen, was Tier und Pflanze in so reichem Maße besaßen. Auch wenn überall Maschinen an Stelle von Händen getreten waren, hier musste immer noch ein Teil der Bürger sich abmühen und wurde in niedriger Tätigkeit in einem Kreise dumpfer Erfahrung festgehalten, um für alle übrigen das Lebensnotwendige herzustellen. Nun aber war durch eine unerhörte Erfindung auch diese letzte Hürde überwunden! Und die junge Weltstadt A 15 rüstete sich gemeinsam mit den dreihundert anderen Weltstädten der vereinigten Erde, um diese neueste gewaltige Errungenschaft zu feiern.
*
Einer aber in der Millionenstadt blieb ganz unberührt von dem Freudentaumel. Wie jeden Abend saß er in seinem Arbeitsraum, von dem nur eben so viel erleuchtet war, als er zum Beenden seiner Untersuchungen brauchte. Die wenigen Lampen waren hellblau, das »Licht des klaren Denkens«, und bestrahlten einzelne chemische Apparate, ein riesiges Telemikroskop, einen Tisch mit aufgeschlagenen Büchern und noch ein kleineres Tischchen, das den Gedankenschreibeapparat trug.
Es war sehr still. Durch ein unsichtbares, offenes Fenster strich die kühle und erfrischende Abendluft, und nur das langsame, matte Sausen der Sauerstoffpumpen, die diesen Raum wie jeden anderen der Stadt unaufhörlich mit reiner Luft durchspülten, erinnerte an die Bürger und Nachbarn. Der alte Mann, der bisher gebückt in dem blauen Lichtkreis gesessen und angestrengt eine Reihe von Kristallkolben beobachtet hatte, die mit verschiedenen Zutaten gefüllt und an einen Flammenbogen angeschlossen waren, stand auf und reckte seine hageren, nach vorn überhängenden Schultern. Sein Gesicht trug den Ausdruck ratloser Sorge.
Er strich sich zaghaft über die Stirn, dann rief er halblaut: »Alfred!«
Er wartete eine Weile, aber niemand antwortete. »Ach so, er ist ja beim Fest ... Nummer 50000 spricht!«, sagte er dann zu sich selbst. Wieder stand er da und starrte die Versuchskolben an, die wie eine Reihe toter, gläserner Augen in dem blauen Licht funkelten. Gequält schüttelte er den Kopf.
Es bedrückte ihn, dass sein Schüler Alfred nicht hier war und dass er niemanden hatte, mit dem er über ihre gemeinsame Arbeit hätte sprechen können. Denn er wünschte sich, den merkwürdigen Verlauf seiner eigenen Untersuchungen, wenn auch nur für kurze Zeit, zu vergessen. Er fühlte sich so ratlos.
Da drinnen in den Gläsern lauerte unzweifelhaft eine Gefahr. Vielleicht eine Gefahr nur für ihn, vielleicht aber auch eine ernste Gefahr für die Stadt, für alle Städte der Welt. Es war seine Pflicht, seine Pflicht als Bürger, morgen zu dem Präsidenten des Geraden Amtes, zu Nummer 50000, zu gehen und ihn über das, was er hier entdeckt hatte, aufzuklären. Aber Nummer 50000 hielt wahrscheinlich in diesem Augenblick bereits eine Rede vor der versammelte Bürgerschaft, in der die Vorteile der neuen Kunstnahrung genau dargestellt und gepriesen wurden: ... dass man auf keine Ernten der Welt mehr angewiesen war ... dass man sich nicht mehr mit der erniedrigenden und ermüdenden Bodenbestellung abzumühen brauchte ... dass es nie mehr Nahrung, Kleidung und Geräte mangeln würde, weil die Bestandteile der Stoffe, die man früher dazu sammeln und ernten musste, künftig einfach der Luft entnommen und willkürlich verwendet werden konnten ... dass man das Klima verbessern und durch Abtrennung des Wasserstoffes in beliebigen Mengen nicht nur jede Art von Flüssigkeit herstellen, sondern auch das Fallen von Regen und Schnee einschränken oder ganz verhindern konnte, so dass er jetzt schon ein für ein lang andauerndes, warmes und sonniges Sommerwetter trotz des Jahresendes garantieren könne ... und schließlich, dass man durch einen Erlass die Bauern in die Städte verteilen und sie der von ihnen lang entbehrten Kultur zuführen würde, kurzum, dass jetzt endlich die goldene Zeit der Menschheit angebrochen sei, dass er ein fröhliches, müheloses Leben vor sich sehe und man nichts mehr von der Not, den Kriegen und den sozialen Ungerechtigkeiten früherer Jahrhunderte merken würde … So oder ähnlich, sicher in sehr geschliffenen, gewählten Ausdrücken, sprach jetzt wohl Nummer 50000.
