Feuertaufe - Frank Fröhlich - E-Book

Feuertaufe E-Book

Frank Fröhlich

0,0
0,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kurzinhalt: Soll er wieder töten? Diese Frage kreist Falk Sturm im Kopf, seit ein Unterhändler den Ex-Polizisten für den Kampf gegen Terroristen angeworben hat. Gleichzeitig fliegt der Afghane Timur nach Deutschland, um den Tod seiner Familie durch einen Anschlag zu rächen. Beide Männer verknüpfen ihr Schicksal, bis einer dem anderen als Todfeind gegenübersteht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 618

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Frank Fröhlich

Feuertaufe

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 4

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil 2

Teil 3

Impressum neobooks

Teil 1

Feuertaufe

Einen herzlichen Gruß an jene, deren Namen ich unbeabsichtigt verwendet habe, ohne dass ihr Charakter zutreffend dargestellt wurde.

Weiterhin bedanke ich mich bei allen, die recherchierten und mich mit Informationen versorgten, sei es aus dem Internet, ihrem Alltag, Berichten von ihrer Zeit im guyanischen Dschungel oder hinter Gittern: Ulf Haizmann, Christian Busch, Kai Bergen, Natascha Otten, Birgit Hutmacher, Martin Winterberg, Ralf Bach, Extrablatt Siegburg.

Dem Hundesalon Schickobello in Köln für die freundliche Genehmigung, den Namen verwenden zu dürfen.

Allen, die daran geglaubt haben, dass ich eine Geschichte zu Papier bringe und mich dahingehend bestärkten.

Zu guter Letzt ein besonderer Dank an Zsuzsa, ohne deren Rückendeckung dieser Roman nicht entstanden wäre und deren Namen ich als einzigen bewusst verwendet habe.

Prolog

Karl Beckers Augen flehten in Todesangst, die Lippen bebten und er stammelte Gott um Hilfe an. Schweiß drang ihm aus allen Poren, salzige Bäche strömten die Halbglatze hinunter, rannen über das Stoppelkinn und tropften auf das Messer an seiner Kehle. Der Ingenieur kniete am Höhlenboden, spitze Steine drückten durch den Hosenstoff und die schmutzige Jacke schlotterte um seinen abgemagerten Körper. Uringestank stach in der Nase. Er hatte sich besudelt und ein Fleck sickerte zwischen den Beinen hindurch. Die Kerle ringsum lachten – Gott nahm heute seinen freien Tag.

Geschrei erklang, während Bewaffnete ein schwarzes Transparent auseinander falteten und an die Felswand spannten. Darauf prangten in weißer Schrift Parolen über einem Schwert. Funken knisterten, ein Mann verlegte Kabel zu einer Autobatterie, die eine Videokamera und zwei Scheinwerfer speiste. Das Licht blendete Karl, er drehte den Kopf und beobachtete seine Peiniger. Die Kämpfer trugen Turbane oder den runden Pakol, die traditionelle Kopfbedeckung der Tadschiken. Dazu lange Mäntel und dicke Steppwesten, vermischt mit Tarnkleidung, die aus Uniformteilen verschiedener Nationen zusammengewürfelt war. Sie hielten Sturmgewehre in den Händen, präsentierten Panzerfäuste und palaverten in ihrer Sprache, von der Karl nichts verstand. Seinen Übersetzer hatten die Entführer mit Fußtritten verjagt, als sie den Firmenwagen vor einigen Tagen in den afghanischen Bergen stoppten und beide aus dem Auto zerrten. Den Dolmetscher benötigten sie nicht, ein Stoß mit dem Gewehrkolben bedurfte keiner Übersetzung.

„Halte still, du Schwein“, zischte ein Mann, der hinter ihm stand und Speicheltropfen sprühten. Der Bewacher hatte zangengleich den Ingenieur am Nacken gepackt und presste ihm die Klinge an den Hals. Es rumorte in Karls Darm, als ob ein Heer Wanderameisen durchmarschierte; Blasen bedeckten seine Füße und die Muskeln schmerzten von der tagelangen Odyssee. Draußen heulte der Wind um die Felsen, die dünne Gebirgsluft quälte seine Lungen und Karl zitterte.

Eine Zeit lang dachte er, dass die Bande politische Forderungen erpressen wollte und sich dann mit Lösegeld zufriedengab. So lief es schließlich immer, wenn Europäer im Ausland verschleppt wurden. Einzelheiten drangen nie an die Öffentlichkeit, aber jeder wusste, das Geld floss. Bis gestern ein neuer Stammeskrieger zur Gruppe stieß, der anders war als die übrigen Kämpfer. Während sich die Entführer teilnahmslos verhielten und den Gefangenen als Objekt betrachteten, glühte Hass aus seinen Augen.

Das Gerede verstummte, nur Fliegensummen und das Klappern von Ausrüstungsgegenständen brach die Stille. Der Krieger hielt Karls Gesicht in die Kamera und der Ingenieur betete, dass die Banditen nur eine Videobotschaft filmten, um sie als Druckmittel einzusetzen. Aber als der Fremde in Deutsch eine Erklärung verkündete, wusste er den Tod nahen. Die letzten Gedanken galten seiner Frau, den Jungs und Lisa, dem Nesthäkchen. Glühender Schmerz zog durch seinen Hals und explodierte im Gehirn, als Stahl die Versorgung mit Blut und Sauerstoff durchtrennte. Karl Becker fiel in die Dunkelheit.

Der Leichnam sank in den Staub, gleich einer Marionette, der jemand die Lebensfäden abschnitt. Scherzend bauten die Bewaffneten Kameraausrüstung und Lampen ab, während der Mörder sein Messer an der Kleidung des Toten sauber wischte. Als die Gruppe aufbrach und über einen Felspfad verschwand, stürzten Fliegenschwärme auf die Blutlache. Der Mann mit den hasserfüllten Augen blickte zur Höhle zurück und nickte zufrieden – Karl Becker sollte das erste Opfer einer langen Reihe werden.

Kapitel 1

Zwei Wochen später

Die Gefangenen trampelten über die Eisentreppen und ihre Schritte sandten ein hohles Echo aus, das sich entlang der Balustrade fortsetzte. Stufen und Geländer vibrierten, dass es schien, als drohte der grüne Lack abzusplittern. Der Rhythmus wirkte provozierend und den Wärtern stellten sich die Nackenhaare auf. Uniformierte Männer und Frauen bewachten den Einmarsch und die Häftlinge rochen ihre Furcht. Neben Angst klebte Putzmitteldunst in der Luft; Hausarbeiterkolonnen schrubbten jeden Tag das Gebäude, wienerten Türen blank und scheuerten den Boden, über den der Marschtritt dröhnte. Die Justizvollzugsanstalt Köln, im Volksmund Klingelpütz genannt, hallte vom Geschrei der Knastinsassen wider, die aus der Freistunde zum Einschluss zurückkehrten. Sie waren auf dem Hof rumgelaufen, hatten Sport getrieben, Geschäfte getätigt oder einfach nur die letzten Strahlen der herbstlichen Abendsonne genossen. Die Hauptstadt des karnevalistischen Frohsinns, des Klüngels und der Skandale beherbergte auch eine ernst zunehmende Schattenseite, deren Mitglieder die Haftanstalt bevölkerten. Das Gefängnis breitete sich im Kölner Norden aus, im Stadtteil Ossendorf, bildete aber von der Größe her eine eigene Gemeinde. Ein Block aus roten Backsteinen reihte sich an den anderen. Dazwischen standen eine Kirche, Verwaltungsgebäude, Werkstätten und eine Bibliothek, alles umschlossen von der fünf Meter hohen Mauer, die unzählige Stacheldrahtrollen sicherten. In Abständen erhoben sich Wachtürme mit schräg nach unten geneigten Fenstern aus Sicherheitsglas, von wo die Beamten jeden Winkel einsahen. Aufmerksam beäugten sie die Häftlinge, bis der Hof geräumt war. Statt des blauen Overalls trugen alle Knackis Sportklamotten, meist Markenware, schließlich wollte man etwas gelten. Zwei Ausstattungen Freizeitkleidung erlaubte die Anstaltsleitung den Insassen, und da es Sonntag war, ließen sie den verpönten Blaumann im Schrank. Die Männer verteilten sich auf die Gänge und warteten vor den Zellentüren auf den Einschluss. Tätowierte Muskelpakete beugten sich über das Geländer und schauten durch das Fanggitter, das Springer abhielt, die Haftanstalt vorzeitig in einer Holzkiste zu verlassen. Rufe und Abschiedsworte flogen Kollegen zu, als ob der Kumpel für lange Zeit verreiste und man sich für eine Ewigkeit nicht wiedersah. Obwohl sie in Wirklichkeit für Jahre ortsgebunden waren und noch viele gemeinsame Hofrunden zu drehen hatten. Andere Häftlinge lehnten an den gelblichen Wänden, stützten sich mit einem Bein ab und fügten den zahlreichen Schuhabdrücken neue Stempel hinzu. Justizbeamte eilten umher, öffneten Türen, ließen die Gefangenen eintreten und sperrten sie ein. Der Bau summte wie ein Bienenstock. Allerdings waren Bienen fleißige Tiere, dagegen klang der Block wie ein Wespennest – gereizt und aggressiv. Sprachen aus vielen Ländern ertönten, die Einrichtung war multikultureller angelegt als der Babylonische Turm. Auch die Palette der Delikte war breit gefächert. Die Berufssparten reichten vom Betrüger über Einbrecher und Drogenhändler hin zum Autoknacker, von Eierdieben bis zu Mördern war fast alles vertreten. Nur Sittiche – Sittlichkeitsverbrecher – befanden sich nicht in ihren Reihen, und falls doch, hielten diese aus Angst den Mund. Dafür wusste jeder, dass sich sogar ein ehemaliger Polizist unter ihrem Dach aufhielt.

