Feuerspur - Birgit Heiderich - E-Book

Feuerspur E-Book

Birgit Heiderich

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Beschreibung

Vom Zauber eines italienischen Sommers, dem Leben in einem weltabgeschiedenen Dorf, von einem Mann und einer Frau, die zwar das Alter der Weitsichtigkeit erreicht haben, jedoch gegen eine verbotene Leidenschaft nicht gefeit sind, erzählt diese heiter-melancholische Liebesgeschichte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 152

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Birgit Heiderich

Feuerspur

Eine Liebesgeschichte

FISCHER Digital

Inhalt

Die Frau in der [...]Birgit HeiderichEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeun

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Birgit Heiderich

Feuerspur

Eins

Ich weiß nicht mehr, wie dieses Bild in meine Hände kam.

Zuerst sah ich nur verschwommene Umrisse. Dann erkannte ich einen Weg, der zwischen den Häusern eines Dorfes hindurchführte. Das Ende des Weges konnte ich nicht sehen. Die Häuser waren niedrig und alt, die Läden der Fenster waren geschlossen. Ich fühlte die Hitze des Mittags, jeder war ins Innere seines Hauses geflüchtet, saß oder schlief dort hinter den geschlossenen Läden.

Ich hörte den schrillen Gesang der Zikaden, der nie enden will, und ich bekam Lust, sofort aus meinem Zimmer heraus auf diesen Weg zu treten. Ich wollte bis ans Ende des Weges laufen, wollte wissen, ob dort auf einer Anhöhe der Friedhof lag und dahinter der Wald begann, diese Wildnis aus Kastanien, Akazien und Pinien, die sich bis zur Kuppe des Berges erstreckte. Ich wollte wissen, ob es mein Dorf war. Ich überlegte, wie ich mein Dorf malen könnte, aber ich kann nicht malen, und in den besten Momenten könnte ohnehin niemand das Dorf malen, denn dann ist es Nacht. Wie sollte man diese Dunkelheit malen, eine Dunkelheit, die nicht ängstigt?

Ich betrete den Weg an der Stelle, wo Elisa wohnt. Wenn ich an ihrem Haus vorübergehe, spürt sie, daß ich angekommen bin, und öffnet die Tür. Sie kommt mir entgegen und ruft erstaunt meinen Namen. Andrea, ruft sie, Andrea, wann bist du angekommen? Wie war die Reise? Wie lange bleibst du?

Ich küsse sie einmal rechts und einmal links auf die Wange, umarme sie fest nach so langer Zeit und versuche die ersten Sätze in der fremden Sprache. Dann stehle ich mich fort aus dem Bannkreis ihres verschwenderischen Lächelns und ihrer unerschöpflichen Neugier. Ich gehe hinüber zu meinem Haus. Ich sehe den bröckelnden Putz, das vom Einstürzen bedrohte Dach, das morsche Holz der Fenster. Mir ist, als hätte sich die Verlassenheit des Hauses überall ausgebreitet, käme von innen herausgewachsen, eine wuchernde Pflanze, die bereits die Mauern bedeckt und nun nicht mehr weiß, wohin.

Drinnen ist es kühl und dunkel. Ich bleibe dort und warte. In meinem Haus, das nicht mir gehört, in meinem Dorf, in dem ich nicht lebe. Ich warte, warte, bis es Nacht wird. Dann gehe ich unbemerkt den Weg zum Friedhof hinauf. Trotz der Dunkelheit finde ich den Platz vor der Mauer, auf der Wiese, unter den Ölbäumen. Dort werde ich sitzen und hinunterschauen.

Wie warm diese Nacht ist. Die Toten im Rücken und vor mir die zitternden Lichter in der fernen Ebene. Das Dorf, eine schwebende Kugel aus Stein. Wie klein es dort liegt, die Häuser dicht an dicht. Jetzt schlafen sie alle, die hinter mir und die unten im Dorf, so nah beieinander. Wenn ich genug hätte vom Hinunterschauen, könnte ich mich hier auf der Wiese schlafen legen. Nichts mehr würde ich vermissen, nichts mehr.

Die Stille hat sich wie ein Schleier ausgebreitet, darunter atmet das Leben des vergangenen heißen Sommertages. Es atmet aus und ein.

Ich sitze dort oben ganz still und kann mich nicht satt sehen an den Lichtern über und unter mir. Unten in der Ebene glitzern die Lichter auf den Straßen, die der ringsum liegenden Dörfer und, weiter entfernt, die der Stadt, die beinahe am Meer liegt. Die Lichter dort unten wetteifern mit denen am Himmel, und zwischen diesen Lichtermeeren liegt das Dorf.