Und diesem Mann sollte er, Henrik 19530, begreiflich machen, dass alle diese schönen, edlen und beglückenden Aussichten seiner Meinung nach nichts als unwahre und törichte Hirngespinste seien, die sich eines Tages unerbittlich in ihr Gegenteil verkehren mussten!
Ja, gewiss, man konnte künstliches Brot, künstliche Früchte, Zucker, Fett, Gewürze und hundert andere Dinge aus der Luft, vor allem aus Wasserstoff, dem Urelement, herstellen! Aber hatte denn niemand die Gefahr beachtet, die entstehen musste, wenn dieses Reservoir einmal erschöpft war! Oder wenn sich in dem natürlichen Kreislauf, der die Umwandlung des Lebens in Tod und wiederum in neues Leben durchlief, eine Störung zeigte, die nicht wieder gutzumachen war! Was dann? Seine Versuche wurden immer deutlicher ein einziger Schrei der Warnung. Er musste morgen zu Nummer 50000 gehen!
Der dunkle, gläserne Würfel, der auf dem Tisch befestigt war, leuchtete auf einmal in gleißendem Malachitgrün. Dies war das Zeichen, dass sich Besuch anmeldete. Henrik, glücklich, wenigstens kurz den quälenden Gedanken zu entrinnen, drückte schnell den Knopf an der Seite nieder. Augenblicklich zeigte sich auf der oberen Platte des Würfels ein Buchstabe und eine Zahl.
»G  25854«, las der Gelehrte. Dann besann er sich.
»Gustajo vom Ungeraden Amt ... Merkwürdig!«, brummte er vor sich hin. »Den hätte ich mir zwar zuletzt gewünscht. Aber er soll kommen!«
Nach einem zweiten Umschalten, das den gläsernen Würfel wieder dunkel und glanzlos machte, setzte er sich wartend an den Tisch und blätterte in seinen Büchern.
Nach einigen Augenblicken lautloser Stille öffnete sich hinten im Dunkeln die große Hängetüre. Ein Autino rollte über den glatten Boden und hielt in der Nähe des Lichtkreises an. Ein kleiner, plumper Mann stieg herunter und trat mit unbeholfenen Bewegungen zum Tisch. Ein paarmal strich er sich heftig atmend über den breiten, weißen Bart, der wie eine Maske fast das ganze Gesicht und die halbe Brust verhüllte. Dann sagte er mit rauer, kehliger Stimme: »Das Ungerade Amt sendet mich, Verehrter. Ich habe Sie um Auskünfte zu bitten.«
»Ich dachte es mir.«
»Also bitte. Man weiß von Ihren Geheimuntersuchungen«, sagte Gustajo und sprang wie mit einem Beil auf den alten Mann zu. »Ich bin berechtigt, jede Erklärung entgegenzunehmen. Das Ungerade Amt hat, wie Sie wissen, die Macht und die Pflicht, sich um alle kulturfeindlichen Bewegungen zu kümmern.«
Henrik schaute seinen Gegner ein wenig erstaunt an. Er hätte fragen mögen, wie das Ungerade Amt von seinen Arbeiten überhaupt erfahren hatte. Aber er war sicher, dass er von diesem Beamten, der als Grobian stadtbekannt war, nichts erfahren würde. Im Bewusstsein seiner guten Absichten entgegnete er sehr ruhig: »Das, an dem ich arbeite, ist nicht kulturfeindlich. Übrigens wollte ich ohnedies morgen zu Nummer 50000 gehen.«
»Wir« – der Fremde warf sich gravitätisch in die Brust – »wir wünschen nicht, dass Sie zu Nummer 50000 gehen!«
»Wenn ich es für gut finde, werde ich trotzdem gehen!«
Gustajo machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das wird sich finden! ... Vor allem, wozu machen Sie diese Untersuchungen?«
Der Gelehrte überlegte. Sollte er diesem Mann, der zwar die öffentlichen Grade eines Wissenschaftlers besaß, seit Jahren aber nur Sachverständiger und Berater des Ungeraden Amtes gewesen war, sollte er diesem Mann seine Sorgen mitteilen? War das klug? Aber hatte er denn eine Wahl? Das Ungerade Amt hatte die Befugnis, ihm sein Laboratorium einfach zu schließen und seine wertvollen Untersuchungen von anderen zu Ende führen zu lassen. Oder vielleicht auch nicht zu Ende führen zu lassen!
