Feuertod - Wolfgang Wettstein - E-Book

Feuertod E-Book

Wolfgang Wettstein

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Beschreibung

Ein Zootierarzt liegt erstochen in seiner Wohnung, Teile seines Körpers sind verkohlt. Die Spuren führen den Rechtsmediziner Sokrates und die Kripo zu einem Mörder, der seine Opfer bei lebendigem Leib verbrennt. Als einer Journalistin Tonaufnahmen zugespielt werden, auf denen Menschen um ihr Leben flehen, wird klar: Der Alptraum hat erst begonnen... Komplexe Charaktere und meisterhafter Spannungsaufbau - ein Kriminalroman, der unter die Haut geht. Ausgezeichnet mit dem Zürcher Krimipreis 2018 "Akribische Recherche, Sprachbewusstsein, glänzende Figurenzeichnung, kenntnisreiche Schilderung des Milieus - all das macht diesen Roman zu einem Höhepunkt der aktuellen Zürcher Kriminalliteratur." Zürcher Tagblatt

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Und für meinen One Life Stand

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Jeder Mensch hat auch seine moralische backside, die er nicht ohne Not zeigt, und die er so lange als möglich mit den Hosen des Anstandes zudeckt

Georg Christoph Lichtenberg

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

EINS

Zwei

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

EPILOG

PROLOG

»Feuer!

Oh mein Gott!

Bitte nicht!

Ich will nicht sterben!

Lassen Sie mich raus!

Ich habe nichts getan, ich bin unschuldig!

Bitte! Hilfe! Hilfe!«

Wie von Sinnen schlug er mit der Faust gegen die massive Holzkiste, immer und immer wieder, so hart, dass die Haut auf seinen Knöcheln aufplatzte. Er hustete und röchelte, als der Rauch zwischen den Ritzen in seinen Bretterverschlag hereinquoll. Als die Flammen um seine Hosenbeine zu züngeln begannen, zuckte er unter den Qualen. Er strampelte und stiess um sich.

Ein langgezogener gellender Schrei, der schliesslich abstarb, war das Letzte, was er von sich gab. Dann war es totenstill.

Nur das Knistern der Flammen war noch zu hören.

EINS

Sokrates schloss seine Augen. Blind drückte er aus der Shampoo- Flasche etwas Gel auf seinen Handteller, fuhr sich mit beiden Händen durch das nasse Haar und schäumte seine grauen Locken ein. Den Kopf hielt er nach vorne gebeugt. Der warme Duschstrahl prasselte auf seinen Buckel und linderte den Schmerz, der sich zwischen den Schulterblättern eingenistet hatte. Langsam kreisten seine Finger um den Schädel. Siebenundzwanzig Mal. Er dachte an Eva, seine Coiffeuse, und wie es war, als sie ihm jeden Morgen vor seiner Arbeit die Haare gewaschen hatte. Nun war alles anders. Seine Kopfhaut kribbelte nicht. Er hörte nicht, wie die Schaumbläschen platzten. Und er roch nicht ihren Duft. Er dachte daran, wie sich ihre Hände angefühlt hatten, als sie seine Kopfhaut massierten. An ihre vollen Brüste, die seine Schultern berührten und an das Kreuz an ihrem Goldkettchen, das sein Gesicht streichelte. Er wollte diese intimen Momente mit ihr wiederholen. Es gelang ihm nicht. Seine Fingerkuppen fühlten sich auf dem Schädel tot an. Die morgendliche Kopfwäsche empfand er so öde wie Masturbation. So einsam. Es ist wohl so, dachte er, man kann sich ja auch nicht selbst kitzeln und zum Lachen bringen.

Sokrates öffnete die Augen, stellte die Brause ab und stieg aus der Dusche. Vom Halter nahm er ein vergilbtes Frottéhandtuch, das vom vielen Waschen etwas steif geworden war und auf der Haut scheuerte. Kräftig rubbelte er damit seinen Körper ab, bis Buckel, Brust, Arme und Beine durchblutet waren. Der Nebel in seinem Kopf verzog sich allmählich. Die Flasche Rotwein von gestern Abend pochte nur noch schwach in seinem Schädel. Er griff nach seiner Brille, die auf dem Sims des Lavabos lag, hauchte auf die Gläser, putzte sie sorgfältig mit einem Papiertaschentuch und setzte sie auf. Graue Augen blickten ihn im Spiegel an. Sein Gesicht war zerknautscht, eine Falte vom Kopfkissen hatte sich in die hohe Stirn geprägt. Er blinzelte und wandte sich ab.

Nackt schlurfte er ins Schlafzimmer zurück, schüttelte Daunendecke und Kissen auf, so wie er es jeden Morgen getan hatte, bevor seine Frau gestorben war, und stellte das Buch »Emil und die Detektive« von Erich Kästner, das ihm beim Einschlafen aus der Hand gefallen war, zurück ins Regal. Er zögerte einen Moment, als wüsste er nicht so recht, was als nächstes zu tun wäre. Dann gab er sich einen Ruck, schlüpfte in eine Bundfaltenhose, die neben dem Bett auf dem Parkettboden lag, zog sich ein hellblaues Hemd an mit einem Rotweinflecken am Bauch, den er zwar bemerkt hatte, aber nicht so wichtig nahm und griff ein mausgraues Jackett mit abgestossenen Ärmeln von der Stuhllehne.

Auf der kleinen Dachterrasse goss er mit einer Giesskanne, feuerverzinkt, weil ihm Wetterfestigkeit wichtig war, seine erst am Wochenende gesetzten Pflanzen: Basilikum, Petersilie, Schnittlauch, Thymian, Salbei, Zwiebeln und Knoblauch, die er für seine Kochkünste benötigen würde, sollte er einmal Besuch bekommen. Doch Gäste hatte er nur selten. Kräuter und Gartengemüse waren seine einzigen Gefährten.

Sokrates atmete tief durch. Die Luft roch mild nach Frühling, Vögel zwitscherten, der Kirschbaum im Innenhof stand in voller Blüte und verbreitete seinen Duft. Die Kirchturmglocke der Predigerkirche schlug neun Mal. Der Morgen versprach schön zu werden. Diese Woche würde er Maria zum Abendessen einladen. Er hatte seine Tochter schon lange nicht mehr gesehen. Für sie würde er ihr Lieblingsgericht zubereiten, Lammbraten mit Ofenkartoffeln, Rosmarin und viel Knoblauch.

In der kleinen Küche kochte er sich mit der italienischen Espressomaschine einen Kaffee. Er rührte im Stehen einen Löffel Zucker hinein und stürzte das Gebräu in einem Zug hinunter. Dann griff er nach seiner schwarzen Nylontasche, stieg die knarrende Holztreppe hinunter und verliess seine Wohnung.

Auf dem Rindermarkt war keine Menschenseele unterwegs. Sokrates liebte diese Ruhe am Morgen. Uhrenläden, Antiquariate und Galerien waren geschlossen. Sie würden heute am »Sechseläuten« auch nicht öffnen. An diesem Feiertag stand Zürich still. Wie jedes Jahr würden Reiter am Bellevue ihren Rössern die Sporen geben und wie wild um den Böögg galoppieren, so nannten die Zürcher den Schneemann aus Holzwolle, dessen Kopf mit Knallkörpern gefüllt war. Sobald der Scheiterhaufen brannte, auf dem der Böögg stand, begannen die Zuschauer zu zählen. Je schneller der Kopf des Bööggs explodierte, desto schöner sollte der Sommer werden.