Ich stelle mir vor, es ist die Nacht des heiligen Laurentius. Seine Tränen fallen als Sternschnuppen vom Himmel, sagen die Leute. Bei Einbruch der Dunkelheit, nachdem sie gegessen und getrunken haben, kommen sie aus ihren Häusern, sitzen auf den Treppen und Mauern, schauen hinauf und zählen die Sterne, die vom Himmel fallen.

Ich sitze reglos, gebannt vom Zauber dieser Nacht, und ahne, daß er, Ulisse, ganz nah ist. Wird er mich finden? Auch er kann nicht schlafen in diesen warmen Nächten, er hat sein Haus verlassen und irrt umher. Vielleicht wird er plötzlich vor mir stehen, eine Hand voll reifer Brombeeren. Wir werden unsere Münder stopfen mit den süßen Früchten, wir werden uns küssen, alle verpaßten Küsse nachholen in diesem Sommer. Wo wird er sein in dieser Nacht? Die steilen Ölbaumterrassen hinaufklettern zur Cappana, sein Gelände durchqueren, das größer wird von Jahr zu Jahr, sich hinauswagen in die Wildnis mitten in der Nacht, den Stock in der Hand, immer auf der Hut vor den tollwütigen Füchsen?

Er wird nicht schlafen können in dieser Nacht. Wird er mich suchen? Wird er mich finden?

Unten durchs Dorf huscht Giovanni, der Stäubchensammler. Er hört den schweren Atem der Schläfer. Die Fenster sind weit geöffnet. Noch steht die Hitze in den Häusern. Erst gegen drei oder vier Uhr morgens kommt ein leichter Wind auf und läßt alle ruhiger schlafen.

Nie habe ich die Augen des Stäubchensammlers gesehen. Er humpelt weit vornübergebeugt durch die Gassen des Dorfes. Sein magerer alter Körper ist so gebogen, als wolle er allmählich mit dem Kopf in die Erde hineinwachsen. Seine Augen dicht über dem Boden, hält er von Zeit zu Zeit an, hebt etwas auf, das nur er sehen kann, Stäubchen müssen es wohl sein.

Im Dorf nennen sie ihn den Philosophen. Sie erzählen lachend, er habe nie eine Frau berührt. Er lebe in einem Zimmer ohne Strom und Wasser. Aber nichts sei ihm wichtiger, als sich und das Zimmer sauberzuhalten. Luigi von der Kommune habe sich erbarmt und ihm eine Arbeit verschafft. Giovannis Arbeit ist es, nun auch die Gassen des Dorfes sauberzuhalten. Aber es scheint, als hätten sich alle Frauen des Dorfes gegen ihn verschworen. Sie sind Königinnen der Sauberkeit. Schon am frühen Morgen beginnen sie damit, vor ihren Häusern Wasser über die Steine zu schütten und diese mit ihren Reisigbesen so lange zu bearbeiten, bis sie vor Sauberkeit strotzen. Nichts lassen die Frauen übrig für Giovanni. Doch er weiß sich zu helfen. Oft nutzt er die Zeit der Mittagshitze für seine Arbeit, wenn die Frauen sich ins Haus zurückgezogen haben, oder die späte Nacht, wenn sie schlafen. Nur im Spätherbst, wenn die Blätter von den Bäumen fallen und die Frauen diesem Ansturm nicht mehr gewachsen sind, ist er den ganzen Tag über glücklich beschäftigt.

Manchmal begegnen sie sich in der Nacht, Ulisse und der Stäubchensammler. Ulisse spricht ihn an mit seiner lauten Stimme. Giovanni aber wird kaum hörbar antworten, sich nicht aufrichten, schnell weiterhuschen, um mit seiner Arbeit fortzufahren.

Giovanni ist hier geboren, und Ulisse ist hier geboren, aber Ulisse ist fortgegangen. Er hat eine Fremde geheiratet, sagen die Leute. Eine Schönheit sei sie gewesen, damals. Mit ihr ist er fortgegangen und lebt noch heute in der Fremde, spricht eine fremde Sprache, die niemand im Dorf versteht, und ist allen fremd geworden mit der Zeit. So wie er denkt niemand im Dorf. Er ist ein Verrückter, sagen die Männer, ein Besserwisser, und wollen seinen langen und eindringlichen Belehrungen nicht länger zuhören. Er lebt nicht mehr im Dorf, und doch hat er hier sein Haus gebaut. Es ist das letzte Haus des Dorfes, ganz nah beim Friedhof. Es hat einen Garten mit Oleanderbüschen und Hibiskusstauden, Seerosen schwimmen auf einem kleinen Teich, ein großer weißer Marmortisch steht leuchtend auf der Terrasse. Doch dort sitzt nie jemand. In der Dunkelheit sieht man von seinem Garten aus die roten Lichter auf den Gräbern flackern.