Eine ganze Flut von Befürchtungen brach wie ein Fiebertraum über ihn herein. Und von den möglichen Folgen war er so verwirrt, dass ein Verheimlichen ihm als das Schlimmste erschien.
Gustajo hatte sich ein paarmal höchst ungeduldig geräuspert und inzwischen misstrauisch die Einrichtung des Laboratorium gemustert, als der Forscher mit einiger Überwindung zu sprechen begann: »Da das Ungerade Amt auf mir unbegreifliche Weise von meinen Arbeiten unterrichtet zu sein scheint ...«
»... ganz genau unterrichtet sogar ...«
»... ist es wohl am besten, einiges zu erklären. Ich möchte keinen Missdeutungen ausgesetzt sein, als verfolge ich kulturwidrige Ziele.«
»Hm … man wird ja sehen!« Und auf Gustajos Gesicht machte sich ein dummdreistes Lächeln breit.
»Seit der Erfindung des künstlichen Fleisches – also seit fast zwanzig Jahren – forsche ich zum Thema Luftstickstoff. Sie sehen«, er wies auf die Kristallkolben, die blassblau glitzerten, »ich habe eine kleine Versuchsanlage. Durch die Entdeckung der neuen Nahrungsmittel sah ich mich veranlasst, meine Untersuchungen noch intensiver zu betreiben. Ich glaube – es tut mir leid, gegen meine Kollegen sprechen zu müssen –, ich glaube also, dass die unbegrenzte Aufspaltung und Verwendung der Luft zu Nahrung und sonstigen Dingen in absehbarer Zeit zu einer Katastrophe führen muss!«
»So?«
»Und darum wollte ich morgen zu Nummer 50000 gehen, um ihn zu warnen!«, schloss Henrik, der langsam ruhiger geworden war.
Gustajo 25854 stieß wieder heftig die Luft durch die Nase aus. »Das Ungerade Amt wünscht zu wissen, wer Sie dafür bezahlt, dass Sie diese falschen und kulturfeindlichen Ansichten in der Bürgerschaft verbreiten.«
Unter Henriks Hand zitterte das große Buch, mit dessen Blättern seine Finger bisher gespielt hatten. Schwer polterte der Deckel zu.
»Ich werde weder bezahlt, noch sind das kulturfeindliche Ansichten!«, antwortete er sehr bestimmt. »Man hat dem Ungeraden Amt falsch berichtet!«
»Das Ungerade Amt weiß, dass eine Reihe von niedrigen, äußerst obskuren Einheiten Einfluss auf die Bürgerschaft nehmen will. Auch gibt es bereits Gerüchte über die Schädlichkeit der neuen Nahrung. Hier scheint man ja endlich ...«
»Was sind das für Gerüchte?« Henrik hatte von Gustajos Antwort nur diesen einen Punkt beachtet. Vielleicht erhielt er hier eine Bestätigung seines eigenen Verdachts.
»Da müssen Sie im Haus der Traumfreunde nachfragen, wohin man einige dieser Einheiten heute gebracht hat«, knurrte der Beamte hämisch. »Vielleicht haben Sie bald Gelegenheit dazu.«
Der alte Gelehrte stand langsam auf. Das Haus der Traumfreunde! Also dorthin wollte man ihn bringen, wo die ihrer Sinne nicht mehr Mächtigen landeten, man wollte seine Arbeiten, seine Bemühungen, seine Besorgnis um die Menschheit unschädlich machen! Er hatte das Gefühl, als ziehe sich eine unsichtbare Schlinge fest um seinen Hals. Es fiel im schwer, alles dies zu begreifen. Nur das eine ahnte er, hier stellte eine Macht sich ihm und seiner Ehrlichkeit entgegen, die ihn vernichten konnte.
»Aber ... ich habe Beweise ... unanfechtbare Beweise! Ich bin ja doch kein Irrsinniger mit phantastischen Ideen! Ich habe viele Versuche gemacht ... ich kann Ergebnisse vorlegen ...« Der Atem ging ihm aus. Die Andeutung Gustajos, dass man ihn, den alten und nicht unbekannten Gelehrten, seiner Freiheit berauben und ins Haus der Traumfreunde für eine Zeit lang, vielleicht sogar für immer, sperren konnte, hatte ihn wie ein elektrischer Schlag getroffen. Mit einem Mal kam er sich völlig hilflos vor. Und gleichzeitig stieg für den Bruchteil eines Augenblicks ein dumpfer Hass gegen den plumpen, höhnischen Menschen in ihm auf, der brutal wie die Verkörperung seiner Behörde vor ihm stand.