Falk Sturm wartete vor der eisernen Zellentür darauf, dass ein Schließer kam, um ihn einzulassen. Wie ein Athlet trippelte er auf der Stelle, führte Boxbewegungen aus und verschwitzte seine Kleidung. Der schwarze Jogginganzug und halbhohe, ebenfalls schwarze Sportschuhe ließen an einen Profisportler denken. Doch für ihn kam höchstens ein Medaillenrang bei der Knastolympiade in Betracht, falls es so was gäbe. Dann gelangte der Justizbeamte endlich zu ihm, steckte den Knochen ins Schloss und entriegelte es rasselnd. Falk betrat die Bude und Darko, der übergewichtige Bosnier und Zellenkumpel schlenderte hinterher. Hinter ihrem Rücken krachte die Tür zu und der Riegel schnappte ein.

Wohnklo nannten die Gefangenen ihre Zellen. An der linken Wand stand ein Etagenbett, von dessen Eisengestell der Lack abplatzte und gelegentlich Roststaub rieselte, wenn der Dicke auf die Matratze plumpste. Das Bett beanspruchte den meisten Platz auf den wenigen Quadratmetern und bog sich bereits durch. Weiterhin besaßen sie zwei zerschrammte Stühle, einen Tisch mit Kaffeeflecken sowie die Spinde, in denen sich stapelte, was ein Häftling im Laufe der Jahre ansammelte. Alles in der Knastschreinerei zusammengezimmert und mit Klarlack gespritzt. Auf dem grauen Linoleumboden verliefen Kabel von Mehrfachsteckdosen zu zahlreichen elektrischen Geräten, welche die weitverzweigte Familie des Bosniers in den Knast geliefert hatte. Die Besitztümer von Falk fanden dagegen in einem abgewetzten Seesack Platz, wobei sich das fadenscheinige und mit Flicken versehene Gepäckstück hervorragend der Umgebung anpasste.

Denn auf der ehemals weiß getünchten Zellendecke blühten großflächige Wasserkränze aus. Ein abgelehnter Asylbewerber in der Etage über ihnen protestierte vor sechs Monaten vergeblich gegen die Abschiebung, in dem er die Toilette mit Klopapier verstopfte und seine Zelle überflutete. Wenn der neue Bewohner oben seine Hanteln zu Boden polterte, schwebten Salze der Ausblühungen in ihr Essen. Darko redete es dann lachend als Parmesankäse schön, während er mit dem Besen an die Decke hämmerte, deren Oberfläche mittlerweile mehr Dellen als ein Golfball aufwies. Die Wände waren vergraut und Haarrisse durchzogen den Putz wie ein Spinnennetz. In ihre Bude kam eben keine dicke Fernsehtante mit ihrem Team und brachte einen frischen Anstrich herein. Dafür bedeckten Poster von halb nackten Weibern auf Luxuslimousinen den Großteil der Flächen. Blondinen in Reizwäsche drapierten ihre Körper auf Motorhauben, auch viele Schönheiten ganz ohne Fahrzeug und Kleidung rekelten sich auf Hochglanzdruck. Schlampen und teure Autos waren beides Dinge, die Knackis wie Darko geil fanden. Geil und unerreichbar weit weg. Krater von Nagellöchern deuteten darauf hin, dass Legionen von Kurgästen die gleiche Leidenschaft hegten und die Wände verziert hatten. Mit Ausnahme von Sonderlingen wie Falk Sturm, der nichts zur Dekoration beitrug.

Ein Kalender fehlte, beide wussten so, welches Jahr gerade ablief. Tage, Wochen oder Monate spielten keine Rolle, der Entlassungstermin lag fern.

Die Einrichtung komplettierte eine Ecke mit Kloschüssel und Waschbecken, von einem Duschvorhang verhüllt, der einen Hauch Privatsphäre ermöglichte. Glücklich schätzten sich die Häftlinge, die sich ihre Zelle nur zu zweit teilen mussten. Oft war die Anstalt überbelegt und die Verwaltung stopfte drei bis vier Insassen in ein Loch. Die Luft verdickte sich dann mit den Gerüchen von Menschen auf engen Raum. Es stank nach Schweiß, Zigaretten, Fürzen, Zwiebeln, Knoblauch, Füßen, angebranntem Essen und der Toilette aus der Ecke. Ganz abhängig davon, mit wem man zusammenlebte, aus welchem Kulturkreis derjenige stammte und ob er überhaupt Kultur besaß. Oder die Nachbarn störten, deren Geräusche durch die Wände drangen. Denn waren die Außenmauern selbstverständlich dick, hatte man bei den Zwischenwänden beim Bauen am Material gespart. Der übliche Pfusch, der überall dort gastierte, wenn es galt, die öffentliche Hand übers Ohr zu hauen. So wummerten Musikanlagen und Fernsehgeräte schallten. Schreie, Gelächter, Schnarchen und die Gebete der Frommen, meist Muslime, krochen ins Ohr und erschwerten es Falk stets, einen ruhigen Gedanken zu fassen.

Er hatte die Stunde im Hof genutzt und etliche Kilometer im Kreis gejoggt. Laufen hielt nicht nur seinen Körper fit, sondern auch den Geist, da kein Insasse mit ihm Schritt halten konnte, um ihn mit Schwachsinn vollzutexten. Der große, durchtrainierte Mann packte zwei Kanister, die früher mit Seifenlauge, jetzt mit Sand gefüllt waren und wie die Kolben eines Motors pumpten seine Arme die Gewichte hoch. Bei jeder Bewegung atmete er gleichmäßig aus und die Fasern seines Jogginganzugs mit dem Emblem der springenden Raubkatze knisterten. Darko holte ein Pfund Kaffee, Bombe genannt, unter seiner Jacke hervor und belud die Maschine. Er nutzte den Hofgang für wichtigere Dinge, als die Zeit mit Körperertüchtigungen zu vertrödeln. Kaufen und verkaufen, handeln und tauschen, lautete sein Motto und der dicke Glatzkopf agierte wie ein geborener Geschäftsmann. Allerdings brachte dieses Talent ihn hinter Gitter, da er in Freiheit Waren versilberte, die anderen gehörten. Im Knast wiederum bescherte diese Begabung beiden ein angenehmeres Leben, da Falk für Geschäfte zu gutmütig war und eher alles an Bedürftige verschenkt hätte. Andererseits, falls die Gerüchte stimmten, konnte der Mann ziemlich ungemütlich werden, wenn es jemand tatsächlich auf Streit anlegte. Nachdem die Kaffeemaschine brodelte und Aromen ihr Appartement erfüllten, schnappte der Bosnier die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Sollte sich der Kumpel alleine plagen, er flegelte sich lieber auf dem Bett und zappte durch die Kanäle.

Falk wechselte die Übung und hob die Kanister in Zeitlupe mit gestreckten Armen an. Ein wohliges Brennen durchzog die Schultern, als Blut in den Adern pulsierte. Schweiß lief von den dunkelblonden Haaren über das Gesicht und ätzte seine grünen Augen. Er keuchte und die Lunge gierte nach Sauerstoff. Jahraus, jahrein folgte täglich der gleiche Ablauf, die Haftzeit brachte ihn nicht davon ab, in Form zu bleiben. Die Ertüchtigung schützte ihn in der ersten Zeit, sonst hätten ihn die anderen Knackis fertig gemacht. Denn der ehemalige Polizist im Block – das war er.

Anfangs reagierte die Meute feindselig und er musste manche Auseinandersetzung ausfechten, um die Verhältnisse zu klären. Mittlerweile akzeptierten ihn die Knastbrüder, aber die alten Gewohnheiten behielt er bei. Vielleicht half ihm die Fitness auch in Freiheit. Noch vor einer Woche schien diese in weiter Ferne, bis der Fremde letzten Montag auftauchte. Seit Jahren verirrte sich kein Mensch in die Anstalt, um Falk zu besuchen. Eine Familie, die den Namen verdiente, gab es nicht mehr und die sich Freunde nannten, wandten sich nach seiner Tat von ihm ab. In den ersten Monaten der Inhaftierung ließen sich noch sein Anwalt und ein paar neugierige Reporter sehen. Als der Prozess endete und der Rechtsverdreher ihm jeden Cent abgeluchst hatte, während die Schreiberlinge sämtliche Information auspressten, verkam er zu einem vergessenen Mann. Bis sich nach langer Zeit jemand an ihn erinnerte und den Fremden schickte, ein Angebot zu unterbreiten.

Alexander Kraft hieß der Unterhändler. Falk kam er wie ein Blender vor, ein schön gestrickter, wie man hier sagte. Dabei mochte dieser mittels Charme in der Frauenwelt punkten, doch ihn wickelte man nicht ein, da konnte einer den Freundlichen mimen, wie er wollte. Er würde sich nicht von dem Typen flachlegen lassen. Dennoch, seitdem grübelte er ohne Unterlass und der Entlassungstag rückte in greifbare Nähe. Aber wie hoch war der Preis, den er dafür zahlen musste? Rat durfte er sich keinen holen, auch nicht bei seinen wenigen Freunden im Block, es war verboten, darüber zu sprechen. Das hatte ihm der Fremde als Vertreter einer geheimnisvollen Organisation eingeschärft. Morgen kam der Mann wieder, die Woche Bedenkzeit lief ab, und dann fiel die Entscheidung über Falks Zukunft.