Langsam schritt Sokrates auf den Neumarkt zu. Von der Parkanlage beim Obergericht roch es nach Narzissen und trockenen Pflastersteinen. Vor dem Herrensalon Eva blieb er stehen. Ihm war, als müsse er innehalten. Ein halbes Jahr war nun vergangen, aber noch immer krampfte sich sein Brustkorb zusammen. Er hob eine Hand vor die Stirn und blickte durch die Glastüre. Evas Salon war leergeräumt. Der altmodische Coiffeurstuhl, worauf er jeden Morgen gesessen hatte, das Holztischchen mit der Marmorabdeckung, der Jugendstil-Spiegel mit den Ornamenten und das Regal mit Shampoos und Haargels waren allesamt abtransportiert worden. Mitten im Raum stand eine Bockleiter, woran ein Plastikkübel befestigt war. Davor kniete ein Maler mit fleckigem Arbeitskittel und rührte Farbe in einem grossen Bottich. In einer Holzkiste lagen Pinsel in allen Grössen, Farbdosen, grüne Gummihandschuhe, Klebebänder und Flaschen mit Lösungsmitteln. Der Parkettboden war mit einer durchsichtigen Folie abgedeckt. Was wohl aus diesem Ladenlokal werden wird?, fragte sich Sokrates.

Er wandte seinen Blick ab, was ihm schwerfiel, streckte seinen Buckel durch und bog in den Hirschengraben ein. Langsam steuerte er auf das Schauspielhaus zu, das in Leuchttafeln für das Stück »Der Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt warb. Am Pfauen wartete er auf das Tram Nummer 9. Er schaute auf seine Jaeger LeCoultre. Neun Uhr siebenundvierzig. Er blickte auf. Die Uhr auf dem geschwungenen Jugendstildach eines Wartehäuschens, worin nun ein Kiosk untergebracht war und sich gegenüber dem Schauspielhaus befand, zeigte eine Minute später an. Sokrates runzelte die Stirn. Seine Uhr ging nach. Schon wieder. Erst vor wenigen Tagen hatte er ihren ungenauen Gang bemerkt. Das gefiel ihm nicht. Die Bestimmung einer Uhr war es, die Zeit exakt anzuzeigen. Seine erfüllte diese Aufgabe zurzeit nicht mehr optimal. Er musste sie dringend zur Revision bringen. Er stellte den Minutenzeiger auf die Achtundvierzig.

Vom Bellevue sah er das Tram herauffahren, das quietschend vor ihm anhielt. Sokrates wollte gerade einsteigen, als sein Handy klingelte. Er stellte die Nylontasche auf den Boden und fischte aus der Innentasche seines Jacketts das Telefon hervor, während das Tram ohne ihn losfuhr.

»Ja, was gibt's?«, fragte er bloss, hörte ein paar Augenblicke zu und nickte. »In fünfzehn Minuten bin ich dort.« Ein Mord, dachte er, ein Mordfall bereits am Morgen. Dabei wusste er als Rechtsmediziner, dass Verbrecher auf Tageszeiten, Wochenenden und Feiertage keinerlei Rücksicht nahmen.

***

Der Tote lag im geräumigen Entrée einer Attikawohnung. Seine Beine hielt er aufreizend gespreizt, die Arme lagen eng am dünnen Körper. An beiden Händen klebte eingetrocknetes Blut. Am Hals klaffte eine breite Stichwunde. Das grüne Hemd war am Kragen und auf der Brust blutdurchtränkt, ebenso der terrakottafarbene Teppichboden. Vom Oberlicht fiel ein Lichtkegel auf die dunkelbraune Hose. Auf Höhe der Lenden hatte der Täter Brandbeschleuniger gekippt und angezündet. Die Genitalien des Opfers waren verkohlt. Der Lichtkegel beleuchtete den Brandherd wie ein Spot. Es roch scharf nach verbranntem Fleisch und Brennsprit. Der Tote hatte seinen Kopf nach rechts geneigt, Mund und Augen waren halb geöffnet. Kriminalpolizist Theo Glauser schätzte den Mann auf Mitte vierzig. Er prägte sich jedes Detail vom Toten ein: schmales Gesicht, rasiert, dünne Nase, dunkelbraune Haare, die ihm in Strähnen in die Stirn fielen, sehniger Hals, durchschnittliche Körpergrösse, hagere Statur.

Aufmerksam beobachtete Glauser die Arbeit der Kriminaltechniker. Sie trugen weisse Schutzanzüge mit Kapuzen aus Fliesspapier, dazu Gesichtsmasken, blaue Handschuhe und Überschuhe. Philip Kramer, der das Team leitete, trug mit einem feinen Zephyrpinsel an der Tür zum Treppenhaus Magna Brush Pulver auf, um daktyloskopische Spuren sichtbar zu machen. Auf jeden der zahlreichen Fingerabdrücke presste er eine schwarze Gelatinefolie und zog die Spur ab. Danach überprüfte er das Schloss der Eingangstür. Es war intakt. Keine Kratzspuren. Türzarge und Türblatt waren unversehrt. Glauser kniff seine Augen mit den buschigen Brauen zusammen. Niemand hatte versucht, mit einem Schraubenzieher oder einem Stemmeisen die Tür aufzuwuchten. Kramer blickte durch den Türspion. »Freies Sichtfeld. Leon Oswald muss seinem Mörder die Tür geöffnet haben«, sagte er. »Er schöpfte keinen Verdacht. Vielleicht hat er ihn gekannt.«

Glauser drehte sich zu Konrad Pfister um, der neben ihm stand und einen halben Kopf kleiner war als er. Der Staatsanwalt machte eine säuerliche Miene und sah um die Nase herum etwas blass aus. Verbrannte Genitalien einer Leiche schienen ihm auf den Magen zu schlagen.

»Kannst du überprüfen lassen, wer in den letzten zwei Tagen mit seinem Handy von der Basisstation am Zürichberg registriert wurde?«, fragte Glauser.

Pfister schüttelte den Kopf. »Zu einer Rasterfahndung wird das Zwangsmassnahmengericht kaum grünes Licht geben. Zu viele unbescholtene Bürger, die gestern den Zoo besucht haben, wären von dieser Massnahme betroffen. Aber ich kann es versuchen.«

»Wir wären wesentlich effizienter in der Verbrechensbekämpfung, wenn die Gesetze die Polizeiarbeit nicht so stark behindern würden«, erwiderte Glauser. »Wir missbrauchen die Daten ja nicht, sondern wollen damit nur einem gefährlichen Gewaltverbrecher das Handwerk legen.«

»Ja, es leuchtet tatsächlich wenig ein, warum der Persönlichkeitsschutz schwerer wiegen soll als das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit, einen Verbrecher so schnell als möglich dingfest zu machen.«

Wenigstens der Staatsanwalt stand auf ihrer Seite, dachte Glauser und widmete sich wieder der Spurensicherung. Lara Odermatt holte aus ihrer Fotokiste eine Vermessungskamera, schraubte ein Weitwinkelobjektiv darauf und schoss Übersichtsfotos vom ganzen Raum. Graziös bewegte sich die Polizeifotografin durch den Raum. Wenn sie durch das Entrée schritt mit erhobenem Kopf, drückte sie ihre Schultern leicht zurück. Wie eine Balletttänzerin, dachte Glauser jedes Mal, wenn er sie sah. Ihre roten Locken hatte sie unter der Kapuze des Overalls hochgesteckt. Konzentriert blickte sie durch den Sucher. Anschliessend baute sie einen 3D-Laserscanner auf, der den gesamten Tatort abtastete. Die Ermittler konnten sich dann am Monitor virtuell in der Wohnung bewegen, die Perspektive wechseln und markierte Spuren von allen Seiten in Nahaufnahme betrachten.

Glauser wandte seinen Blick von Lara ab und schaute sich um. Die Türe zum Treppenhaus stand offen. Davor hatten die Spurensicherer ihre Materialkisten deponiert. Eine weitere Türe führte in den Lift. Daneben war in einer Nische ein Garderobenschrank eingebaut. Glauser stand vor einer dritten Türe, die in den Wohnbereich führte. Er hatte sie versiegeln lassen. Die Kriminaltechniker sollten die Spuren im Wohnzimmer und im Schlafzimmer erst sichern, wenn sie ihre Arbeit im Entrée getan hatten, und Sokrates mit der Leichenschau fertig war.

Das Entrée wirkte streng, kühl, etwas leblos. An den Wänden hingen gerahmte Grafiken, lauter Dreiecke. In einer Ecke stand ein dunkelblauer Polstersessel, worauf eine zusammengefaltete Tageszeitung lag. Links vom Sessel kniete Kramer und inspizierte einen dunkelblauen Regenschutz aus dünner Plastikfolie, den jemand achtlos auf den Boden geworfen hatte. Der Umhang war über und über mit Blutspritzern verschmiert.