Der vor ihm sah ihn gehässig an, als ahne er sehr wohl den Abscheu des anderen.
»Ob Sie recht oder unrecht haben mit Ihren Untersuchungen«, sagte er dann sehr nachdrücklich und im Bewusstsein seiner Macht, »kommt für das Ungerade Amt jetzt gar nicht in Frage. Viel wichtiger ist, dass das Ungerade Amt es war, das auf dem letzten Ständesenat die Einführung der Kunstnahrung durchsetzte, gegen verschiedene Widerstände. Denn der Ertrag des Bodens wurde so gering in den letzten Jahren, dass die Städte bald nicht mehr hätten ernährt werden können. Das Ungerade Amt also muss jeden unschädlich machen, der hier dagegen ist, begreifen Sie! Es geht letzten Endes um das Leben der dreihundert Weltstädte der Erde.«
Henriks Hass verflog bei dieser Antwort.
»Ich kämpfte ja um nichts anderes!«, rief er verzweifelt. »Was geschieht denn, wenn ich recht behalte? Wenn es wirklich eine Katastrophe gibt ... ein Ersticken in einem Luftsumpf oder ähnliches?«
Er starrte erregt den andern an, aus dessen Gesicht unwillkürlich die gleiche Angst antwortete, während Hohn und Brutalität völlig verschwunden waren. Beide schwiegen. Schwiegen vor der Erkenntnis einer unerbittlichen Sachlichkeit, die sie sowohl zum Handeln, als auch zum Verstummen zwang.
Dann sagte Henrik mit leiser und resignierter Stimme: »Sie glauben also, wenn ich zu Nummer 50000 gehe oder sonst irgendwie meine Überzeugung ausspreche, wird das Ungerade Amt mich für einen Traumfreund erklären und dorthin bringen lassen?«
Der Dünkel gewann im Gesicht des Beamten wieder die Oberhand; er setzte sich breit auf einen Stuhl und schlang das hellrote, mit seiner Einheitsnummer und den Abzeichen seines Standes geschmückte Gewand sorgfältig um die Knie. »Sie müssen mich recht verstehen!«, sagte er dann von oben herab, »die Sache verhält sich so: Wir vom Ungeraden Amt haben nichts gegen Sie persönlich, aber wir müssen so handeln. Die Bevölkerung der Städte leidet jetzt schon in zunehmendem Maße unter Nervenleiden und anderen Gesundheitsproblemen. Unsere Kultur hat uns eben sensibel und empfindlich gemacht. Da darf man ihnen nicht auch noch den Hunger zumuten! Und Sie wissen … die Geburtenzahl ... vielleicht lässt sich durch die Kunstnahrung wenigstens ein kleiner Ausgleich des fortwährenden Sinkens erzielen! Darum darf niemand verbreiten, dass die Kunstnahrung eine Katastrophe herbeiführen wird! Denken Sie an die Panik ... nein, besser nicht! Lassen Sie unsere Bürger sich erst einmal ein wenig erholen ... dann kann man vielleicht etwas ändern. Langsam, damit sie nicht erschrecken! Die Häuser der Traumfreunde sind voll genug , begreifen Sie doch! Auch erhoffen wir uns viel von einer Vermischung mit den Hüttenbewohnern, die wir in die Städte einbürgern wollen.«
»Ich verstehe!«, sagte der Gelehrte nach einer Pause, während Gustajo ihn erwartungsvoll ansah. »Ich verstehe Sie sehr gut! Aber ich frage Sie bei Ihrem Kulturgewissen nach zwei Dingen: Erstens, glauben Sie, dass mit der Zeit, sagen wir in ein bis zwei Jahren, wieder natürliche Nahrung, wenigstens teilweise, eingeführt wird und werden kann? Und zweitens: Was geschieht, wenn die von mir erwartete Luftzersetzung vielleicht in einem halben Jahr oder früher eintritt?«
Gustajo überlegte. Seine Arroganz ließ wieder nach. Schließlich entgegnete er würdevoll: »Auf das erste, Verehrter, kann ich unmöglich Auskunft geben, Amtsgeheimnis. Das zweite aber halte ich für ganz ausgeschlossen. Wir haben die Fakultäten aller dreihundert Weltstädte um ihre Meinung befragt. Es gab ja, wie gesagt, verschiedene Bedenken, aber so schlimm ... ich glaube wirklich, Sie sehen die Dinge zu schwarz!«
Henrik zuckte die Achseln. Er sah ein, dass er hier und wohl auch bei anderen zuständigen Stellen nichts erreichen würde. Man war sich so sicher, man hatte so viele günstige Gutachten, er konnte sich das ja denken. Eine unerhörte Mehrheit stand gegen ihn, den Einzelnen. Was sollte er da tun!