Darko riss ihn aus den Gedanken und deutete mit seinen Wurstfingern auf die Mattscheibe. Die Sendung zeigte zerfetzte Autos und auseinandergerissene Häuser, von denen Kabel und Leitungen wie Gedärme herabhingen. Brandherde flackerten auf und Qualm waberte in der Luft. Blutende Menschen flüchteten durch das Inferno und staubbedeckte Rettungskräfte trugen Verletzte weg; zwischen den Trümmern lagen Tote, deren Angehörige in die Kamera klagen. Aber keine Naturkatastrophe traf sie, weder Erdbeben, Tornado oder Tsunami rasten über das Land – der Schrecken von Menschenhand wütete als Bombenanschlag. Solche Bilder wiederholten sich seit Jahren wie ein gesetzmäßiger Kreislauf gleich dem Wechsel vom Tag zur Nacht. Es folgten Sequenzen, in denen Bewaffnete in einem Militärcamp trainierten, zu leierndem Singsang unter Stacheldraht her robbten und mit Maschinenwaffen schossen. Ihnen schlossen sich bärtige Turbanträger an, die Hass predigten und Drohungen ausstießen. Dann informierte der Filmbericht über das letzte Opfer: Dem Ingenieur aus Deutschland setzte ein Islamist vor laufender Kamera ein Messer an die Kehle und kündigte weitere Vergeltung an. An der Stelle brach die Reportage ab und der Moderator im Studio sprach seinen Kommentar.

„Mann, gerade jetzt, wo es interessant wird“, meckerte Darko und erhob seine Massen von dem protestierenden Bett. Er zockelte zu der vollen Kaffeekanne und stellte sie keuchend wie ein Schwerarbeiter auf den Tisch. Der Bosnier goss zwei Tassen ein und wechselte in einen Musiksender, wo sich luftig bekleidete Schönheiten zur Musik bewegten und an einen mit Ketten behangenen Rapper schmiegten. Der Sänger saß auf der Motorhaube eines Amischlittens, fuchtelte mit den Händen vorm Gesicht und schnitt grimmige Grimassen. Darko schaltete den Ton weg und überließ sich den visuellen Eindrücken. Seine Augen glänzten beim Anblick der tanzenden Bikiniweiber und die Fantasie trug ihn weit aus dem Zellenblock, bis Falk den Kumpel in die Gegenwart zurückholte.

„Wovon handelte eben die Sendung?“ Er hatte nur den Schluss gesehen und trat an den Tisch. Mit einem fleckigen Tuch wischte er den Schweiß vom Gesicht, nahm seine Tasse mit dem angeschlagenen Rand und nippte von dem Gebräu.

„Seit wann interessiert dich so was, ist dir doch sonst egal, was draußen läuft? Ging, glaube ich, um Afghanistan, genau hab ich es nicht mitbekommen. Nur dass die Brüder mal wieder sauer auf den Westen sind und Action ankündigen. Ach, und um einen Typ, der da gearbeitet hat, dem haben sie die Rübe abgeschnitten. Aber das zeigen die leider nie.“ Der Bosnier pustete in die Tasse, dann schlürfte er genüsslich.

„Wie kann man so was sehen wollen, das ist doch pervers.“ Falk horchte bei dem Wort Afghanistan auf. Das Bild, wie der düstere Stammeskrieger sein Messer an die Kehle des Opfers setzte, hatte sich ins Gehirn eingebrannt. „Das arme Schwein tut mir leid. Geht runter, um zu helfen oder um seinen Job zu machen und zum Dank schlachten sie ihn ab. Wahrscheinlich hinterlässt der Mann auch noch Familie.“

„Aber was hat er da zu suchen? Die Brüder sind total krass drauf, das weiß doch jeder. Wie es in Bosnien geknallt hat, kamen Gotteskrieger aus allen möglichen Ländern, um zu kämpfen. Die haben nicht lange gefackelt und den Serben ganz schön eingeheizt. Gefangene machen die nicht.“

Im Musiksender wechselte der Titel, Menschenmassen hüpften bei einem Konzert in Ekstase und feierten. Egal, ob auf der Welt gerade eine Tragödie passierte, es verkam zur Randnotiz – die Erde drehte sich weiter und mit ihr das Leben. Falk sah seinen wohlgenährten Kumpel mit schiefem Lächeln an.

„Wusste nicht, dass du mitgemischt hast, als es bei euch rundging. Sorry, es fällt mir schwer vorzustellen, wie du mit einem Gewehr durch die Wälder rennst. Eher geht ein Bischof in den Puff. Obwohl …“

„Blödmann. Ich fuhr ein paar Mal hin und lieferte den Milizen Ausrüstung, die sie brauchten, wie Nachtsichtgeräte und Tarnklamotten. Räumte hier die Army-Shops leer und vertickte denen alles. Krieg ist was für Idioten, schlaue Leute verdienen daran.“

Womöglich hatte der Dicke recht, überlegte Falk und dachte an seine Geschichte. Jahrelang hatte er den Kopf für andere hingehalten, beschützt und geholfen, aber als er Hilfe brauchte, ließ man ihn im Regen stehen. Ach was, Regen – es war eine Flut, die sein Leben wegspülte. Die Gerechtigkeit versagte und schließlich eskalierte die Situation. Falk landete vor Gericht und für Jahre schlossen sich die Tore hinter ihm.

Er fand sich damit ab und richtete sich auf ein Dasein innerhalb der Mauern ein. Allerdings, wenn er das Angebot des Fremden annahm, versprach dieser, würden sich die Gittertüren bald öffnen. Falk befürchtete, dass er dann genauso schnell wieder zwischen die Fronten geriet.

„Nicht mal zehn Pferde könnten mich da runterkriegen, um keinen Preis. Da ist es sogar im Knast noch besser. Diese Typen sind irre. Die spucken auf eure Hilfe und wollen in ihrer Steinzeit bleiben, nur ihr kapiert das nicht.“

Darko schenkte sich nach und Falk bedeckte seine Tasse mit der Hand, für heute hatte er genug Koffein konsumiert und würde sowieso schlecht schlafen. Er dachte an die Worte des Fremden und sah seinen Kumpel an.

„Ich glaube, da spielen viele Interessen eine Rolle. Um reine Aufbauhilfe geht es anscheinend nicht. Das ist ein Kampf zwischen den westlichen Staaten und Terroristen. So stellt man es jedenfalls dar. Ob es stimmt? Wie sagte dieser Politiker – habe vergessen, wie er heißt – unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt.“

Falk zitierte mehr den Stuss aus der dünnen Zeitung, die ihm der Werkmeister in der Schlosserei während der Pause überließ, als daran zu glauben.

„Freiheit? Was für eine Freiheit? Schau dich um, wo du bist.“ Darko lachte und breitete die Arme aus. Sein Bauch schwabbelte vor Vergnügen. „Scheiß drauf, was geht uns das an? Wir sind hier drinnen und müssen sehen, dass wir unseren Arsch an die Wand bekommen. Was kümmert uns da die Politik.“

Falk stellte die leere Tasse ab. Der Bosnier schnappte danach und drehte sie mit einer schnellen Handbewegung um, schüttete den Satz auf einen Teller und las ihm die Zukunft. Der Dicke wollte ihn aufheitern und brabbelte von der Begegnung mit einer wunderschönen Frau. Das Übliche.

Falk wusste, dass seine Aussichten nicht von ein paar nassen Krümeln Kaffeepulver abhingen, und machte noch Liegestütze und Kniebeugen. Dann beendete er das Programm, zog Jacke und T-Shirt aus und hängte beides über einen Stuhl. Schweiß glänzte auf den Muskeln und die Adern traten hervor. Er nahm eine Flasche Duschgel aus seinem Spind und wusch sich an dem winzigen Waschbecken in der Toilettenecke. Mit einem Kamm strich er die feuchten Strähnen nach hinten und schlüpfte in ein frisches Unterhemd. Der Dicke brutzelte inzwischen auf einem Zweiplattenkocher leckere Happen aus der Zusatzverpflegung, die sie sich von ihrem Einkaufskonto gönnten. So lautete der Deal: Der Bosnier organisierte die Verpflegung und kümmerte sich um deren Zubereitung, während Falk ein wachsames Auge auf seinen Kumpel hielt. Sonntags verweigerten sie die Anstaltsverpflegung, die Küche war am Wochenende unterbesetzt und die Köche verwerteten Reste. Falk nannte den Fraß „Chronik der Woche“. Wolken verdampfenden Fetts stiegen empor, er öffnete das Fenster und die Schwaden zogen durchs Gitter in die Dämmerung hinaus. Sie strichen um das Spinnennetz in der Ecke, worin die haarige Bewohnerin auf Insekten wartete, die der Dicke gelegentlich hineinwarf. Falk lehnte am Fensterbrett und achtete darauf, nicht mit dem Gesicht in das klebrige Kunstwerk zu geraten. Er schaute auf die Lichter der Wohnhäuser, die jenseits der großen Mauer mit der Stacheldrahtkrone standen.

Draußen bellten Hunde, von Anwohnern Gassi geführt. Tauben gurrten sich auf der Regenrinne in den Schlaf und eine Straßenbahn juckelte in Gemütlichkeit vorbei. Funken knisterten auf der Oberleitung und tanzten wie Irrlichter. Eine Handvoll Fahrgäste verlor sich in der Bahn, den Sonntagabend verbrachte die Bevölkerung lieber in den eigenen vier Wänden, wie Falk beobachtete. Glückliche Menschen saßen in ihren Wohnzimmern vor der Mattscheibe, sprachen miteinander und aßen. Andere brachten die Kinder zu Bett oder liebten sich hinter Schlafzimmervorhängen. Die Bewohner genossen die letzten Stunden des freien Tages; morgen begann eine neue Woche und wahrscheinlich wussten sie, was diese bringen würde.