»Theo, den Regenmantel trug vermutlich der Täter, als er sein Opfer attackiert hat«, sagte Kramer. »Er musste gewusst haben, dass aus einer Stichwunde im Hals viel Blut herausspritzt. Mit dem Umhang schützte er sich. Vielleicht hat er Fingerabdrücke hinterlassen.«

Glauser nickte. »Für den Täter war es weniger riskant, den Regenschutz hier zu lassen, als ihn mitzunehmen. Ein Mann mit blutverschmiertem Umhang wäre sofort aufgefallen.«

Kramer markierte die Spur auf dem Boden mit einer Ziffer. Lara trat heran und schoss ein paar Fotos. Anschliessend stopfte Kramer den Regenschutz in einen Klarsichtbeutel, den er zuvor beschriftet hatte, und trug die Angaben in die Asservatenliste ein. Neben der Stelle, wo der Umhang gelegen war, stand eine Plastikflasche mit Brennsprit auf dem Teppich, die nur zu einem Drittel gefüllt war. Glauser hatte die Flasche von Anfang an bemerkt und war stutzig geworden. Niemand brauchte Brennsprit in einem Entrée. »Philip, nimm die Flasche ins Labor mit. Vielleicht hat der Täter mit dem Sprit die Genitalien seines Opfers verbrannt.«

»Es sieht ganz danach aus«, antwortete Kramer. Lara Odermatt legte einen Massstab neben die Flasche und dokumentierte die Spur mit ihrer Digitalkamera. Kramer nahm eine braune Papiertüte aus seiner Materialkiste und verstaute die Flasche mit zwei Fingern.

Währenddessen benetzte ein weiterer Kriminaltechniker ein Wattestäbchen mit destilliertem Wasser und rieb damit neben der Leiche etwas eingetrocknetes Blut vom Teppich ab.

Die Lifttüre öffnete sich mit einem Summen. Glauser drehte sich um. Franz Ulmer, ein bulliger Mann mit kantigem Schädel und Emma Vonlanthen, eine junge Polizistin mit blondem Pagenschnitt, traten ein. »Guten Morgen, Chef. Ein Mordfall gleich nach dem Morgenkaffee soll Sodbrennen geben, habe ich gelesen«, begrüsste ihn Ulmer und zwinkerte mit den Augen. »Wer ist der Tote?«

»Leon Oswald. Tierarzt im Zoo. Erstochen. Seine Putzfrau hat ihn heute Morgen um acht Uhr entdeckt.«

Emma starrte auf die Leiche. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. »Was ist mit seinem, äh, mit seiner Hose passiert?«

»Der Täter hat mit Brennsprit den Hosenlatz angezündet.«

»Autsch«, sagte Ulmer. »Da hatte jemand eine Mordswut im Bauch.«

»Befragt alle Nachbarn in dieser Siedlung«, wies Glauser seine beiden Kollegen an. »Wir wissen bisher nur wenig über das Opfer. Ich möchte mir ein vollständiges Bild von ihm machen: Arbeit, Freunde, Hobbys.«

»Wird gemacht, Chef«, erwiderte Ulmer. »Wann treffen wir uns?«

»Um fünf Uhr zum Rapport.«

»Verstanden.«

Ulmer blickte Emma verschmitzt an. »Na dann, lass uns die Klinken putzen«, raunte er ihr zu und rollte theatralisch mit den Augen. »Wir frönen unserem vergnüglichsten Zeitvertreib.«

Ein Kriminaltechniker nahm aus der Materialkiste einen Handstaubsauger. Er schaltete das Gerät ein und begann den gesamten Teppich systematisch von der oberen linken bis zur unteren rechten Ecke zu saugen. Anschliessend nahm er den Staubbeutel aus dem Gerät und schüttete den Inhalt vorsichtig in einen Pergaminbeutel.

Glauser schloss seine Augen. Er hörte die Geräusche der Spurensicherer: Schaben, Kratzen, Klappern, Pinseln, das Klicken der Fotokamera, sonst war es still. Er fühlte die trockenwarme Luft auf seiner Haut, mit der Zunge leckte er sich über die Lippen. Die Augen hielt er geschlossen, so wie gestern Abend, als er zu Hause in seiner Wohnung eine Schlafmaske über seine Augen gestülpt hatte, wie er das häufig nach Feierabend tat. Gestern war ein besonderer Tag. Zum ersten Mal hatte er ein Buch, mit Kurzgeschichten von Stanislaw Lem, in Blindenschrift zu Ende gelesen. Er war stolz auf sich gewesen, hatte sich blind einen Sherry eingeschenkt, mit dem Finger über dem Glas, damit er nichts verschüttete, und es in einem Zug geleert. Sollte er jemals blind werden wie sein Grossvater, wäre er gerüstet. Seine Angst vor der Dunkelheit schwand trotzdem nur zögerlich. Jeden Tag bangte er. Hoffentlich würde er den Horror der totalen Finsternis nie erleben.

Er musste an Tina denken. Mit dem Handrücken rieb er sich über die Augenlider. Kopfschmerzen pochten hinter den Schläfen. Heute Abend oder morgen, wenn es die Arbeit zuliess, würde er sie besuchen.

»In der Halle des Bergkönigs« von Edvard Grieg riss ihn aus seinen Gedanken. Glauser klaubte sein Handy aus der Jackentasche, klappte es auf und hörte kurz zu. »Nein, nicht nötig. Sichert jetzt die Videoaufnahmen der Überwachungskameras vom Zoo bis zum Toblerplatz. Wertet die letzten vierundzwanzig Stunden aus und kontrolliert, ob das Hotel Zürichberg und die Fifa am Eingang Kameras installiert haben. An einem dieser Orte muss der Täter vorbeigekommen sein. Wir suchen nach einer Person, die einen dunkelblauen Regenschutz trug.« Glauser wandte sich an Konrad Pfister. »Meine Leute konnten die Stichwaffe nirgendwo finden. Sie haben im Quartier alle Abfalleimer geleert, Büsche durchkämmt, Dolendeckel geöffnet. Nichts. Keine Spur.«

Pfister schüttelte resigniert den Kopf. »Das habe ich befürchtet.«

Glauser schaute auf seine Uhr. »Ist Sokrates schon eingetroffen?«

***

Sokrates stieg die drei Stufen in das Tram Nummer 9 hinauf und schob sich wie immer auf einen Sitzplatz auf der linken Seite des Wagens. Sein Buckel knackste, als er die Nylontasche auf den Nachbarsitz stellte. Das Tram roch säuerlich nach abgestandener Luft. Passagiere konnte er nur wenige ausmachen. Drei Reihen weiter vorne sass ein Junge, der in sein Smartphone starrte und angestrengt die Tasten drückte, er spielte wohl ein Game. Seine klobigen Turnschuhe hatte er auf den vorderen Polstersitz gelegt und die Kopfhörer in die Ohren gestöpselt. Maria würde ihn zusammenstauchen. Seine Tochter konnte es nicht ausstehen, wenn sich Leute unflätig benahmen. Er selbst verspürte keine Lust, dem Jungen Benehmen beizubringen. Am Wagenende schaukelte eine Mutter einen Kinderwagen, um das quengelnde Baby zur beruhigen. Eine alte Frau mit schlohweissem Haar klammerte sich an ihre schwarze Lederhandtasche, als ob sie befürchtete, jemand wolle sie ihr entreissen.

Das Tram ruckelte los, kletterte bergauf, am Hauptgebäude der Universität vorbei. Der kupferne Kuppelturm, von Patina grün verfärbt, erhob sich mächtig vor dem stahlblauen Himmel. Sokrates blickte aus dem Fenster, er bemerkte feine Kratzer, die sich im Frühlingslicht brachen. Das milchige Licht tauchte die Gebäude der ETH, die langsam an ihm vorbeizogen, in einen warmen Farbton.

Frühling, endlich Frühling!

Am Licht konnte er sich kaum satt sehen, die Natur schien zu explodieren, Blüten, Farben und Gerüche gab es in verschwenderischer Fülle.