»Ich kann nicht versprechen, dass ich meine Untersuchungen einstellen werde«, meinte er dann zögernd.
Der andere lächelte. »Das verlangen wir ja auch gar nicht. Sie sollen nur nicht darüber sprechen. Sie verstehen?«
»Ich verspreche nicht einmal das. Nur solange ich keine offenkundigen Beweise habe, ich meine Beweise, die jedes Kind einsieht, werde ich nichts sagen. Schon im eigenen Interesse nicht. Aber dann ...«
»Wir wollen das abwarten. Ich bin überzeugt, Sie werden gar nicht in diese Lage kommen.«
Gustajo erhob sich und bestieg umständlich sein Autino. Dann grüßte er herablassend. In dem blauen Licht sahen seine geröteten Wangen und die aufgedunsene Stirn heimtückisch aus. Er wollte noch etwas sagen, noch einmal an das Haus der Traumfreunde erinnern, aber als er das nachdenkliche Gesicht des Gelehrten mit einem Blick von der Seite streifte, schwieg er. Die Drohung hatte schon zur Genüge gewirkt. Die Gewaltpolitik des Ungeraden Amtes hatte wieder einmal gesiegt, diesmal sogar scheinbar zu Recht. Der alte Wirrkopf würde schweigen!
Aber ... verdammt! Wenn er nun doch recht behielt?! Mit einem unbehaglichen Gefühl winkte Gustajo 25854 dem ganz in sich Versunkenen zu, ohne dass dieser es auch nur beachtete. Gleich darauf rollte das Autino nach hinten, und wenige Sekunden später schloss sich die Hängetüre in den lautlosen Angeln.
Mit schwerem Aufseufzen begab sich der Gelehrte wieder an seinen Platz vor den Kristallkolben. Ohne Zucken brannte dort der blaue Flammenbogen. Manchmal stieg in den gläsernen Röhren ein dunkles Brodeln auf oder eine silbern schimmernde Luftblase löste sich langsam von der durchsichtigen Wand. Da drinnen lag das Geheimnis dessen, was kommen würde …
Lange stand er und grübelte über das eben Erlebte nach. Dann schaltete er mit schnellem Entschluss den Flammenbogen aus. Einige Herzschläge lang glühten noch die Kohlenstifte, wie rote Funken vor den plötzlich geblendeten Augen, dann floss nur noch eine zarte, bläuliche Dämmerung durch den hohen Raum. Henrik verschloss die Tür und fuhr mit dem Lift zu seinem Dachgarten hinauf, um dort seine Abendmahlzeit einzunehmen.
Oben war es warm, und ein lauer Wind brachte den schwülen Dunst der Ebene mit. Fern am blauschwarzen Horizont lagerte noch ein etwas hellerer Streif mit einem letzten Hauch von Violett. Über der Weltstadt aber glitzerten die Sterne, blass, unruhig und zuweilen wie in einem Sturm erzitternd. Überall auf den Dächern leuchteten die weißen Sonnennetze mit ihrem unirdischen Licht. Lachen und Plaudern ließen die Stille des Dunkels nicht ruhen. Rufe drangen aus der Tiefe, und als Henrik sich über das Geländer beugte, erkannte er weit unten dahingleitende Lichtkugeln und erinnerte sich, dass die Jugend noch immer das Fest des letzten Kultursieges mit Lampen und fröhlichen Umzügen feierte. Da überfiel ihn von neuem die ganze Schwere seiner heimlichen Sorge, und hastig setzte er sich an den Tisch, um von dem Eiweißbraten, den Früchten und dem gerösteten Brot zu essen.
Er blieb nicht lange allein. Nach kurzer Zeit wurde die Türe des Lifts von neuem zugeschoben, und sein Schüler Alfred 6720 trat mit seinen Freunden Daniel 8726 und Jolán 10492 an den Tisch, wo sie erwartet wurden. Die drei jungen Leute brachten eine Atmosphäre von Bewegung und Erregtheit mit sich, die den Gelehrten aus seinen Gedanken riss. Am lautesten war Daniel, ein lebhafter Jüngling mit dunklen Locken, der seiner Freundin Jolán wie ein Zwillingsbruder ähnlich sah und stets voll Widerspruch gegen alle öffentlichen Ämter steckte.