Ihm kam das Zitat in den Sinn, dass der Fremde in den Raum geworfen hatte: Dass die Friedlichen nur ruhig schlafen können, wenn harte Männer bereit sind, über ihren Schlaf zu wachen. In der Art, wie bissige Hunde eine Herde Schafe vor den Wölfen bewahrte. Wobei er nicht einmal wusste, ob er Hund oder Wolf war. Auf jeden Fall kein dummes Schaf. Denn mit solchen Parolen brauchte man ihm nicht mehr zu kommen, diesen Teil seines Lebens hatte er hinter sich gelassen. Doch eines Tages würde er wieder in Freiheit sein und manchmal, in seltenen Momenten, empfand er sogar Vorfreude darauf. Aber sobald Falk nachdachte: Er besaß keinen Plan, wie der weitere Lebensweg aussah; kein Ziel, für das sich zu kämpfen lohnte.

Draußen schwoll die Lautstärke an, die Gefangenen pendelten. Sie schwangen an Nylonschnüren befestigte Konservendosen, in denen Tauschobjekte oder Nachrichten lagen, mit Geschrei hin und her, bis sie das Fenster des Adressaten erreichten.

Falk kotzte es an. Jeden Tag der gleiche Ablauf. Schon vier Jahre lang und laut Urteil auch die kommenden vier. Deprimiert kletterte er auf das Etagenbett, ihm war der Appetit vergangen, während der Dicke geräuschvoll schlemmte.

Nach dem Essen saß Darko noch am Tisch und schrieb einige Zeilen an seinen Familienclan, bevor er ebenfalls in die Koje gehen würde. Falk lag auf dem durchgelegenen Bettenrost, den Kopf in die verschränkten Hände gelegt und starrte an die Decke. Überreste zerklatschter Mücken klebten auf dem vergilbten Anstrich. In den Ecken stritten sich Staubflusen um die besten Plätze und schaukelten in dem Lufthauch, der von draußen durch das Gitterfenster drang. Ab und zu störte Darko seine Gedanken und fragte, wie er dieses oder jenes Wort schreiben sollte. Rechnen konnte der Bosnier wie ein Mathematikprofessor, aber Rechtschreibung musste Falk ihn erst lehren.

Dagegen gab es niemand, der einen Brief von ihm erwartete. Die zwei Menschen, die ihm was bedeuteten, lebten nicht mehr und er trug deren Abbilder im Herzen und als Tätowierung auf der Haut. Des Nachts, wenn er schlecht schlief, meist in den heißen Sommern, in denen sich die Bude in einen Backofen verwandelte, besuchten sie seine Träume. An den Tagen darauf war er bedrückt und fragte sich, wofür er noch weitermachte, mit dem seltsamen Ding, das Leben hieß. Dann lag er nächtelang wach und rätselte, ohne die Lösung zu finden.

So eine Nacht drohte heute. Ständig kreisten die Gedanken um das Gespräch, dass er mit dem Fremden geführt hatte. Terror und Kampf waren Worte, die dabei fielen. Worte, die ihm nichts bedeuteten, denn seine größte Schlacht endete schon in einer Niederlage. Aber jetzt klopfte eine Chance an die Tür und er musste nur zugreifen. Könnte er sich doch entscheiden. Seine Frau war ihm ein guter Ratgeber gewesen. Jenna traf die richtigen Entscheidungen, während Falk mit seinen Entschlüssen eher in die Scheiße packte. Vor allem, wenn er seiner Wut freien Lauf ließ.

Jenseits der Zellentüre lief jemand auf dem Gang, Schlüssel klimperten und ein Auge spähte durchs Guckloch. Der Beobachter hustete und die Schritte stahlen sich davon. Noch ging es ihn nichts an, was in der Außenwelt geschah, sie schien Lichtjahre entfernt von dem Loch, in dem er weilte und sich begraben vorkam. Vielleicht bekam er bald Gelegenheit, in das Geschehen einzugreifen. Allerdings hatte er sich geschworen, nie wieder zu töten. Schnarchen erfüllte die Bude und Federn quietschten, als der Dicke seine Massen auf der Matratze umdrehte. Falk sprang geräuschlos aus dem Bett, tappte barfuß zum Schalter und löschte das Licht. In der Dunkelheit schlich er ans Fenster und blieb dort als Schatten stehen. Mondlicht erhellte die Umgebung und Sterne funkelten zwischen dahintreibenden dunklen Wolken hervor. Stille legte sich über den Block, Scheinwerferfinger glitten die Mauern entlang und Falk erwartete eine lange, durchwachte Nacht.

Zur gleichen Zeit drehte ein Airbus der Turkish Airlines mit heulenden Turbinen im Nachthimmel über Leverkusen und dem Kölner Norden ein. Die Tragflächen streiften durch die Kissen der Luft und ein Windhauch schüttelte die Menschenfracht. Der Jet überflog das leuchtende Bayerkreuz und ließ das dunkle Band des Rheins samt Dom an Steuerbord, dann setzte der Pilot zum Landeanflug auf dem Flughafen in der Wahner Heide an. Die Maschine aus Istanbul war bis auf den letzten Platz besetzt und mit den Ausdünstungen eingepferchter, übernächtigter Menschen gesättigt. An Bord befanden sich Geschäftsleute, Urlauber und in Deutschland lebende Türken, die Verwandte besucht hatten. Sowie zwei Männer auf einer Mission.

Die beiden Reisenden bildeten ein ungleiches Paar: Der einundvierzigjährige Timur zählte das Doppelte an Jahren wie sein Gefährte Mehmet. Er trug dichtes, schwarzes Haar und zwischen fleischigen Lippen und einer kräftigen Nase prangte ein buschiger Schnauzbart. Alles an ihm geriet massig, er besaß die Gestalt eines Ringers und sein Brustkorb reichte für zwei Männer. Die Hände glichen Arbeitshandschuhen. Nur eins war schmal an ihm – die dunklen Augen, aus deren Schlitzen er die Umwelt fixierte.

Dagegen fielen dem schmächtigen Mehmet die Haare aus und er verdeckte die kahlen Stellen unter einer Wollmütze. Der Bart wollte auch nicht sprießen, nur vereinzelte Strähnen hingen auf Wangen und Kinn, was ihn als wahren Gläubigen sehr bekümmerte. Arme und Beine standen von seinem Körper ab, wie die dürren Äste eines toten Baumes und seine Muskeln waren von beeindruckender Winzigkeit. Die beiden Männer wirkten so verschieden wie Pat und Patachon, aber nicht das Geringste an ihnen war witzig.

Als der Flugkapitän die Landung ankündigte und die Beleuchtung abdunkelte, legte Mehmet die Zeitung beiseite, zog seine Brille aus und begann diese zu putzen. Mehrmals hauchte er auf die Gläser und rieb darüber, wie immer, wenn er nervös wurde und sie glichen bereits der Oberfläche einer abgenutzten Eislaufbahn. Ein Kleinkind plärrte ohne Unterlass und der Sitznachbar am Fensterplatz neben ihnen rodete Wälder im Schlaf. Timur sah an ihm vorbei nach draußen und erblickte Wolken über die Tragfläche wischen, an deren Ende das Positionslicht blinkte.

Eine Stewardess, die den Gang abschritt, tippte Mehmet an und forderte ihn auf, den Sicherheitsgurt zu schließen. Fliegen behagte ihm überhaupt nicht, aber noch schlimmer empfand er Berührungen aufdringlicher Frauen. Sie warf auch einen Blick auf Timur, den dieser erwiderte, worauf sie eilig verschwand. Dann schloss er die Augen und betete, dass die Einreise glattging. Andernfalls würden die Anführer der Dschihad Union schwer enttäuscht sein. Versagen bedeutete das Ende, doch scherte ihn der Tod wenig. Wenn die Mission erfolgreich endete, sollte es ihm ein Leichtes sein, diesen als Freund zu begrüßen.

Timur war Afghane, reiste jedoch mit gefälschtem Pass. Seine Organisation lieferte hervorragende Arbeiten, denn sie schickte bereits viele Kuriere mit Stoff für die Adern der Süchtigen in den Westen, um ihren Krieg zu finanzieren. Der Fälscher im pakistanischen Basislager hatte verwundert geguckt, als der Kämpfer seinen Namenswunsch angab, aber Timur bestand darauf. Jedes Detail seiner Reise erfuhr einen Sinn und würde sich zu einem großen Akt fügen.

Zum zweiten Mal in seinem Leben kam er nach Deutschland, wo er seine Jugend in einem Asylantenwohnheim verbrachte, während die Sowjets seine Heimat mit Krieg überzogen. Nun kehrte er zurück, um einen Auftrag auszuführen. Dabei handelte Timur weder aus patriotischen Gefühlen, noch kämpfte er für den Glauben. Obwohl gläubiger Moslem, sah er sich nicht als Gotteskrieger. Er trat an, eine Rechnung zu begleichen und unterschied sich damit von seinem Gefährten, der im Namen Allahs stritt.

Mehmet riss ihn durch würgende Laute aus seinen Gedanken, spuckte in die bereitliegende Papiertüte und Timur schmunzelte über den hitzköpfigen Mann. Eben stieg diesem nach der Aufforderung der Stewardess die Zornesröte ins Gesicht, augenblicklich leuchtete die Farbe der Scham. Der junge Türke hatte noch viel zu lernen, wusste nicht, wie wahre Wut aussah und wozu sie imstande war. Aber sein Novize würde es bald erfahren, denn er begleitete einen Lehrmeister der Rache.