Widerwillig unterbrach er seine Gedanken. Er hatte zu tun. Aus der Tasche seines Jacketts fingerte er sein Handy hervor. Er öffnete Google Maps und tippte die Adresse des Tatortes ein, der an der Zürichbergstrasse gelegen war, in der Nähe des Zoos. Er überlegte. Nik würde ihm heute nicht zur Hand gehen. Seinen Assistenten hatte er seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Nik hatte zum WK einrücken müssen und bis am letzten Freitagabend den Dienst als Militärarzt verrichtet. Sokrates selbst hatte den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigert. Er hatte nie so recht verstanden, wozu es Armeen braucht, ausser um Kriege zu führen. Und Gewalt lehnte er entschieden ab. Bei seiner Musterung beurteilte ihn das Kreiswehrersatzamt in Göttingen auf Tauglichkeitsgrad drei, eingeschränkt wehrtauglich, weil er damals schon einen kleinen Buckel trug und gänzlich unsportlich war. Seinen Antrag als Kriegsdienstverweigerer hatte er zuvor eingereicht. Er erinnerte sich, wie er als junger Bursche vor dem Prüfungsausschuss der Bundeswehr hatte antraben müssen. Der Ausschuss sollte ihn mit Gewissensfragen löchern und herausfinden, ob er es ehrlich meinte, und er tatsächlich den Dienst an der Waffe aus moralischen Gründen nicht leisten könne.

»Stellen Sie sich vor«, hatte ihn ein Bundeswehrbeamter gefragt, »Sie arbeiten in einem Büro im zehnten Stock eines Hochhauses. Sie schauen aus dem Fenster. Unter ihnen spielen Kinder in einem Kindergarten. Da bemerken Sie, wie sich ein Irrer den Kleinen nähert und einen Flammenwerfer auf sie richtet. Er beginnt zu feuern. Ein Kind fängt an zu brennen. Dann ein zweites.« Der Mann in Uniform blickte ihm in die Augen. »So ein Fall hat sich in Deutschland tatsächlich einmal zugetragen. Sie fragen sich: Was kann ich tun, um die Kinder zu schützen? Plötzlich haben Sie eine Idee: Sie packen Ihre Schreibmaschine und werfen sie dem Irren, der unmittelbar unter Ihnen steht, vom zehnten Stock auf den Kopf. Das würde er aber nicht überleben. Sie zögern. Was tun Sie? Töten Sie diesen einen Mann, um viele Kinder zu retten?«

Sokrates wusste nicht mehr, was er damals geantwortet hatte. Aber er hatte die Gewissensprüfung bestanden und durfte den Zivildienst leisten. Als Arzt stellte er sich seither diese Frage immer wieder: Gibt es Fälle, in denen es moralisch gerechtfertigt ist, einen Menschen sterben zu lassen oder ihn sogar zu töten?

An der ETH wechselte er in das Tram Nummer 6, das hinauf zum Zoo fuhr. Im vorderen Wagen stieg eine Schulklasse mit Primarschülern ein. Wohl eine Schulreise. Sie kicherten, schubsten sich und hüpften munter umher. Sokrates setzte sich ein wenig abseits.

Er dachte an seine Zeit als Zivildienstleistender, die er in einem Pflegeheim verbracht hatte. Er wusch die alten Menschen, fütterte sie und gab ihnen ihre Medikamente. Viele von ihnen hatten unerträgliche Schmerzen. Sie wimmerten und wollten nichts anderes als sterben. Sie verweigerten Essen und Trinken. Die Kanülen schlugen sie mit der Hand weg. Ein Arzt gab ihnen jeweils ein starkes Opiat, damit sie wegdämmerten. Er setzte ihrem Leiden ein Ende, auch wenn das für alte Menschen den Tod bedeuten konnte. Die Gefahr war gross, dass die starken Medikamente ihr Leben verkürzten. Aber das nahm der Arzt in Kauf. Sokrates hatte damals verstanden: Wir müssen dieses Leiden beenden, auch wenn das in letzter Konsequenz den Tod bringt.

Das Tram steuerte an der Kirche Fluntern vorbei, überquerte den Toblerplatz und ratterte auf der Krähbühlstrasse steil nach oben bis zur Endhaltestelle Zoo, die in eine Schleife mündete. Die Primarschüler stürzten schreiend aus dem Wagen, die Lehrerin mahnte vergeblich um etwas Ruhe. Sokrates erhob sich von seinem Sitzplatz und stieg aus. Er ging auf einem Trottoir unter einer Platanenallee entlang, die zum Zoo führte. In Gedanken zählte er die Strassenlaternen auf beiden Seiten. Wenn es bis zum Tatort weniger sind als siebenundzwanzig, sagte er sich, dann wird es heute ein guter Tag. Nicht so wie vor einem halben Jahr, als er den grössten Alptraum seines Lebens erlitten hatte. Über dem Zoo stiegen zwei Störche in den Himmel auf. Von weit her hörte er das laute Gelächter eines Jägerliest, einem Eisvogel aus Australien, wie er wusste, und der im Volksmund »Lachender Hans« genannt wurde. Hinter dem Friedhof Fluntern bog er in ein asphaltiertes Gässchen ein, das nach links abzweigte. Nach wenigen Metern sah er den mächtigen Mercedes-Kastenwagen der Spurensicherung. Der Tatort lag in einer kleinen Siedlung, umgeben von Sträuchern und Hecken. Nach einundzwanzig Strassenlaternen, ein gutes Omen!, erreichte Sokrates die Eingangstüre, die mit einem rot-weiss-gestreiften Plastikband versperrt war. Davor stand ein korpulenter Stadtpolizist in stahlblauer Uniform, den Sokrates schon von früheren Tatorten kannte. »Nehmen Sie den Lift nach oben in die Attikawohnung«, wies ihn der Polizist an, nachdem er Sokrates begrüsst hatte. »Die Kollegen von der Spurensicherung sind mit ihrer Arbeit fast fertig. Sie werden erwartet.«

»Wer ist das Opfer?«, fragte Sokrates.

»Leon Oswald, Mitte vierzig, Angestellter beim Zoo, tödlicher Stich in den Hals. Zudem hat ihm der Täter den Hosenlatz angezündet. Schwanz und Eier sind verkohlt. So sieht's aus.«

»Oha«, sagte Sokrates nur. Dann schlüpfte er unter dem Absperrband hindurch und begab sich ins Gebäudeinnere.

***

(Rascheln, Rumpeln)

(dumpfe Männerstimme) »Wo ... wo bin ich?« (Klopfen, Kratzen) »Oh mein Gott. Eine Kiste.« (lautes Poltern) »Hallo! Hallo, Herr (Tonschnitt), was soll das! Lassen Sie mich raus, verdammt!«

(verzerrte tiefe Stimme) »Sie haben mir alles genommen. (Pause) Sie haben sich aufgespielt, als wären Sie Gott, als wüssten Sie, was gut und böse ist. Dafür werden Sie büssen.«

»Was? Was soll ich getan haben? Ich habe Ihnen nichts getan.« (heftiges, dumpfes Schlagen)

»Lügen Sie mich nicht an! (Tonschnitt) Ich werde Ihnen Ihre Unverfrorenheit heimzahlen. Sie sind in mein Haus eingedrungen, in meinen Besitz. Ohne Skrupel. Taten so, als wüssten Sie alles besser. (Tonschnitt) Das werden Sie bereuen.«

»Bitte, bitte. Ich wollte nur helfen. Lassen Sie mich frei. Ich bin unschuldig! Keiner wird je davon erfahren, wenn Sie mich gehen lassen. Das verspreche ich Ihnen, Herr (Tonschnitt)«

»Zu spät. Ich kann nicht zulassen, dass Sie weiterhin Unheil anrichten. Ich muss Sie stoppen. Mein Entschluss steht fest. Ich werde Sie vernichten!« (Knacken)

Maria Noll schaute Orlando Lenzin verdutzt an, als sie die Tonaufnahme zu Ende gehört hatten. »Was war denn das? Spielt mir da jemand einen Streich?«