Seit man ihm aus Rasseprinzipien, eben dieser Ähnlichkeit wegen, nicht gestattet hatte, Jolán zu heiraten, lehnte er, soweit es ihm möglich war, überall gegen die berufenen Kulturvertreter auf. Jetzt brannte er geradezu vor Ungestüm.
»Haben Sie uns nicht vergessen?«, fragte er noch ein wenig atemlos den alten Freund.
Der lächelte über den Hitzkopf. »Nein, mein Junge, ich habe nichts vergessen. Wir können gleich gehen, wenn du mir nur erlaubst, fertig zu essen.«
»Ach ... verzeihen Sie ... ich habe nicht bemerkt ...«
»Solche Dinge bemerkt Daniel nie!«, warf Alfred ein.
»Nein ... wirklich! Ich bin noch ganz geladen, was diese Nummer 50000 zusammengeredet hat ... Unglaublich! Der berufsmäßige Lügner! Übrigens, wir haben uns jetzt fest entschlossen, ganz bei den Hüttenbewohnern zu bleiben, nicht nur versuchsweise, wie wir bis jetzt geplant hatten. Wenn Sie uns also hinaus bringen wollen, wie Sie freundlicherweise versprochen haben, ist es voraussichtlich für immer.«
»Man munkelt nämlich von einem Verbot, die Stadt ohne Erlaubnis zu verlassen«, fügte die hübsche, schlanke Jolán hinzu.
Henrik sah die beiden jugendlichen Schwärmer ein wenig belustigt an. Dann wies er auf ihre Kleider: »Ist das alles, was ihr zu dieser Reise mitzunehmen gedenkt?«
»Oh, wir werden alles draußen bekommen. Einige Stunden vom Grünsee ist ein Bergdorf, ich war schon einmal da. Ich glaube, dort kann man sehr gut bleiben. Wir kaufen natürlich ein Haus ...«
»... und Schafe, und Hühner! Hühner müssen unbedingt dabei sein!« Jolán klatschte entzückt in die Hände. »Ich habe noch nie ein Huhn gesehen, ich freue mich so!«
»Was du willst, Herz! Sogar ein Schwein, wenn es dir Spaß macht!«, sagte Daniel zärtlich. Dann wandte er sich stolz zu dem Gelehrten um, der inzwischen unbeirrt weiter aß. »Stellen Sie sich nur vor, schon seit einem Jahr hat sie heimlich Geh-Übungen gemacht! Sie hat mir kein Wort gesagt, und jetzt kann sie beinahe so gut laufen wie ich. Ist das nicht rührend lieb? Diese Autinos sind ja einfach ein Unfug, geradezu ein Verbrechen gegen die Gesundheit der Menschen! Wozu hat denn der Mensch seine geraden Beine? In früheren Jahrhunderten ist man auch zu Fuß gegangen!«
»... oder gefahren ...«, erlaubte sich Alfred einzuwenden.
»Ach was, du! Du Kulturnarr!« Daniel stürzte sich auf ihn.
»Still, Kinder, Vorsicht! Man weiß nicht ... das Ungerade Amt hat immer noch die besten Ohren in der Stadt. – Übrigens bin ich bereit.« Henrik stand mit diesen Worten auf.
Während sein Schüler sich beeilte, den in Unordnung geratenen Esstisch durch einen Druck an ein gläsernes Knöpfchen unter dem Fußboden verschwinden zu lassen, so dass nur noch das silbern glänzende Sonnennetz in der Ecke strahlte, ging Henrik mit den beiden zum Lift. Mit eiligen, aber ungeschickten Schritten – er hatte in seinem Leben niemals Geh-Übungen gemacht, sondern sich stets auf sein Autino verlassen – folgte Alfred ihnen.
»Würdet ihr wagen, mit mir auf der Transportbahn zu fahren? Ich habe die Erlaubnis, und sie kreuzt gerade dort vorbei. Bequem ist sie nicht, aber schnell und ganz ungestört«, sagte Henrik.
Joláns Augen glänzten. »Oh, ich war noch nie unten. Sicher ist es sehr interessant, nicht, Daniel? Oh, wir möchten gern!«
»Dann kommt!«
Alfred stand schon an der Türe des Lifts und schaltete ein paar Hebel um. Schweigend fuhren sie hinab. Immer wieder tauchte weißes Licht an den Glaswänden der engen Kabine auf. Eine Sekunde dachte Daniel daran, dass dies wohl für lange Zeit, vielleicht für immer, die letzte Fahrt für sie beide sein würde. Aber das schreckte ihn nicht. Mit seiner Jolán würde er frei und glücklich leben, selber ein Feld bebauen, Obst ernten oder zuweilen ein Lamm schlachten. Es gab nichts so Wünschenswertes in dem großen Warenhaus der Kultur wie diese einfachen und mühevollen Dinge.