Die Maschine kippte zur Seite, sie erblickten die Lichter des Flughafens und Timur lockerte seine Beine, die am Vordersitz klemmten. Er freute sich auf die Landung und darauf, endlich ein paar Schritte zu gehen. Die Behörden würden Mehmet bei der Einreise keine Schwierigkeiten machen, denn er kam in Köln zur Welt und besaß einen deutschen Pass. Doch gelangte er in seiner fremden Heimat nie wirklich an und hasste die Gesellschaft.

Die Motoren dröhnten, als der Pilot die Schubumkehr einschaltete; Baumreihen und Signallampen huschten vorbei, dann setzte das Fahrwerk rumpelnd auf. Eine ängstliche Frau stieß einen Schrei aus, Mehmet krallte seine Finger in die Polster und seufzte säuerlichen Atem. Nach dem Ausrollen dockte das Flugzeug an eine Gangway an und die Passagiere klatschten Beifall. Sicherheitsgurte klickten, Fluggäste sprangen auf, rissen ihr Bordgepäck aus den Staufächern und verließen hastig die Kabine. Der Urlaub endete und Zeit bedeutete wieder ein wichtiges Gut. Die zwei Männer folgten der Herde und reihten sich in die Schlange vor der Passkontrolle ein. Mit ihren Jeans, karierten Hemden und Lederjacken verschwanden sie optisch in der Menge, aus der Timur nur mit seiner Größe herausragte. Es ging stockend voran und Mehmet trat von einem Fuß auf den anderen, doch Timur strahlte Ruhe aus. Sein Lächeln, das er am Schalter präsentierte, war genauso falsch wie sein Name. Ein Beamter der Bundespolizei warf einen prüfenden Blick in ihre Ausweise, fand nichts zu beanstanden und winkte sie durch.

Am Rollband erhaschten die Gefährten ihre Reisetaschen, und da sie darin nur Unverdächtiges beförderten – weder Drogen, Waffen, noch teure Konsumgüter – durchquerten sie ruhigen Gewissens den Zoll. Eine Beamtin forderte sie auf, die Taschen auf einen Tisch zu stellen und zu öffnen. Die Frau zog sich Gummihandschuhe an und durchwühlte ihre Wäsche. Timur fasste seinen Gefährten am Handgelenk, fühlte den Puls rasen und mit einem Druck befahl er dem Türken, sich zu beherrschen. Die Zöllnerin fand bei der Durchsuchung neben Kleidung und Waschzeug lediglich das ausgeschöpfte Kontingent an Zigaretten und wünschte angenehmen Aufenthalt. Timur und Mehmet schulterten ihr Gepäck und trabten weiter. Eine Rolltreppe beförderte sie ins Erdgeschoss, ein paar Meter noch zu Fuß, dann öffnete sich zischend die Ausgangstür. Ein kühlerer Wind als in Istanbul wehte und in der Ferne spiegelten sich die Lichter der rheinischen Stadt in den Wolken. Zwischen den Sternen leuchtete der Mond auf die Erde. Die Gefährten nestelten Zigaretten aus einer der mitgeführten Packungen und rauchend schauten sie in Richtung der Großstadt. Sie waren an der ersten Etappe ihrer Mission angekommen. Während Mehmet ein Mobiltelefon aus der Jacke nahm, ging Timur einige Schritte abseits. Der Rächer blendete jedes Geräusch und alles Licht aus, bis zu einem stillen Ort in der Dunkelheit seines Herzens. Er atmete aus, öffnete die Augen und war bereit.

Kapitel 2

Alexander Kraft spannte die Waden an, drückte die Zehen durch und wippte mit dem Stuhl. Er befand sich in der Justizvollzugsanstalt Köln, in einem kleinen Besucherraum für Anwälte, der mittels Kargheit bestach. Das Möbelstück knarrte und ächzte. Sonst herrschte Stille in der Kammer, nur hinter den Wänden erklangen gedämpfte Geräusche des Knastalltags: Rufe ertönten, Schlüssel rasselten und Türen, die zuschlugen. Der Unterhändler fuhr sich mit der Zunge über seinen verbrannten Gaumen. Obwohl die Geschmacksknospen versengt waren, schmeckte er einen schalen Pelzbelag und verfluchte den Becher heißen Automatenkaffees. Dann hauchte er in die vorgehaltene Hand, verzog die Mundwinkel und rümpfte die Nase. Er fischte eine Tüte Pfefferminzbonbons aus der Jacke, wühlte darin und steckte eins in den Mund. Kraft schaute auf die stehen gebliebene Uhr an der Wand, zog den Ärmel seines grauen Sakkos hoch und warf einen Blick auf seine Omega Speedmaster, ein Geschenk seiner Frau zum letzten Geburtstag. Fünfunddreißig Jahre, wie die Zeit verging. Er seufzte und zupfte den Jackenärmel zurecht. Ihm blieben noch ein paar Minuten, seine Gedanken zu sammeln und sie auf den Auftrag zu konzentrieren. Dabei blätterte er in der Akte, die prall wie ein Versandhauskatalog vor ihm auf dem Tisch lag. Falk Sturm – las er und stützte sein Kinn in die linke Handfläche – achtunddreißig Jahre alt, ein Meter achtundachtzig groß. Außerdem brachte der Mann fünfundneunzig durchtrainierte Kilogramm auf die Waage. Alexander Kraft sah ein, dass bei den Sportarten, die Sturm beherrschte, jedermann gut beraten war, Zoff mit diesem Kerl zu vermeiden. Obwohl Falk Sturm keine Auseinandersetzung scheuen musste, führte er sich gut in der Haftanstalt. Jedenfalls suchte Kraft vergeblich disziplinarische Einträge. Vielleicht lag es auch daran, dass die Knackis sich nicht gegenseitig verpfiffen? Für Sturm wird es kein Wellnessaufenthalt sein, als ehemaliger Polizist stand er weder beim Justizpersonal noch bei seinen früheren Kunden gut im Ansehen. Der Gefängnispsychologe beurteilte ihn in seinem Gutachten als ruhig und besonnen, gar hilfsbereit, allerdings oft in sich gekehrt und manchmal schwermütig. Trotz der Schwere des Delikts gab der Seelenklempner eine positive Sozialprognose ab. Kraft runzelte die Stirn und vergaß für den Moment seine Phobie vor Faltenbildung. Die Finger tippten einen Takt auf die Wange. Das konnte heiter werden, er bekam es mit einer netten, zuweilen depressiven Kampfmaschine zu tun. Er sparte sich den Rest der Diagnose, blätterte weiter und betrachtete die vorliegenden Fotos, die der Erkennungsdienst nach der Festnahme angefertigt hatte. Auf den Bildern standen Falk Sturms Haare in alle Richtungen ab und der Gesichtsausdruck starrte vor Trotz. Dennoch erkannte Kraft sympathische Feinheiten hinter der harten Fassade. Aus dem Naturburschengesicht blickten ihn Augen vom tiefsten Grün an. So intensiv war ihm diese Farbe nicht einmal bei Tauchgängen in der Karibik begegnet. Unter der kräftigen Nase zogen die Lippen einen dünnen Strich. Vom letzten Besuch wusste er aber, dass sie beim Sprechen an Fülle gewannen, sich zwei Grübchen abzeichneten und der Mann gepflegte Zähne sein Eigen nannte. Falk Sturm ließ sich in der Haft nicht gehen, was Kraft schätzte. Er trug zu seinem Sakko ein beigefarbenes Armanishirt, schwarze Stoffhosen und italienische Halbschuhe. Selbstverständlich so poliert, dass er sein Gesicht darin spiegeln konnte. Seine Haare waren stets kurz und gut frisiert, er rasierte Wangen und das kantige Kinn peinlich genau und zupfte mit einer Pinzette die Stoppeln aus den Ohren. An seinem Körper war weniger unerwünschte Behaarung vorhanden als Gras in der Sahara. Kraft empfand auch keine Scham, als Mann zur Maniküre zu gehen. Trotzdem wagten es die Kollegen nicht, über ihn zu lachen, denn er galt als Bluthund und scheute nicht vor Dreckarbeit zurück. Er legte die Porträts auf Seite und nahm sich die Ganzkörperaufnahmen vor. Die Haftanstalten schufen von allen schwerkriminellen Insassen Datenbanken, die nebst Fingerabdrücken und Speichelproben auch Fotos enthielten. Interessant fand er bei Sturm die Ablichtungen der besonderen Merkmale: Narben und Tätowierungen. Die Wundmale stammten von dem Unfall, den die Akten erwähnten. Er entnahm eine Klarsichthülle und hielt die Bilder der Tattoos ins Licht einer flackernden Neonröhre. Beeindruckend, eventuell sollte er sich ebenfalls stechen lassen. Solch eine Hautkunst würde seine Frau und ihre versnobte Familie auf die Palme bringen. Das war es fast wert und Kraft grinste bei dem Gedanken.

Dies verging ihm beim folgenden Satz: Sturm ist verwitwet und besitzt keine lebenden Angehörigen, selbst das einzige Kind starb bereits. Alexander Kraft liebte Kinder, aber seiner Frau ging Karriere über alles – eine Dauerfront in ihrem Ehekrieg. Er las die Ausbildungsstationen, welche der ehemalige Polizist durchlaufen hatte, und verfolgte die Einsätze in einem Sondereinsatzkommando. Alles passte gut ins Konzept. Er zückte einen vergoldeten Füller aus der Brusttasche, schraubte die Kappe ab und schrieb ein paar Anmerkungen mit seiner Schnörkelschrift in das akkurat geführte Notizbuch. Als er zu der Straftat des Kandidaten gelangte, kam er zu dem Schluss: Der Mann eignete sich perfekt für ihre Truppe.