Die Leute wissen, es ist das prächtigste Haus des Dorfes, und sie beneiden ihn darum. Die meisten von ihnen wohnen in den alten Häusern rund um die Kirche. Diese Häuser wurden vor langer Zeit auf den klobigen Felsen gebaut, auf denen einmal eine Festung stand. Nur wenige von ihnen haben eine Heizung oder ein Bad, eine Terrasse oder ein Stück Garten. Wer ein bißchen Geld hat und noch nicht zu alt geworden ist, der zieht fort, hinunter in den unteren Teil des Dorfes, wo die neuen Häuser stehen. Wenn man Ulisse fragt, wie viele noch oben wohnen, dann schließt er die Augen, bewegt stumm die Lippen, und wenn er die Augen wieder öffnet, sagt er: hundertneun.

Sein Haus ist eines der vier Häuser, die oben mit Erlaubnis der Kommune neu gebaut werden durften. Es ist das schönste, sagen die Leute. Aber warum sitzt nie jemand an dem weißen Marmortisch, warum hört Ulisse nicht auf, sein Haus um- und auszubauen, warum ist er nie zufrieden? Der Verrückte, sagen sie, wenn sein Name fällt, warum fährt er fort und kommt wieder, warum so oft? Je älter er wird, desto öfter kommt er ins Dorf zurück. Immer öfter kommt er allein, sagen die Leute, immer länger bleibt er hier. Baut oder arbeitet in den Oliven, in dem steilen Gelände mit den Obstbäumen, in dem Gemüsegarten am Hang. Es scheint, als wolle er einüben, für immer im Dorf zu bleiben. Abends sitzt er mit den Männern unten in der Bar und spielt Karten bis nach Mitternacht. Manchmal bleibt er eine Nacht lang fort, und niemand weiß, wo er ist. Und plötzlich ist er wieder abgereist, und niemand weiß, wann er wiederkommt. Doch wenn er wieder einmal zurückgekommen ist und auf dem kleinen Platz am Brunnen steht, kommen die Frauen ringsum aus ihren Häusern geeilt, schauen hinauf zu diesem Riesen, hören, was er zu berichten hat, umringen ihn, verwickeln ihn lautstark in Gespräche, bis ihre Männer sie zurück ins Haus rufen.

Ulisse ist kein Fremder, er bleibt einer von ihnen.

Ich aber bin und bleibe eine Fremde. Auch wenn ich immer wiederkomme, in jedem Sommer. Auch wenn ich ihre Sprache gelernt habe. Natürlich bin ich ihnen nicht so fremd wie die Senegalesen und Marokkaner, vor denen sie mich warnen und mir eindringlich raten, auch tagsüber die Haustür fest zu verschließen. Manchmal verirren sich diese Fremden, die unerlaubt, aber geduldet am Strand Kassetten, Handtücher, Sonnenbrillen und Armbanduhren verkaufen, ins Dorf. Von unten sehen sie den hohen Kirchturm auf dem Hügel, und, einen Teppich über der Schulter, steigen sie die schmale Straße hinauf, gebeugt und geduldig. Wenn der Weg zu Ende ist, sind sie oben bei der Kirche angekommen, stehen außer Atem vor der Mauer und sind erstaunt über den weiten Blick. An klaren Tagen sehen sie die Berge der Garfagnana, und sie glauben auch das Meer zu entdecken, aber das ist eine Täuschung. Wenn sie sich ausgeruht haben, gehen sie lächelnd von Haus zu Haus, klopfen an alle Türen, bieten den Teppich an, aber niemand wird ihn kaufen. Alle werden freundlich und höflich sein und bemüht, ihre Ängstlichkeit zu verbergen. Doch nachher werden sie ihre Türen um so fester verriegeln.

Ich aber werde meine Tür nicht mehr verschließen, nicht am Tag, nicht während der Nacht. Ulisse wird eintreten.