Die Glasscheiben glühten plötzlich in mattrotem Schein. Der Lift stand. Henrik öffnete als erster die Tür. Ein hoher gewölbter Gang wand sich vor ihren Augen in ein purpurnes Dunkel hinein, über dem Sonnennetze wie silberne Monde schwebten. Es war erfüllt von huschenden, schmalen Schatten, die donnernd vorbeiflogen, sich in der Ferne verloren und rastlos von neuem auftauchten.
Hier unten war das Reich der Maschinen, die man in diese flammenfarbene Dämmerung verbannt hatte, seit es einem Physiker zu beweisen gelungen war, dass dieses Farbe die elektrischen und Quantenströme, von denen sie gespeist wurden, günstig beeinflusste. Man musste so wie Henrik einer ihrer Herren sein, so wie er die Gesetze ihrer Funktionen beherrschen, um sich ungestraft herunter wagen zu dürfen, wo Räder und Hebel von Drähten, strömenden Gasen und Säuren gelenkt und geleitet wurden, und wo eine atemraubende, dröhnende und von unerhörten Gefahren erfüllte Hölle lärmte.
Der Gelehrte jedoch ließ sich nicht beirren. Während Jolán und Daniel sich enger aneinander schmiegten, winkte er Alfred heran und hieß ihn kurz nacheinander zwei metallene Griffe an einer aus dem Boden ragenden Stange niederdrücken. Sogleich verlangsamte sich der nächste der wie ein Boot geformten Wagen, die räderlos dahinglitten oder vielmehr zwischen halbmondförmigen Schienen gleichsam flossen. Mit einem raschen Sprung war Henrik oben, das Gefährt stand. »Hinauf! Schnell!«, rief er seinen Begleitern zu.
Alfred, der schon hier unten gewesen war, warf den jungen Mann und das Mädchen beinahe hinein und sprang selber schnell nach, als das Gefährt sich schon anschickte, von neuem davonzurasen. Denn hinter ihm donnerte bereits sein hoch beladener Nachfolger heran. Halb betäubt machten es sich die drei auf den Warenballen in der Tiefe des Bootes einigermaßen bequem, während sie an dem eisigen Windzug die Schnelligkeit der Fahrt fühlten. Fast noch zehn Minuten hatten sie zu fahren und nur mehr wenige Umschaltestellen zu passieren, die allein gefährlich werden konnten. Langsam kehrte Henriks Ruhe zurück, da er durch die Leitung des Fahrzeugs verhindert war, seinen Gedanken nachzuhängen. Mit einem plötzlichen Ruck riss er dann den Hebel herunter. Das Gefährt glitt nur noch im Nachzittern des ausgeschalteten Stromes. Alfred, der auf diesen Moment gewartet hatte, half Jolán heraus. Daniel folgte und reichte dem Gelehrten den Arm. Der Hebel flog wieder in die Höhe, und durch die zurückgehaltene Kraft schnellte der Wagen in sausendem Schwung davon. Die vier Menschen reichten sich die Hände, um ungehindert und ungefährdet hinauszugelangen. Türen öffneten und schlossen sich, kalte und glühende Luft drang auf sie ein. Überall hinter Hebeln und Schalttischen standen Beamte, deren aufmerksame Gesichter rötlich wie Masken angestrahlt schienen. Endlich waren sie draußen.
Dort erleuchteten drei weiße Kugeln einen nur durch Gitter verschlossenen Raum, dessen eine Seite sich zur Ebene hin öffnete. In seiner Mitte stand das Arachnion, mit dem sie reisen wollten, wie das Gerippe eines vorsintflutlichen Tieres und glotzte mit erloschenen Scheinwerferaugen seinem Besitzer entgegen. Alfred schwang sich behutsam über die hohe Treppe zur Gondel hinauf, die unter dem Kreuzpunkt der acht dünnen Stelzenbeine des Ungetüms in elastischen Angeln hing. Da flammten auch schon die Richtungslampen an der Stirne der Rennmaschine auf, grell, blendend weiß.