Ihr Cutter zuckte mit den Schultern. »Vermutlich ein Spinner oder Wichtigtuer.«

Zusammen hörten sie das Audiofile nochmals an, das ein Unbekannter Maria gemailt hatte. Kein Name, keine Adresse. Die Stimmen auf der Aufnahme kannte sie nicht. Sie pustete sich eine kastanienbraune Locke aus dem Gesicht. Ihre schmale Nase hatte sie gekräuselt, die vollen Lippen geschürzt, in den blaugrauen Augen standen Fragezeichen. »Klingt aber echt, da hat einer wirklich Angst.«

»Oder es sind Schauspieler, die eine Theaterszene ins Netz gestellt haben«, erwiderte Lenzin. »Auf YouTube findest du haufenweise solchen Schrott.«

»Mag sein, aber weshalb schickt mir jemand diese Tonaufnahme? Was bezweckt er damit? Und warum hat er eine Stimme elektronisch verzerrt? Das macht alles keinen Sinn. Womöglich schwebt jemand in Lebensgefahr. Ich muss das der Kripo melden.«

Maria sass neben Lenzin auf einem Schnittplatz, der in einem klimatisierten Kabäuschen im dritten Stock des Schweizer Fernsehens untergebracht war, wo sich alle Schnittplätze der tagesaktuellen Sendungen befanden. Die Kabine war mit silberfarbenen Platten verschalt. Schmale Fenster an den Seiten, so gross wie Schiessscharten, warfen vom Flur her Licht auf den Schnittplatz.

Lenzin, rote Pausbacken, Zahnlücke, Igelfrisur, trug einen dunkelbraunen Nicki über ein verwaschenes T-Shirt, das sich um seinen Bauch spannte. Wie immer fläzte er sich auf seinen Stuhl. Er war so tief heruntergerutscht, dass sein Kinn gerade noch über die Tischkante ragte. Seine linke Hand stützte wie gelangweilt den Kopf, mit der rechten bediente er die Tastatur für die Schnittsoftware. Maria wusste, dass der Eindruck täuschte. Orlando hatte eine schnelle Auffassungsgabe, war konzentriert und dachte mit. Sie arbeitete gerne mit ihm.

Auf dem Laptop hatte sie ein Dokument mit ihrem Drehbuch geöffnet, das mit »Mörderzeichen« betitelt war. In der linken Spalte beschrieb sie in Stichworten die einzelnen Filmszenen, in der rechten Spalte verfasste sie dazu den Filmkommentar. Sie arbeitete an einem Dokumentarfilm über einen Kriminalfall, der vor einem halben Jahr Zürich in Schockstarre versetzt hatte. Innerhalb einer Woche waren mehrere Menschen mit einem Genickschuss hingerichtet und verstümmelt worden. Maria hatte damals mehrfach über die Mordtaten in der Nachrichtensendung »Schweiz aktuell« berichtet. Ihre Recherchen trugen dazu bei, dass die Kripo den Fall lösen konnte. Der DOK-Chef hatte sie daraufhin angefragt, aus ihrem Filmmaterial einen fünfundvierzigminütigen Film zu schneiden. Maria hatte sofort zugesagt, sie wollte schon immer einmal eine grössere Geschichte für das Fernsehen realisieren.

»Einen Moment, Orlando, es dauert nicht lange«, sagte sie und klaubte mit zwei Fingern ein Smartphone aus ihrer engen Jeans. In ihren Kontakten suchte sie die Nummer von Theo Glauser. Sie lümmelte ihre Füsse auf den Tisch und drückte die Taste. Das Handy klemmte sie zwischen Schulter und Kinn.

»Kriminalpolizei Zürich«, meldete sich Glauser nach dem ersten Mal Klingeln.

»Hallo Theo, ich bin's, Maria Noll.«

»Was für eine Überraschung!« Glausers Stimme klang hörbar erfreut. »Seit unserem letzten grossen Fall habe ich nichts mehr von dir gehört. Was gibt's?«

»Jemand hat mir vor ein paar Minuten anonym ein Audiofile gemailt, ohne Kommentar. Nicht einmal in der Betreffzeile steht etwas geschrieben. Vielleicht ist es ein dummer Streich, aber es hört sich so an, als ob jemand entführt worden wäre und ihn der Täter verhört.«

Am andern Ende der Leitung blieb es einen Moment lang still. »Ein Kollege von der digitalen Forensik wird sich in den nächsten Minuten mit dir in Verbindung setzen«, sagte Glauser. »Wir gehen der Sache sofort nach. Er wird dir sagen, was zu tun ist.«

»Okay.«

»Sehr gut. Danke für die Meldung, auch wenn wir bereits in Arbeit ersticken«, sagte Glauser und legte auf.

Hoffentlich nimmt mich dieser Fall nicht allzu sehr in Anspruch, dachte Maria, mit meinem Dokumentarfilm habe ich momentan genug um die Ohren. Und mein Chef will auch ständig Geschichten von mir.

Sie wandte sich an Lenzin. »Orlando, lass uns das Interview mit Gerichtspsychiater Anton Zuberbühler nochmals anhören.«

»Jawoll, Ma'am«, antwortete Lenzin gedehnt wie ein Cowboy aus Texas. Er zog den Clip auf die Timeline und drückte auf Start. Konzentriert blickte Maria auf den Monitor.

»Bis dahin können wir das Interview ungekürzt übernehmen«, sagte sie. »Das steigert die Spannung. Was denkst du?«

Lenzin trommelte mit seinen Fingern auf dem Tisch. »Ja, das funktioniert.«

Maria dachte nach. Dann hatte sie einen Einfall. »Orlando, geh an den Schluss des Clips. Dort findest du den Telefonanruf, den ich vom Bestatter im Büro von Zuberbühler bekommen habe.«

Lenzin klickte auf das Ende des Clips. »Glücklicherweise hat dein Kameramann einen Zweier mit dir gedreht«, sagte er. »So können wir die Szene optimal dran schneiden.«

Glück dem Tüchtigen, freute sich Maria, auf Leo ist Verlass. Sie blickte auf den Monitor. Sie sah sich gegenüber dem Gerichtspsychiater sitzen, ihr Handy klingelt. »Ja, Herr Bodmer«, hörte sie sich mit belegter Stimme sagen, nachdem sie ihr Handy einen Augenblick lang ans Ohr gepresst hatte. »Ich habe Sie gehört. Danke für den Hinweis.« Maria sah auf dem Monitor, wie sie sich die Adresse notiert und auflegt. »Ein weiterer Mord im Kreis 7.«

Maria beugte sich zum Monitor vor, sie spürte, wie entsetzt der Gerichtspsychiater damals gewesen war.

Ihr Handy klingelte. Sie wandte ihren Blick vom Monitor ab und nahm es vom Tisch. Das Display zeigte die Nummer der Kripo an. »Ja, Maria Noll.«

»Benedikt Yerly, Kantonspolizei Zürich. Theo Glauser hat mich informiert, dass Sie ein verdächtiges E-Mail erhalten haben.«

»Ja, ein Audiofile mit einer Art Verhör. Jemand bedroht einen andern, den er vermutlich in einer Kiste gefangen hält.«

»Leiten Sie mir das Mail weiter. Und kopieren Sie den Quelltext. Wissen Sie, wie das geht?«

»Das krieg ich hin«, antwortete Maria.

Sie war froh, dass Yerly nicht ihren Laptop beschlagnahmen wollte. Das würde sie niemals zulassen. Auf ihrem Laptop hatte sie wichtige Quellen, Informanten und heikle Dokumente gespeichert, die sie unter allen Umständen schützen musste. Notfalls hätte sie ihren Laptop vor einem Zugriff der Polizei zerstört und im Leutschenbach vor dem Fernsehstudio versenkt.

»Orlando, du kannst eine Kaffee-Pause machen. Ich muss etwas für die Kapo erledigen.«

»Aye, aye, Ma'am.« , erwiderte Lenzin und hievte seinen Körper unter dem Tisch hervor.