Die Tür ging auf und ein Justizbeamter, der seinen Job mit demonstrativer Langweile ausübte, führte Falk Sturm herein. Kraft verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und musterte den Häftling in seiner blauen Anstaltskleidung. Dann bat er den Gefangenen, ihm gegenüber am Tisch Platz zu nehmen. Der Beamte mahnte, dass nur eine halbe Stunde erlaubt sei und schlurfte aus dem Raum. Nach erneutem Blick auf seine Uhr und einer Begrüßung fing Alexander Kraft die Besprechung an.

„Zuerst bedanke ich mich im Namen des Konsortiums, dass Sie mir die Gelegenheit zu einem zweiten Gespräch geben. Ich habe bei meinem letzten Besuch die Sache in groben Zügen umrissen und denke, Sie haben sich Ihre Gedanken gemacht. Vielleicht kann ich heute konkrete Aussagen treffen. Das hängt allerdings davon ab, ob wir uns einigen.“

Falk taxierte seinen Gegenüber; Kraft hieß der Kerl, doch für ihn blieb er der Fremde. Der Mann hatte braune Haare und dunkle Augen, sah eine Spur südländisch aus. Und nach seiner Ansicht zu gut. Im Gegensatz zu ihm war er kleiner und schlanker, strahlte dennoch eine Gelassenheit aus, als könnte man ihn kaum beeindrucken und dass er sich vor einem Brocken wie Falk noch lange nicht in die Hose machte.

„Wenn Sie sich mit unserem Angebot anfreunden, spreche ich offen mit Ihnen, erinnere aber an die Geheimhaltungspflicht. Wir kennen Mittel und Wege, diese auch durchzusetzen.“

Falk musterte weiterhin seinen Gesprächspartner. Für den normalen Knastbesucher kleidete sich Kraft zu elegant und seine vom Solarium gebräunte Haut gab unter den einsitzenden Bleichgesichtern ein ungewohntes Bild ab. Schmuck und Uhr fielen ihm auf, dies war das Erste, was die Insassen Neulingen abpressten. Darko würde dafür eine Menge Kaffee einhandeln und glatt ein Schwimmbad mit dem Gebräu füllen können. In der Luft schwebte der Hauch eines teuren Aftershaves mit herber Duftnote, es erinnerte an eine Mischung aus Leder und Süßholz.

„Darf ich wissen, zu welchem Ergebnis Sie gekommen sind?“, fragte Kraft und seine gepflegten Fingernägel intonierten einen Trommelwirbel auf dem Tisch. Der Sekundenzeiger der Armbanduhr zog einen Kreis und Falk studierte konzentriert eine in die Tischplatte geritzte Weisheit. „Ob sie uns lieben oder hassen, eines Tages müssen sie uns entlassen“, stand dort. Dann beugte er sich nach vorne, presste die Unterarme auf die Platte, dass die Sehnen hervortraten, und sprach in einem ganz ruhigen Tonfall.

„Also, fürs Erste und zum Mitschreiben. Drohen Sie mir nicht; nie wieder. Ihre Organisation mag Einfluss haben, schafft es sogar, dass Sie hier einfach reinmarschieren, um mit mir zu plaudern und obendrein noch Drohungen ausstoßen. Aber ich bin kein Typ, den man einschüchtern kann. Wenn das meine Akte ist, wie ich vermute, müssten Sie es eigentlich wissen: Ich habe nichts zu verlieren.“

„Gut, ein Punkt für Sie. Das sind Ihre Unterlagen und dass man Ihnen keine Angst einjagt, ist ein Grund, warum wir Sie als Kandidat ausgewählt haben. Sie sollten nur verstehen, wir sichern uns ab. Das Konsortium schützt seine Mitglieder und damit im Falle Ihres Beitritts auch Sie.“ Alexander Kraft betrachtete seinen Gesprächspartner mit steigendem Interesse. Endlich kam der Bursche aus sich heraus. Beim letzten Gespräch war der Mann verstockt gewesen und hatte verhalten auf das Angebot reagiert.

„Zweitens will ich genau wissen, wie Sie mich rausholen und was ich dafür zu tun habe?“ Falk Sturm lehnte sich zurück und entspannte seine Haltung. Er hatte das Wichtigste geklärt.

„Sie zu befreien ist für uns ein Klacks, glauben Sie mir. Wir ziehen an ein paar Fäden im Hintergrund und schon werden Sie uns ausgeliefert.“

„Ich sitze bereits einige Jahre und selbst bei guter Führung läuft noch viel Wasser den Rhein runter, bis die Entlassung möglich ist. Da wollen Sie mir erzählen, ich kann aus dem Bau spazieren wie eine Kuh von der Weide?“ Falk lachte verächtlich.

„Dass Sie sich eine vorzeitige Freilassung, auch wenn Sie den Musterknaben spielen, sonst wo hinstecken können, wissen Sie genauso gut wie ich. Sie haben sich mächtige Feinde gemacht, die Mittel und Wege kennen, um Sie hier verschimmeln zu lassen. Wir könnten Ihnen helfen – aber Sie alleine entscheiden, ob wir es sollen.“ Kraft stand auf und ging im Raum umher, sodass die Ledersohlen über das Linoleum knackten. Er musste diesen Mann kriegen, egal wie. Kraft war überzeugt vom Konsortium, kannte dessen Bedeutung und den Bedarf an gutem Material. Der Alte hatte befohlen Falk Sturm zu rekrutieren und er würde den Befehl ausführen. Um jeden Preis.

„Mal dahin gestellt, ob Sie mich rausholen, wo gewisse Kreise interessiert sind, mich noch lange köcheln zu lassen – wer sagt, dass ich bereit bin, Ihrer Organisation beizutreten?“ Falk registrierte, wie Kraft an seinem Ehering drehte und zupfte. Seinen eigenen trug er an einer Silberkette um den Hals. „Jenna und Falk – in Ewigkeit“, lautete die Inschrift.

„Schaue ich mir Ihr Profil an, glaube ich jemand vor mir zu haben, der zu uns passt wie das Teilchen eines Puzzles. Sie sind ein Mann der Tat und wir eine Gruppe, die handelt. Wenn ich, allerdings nicht bis ins Detail, unsere Ziele und Mittel darlege, bin ich sicher, schließen Sie sich uns aus Überzeugung an.“ Kraft warf den Köder aus, die Zeit drängte, dass Sturm anbiss und am Haken hing. Danach würde er ihn endgültig an Bord des Konsortiums holen. Doch der Gefangene leistete weiterhin zähen Widerstand.

„Meine Überzeugungen habe ich schon lange verloren, die gab ich vor Jahren an der Kleiderkammer ab, wo sie mir diesen Overall verpassten.“ Falk sah Kraft mit vor der Brust verschränkten Armen an und deutete mit dem Kinn auf die Anstaltskleidung. Er verfolgte den Unterhändler mit den Blicken, während dieser ihn, wie ein Raubtier seine Beute, mit Kreisen umzog.

„Bullshit. Ideale verliert man nie, man kann sie eine Weile unterdrücken, aber im tiefsten Inneren brennen sie weiter. Wir sind doch aus dem gleichen Holz geschnitzt.“

„Wirklich? Wollen Sie behaupten, das erlebt zu haben, was mir widerfahren ist? Ich wünsche es Ihnen nicht. Niemandem, nicht mal meinen Feinden, zu denen ich Sie in keiner Weise zähle.“ Bis jetzt. Erst, wenn ihm der Lackaffe ein zweites Mal drohte oder sonst wie quer kam.

„Das stimmt, ich kenne Ihre Geschichte, sogar besser, als Sie denken. Ich möchte Gleiches niemals durchmachen, aber aus Ihrer Vergangenheit heraus sehe ich einen Mann vor mir, der unseren Weg teilt.“

„Den Weg des Kampfes ohne Regeln, falls ich alles richtig verstanden habe, was Sie beim ersten Besuch verzapft haben.“

„Ein Kampf, der uns aufgezwungen wird. Das verstehen Sie doch?“

„Wenn es um eine gerechte Sache geht, bin ich unter Umständen bereit, dafür einzutreten. Gut, Ihre Ziele kann ich nachzuvollziehen. Aber mir leuchtet nicht ein, wie soll gerade ich in diesem Konflikt helfen? Ich war nie Soldat, nur Polizist, und in Ihren Andeutungen von letzter Woche ging es um die Jagd auf Terroristen und den Einsatz, den die Bundeswehr in Afghanistan führt.“ Ein Waffengang, den Militärexperten und Historiker zum Scheitern verurteilten, wie Falk in der Gefängnisbibliothek nachlesen konnte.

„Afghanistan? Das ist nur ein Aspekt. Der Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus entscheidet sich keineswegs dort alleine. Unser Land, unsere Städte sind das zukünftige Schlachtfeld und dieser Krieg wird an vielen Fronten geführt, ob uns das passt oder nicht. Und dafür müssen wir bereit sein.“

Daraufhin legte Falk dar, dies sei Aufgabe von Polizei und Geheimdiensten, zu deren Erfüllung die Regierung ihnen die gesetzlichen Mittel in die Hand gäbe. Kraft winkte ab.