Leicht wird es nicht für ihn sein, unbemerkt in mein Haus zu gelangen. Nichts ist schwerer in diesem Dorf, als unbemerkt das Haus eines anderen zu betreten. Die Häuser sind aufs engste miteinander verbunden, oft erkennt man nur an der Regenrinne, wo das eine Haus aufhört und das andere anfängt. Und auch die Menschen sind aufs engste miteinander verbunden. Liest man die Grabinschriften, so könnte man glauben, hier oben hätten immer nur wenige Familien gelebt: die Morellis, die Lazzaronis, die Giomettis und die Baldocchis.

Besonders schwierig wird es für Ulisse sein, nicht von Elisa bemerkt zu werden.

Elisa stammt aus der Familie Morelli und hat einen Baldocchi geheiratet. Abends, wenn Elisa den Hund Caruso noch einmal ausführt und ich sie bis zu den drei Akazien hinunter begleite, erzählt sie mir manchmal Geschichten aus ihrer schon vierzig Jahre währenden Ehe. Während der Hund Caruso Elisa mit sich zerrt und zieht, beginnt sie meistens mit einer schweren Anklage. Silvano ist der Beschuldigte, der, nachdem sie ihm zwei Söhne geboren hatte, gegen ihren Willen mit dem Schiff von Genua nach Amerika reiste. Dort wollte er Arbeit suchen, weil es in Italien kaum noch Arbeit gab. Wie von einer nicht heilenden Wunde spricht Elisa davon, daß Silvano sie für viele Jahre mit den beiden kleinen Söhnen allein ließ. Nie wäre sie bereit gewesen, ihm nach Amerika zu folgen. Nie konnte sie billigen, daß Silvanos Bruder und Schwester mit ihren Familien nach Amerika ausgewandert waren, für immer. Nur Verachtung hat sie übrig für dieses hochgelobte Land, in dem viele reich zu werden hofften. Niemand teilt diese Verachtung mit ihr. Fast alle im Dorf haben Verwandte in Amerika, und in jedem Sommer hat mindestens eine der Familien die Ehre, ihre amerikanischen Verwandten für einen Monat oder länger beherbergen zu dürfen.

In den betroffenen Familien wird schon Monate im voraus über nichts anderes als den erwarteten Besuch gesprochen. Das meist viel zu kleine Haus wird bis in den letzten Winkel hinein gesäubert, Schlafstellen jeder Art werden geschaffen, Nahrungsvorräte in solchen Mengen gekauft, daß man glauben könnte, diese Familie werde für Monate von der Welt abgeschnitten sein.

Treffen die Amerikaner dann endlich ein, so herrscht eine Stimmung wie bei einem Staatsempfang. Die Italiener sind festlicher als bei Hochzeiten gekleidet, die Amerikaner erscheinen zwar weitaus legerer, aber so, wie sie sich bewegen, wie sie sprechen und miteinander umgehen, könnte man meinen, die Amerikaner hätten das Dorf nie verlassen. Während ihres Aufenthalts wird so viel gekocht und gegessen, daß alle nach einem Monat erschöpft und um viele Pfunde schwerer voneinander Abschied nehmen.

Elisa aber folgte Silvano nicht. Sie erzog die beiden Söhne mit großer Liebe und großer Strenge, und anstatt sich in ihren Kummer über den abwesenden Ehemann zu vergraben, kam sie auf die Idee, im Haus ihrer Eltern einen kleinen Laden zu eröffnen. Die Frauen des Dorfes waren erleichtert. Endlich mußten sie nicht mehr den langen Weg hinunter- und hinauflaufen, um Pasta, Polenta, Brot und alle anderen Lebensmittel zu besorgen. Es war ein guter Entschluß. Als Silvano endlich aus Amerika zurückkam, nun nach den Maßstäben des Dorfes ein wohlhabender Mann, konnten sie mit dem gesparten Geld ein Haus bauen, das erste neu erbaute Haus in diesem Ort. Unten in den Kellerräumen neben der Garage eröffnete Elisa einen neuen, größeren Laden, sie erweiterte das Sortiment, und Silvano stieg ins Geschäft ein. Er besorgte die Einkäufe beim Großhändler, holte frühmorgens das Brot vom Bäcker im Nachbarort, schleppte die Kisten mit Gemüse in den Laden, und nachmittags ab fünf stand er hinter der Theke, schnitt geduldig Scheibe um Scheibe Mortadella, Schinken und Salami, so geduldig, wie er früher in Amerika Meter um Meter Straßen geteert hatte. Elisa aber blieb die uneingeschränkte Herrscherin des Vormittags. Graziös, kokett und voller Witz schwätzte und lachte sie mit den Frauen des Dorfes. Manche kamen mehrmals am Tag. Entweder weil sie während des ausgiebigen Geplauders vergessen hatten, was sie eigentlich einkaufen wollten, oder weil es ihnen in ihren dunklen Küchen zu langweilig wurde. Tag für Tag erfuhr Elisa alle Neuigkeiten des Dorfes, und nur zu gern gab sie weiter, was ihr zu Ohren kam.