Maria öffnete das anonyme E-Mail mit dem Audiofile. Sie klickte auf den Options-Pfeil, der sich rechts oben des Mails befand und drückte »Original anzeigen«. Sofort wurde der komplette Quelltext sichtbar.

Normalerweise half sie der Kripo nicht mit eigenen Recherchen oder Daten, die sie erhalten hatte. Sie wollte kein Handlanger der Behörden sein. Das wäre unprofessionell. Aber in diesem Fall, bei einem möglichen Kapitalverbrechen, war das etwas anderes. Sie kopierte den Datenwust des Quelltextes mitsamt Header und den IP-Adressen in ein Word-Dokument und mailte alles zusammen mit dem Audiofile an Yerly.

Dann griff sie zum Handy. »Eugen, vielleicht haben wir eine Räuber-Geschichte. Eine Entführung. Der Täter hat mir ein Audiofile gemailt, auf dem er sein Opfer verhört. – Keine Ahnung warum. Die Kripo ist am Fall dran.« Sie hörte dem Produzenten kurz zu. »Verstanden. Redaktionssitzung um elf.« Nachdenklich öffnete sie ein neues Word-Dokument und speicherte es unter: »Entführung«. Die verzerrte Stimme auf der Tonaufnahme ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. »Ich werde Sie vernichten ... Ich werde Sie vernichten.«

Zwei

Sokrates roch den Gestank von verbranntem Fleisch, als er mit dem Lift in die Attikawohnung fuhr. Das Opfer war keine vierundzwanzig Stunden tot, schätzte er, Verwesungsgeruch hatte sich noch nicht ausgebreitet. Er grüsste Glauser, der gerade telefonierte, mit einem kurzen Nicken und begab sich zu ihm. »Lukas, schau nach, ob ein Leon Oswald irgendwo registriert ist, Vorstrafen, Betreibungen, Handelsregisterauszug und so weiter«, hörte er ihn sagen. Glauser war ein paar Jahre jünger als er, grossgewachsen, sehnig, jede seiner Bewegungen schien kontrolliert. Er hatte braune, an den Schläfen graumelierte Haare, dunkelbraune Augen, eine hohe Stirn und ein markantes Kinn. Das letzte Mal war er Glauser bei einem Todesfall vor ein paar Wochen begegnet. Die Leiche, eine dreiundachtzig Jahre alte Frau, wies tiefe Stichverletzungen im Brustkorb auf. Bei der Obduktion stellte er jedoch fest, dass sie sich diese Wunden selbst zugefügt hatte. Suizid auf eine brutale, schmerzvolle Art.

Sokrates stellte seine schwarze Nylontasche, die Utensilien enthielt, wie sie ein Rechtsmediziner bei einer Leichenschau benötigte, auf den Boden und öffnete sie. Er nahm einen Overall hervor, schlüpfte in Überschuhe und zog Latexhandschuhe an. Dann nahm er seine Brille ab, hauchte auf die Gläser und putzte sie. Er blickte sich um. Das Entrée war grosszügig geschnitten. An den glatten, weissen Wänden mit modernen Schattenfugen bemerkte er fünf gerahmte Grafiken mit gleichschenkligen Dreiecken. Die geometrischen Formen waren mit einer kobaltblauen Linie gezeichnet, die spiralförmig zusammen liefen, sodass ein äusseres Dreieck ein kleineres im Innern einschloss. Der Eingangsraum war fast unmöbliert. Auf dem Polstersessel sicherte ein Forensiker mit einer durchsichtigen Klebefolie Fusseln, Haare und Stofffasern. Zone für Zone zog er ab. Die Spuren, die am Klebeband anhafteten, verstaute er in einer Kiste.

»Die Spurensicherung ist gleich abgeschlossen«, sagte Glauser zu Sokrates, nachdem er das Telefongespräch beendet hatte, und gab ihm die Hand. »Vermutlich hat das Opfer seinen Mörder gekannt«, informierte er ihn. »Darauf deutet auch die heftige, emotionale Tat hin.«

»Du gehst von einem Beziehungsdelikt aus?«, fragte Sokrates.

»Ja, vorläufig. Der Täter war offensichtlich hasserfüllt. Der Stich in den Hals und die verbrannten Genitalien lassen darauf schliessen.«

»Sokrates, du kannst loslegen«, rief ihm Philip Kramer durch die Gesichtsmaske zu.

»Einen Moment, bitte. Bevor ihr den Toten entkleidet, muss ich noch Nahaufnahmen von ihm machen«, sagte Lara. Sie trat mit ihrer Digitalkamera heran, beugte sich über den Toten und fotografierte die Stichwunde. Eine rote Locke, die aus der Kapuze herausgerutscht war, wippte neben ihrer Schläfe. Mit einer anmutigen Handbewegung strich sie die Locke wieder zurück. Dann begab sie sich zur verbrannten Hose. Konzentriert und ohne Regung, wie Sokrates fand, schoss sie ein Foto nach dem andern. Zum Schluss überprüfte sie auf dem Display die Aufnahmen. »Fertig«, sagte sie und spitzte zufrieden ihre Lippen.

»Kannst du mir bei der Legalinspektion helfen?«, bat Sokrates Kramer. »Mein Assistent hat heute frei.«

Kramer nickte.

»Wir ziehen ihm zuerst das Hemd aus«, wies ihn Sokrates an. »Der Kragen darf dabei die Stichwunde nicht berühren.« Kramer ging in die Hocke und öffnete den obersten Knopf. Sokrates hielt den Hemdkragen zwischen Daumen und Zeigfinger fest und zog den Stoff von der Wunde weg. Dabei bemerkte er auf der Krageninnenseite das eingestickte Logo des Kleiderherstellers, ein winziges rosarotes Herz, das in einem etwas grösseren Herzen gefangen war. Vorsichtig knöpfte Kramer das Hemd auf. Sokrates versuchte, den rechten Arm der Leiche zu beugen. Das war nicht möglich. »Die Totenstarre ist vollständig ausgeprägt«, sagte er. »Leon Oswald ist seit mindestens neun Stunden tot. Er wurde voraussichtlich gestern Abend getötet.«

Glauser schaute auf seine Uhr. »Also vor Mitternacht? Kannst du den Todeszeitpunkt stärker eingrenzen?«

»Tut mir leid, das ist auf die Schnelle nicht möglich.«

Glauser notierte sich die Angaben in ein Heft. Zusammen mit Kramer zog Sokrates dem Toten das Hemd aus, öffnete dessen Gürtel und entfernte die Hose. Um den Reissverschluss herum waren grosse Brandlöcher zu sehen, der Stoff war an vielen Stellen verkohlt oder angesengt, die Feinrippunterhose hing in schwarzen Fetzen um die Lenden. Kramer verstaute die Kleidungsstücke in grossen Papiersäcken. Lara dokumentierte die Wunden mit ihrer Fotokamera. Die Leiche mit den verkohlten Genitalien zwischen den bleichen Schenkeln und dem blassen Oberkörper wirkte unwirklich wie eine kaputte Schaufensterpuppe auf einer Müllhalde.

»Bringen wir die Leiche in die Seitenlage«, sagte Sokrates, »damit ich die Körpertemperatur bestimmen kann.« Zusammen drehten sie den Toten um. Sokrates nahm aus seiner Tasche einen elektronischen Thermometer mit Digitalanzeige. Er mass die Raumtemperatur, einundzwanzig Komma vier Grad, und führte anschliessend das Messgerät rektal acht Zentimeter tief in die Leiche ein, sechsundzwanzig Komma zwei Grad. Beide Daten notierte er sich auf ein Leichenschauformular. »Mit dem Temperaturnomogramm sollte ich den Todeszeitpunkt ziemlich genau bestimmen können«, sagte er zu Glauser gewandt. »Meine Erfahrung sagt mir aber schon jetzt, dass Oswald seit zwölf bis vierzehn Stunden tot ist.«

»Woher weisst du das?«

Sokrates tippte mit seinem Zeigfinger auf die Nase. »Instinkt.«

Glauser lächelte. »Danke, Sokrates. Leon Oswald wurde also gestern Abend zwischen acht Uhr und zehn Uhr getötet. Das hilft uns weiter.«

Sokrates strich von der Leiche die Nackenhaare weg und untersuchte das Genick. Keine Ausstichwunde. Das Messer hat den Hals des Opfers nicht durchstossen. Er inspizierte jeden Quadratzentimeter des Rückens. Spuren von Gewalteinwirkung konnte er keine entdecken, obwohl das wegen den Totenflecken erschwert war. Die Haut war am Rücken, an den Unterseiten von Armen, Oberschenkeln und Waden dunkelviolett verfärbt. Nur auf dem Gesäss, an Schultern und Fersen waren helle Flecken zurückgeblieben. Dort hatte der Körper aufgelegen und das Blut weggedrückt, sodass es nicht in die Kapillaren der Lederhaut fliessen und gerinnen konnte. »Die Leiche von Oswald wurde zwanzig Minuten nach Eintritt des Todes nicht mehr bewegt. Das zeigen uns die Totenflecken«, sagte er.