Jolán war entzückt, als ihr Geliebter sie die schwankenden schmalen Stufen mehr hinauftrug als -führte. Sie war noch nie in einem Arachnion gewesen. Dessen Besitz setze eine Erlaubnis des Geraden Amtes voraus, die niemandem unter 15000 Steuereinheiten erteilt wurde. Die geräumige Gondel war mit Decken und Kissen gepolstert und Alfred machte sich das Vergnügen, dem Mädchen die Schubfächer mit Essen, Wasser und Instrumenten, die kleinen Behälter für Medikamente, Aurolpastillen und Alkonfläschchen, zwei Tischchen, Waffen und Lampen, sowie das bewegliche, gläserne Regendach zu zeigen.
Inzwischen war auch Henrik oben angekommen und ließ sich am Führersitz nieder. Er drehte sich das Sonnennetz, das an seiner Seite glimmte, zurecht und überprüfte Schrittmesser, Kompass und Karte mit flüchtigem Blick. Während Alfred, der diese Nacht den Dienst im Laboratorium hatte und deshalb, sowie auch seiner zarten Gesundheit wegen, auf der zehnstündigen Reise nicht mitkommen wollte, wieder hinabkletterte, machten es sich die beiden jungen Menschen in den warmen Polstern bequem. Sie waren voll Erwartung, voll von Wünschen und Hoffnungen. Leise tastete Joláns Hand nach dem Freund.
Knackend wurde die Treppe unter den Boden der Gondel gezogen, wo sie von eisernen Haken festgehalten wurde. Das hemmende Gitter sank langsam, stufenweise in die Erde. Die Bahn war frei. Das Arachnion griff mit seinen langen Beinen aus. Schneller und schneller hoben sich die stählernen Gelenke. Grellweiß vor den Scheinwerfern leuchtete der Boden. Darüber hinaus war die Luft grau und feucht. Sie brandete in stummem Wogen, in fließendem Gleiten gegen die Mauern der Weltstadt. In diesen Schleiern verschwand das Arachnion, das einen schweigsamen, alten Mann und zwei heimlich plaudernde Liebende trug.
Aber während die beiden bald ganz in ihre Zukunftspläne versunken waren, glitten Henriks Gedanken wieder zu seiner Arbeit zurück. Am liebsten hätte er sie abgebrochen. So sehr war ihm die Freude daran verleidet. Aber etwas, ein Pflichtgefühl, ein innerlicher Zwang, widersprach dem. Und wenn er auch zum Schweigen verurteilt war, die Verantwortung wollte und konnte er der Menschheit gegenüber nicht übernehmen, dass er etwas vernachlässigte oder zu spät in Angriff nahm. Von dieser Notwendigkeit konnte ihn kein Ungerades Amt entbinden.
Weiter und weiter trabte die Rennmaschine in den Nebel der Ebene hinein. Dem alten Mann am Steuer war es, als ob alle Erkenntnisse in einer dumpfen, trügerischen Dämmerung verborgen lägen. Und er wusste nicht einmal, ob es gut sei, diese Dämmerung fort zu wünschen. Einmal vernahm er Bruchstücke des Gespräches der beiden hinter ihm. »Ich bin so glücklich!«, sagte Jolán. »Oh, wie wird unsere Zukunft schön und fröhlich sein!«
Da lächelte der weißhaarige, einsame Mann traurig und hoffnungslos. Er dachte an seine Zukunft.

Vergangenheit

Es war fast vierzehn Tage später, als Alfred allein und nachdenklich die oberste Straße an den nun vollendeten Neubauten entlangging. Er hatte, als er das Hauptverkehrsnetz hinter sich gelassen hatte, die Geschwindigkeit seines Autinos gedrosselt und hob immer wieder von seiner Karte den Blick, um die Richtung nicht zu verlieren.
Bisher war er nie in dieses Viertel gekommen, denn es war für die Bürger der Stadt gesperrt gewesen, seit es fertiggestellt war. Man hatte es erbaut unter dem Vorwand, man müsse A 15 gleich in den richtigen Verhältnissen und so groß anlegen, dass man auch bei einer bedeutenden Vermehrung der Einwohner bequem auskommen könnte. Nun hatte sich in den fast hundert Jahren seit Bestehen der Stadt die Einwohnerzahl nicht nur nicht vermehrt, sondern langsam, aber unaufhörlich vermindert. Die Folge davon war, dass ein ganzes Viertel von Straßenblöcken unbewohnt blieb, deswegen erst später und sehr gemächlich ausgebaut wurde und eine Zeitlang den Spott und die Quelle steter Vorwürfe der gesamten Bürgerschaft gegen das Gerade Amt bildete.