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Douglas Preston

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Beschreibung

Wissenschaft, Spannung und Action: Special Pendergasts zehnter, sehr persönlicher Fall. Auf dem Stammsitz seiner Familie macht Pendergast eine ungeheuerliche Entdeckung: Seine Frau Helen ist vor zwölf Jahren nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen – es war ein heimtückischer Mord! Gemeinsam mit seinem Freund D'Agosta beginnt Pendergast zu ermitteln, doch in den Schatten der Vergangenheit verbirgt sich manches Geheimnis, das besser nicht gelüftet worden wäre. Pendergast muss erkennen, dass Helen ihn aus vielen Gründen geheiratet hat, nur nicht aus Liebe. Aber welche Rolle spielte ein geheimnisumwitterter Künstler aus dem 19. Jahrhundert und eine Fieberkrankheit, die stets tödlich endet? »Fever« von Douglas Preston und Lincoln Child ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nerverzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unsere Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!

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Fever

Schatten der Vergangenheit. Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast

Aus dem Amerikanischen von Michael Benthack

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Über dieses Buch

Special Agent Pendergast kehrt auf den Stammsitz seiner Familie zurück. Hier erwarten ihn viele sorgsam verdrängte Erinnerungen – auch die an seine Frau, die vor zwölf Jahren bei einem schrecklichen Unfall umgekommen ist. Doch nun findet Pendergast Hinweise, dass Helen in Wahrheit das Opfer eines heimtückischen Mordes wurde. Gemeinsam mit seinem besten Freund D’Agosta beginnt er zu ermitteln und muss bald erkennen, dass Helen ihn anscheinend aus vielen Gründen geheiratet hat, nur nicht aus Liebe.

Aber warum musste Helen sterben? Und was hat dies alles mit einem Künstler aus dem 19. Jahrhundert zu tun, von dem sie geradezu besessen war, einem Genie, das unter einer rätselhaften Fieberkrankheit litt? Nur eins steht fest: Helen hat ein Geheimnis mit ins Grab genommen – und es gibt immer noch jemanden, der bereit ist, dafür über Leichen zu gehen …

Inhaltsübersicht

WidmungZwölf Jahre zuvor1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelIn der Gegenwart5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. KapitelEPILOGHinweisANMERKUNGEN DER AUTORENDIE PENDERGAST-ROMANEUnsere anderen Romane
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Für Jaime Levine

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Zwölf Jahre zuvor

1

Musalangu, Sambia

Wie ein Waldbrand erleuchtete die untergehende, flammend gelbe Sonne den afrikanischen Busch, während sich ein drückend heißer Abend über das Camp senkte. Im Osten zeichneten sich die Hügelkuppen am Oberlauf des Makwele wie stumpfe grüne Zähne vor dem Himmel ab.

Mehrere staubbedeckte Segeltuchzelte umstanden eine festgetrampelte Fläche im Schatten alter Musasa-Bäume, deren Äste sich wie smaragdgrüne Regenschirme über das Safari-Camp spannten. Von einem Kochfeuer stieg eine Rauchfahne kräuselnd durch das Blätterdach in den Himmel und verbreitete den betörenden Duft von brennendem Mopane-Holz und gegrillter Kudu-Antilope.

Im Schatten des Baumes in der Mitte saßen sich ein Mann und eine Frau auf Camp-Stühlen an einem Tisch gegenüber und tranken Bourbon auf Eis. Ihre staubige Khakibekleidung – lange Hosen und langärmelige Hemden – bot ein wenig Schutz vor den Tsetse-Fliegen, die am Abend herumschwirrten. Beide waren Ende zwanzig. Der schlanke, hochgewachsene Mann fiel durch seine kühle, fast eisige Blässe auf, an der die Hitze abzugleiten schien. Seine Kühle schien nicht auf die Frau abzustrahlen. Träge fächelte sie sich mit einem großen Bananenblatt Luft zu, wodurch sich ihr dichtes, kastanienbraunes Haar, das sie mit einem Stück Bindfaden locker im Nacken zusammengebunden hatte, leicht bewegte. Sie war sonnengebräunt und wirkte entspannt. Das leise Gespräch, das gelegentlich vom Lachen der Frau unterbrochen wurde, war von den Geräuschen des afrikanischen Buschs kaum zu unterscheiden, von den Rufen der Grünen Meerkatzen, dem Kreischen der Frankolinen und dem Tschilpen der dunkelroten Amarante, die sich mit dem Klappern der Töpfe und Pfannen im Küchenzelt vermischten. Unterlegt wurde dieses abendliche Konzert vom gelegentlichen Brüllen eines Löwen tief im Busch.

Bei den beiden Personen handelte es sich um Aloysius X. L. Pendergast und seine Frau Helen, mit der er seit zwei Jahren verheiratet war. Sie hatten soeben eine Jagdsafari im Musalangu-Wildpark beendet, bei der sie im Rahmen eines Programms der sambischen Regierung zur Herdenreduzierung Buschbock und Ducker geschossen hatten.

»Möchtest du noch einen Sundowner?«, fragte Pendergast seine Frau und hob den Cocktail-Krug ein wenig an.