Sie genoß es, ihre Erzählungen wortgewandt auszuschmücken und zu einer besonderen Pointe zu führen, während sie ihre Worte gebärdenreich unterstrich. Elisa war nicht nur eine Meistererzählerin, sie war auch eine Meisterin des Verhörs. Sie hielt ihre Opfer so lange in ihrem Bann, bis sie auch die kleinste Einzelheit erfahren hatte. Ihre unbändige Neugier tarnte sie durch Mitgefühl und gute Ratschläge. Alles, aber auch alles wurde in Elisas Laden besprochen und verhandelt, und oft genug konnte man das Gezwitscher und Gelächter der Frauen bis auf den Platz hinaus hören. Dort saßen die alten Männer stumm und ergeben und schüttelten die Köpfe.

Manchmal erzählte mir Elisa auch die Geschichte ihrer beiden Söhne Ernesto und Ermanno. Auch diese Geschichte beginnt mit einer ausgiebigen Klage, denn wie schwer muß es gewesen sein, die beiden Söhne damals, als Silvano in Amerika war, allein aufzuziehen. Ernestos Lebensgeschichte ist eine Erfolgsgeschichte und bleibt immer gleich. Er studierte, wurde Ingenieur und heiratete die einzige Tochter eines reichen Pulloverfabrikanten aus dem Nachbarort. Er baute ein noch schöneres Haus als seine Eltern unten im Dorf, mit einem Schwimmbecken in einem parkähnlichen Garten und einem Badezimmer aus weißem Carrara-Marmor. Er erfüllte auch alle weiteren Bedingungen eines beneidenswerten italienischen Familienlebens, einschließlich des Sommerurlaubs auf Sardinien. Es schien keine Sorgen im Leben des Ernesto Baldocchi zu geben, wäre da nicht dieser winzige Mangel gewesen. Er hatte keinen Sohn, sondern seine schöne und tüchtige Frau hatte ihm nur eine Tochter geboren. Warum keine weiteren Kinder folgten, wußte auch Elisa nicht zu erklären. Eine Tochter aber war immer noch in keiner Weise einem Sohn ebenbürtig.

Ganz anders verlief die Lebensgeschichte Ermannos. Dreizehn Monate alt sei er erst gewesen, klagt Elisa, als sein Vater verschwand, er habe ihn gar nicht gekannt, als er sechs Jahre später wieder auftauchte. Der abwesende Vater war wohl der Grund, warum Elisa ihren Jüngsten mit doppelter Liebe überschüttete. Obwohl Ermanno inzwischen die Vierzig längst überschritten hat, ist er Elisas Baby geblieben. Noch immer kauft sie ihm mit Mickymäusen bedruckte Unterhosen und verwöhnt ihn mit seinen Lieblingsspeisen. Ihre Stimme wird andächtig, wenn sie von ihm erzählt, von seiner stattlichen Figur, seinen welligen schwarzen Haaren, den feinen Anzügen, dem eleganten Auto und seinem Erfolg als Architekt, von seinen wohlhabenden, gebildeten und einflußreichen Freunden, die ebenso elegant und liebenswürdig auftreten wie er und sie umschmeicheln und verehren.

Doch Ermanno, und das war lange Zeit ihr unausgesprochener Kummer, heiratete nicht. Er blieb im Hause seiner Eltern wohnen, machte keine Anstalten, eine Verlobte zu finden, und brachte statt dessen einen kleinen braun-weiß gefleckten Hund mit langen Ohren ins Haus, der ihm zugelaufen war.

Er war gerade vierzig geworden, als er eines Tages ganz unerwartet seinen Eltern ein junges Mädchen vorstellte, Vittoria. Sie stammte aus Rom, war zweiundzwanzig Jahre alt und studierte Portugiesisch. Überraschend schnell zog sie zu Ermanno ins Haus seiner Eltern. Von diesem Tag an hielt sie alle in Atem. Kein Mädchen weit und breit war so quirlig, lebenslustig und selbstbewußt wie Vittoria mit ihren langen braunen Locken, den kürzesten Röcken und den verführerischsten Blicken. Zur Hochzeit kam nur die Mutter aus Rom, von einem Vater war nicht die Rede.