Sokrates rollte die Leiche wieder auf den Rücken, während Kramer einen Wattetupfer aus der Materialkiste holte. »Lass mich eine Probe vom Fingernagelschmutz nehmen. Vielleicht hat sich das Opfer gewehrt und wir finden Hautpartikel, die vom Täter stammen. Obwohl die Chance klein ist.« Er kniete sich hin, nahm die linke Hand der Leiche und rieb den Wattebausch unter den Fingernägeln hin und her. Den Tupfer klemmte er in die Halterung einer Kartonschachtel.

»Wir sind mit der Spurensicherung fertig. Ihr könnt Ausrüstung und Asservate in den Laster bringen«, wies Kramer seine Leute an. »Die restlichen Spuren in der Wohnung sichern wir morgen. Ich werde hierbleiben und Sokrates bei der Leichenschau assistieren.«

Sofort machten sich die Kriminaltechniker an die Arbeit. Elf Kisten, gefüllt mit gesicherten Spuren, Werkzeugen, und Hilfsmitteln schleppten sie vom Absatz des Treppenhauses nach unten.

***

»Die Vorstellung ist gruselig, dass über unserer Wohnung ein Killer unseren Nachbarn ermordet hat. Gestern Nachmittag habe ich Herrn Oswald noch aus seinem Kellerabteil kommen sehen. Er hatte sich eine Flasche Wein geholt. Wir haben kurz miteinander geplaudert. Und dann? Ein paar Stunden später ist er tot.« Der Nachbar schüttelte seinen kahlen Kopf und strich mit der Hand seinen struppigen rotblonden Schnauz glatt, der aussah wie von einem Pornodarsteller aus den siebziger Jahren, fand Emma. Als Jugendliche, sie war gerade fünfzehn Jahre alt geworden, hatte sie sich einmal mit einem älteren Jungen aus dem Taekwondo-Club getroffen, der mit ihr zusammen unbedingt ein paar Pornos anschauen wollte. Sie tat ihm den Gefallen. Danach nötigte er sie, mit ihr die Szenen nachzuspielen. Sie schlug ihm die Nase blutig, als er aufdringlich wurde. Ihr schwarzer Gurt, vierter Dan, hatte sich ausbezahlt. Von da an wusste sie endgültig, dass ihr Gefühl sie seit ihrer Kindheit nicht trog und sie Frauen wesentlich anziehender fand.

»Meine Frau und die Kinder, wir waren gestern Abend alle zu Hause. Der Mörder befand sich nur wenige Meter von uns entfernt. Ein grauenhafter Gedanke.«

Emma und Franz Ulmer standen im Treppenhaus vor der Wohnungstüre im zweiten Stock. Obwohl es später Vormittag war, hatten sie den Nachbarn angetroffen. Er sei Lehrer an der Technischen Berufsschule und habe heute schulfrei, hatte er ihnen erklärt.

»Wie haben Sie vom Tötungsdelikt erfahren?«, fragte Emma. Den lästigen Gedanken an den Pornoschnauz, der sie wie das Ticken einer Wanduhr nervte, schob sie beiseite.

»Die Putzfrau klingelte bei uns so gegen acht Uhr. Sie hat am ganzen Körper gezittert. ›Herr Oswald ist tot, der Herr Oswald ist tot‹, rief sie die ganze Zeit. Ich schenkte ihr eine Tasse Tee ein und bin anschliessend mit dem Lift nach oben gefahren. Da habe ich ihn liegen sehen. Erstochen. Mit verbrannten ...« Er stockte. »Ich rief sofort die Polizei.«

»Haben Sie gestern Abend etwas Ungewöhnliches gehört? Einen Streit oder Geschrei?«

»Nein, das ist es ja. Da stirbt ein Mensch und keiner bekommt das mit.« Der Nachbar kratzte mit seinen kurzen Fingern den kahlen Schädel.

»Kannten Sie Herrn Oswald?«

»Nur flüchtig. Er wohnt erst seit etwa einem halben Jahr in dieser Siedlung. Als er im Herbst einzog, lud er alle Nachbarn auf seiner Dachterrasse zu einem Apéro ein. Das war eine schöne, kleine Feier, ein gelungener Einstand.«

»Wie haben Sie ihn erlebt?«

»Leon ist sehr aufmerksam. Meine Frau sagt, er sei ein Charmeur. Er hat tadellose Manieren, hört interessiert zu, erzählt aber auch von sich, wenn man ihn fragt.«

»Sie duzen sich?«

»Ja, alle Nachbarn hier tun das. Es ist eine kleine Siedlung, wir kennen uns. Jeden Sommer veranstalten wir eine Grillparty, es geht bei uns sehr familiär zu.«

»Herr Oswald lebte allein, auf dem Klingelschild steht nur sein Name. Hatte er eine Frau oder Freundin?«, fragte Ulmer.

»Nein, ich denke nicht. Zumindest nichts Festes. Aber seine Tochter besucht ihn alle zwei Wochen. Er ist ganz vernarrt in sie. Von seiner Freundin hat er sich schon vor Jahren getrennt, hat er mir einmal erzählt.«

»Wie heisst sie?«

»Seine Ex-Freundin?«

»Ja.«

»Tut mir leid, das weiss ich nicht. Ich bin ihr nie begegnet. Ich glaube, sie bringt ihre Tochter zu Leon und verschwindet sofort wieder. Sie scheinen nicht viel miteinander zu reden.«

»Kennen Sie die Tochter?«, fragte Emma weiter.

»Vor etwa drei Wochen habe ich sie auf dem Spielplatz der Siedlung gesehen, als ich meine Kinder von dort abholte. Sie spielen öfters miteinander. Sie ist so alt wie meine Tochter, fünf.« Der Nachbar drehte seinen Kopf um und rief durch die offene Türe: »Paula, wie heisst die Tochter von Leon?«

»Selina.«

Emma notierte sich den Namen.

»Wir müssen in Erfahrung bringen, wie die Ex-Freundin von Herrn Oswald heisst«, sagte Ulmer. »Gibt es jemand in der Siedlung, der das wissen könnte?«

»Fragen Sie Frau Bucher im gegenüberliegenden Gebäude, die weiss immer alles«, antwortete der Nachbar und verdrehte dabei die Augen.