„Offene Gesellschaften mit allen Freiheiten und Rechten sind schön und gut für die Menschen, die darin leben. Aber sie sind kaum geeignet, einem solchen Feind zu begegnen. Unsere Dienste kämpfen mit Blei in den Schuhen und auf den Rücken gebundenen Händen. Diese Schlacht gewinnen wir um keinen Preis mit herkömmlichen Mitteln. Wir ziehen gegen Gegner ins Feld, die es nicht beeindruckt, wenn wir mit dem Gesetzbuch winken.“ So langsam lechzte Kraft nach einem Drink, möglichst alkoholisch. Sein erster Rekrutierungsauftrag gestaltete sich schwieriger als alle bisherigen Operationen, die er für das Konsortium ausgeführt hatte. Und da waren haarsträubenden Aktionen dabei gewesen, die er liebend gerne in der Schublade unter Vergessenes ablegen würde.

„Fein gesprochen. Ihre Rede mag auf einer Akademie vor pickligen Offiziersanwärtern Eindruck schinden. Aber nach meiner Erfahrung ist das alles sehr unglaubwürdig. Was Sie andeuten, ist handeln im luftleeren Raum. Sie holen mich einfach raus und ich helfe Ihrer merkwürdigen Truppe in einem Kampf, den sie abseits der Legalität führt. Sie sollten weniger amerikanische Filme schauen.“

Die Tür flog auf und der Wärter drängte. Noch zehn Minuten. Die Erfüllung des Auftrages entglitt Kraft und er zog sein Ass aus dem Ärmel und setzte alles auf eine Karte.

„Was legal ist und was unsere Möglichkeiten angeht, werden Sie jetzt eine ganz neue Erfahrung machen, wenn Sie Ihren Blick auf dieses Schreiben werfen.“ Alexander Kraft ging zu seinem Stuhl, öffnete die darunter befindliche Aktentasche und holte einen Briefbogen heraus. Er entfaltete das Schriftstück, legte es auf den Tisch und bügelte das Papier mit der Hand glatt.

„Dieses Dokument berechtigt mich, Sie ihn meine Obhut zu überstellen. Sofort.“

Falk Sturm wurde blass, ein lupenreiner Entlassungsschein breitete sich vor ihm auf der Tischplatte aus. Wie war das möglich?

„Offiziell gibt es uns nicht und wir führen den Kampf an den staatlichen Instanzen vorbei. Aber wir finden überall Helfer, auch in der Justiz. Viele sehen diesen Weg als richtig an, ohne ihn beschreiten zu können und tragen im Hintergrund zum Erfolg bei. Der Rahmen unserer Mittel ist weit gesteckt.“ Falk schaute zum ersten Mal beeindruckt und startete einen kläglichen Versuch, es zu überspielen.

„Jetzt erzählen Sie mir bloß noch, Ihre Truppe besitzt die Lizenz zum Töten.“

Kraft antwortete nicht direkt. Er packte die Akte zusammen, wedelte mit dem Entlassungsschein herum und legte beides in die Tasche. Anschließend stützte er die Arme auf den Tisch und blickte Falk Sturm tief in die Augen. „Wenn es sein muss, haben wir auch die.“

Timur erwachte nach unruhigem Schlaf auf einer harten Couch und rieb sich Sand aus den Augenwinkeln. Schlimme Erinnerungen hatten seine Träume heimgesucht und er war froh, ihnen entkommen zu sein. Die Heizung war runtergedreht und Kühle füllte den Raum, sodass ihm fror und Kondenswasser das Fenster herablief. Trotzdem streifte er die kratzige Wolldecke beiseite und sah sich um. Einfache Möbel standen in dem Wohnzimmer an mit Raufaser tapezierten Wänden, auf denen farbige Wischtechniken ausgeführt waren. An zwei zusammengeschobenen Sesseln lehnte Mehmets Tasche und auf den Polstern lag eine verlassene Decke. Timur witterte, roch Spuren von Vanille. Duftkerzen, erloschen auf dem Tisch platziert, verströmten den Geruch, darunter glänzte ein nackter Laminatboden. Schrankwände enthielten ein Fernsehgerät, Gläser, Bücher und viele Bilderrahmen – darin Familienfotos, meist eine Mutter mit ihren Kindern; ein Mädchen und ein Baby. Timur stand auf und betrachtete die Bilder, nahm eines in die Hand. Die Frau wirkte hübsch. Auf anderen Fotos bemerkte er ein betagtes Paar, ein abgearbeiteter Mann nebst korpulenter Gattin, wohl die Großeltern. Ein Foto zeigte Mehmet mit dem Kleinkind auf dem Arm und einem Lächeln im Gesicht, es schien älteren Datums zu sein. Einen Ehemann suchte Timur auf den Abbildungen vergeblich. Daneben reihten sich Bücher in deutscher Sprache auf, mit Titeln, die weibliche Leser bevorzugten. Er zog ein paar Bände heraus und las auf den Rückseiten, sie handelten Zeitreisen und Liebe. Die beiden Gefährten waren bei Alia, der Schwester von Mehmet untergeschlüpft. Die junge Frau hatte sie nachts mit dem Auto am Flughafen abgeholt und in ihre Wohnung nach Ehrenfeld gebracht.

Auf der Fahrt hatte Alia ihm erzählt, dass der Kölner Stadtteil einen traditionell hohen Ausländeranteil besaß. Das jahrzehntelange Nebeneinander führte zu einer fast vollzogenen Integration und die Menschen im Viertel kamen gut in bunter Nachbarschaft aus. Dönerbuden, Frauen mit Kopftüchern und die Moschee waren ein gewohntes Bild, Deutsche gingen hier mit Selbstverständlichkeit zum türkischen Friseur und kauften beim kurdischen Gemüsehändler ein. Man hatte sich arrangiert. Aber nicht überall herrschte Frieden, wie Timur lautstark aus einem anderen Teil der Wohnung mitbekam.

Der Afghane zog sich Hose und Socken an und schritt durch den Flur zur Küche, aus der streitende Stimmen drangen. Aus dem Kinderzimmer hörte er das Kleinkind glucksen und die Geräusche eines Kinderhörspiels. Ein Mädchen im Schlafanzug lehnte am Türrahmen und schaute ihn neugierig an. Es trug zwei hochstehende Zöpfe und auf dem Leibchen lachte ein Schwamm mit Gesicht. In den Armen umklammerte das Kind einen Teddybären und schützte den Freund aus Stoff. Timur strich ihr über den Kopf, die Kleine duckte sich weg und flüchtete. Der Afghane hob bedauernd die Schulter. Früher vertrauten ihm die Kinder, denn nach der Rückkehr in seine Heimat hatte er als Lehrer unterrichtet. Dann brachen neue Kämpfe aus und die Volksstämme zerfleischten sich im Bürgerkrieg. Warlords beherrschten das Land und ihre Milizen plünderten, töteten und vergewaltigten. Die Koranschüler um Mullah Omar fegten die Soldateska weg und beendeten das Chaos. Taliban nannten sich die Männer mit den schwarzen Turbanen und nach ihrem Sieg legten sie die Menschen in die Ketten ihrer archaischen Regeln. Die Gotteskrieger verboten ins Kino zu gehen, musizieren und tanzen, untersagten Sportveranstaltungen und verprügelten spielende Kinder. Die Rechte der Frauen schafften die Eiferer gleich ganz ab. Außerdem schlossen sie die Schulen.

Timur schüttelte die Vergangenheit ab und drehte sich zur Küche, drückte die verglaste Holztüre auf und betrat den Raum. Die Luft roch verbraucht, Teeduft schwebte darin und Nebel zog von einem Aschenbecher an die Decke, die Spuren häufigen Nikotinkonsums aufwies. Hängeschränke einer Einbauküche verdeckten den Großteil der terrakottafarbenen Wände und aus dem Radio auf der Fensterbank dudelte englischsprachige Popmusik. Mehmet saß Alia gegenüber am Küchentisch. Mit Brotkrumen und gelben Marmeladenklecksen bedeckte Teller standen auf Plastikdecken und Flecken deuteten darauf hin, dass Mehmets Tasse übergeschwappt war. Ein Krümel klebte an der vor Erregung zitternden Oberlippe und bewegte sich mit ihr auf und ab. Timur wünschte beiden guten Morgen, ohne Antwort zu erhalten, und schenkte sich Tee ein. Dann schaltete er das Radio aus und lehnte am Fensterbrett; die Diskussion verstummte.

„Was ist los, worüber streitet ihr?“, fragte er Mehmet.

„Das Übliche, sie will mich nicht verstehen. Das kommt von ihrer verfluchten westlichen Einstellung.“ Er knibbelte an seinen Fingernägeln, von denen kleine Hornfetzen auf den Küchenboden rieselten und ein Zeigefinger blutete.

„Ich hatte gehofft, du wärst endlich vernünftig geworden, als du angerufen hast“, mischte sich die Frau ein. Sie schlug ihre Beine übereinander, zeigte nackte Füße mit lackierten Zehennägeln. Darüber trug sie schwarze Leggings, ein enges lilafarbenes Sweatshirt, unter dem sich ihre Brüste abzeichneten und kein Kopftuch bedeckte die Haare, obwohl sich ein fremder Mann in ihrer Wohnung befand. Nur die zartbraune Hauttönung und dunkle Augen, die vor Wut blitzten, zeugten noch davon, dass sie eine waschechte Türkin war. „Seit Jahren kriegst du nichts auf die Reihe“, stieß sie hervor. „Brichst die Schule ab und hängst rum, weil dir nicht gleich die erstbeste Firma eine Stelle als Chef anbietet. Dann flüchtest du zu Hinterhofpredigern, schwingst radikale Parolen in Islamvereinen und haust ins Ausland ab, ohne jemand Bescheid zu sagen. Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen wir uns gemacht haben? Ich erkenne meinen kleinen Bruder einfach nicht mehr.“ Sie stand auf, lief in der Küche herum und räumte flink das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, aus der feuchter Dunst emporstieg. Klirrend verschwanden Teller und Besteck in dem Kasten. Die Frau riss Timur die Tasse aus der Hand, kippte den Rest in den Ausguss und stellte sie zu den anderen. Dann hielt Alia ein Tuch unter den Wasserhahn und wischte den Tisch ab, während Mehmet sich das Blut vom Finger lutschte. Mitleidig sah sie ihren Bruder an, der die zerknitterte Kleidung vom Hinflug trug und übernächtigt wirkte. Sie streckte die Hand aus, um ihm den Krümel vom Mund zu wischen, doch er drehte den Kopf weg.