»Pflegte Herr Oswald ein besonderes Hobby, was tat er in seiner Freizeit?«

Das Gesicht des Nachbarn hellte sich auf. »Er schnitzt Holzmasken für die Fasnacht. Im Keller hat er eine Werkstatt eingerichtet. Dort trifft man ihn immer wieder nach Feierabend an. Ich war einmal dort. An den Wänden hängen Dutzende furchteinflössende Masken. Wollen Sie sein Atelier sehen?«

»Haben Sie denn für seinen Keller einen Schlüssel?«

»Ja, die Putzfrau hat ihn mir heute Morgen gegeben.«

»Händigen Sie ihn mir aus«, sagte Emma. »Der Keller darf nur von der Polizei betreten werden.«

Zusammen stiegen sie die Treppen hinunter. Der Nachbar zeigte auf die Tür zur Werkstatt. Emma öffnete das Schloss und schaltete das Licht an. Zwei Reihen Neonröhren flackerten auf und tauchten einen etwa zwanzig Quadratmeter grossen Raum in grelles Licht. Emma und Ulmer traten ein. Es roch nach Holz, Farbe und Benzin. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine mächtige Werkbank, darüber waren Werkzeugkästen an die Betonwand geschraubt. Was Emma sah, kam ihr vertraut vor. Ihr Vater war Möbelschreiner gewesen, als Kind hatte sie ihn häufig in seiner Werkstatt besucht. Auf der Werkbank lagen Stechbeitel unterschiedlicher Grösse, Schnitzmesser, Stemmeisen und ein Holzhammer. Zwei grob behauene Rohlinge einer Teufelsmaske lehnten an der Wand. In einer Ecke hatte Oswald mehrere Holzblöcke gestapelt, Arvenholz, vermutete Emma. Darauf lagen eine Motorsäge und eine Schleifmaschine. Ein Schränkchen war mit Acrylfarben, Lackdosen und Flaschen mit Chemikalien gefüllt. An den Wänden hingen Masken von Hexen, Teufeln und Dämonen mit Hörnern, gefletschten Zähnen und blutunterlaufenen Augen.

»Damit kann man Kinder ganz gehörig erschrecken«, raunte Ulmer leise zu Emma und schaute sie schelmisch an. »Kinderschreck Oswald.«

Emma lächelte. Sie arbeitete gerne mit ihrem humorvollen Kollegen zusammen, der immer einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte. Sie hatte ihn kaum einmal mit schlechter Laune gesehen. Ein Text, der in einem Bilderrahmen gefasst war und oberhalb der Werkbank hing, weckte Emmas Aufmerksamkeit. Sie trat heran und las ihn: »Die Maske war schon immer da. Man muss nur das Überflüssige weghauen. Zitat nach Michelangelo«.

»Vielleicht hat Leons Tod etwas mit seinem Hobby zu tun«, sagte der Nachbar, der am Türrahmen lehnte. »Ein Ritualmord. Womöglich hat er in einem Geheimzirkel mitgemacht. Oder in einer Teufelssekte.«

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Ulmer.

Nachdem sie jeden Winkel der Werkstatt inspiziert hatten, ohne einen Hinweis auf ein Tatmotiv gefunden zu haben, stiegen sie wieder die Treppe nach oben. Vor der Haustüre sagte Ulmer zum Nachbarn: »Eine letzte Frage: Jemand musste Leon Oswald so sehr gehasst haben, dass er ihn auf diese Weise umbrachte. Können Sie sich vorstellen, wer das gewesen sein könnte?«

Der Nachbar schüttelte den Kopf, seine braunen Augen sahen dabei so bekümmert aus wie von einem Dackel, der um eine Wurst bettelte. »Nein, Leon war freundlich zu jedem, kinderlieb, ein Tierarzt im Zoo, der kranke Tiere behandelte. Warum sollte er Feinde haben? Es ist mir unbegreiflich, wer ihm das antun konnte.«

»Gehörnter Ehemann, enttäuschte Geliebte?«

»Keine Ahnung, davon weiss ich nichts.«

Emma und Ulmer verliessen das Haus und überquerten den Innenhof, der gesäumt war mit Sträuchern und Bäumen. Es roch frisch nach geschnittenem Gras.

Einige Bewohner der Siedlung waren abwesend, andere wussten nur wenig von Oswald zu berichten. Leon habe sich um den gemeinsamen Komposteimer gekümmert, erzählte eine Nachbarin. Für ihn sei der Umweltschutz sehr wichtig gewesen. Eine andere sah ihn einmal auf der Terrasse vom »Alten Klösterli« ein Bier trinken. Sein tägliches Feierabendbier, habe er ihr schmunzelnd anvertraut, das sei für ihn ein wichtiges Ritual. Emma und Ulmer gingen von Haustüre zu Haustüre. Jede Einzelheit trugen sie zusammen. Das war nicht viel.

»Was wollen Sie?«, fragte ein Mann schroff, als er die Türe öffnete.

»Kriminalpolizei Zürich«, antwortete Ulmer.

»Können Sie sich ausweisen? Da könnte ja jeder kommen.«

Ulmer zeigte ihm seinen Dienstausweis. Der Mann, Ende dreissig, muskulös, Kurzhaarfrisur, nahm ihn entgegen und betrachtete ihn genau.

»Was wollen Sie?«

»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Nachbarn Leon Oswald stellen.«

»Den kenne ich nicht, noch nie gesehen.«

»Dann wissen Sie auch nicht, was ihm zugestossen ist?«

»Nein, interessiert mich auch nicht. Auf Wiedersehen.« Er wollte gerade die Türe zuschlagen, als Ulmer sie wieder aufdrückte.

»Wir sagen, wann wir fertig sind«, sagte er mit schneidender Stimme. »Zeigen Sie uns Ihre ID, wir nehmen Ihre Personalien auf.«

Emma blickte erstaunt zu Ulmer. Das hatte sie bei ihrem Kollegen selten erlebt. Franz regt sich über den Kerl auf, dachte sie, und nimmt ihn ein bisschen in die Mangel. Na ja, verständlich, der Typ ist ein Rüpel. Nach den Formalitäten, die der Kurzhaarige grummelnd über sich ergehen liess, klingelte Emma an der gegenüberliegenden Wohnung.

Frau Bucher öffnete die Wohnungstüre einen Spaltbreit und steckte ihren Kopf hindurch. Ihre blondierten Haare hatte sie mit Lockenwicklern eingedreht. Emma schätzte ihr Alter auf Ende fünfzig. Das Permanent Make-up wirkte auf ihrem runzeligen, solariumgebräunten Gesicht seltsam clownesk. Die schmalen Lippen waren kirschrot geschminkt, die braunen Augen mit einem pflaumenfarbenen Lidschatten versehen.

»Die Polizei!«, rief Frau Bucher erfreut und öffnete die Türe sperrangelweit. Sie trug einen hellblauen Bademantel mit offenherzigem Decolletée und grüne Flip-Flops. Ihre Stimme klang schrill. »Ich habe Sie schon erwartet. Schrecklich, was mit Leon passiert ist.« Bekümmert hielt sie sich eine Hand vor den Mund. »Heutzutage ist man nirgendwo mehr sicher. Nicht einmal in der eigenen Wohnung. Erstochen, an einem Sonntag! Das tut man doch nicht.«

»Frau Bucher, können Sie uns sagen, wie die Mutter von Selina heisst, die Ex-Freundin von Herrn Oswald?«, unterbrach Ulmer ihren Redeschwall.

Buchers Augen leuchteten, ihre Wangen glühten vor Aufregung. »Ja, das weiss ich«, antwortete sie wichtig und senkte ihre Stimme. »Sie heisst Sofia.« Und nach einer Pause. »Sofia Hartwig.«

»Wo wohnt sie?«

»In Zürich. Die Adresse kenne ich nicht.«

»Vielen Dank, Ihre Information hilft uns weiter«, sagte Emma. Ulmer schrieb den Namen auf.

»Kennen Sie Herrn Oswald?«, fragte Emma.

»Ja, ein Mann mit Stil. Gebildet. Angenehm im Umgang. Ein Gentleman. Und überhaupt nicht hochnäsig. Einmal hat er mir von der Tramhaltestelle die Einkaufstaschen nach Hause geschleppt.«

»Hatte er Freunde?«

»Manchmal kamen Leute zu Besuch. Mehr weiss ich nicht.« Frau Bucher schaute auf eine Art, wie es Schüler tun, die sich ertappt fühlen, weil sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. »Aber eine Freundin hatte er nicht. Da bin ich mir sicher.«

»Wer konnte Herrn Oswald den Tod gewünscht haben?«

Frau Bucher senkte ihre Augen, als ob sie sich schämen würde, weil sie die Antwort schon wieder nicht kannte. »Das weiss ich nicht. Leon war ein herzensguter Mann. Einmal lud er alle Kinder im Quartier in den Zoo ein. Er organisierte eine Führung für sie, ein Blick hinter die Kulissen, mit Fütterung und so. Solch einen Menschen tötet man doch nicht.«

***

»Was soll das! Lassen Sie mich raus, verdammt!«