„Ich habe mich geändert. Das Leben hier ist nichts für mich, das ist mir alles zu oberflächlich und verlogen. Ich habe meine Bestimmung im Kampf für Allah gefunden. Akzeptiere es endlich.“

Alia seufzte und rang verzweifelt mit den Händen.

„Ich sage doch nichts gegen deinen Glauben. Ich bin selbst gläubig, aber ich versuche auf keinen Fall, meine Religion anderen aufzuzwingen, vor allem nicht mit Gewalt.“

Mehmet sprang auf und stand seiner Schwester Nase an Nase gegenüber, sodass sich ihre Augen in seinen Brillengläsern spiegelten.

„Du bezeichnest dich als gläubig? Dann lebe gefälligst danach. Du bist schamlos. Alleine wie du dich anziehst und auf die Straße gehst, wie eine …“

Alia packte ihren Bruder an der Schulter und schubste ihn weg, sodass seine Brille von dem Schwung verrutschte, die andere Hand holte mit dem Putztuch aus.

„Wag es, sprich dieses Wort aus und ihr könnt beide eure Klamotten packen.“ Sie wies mit dem Tuch Richtung Tür, doch Mehmet winkte verächtlich ab.

„Was soll’s. Du hast du dich scheiden lassen und bist eine Schande für die Familie.“

„Spinnst du? Mein Mann hat das ganze Geld beim Spielen verzockt, auch das, was ich als Kassiererin verdient habe. Monat für Monat und dazu hat er mich geschlagen, wenn ich was sagte. Das weißt du doch. Was sollte ich machen, wir müssen Miete bezahlen und die Kinder brauchen Essen.“ Der jungen Mutter, die ihre Familie alleine durchbrachte, stiegen Zornestränen in die Augen und ihre Stimme überschlug sich. „Außerdem – nach dem Glauben ist Glücksspiel verboten. Was sagst du nun, frommer Prediger? Papa hat ihn selbst rausgeschmissen, als er wieder zugeschlagen hat. Erzähl du mir nicht, wer sich schämen muss. Wenn unsere Eltern dich sehen könnten, dann …“

„Dann wären sie stolz auf mich.“

Sie lachte höhnisch und reichte Mehmet ihr Handy vom Küchentisch.

„Deshalb rufst du bei mir an und verkriechst dich in meiner Wohnung? Nimm das Telefon und ruf Papa an. Aber das traust du dich nicht. Soll ich die Nummer eintippen? Feigling!“

Timur hatte den Geschwistern den Rücken zugekehrt und die ganze Zeit zum Fenster raus geblickt. Kinder spielten im kargen Innenhof der Wohnhäuser zwischen parkenden Autos, ein alter Mann führte seinen Hund spazieren und ein Postbote trug seine Sendungen aus. Briefkästen klapperten im Hausflur. Er hatte genug gehört, drehte sich um und wand der Frau das Gerät aus den Händen.

„Beendet den Streit. Euren Vater anzurufen, halte ich für überflüssig und wir sind dir sehr dankbar, dass du uns abgeholt hast und ein paar Tage bei dir wohnen lässt. Aber ihr müsst das Schreien aufhören, die Nachbarn brauchen doch nichts davon mitzubekommen.“ Timur legte das Telefon weg und Alia sah ihn erbost an. Sie hatte sich gegen ihren Ex-Mann durchgesetzt und ein Fremder durfte sie am allerwenigsten in der eigenen Wohnung bevormunden.

„Wer bist du überhaupt? Auf jeden Fall kein Türke. Als mein Bruder mich angerufen hat, rechnete ich nicht damit, dass noch jemand mitkommt. Ich freute mich so, dass er zurückkehrt und dachte, er wäre aufgewacht. Aber jetzt zweifle ich daran. Ich will wissen, was ihr vorhabt.“

„Wir führen nichts Schlimmes im Sinn. Du hast recht, ich bin kein Türke, sondern Afghane. In meiner Heimat herrscht Krieg und wir brauchen dringend medizinische Versorgung. Uns fehlt es an allem. Ich sammele bei den Gläubigen Spenden für mein Volk und dein Bruder hilft mir. Er macht mich mit führenden Leuten islamischer Wohlfahrtsvereine bekannt.“ Timur setzte sein vertrauenswürdigstes Lächeln auf, zu dem er fähig war.

„Wenn ich nur glauben könnte, dass ihr für wohltätige Zwecke sammelt, denn vor kurzer Zeit hat Mehmet noch den Weg der Gewalt vertreten. Er bringt uns mit seinen radikalen Ideen in Gefahr. Unsere Eltern leben schon viele Jahre in Deutschland; auch ich genieße es, hier als Frau frei zu sein und will keine Probleme. Aber wenn die Behörden auf ihn aufmerksam werden und seine Reden, die er schwingt, ist es mit allem vorbei. Dann haben wir keine ruhige Minute mehr.“ Vor lauter Anspannung drückte es erneut in Alias Tränenkanälen und ihre Hände zitterten.

„Wir müssen bereit sein, Opfer zu bringen für die Verbreitung des wahren Glaubens“, fing Mehmet wieder an. Timur atmete tief durch, wenigstens er musste Ruhe bewahren.

„Opfer? Wer bringt denn welche, du?“ Jetzt weinte sie wirklich. „Was hast du überhaupt, dass du noch verlieren könntest?“

Timur trat auf die Geschwister zu, nahm beide in die Arme und drückte sie an seine Brust. Alia wehrte sich, aber die Umklammerung war zu stark.

„Schluss mit dem Streit, ihr findet doch keine Lösung. Ich passe auf deinen Bruder auf und wir werden nur wenige Tage bleiben. Dann nehmen wir deine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch und ziehen weiter. Versprochen. Bis dahin sollten wir alle so gut wie möglich miteinander auskommen.“ Er ließ die beiden los. Alia warf den Putzlappen in eine Ecke, wie ein geschlagener Boxer das Handtuch, und eilte hinüber ins Kinderzimmer, wo Babygeschrei nach ihr verlangte.

Timur schob Mehmet rüber ins Wohnzimmer, dieser glühte vor Scham und Zorn.

„Ich entschuldige mich für meine Schwester“.

Der Afghane klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, nahm seine Zigarettenpackung und zündete zwei Glimmstängel an. Einen davon gab er seinem Gefährten.

„Ärger dich nicht, mein Freund, der Westen hat sie mit seiner Lebensweise verdorben. Sie trifft keine Schuld, es ist schwer, in diesem Umfeld der Verlockungen standhaft zu sein. Ich habe lange genug hier gelebt und vieles gesehen. Nur wahre Gläubige, wie du einer bist, sind in der Lage, den rechten Weg zu beschreiten und auf ihm zu bleiben.“

„Danke für deine Worte, aber ich halte es bei ihr nicht mehr aus und muss vor die Tür. Lass uns gehen, wir haben eine Menge zu erledigen.“ Mehmet nahm seine Jacke und wollte den Raum verlassen, doch Timur hielt ihn am Arm fest.

„Warte einen Moment und hör mir zu. Deine Schwester könnte zum Problem werden. Wir sind noch einige Zeit auf Alia angewiesen; glaubst du, sie wird schweigen?“ Timurs Hand drückte so hart um Mehmets Oberarm, dass dieser am liebsten aufgeschrien hätte, jedoch warnte eine innere Stimme davor. Diese riet ihm auch, seine Schwester ausnahmsweise zu verteidigen.“

„Ja, egal, was sie sagt, sie würde mich nie verraten.“

„Das ist gut. Denke daran, wir sind nicht so weit gereist, um zu versagen. In unserer Mission bündeln sich die Hoffnungen vieler Brüder und die altehrwürdigen Führer vertrauen uns. Wir dürfen sie auf keinen Fall enttäuschen. Außerdem weißt du, welchen Grund ich habe, um zu kämpfen.“ Der Druck verstärkte sich und Mehmet glaubte, der kräftige Mann presse ihm das Blut aus den Adern. Er befürchtete, einen großen blauen Fleck zu bekommen, der ihn noch lange an das Gespräch erinnern würde.

„Keine Sorge, ich verspreche dir, sie sagt niemanden, dass ich in Köln bin. Selbst meinen Eltern nicht.“ Timur ließ ihn los und ging zu der Couch, wo seine Sachen lagen. Kribbelnd kehrte das Gefühl in Mehmets tauben Arm zurück. Er sah, wie der Gefährte die Jacke anzog, den Tascheninhalt überprüfte und ganz langsam auf ihn zukam, bis sich die Gesichter fast berührten.

„Das ist gut, andernfalls sorge ich für ihr Schweigen.“

In den Augen des Afghanen erkannte Mehmet einen dunklen Abgrund und empfand zum ersten Mal Furcht.