»Noch einen?«, antwortete sie lachend. »Aloysius, du planst doch wohl hoffentlich keinen Anschlag auf meine Tugendhaftigkeit.«

»Nichts läge mir ferner. Meine Hoffnung war, wir könnten den Abend mit der Diskussion über Kants kategorischen Imperativ zubringen.«

»Also, genau davor hat mich meine Mutter immer gewarnt. Da heiratest du einen Mann, weil du meinst, er kann gut mit dem Gewehr umgehen, und stellst dann fest, dass er ein Kopfmensch ist.«

Pendergast lachte, er trank einen Schluck und blickte in sein Glas. »Afrikanische Minze hat eine gewisse Schärfe.«

»Armer Aloysius, dir fehlen deine Juleps. Na, wenn du den FBI-Job annimmst, den Mike Decker dir angeboten hat, kannst du von morgens bis abends Juleps trinken.«

Wieder nippte Pendergast nachdenklich an seinem Glas und betrachtete seine Frau. Erstaunlich, wie rasch sie unter der afrikanischen Sonne braun wurde. »Ich habe mich entschlossen, das Angebot abzulehnen.«

»Und warum?«

»Weil ich mir unsicher bin, ob ich in New Orleans bleiben möchte, mit allen Konsequenzen, die das mit sich brächte – den familiären Komplikationen, den unangenehmen Erinnerungen. Und ich habe schon genug Gewalt erlebt, meinst du nicht?«

»Ich weiß nicht, findest du? Du erzählst mir so wenig aus deinem früheren Leben, dabei kennen wir uns schon so lange.«

»Ich bin nicht fürs FBI geschaffen. Ich mag keine Regeln. Außerdem reist du als Mitarbeiterin dieser ›Doctors With Wings‹ ständig in der Weltgeschichte herum. Wir könnten überall wohnen, solange ein internationaler Flughafen in der Nähe ist. Die Seelen, die nur eine sind, erleiden doch keinen Bruch; sie weiten sich, wie Gold gehämmert wird zu Hauch.«

»Ich bitte dich, da schleppst du mich mit nach Afrika und zitierst John Donne. Kipling, den vielleicht.«

»Jede Frau weiß alles über alles«, zitierte er.

»Wenn ich’s mir recht überlege, verschone mich auch mit Kipling. Was hast du eigentlich als Jugendlicher gemacht – Zitatensammlungen auswendig gelernt?«

»Unter anderem.« Pendergast blickte auf. Auf dem Trampelpfad näherte sich aus westlicher Richtung eine Gestalt. Der hochgewachsene Mann vom Stamm der Nyimba trug Shorts und ein schmutziges T-Shirt, hatte ein uraltes Gewehr über die Schulter gelegt und einen gegabelten Gehstock in der Hand. Kurz vor dem Camp blieb er stehen und rief etwas auf Bemba, der lokalen lingua franca, worauf aus dem Küchenzelt Willkommensgrüße ertönten. Dann ging er weiter, hinein ins Camp, und näherte sich dem Tisch, an dem das Ehepaar Pendergast saß.

Beide erhoben sich. »Umú-ntú ú-mó umú-sumá á-áfíká«, begrüßte Pendergast den Mann und ergriff seine staubige, warme Hand – der sambische Stil. Der Mann hielt Pendergast seinen Stock hin; in der Gabelung steckte ein Brief.

»Für mich?«, fragte Pendergast auf Englisch.

»Vom District Commissioner.«

Pendergast warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, dann nahm er den Brief und faltete ihn auseinander.

Mein lieber Pendergast,

ich wünsche Sie umgehend über Funk zu sprechen. Im Kingazu-Camp hat sich eine hässliche Sache ereignet, eine ganz hässliche.

Alistair Woking, DC

Süd-Luangwa

 

P.S. Mein lieber Freund, Sie wissen ganz genau, dass es gesetzlich vorgeschrieben ist, in jedem Busch-Camp eine Funkstation einzurichten. Ich finde es ausgesprochen ärgerlich, einen Boten schicken zu müssen.

Helen Pendergast blickte ihrem Mann über die Schulter. »Der Ton gefällt mir gar nicht. Worum geht’s bei dieser ›hässlichen Sache‹, was meinst du?«

»Vielleicht hat ein Nashorn einem Fototouristen amouröse Avancen gemacht.«

»Ich finde das gar nicht komisch«, sagte Helen, lachte aber trotzdem.

»Es ist Brunftsaison, weißt du.« Pendergast faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Brusttasche. »Ich fürchte, dass unser kleiner Jagdausflug hiermit beendet ist.«

Er ging zum Zelt hinüber, öffnete eine Box und schraubte die krummen und schiefen Teile einer Luftantenne zusammen, mit der er in einen Musasa-Baum kletterte, wo er sie an einem der oberen Äste befestigte. Anschließend stieg er herunter, stöpselte das Funkkabel in das Ein-Band-Mobilfunkgerät, das er auf den Tisch gestellt hatte, schaltete es ein, stellte die richtige Frequenz ein und schickte einen Funkspruch ab. Unmittelbar darauf erklang die gereizte Stimme des District Commissioners, quäkend und krächzend.

»Pendergast? Um Gottes willen, wo stecken Sie bloß?«

»Ich bin im Camp am Oberlauf des Makwele.«

»Verdammt. Ich hatte gehofft, Sie campierten näher an der Banta Road. Warum zum Teufel lassen Sie Ihr Funkgerät nicht eingeschaltet? Ich versuche jetzt schon seit Stunden, Sie zu erreichen!«

»Darf ich fragen, was passiert ist?«

»Drüben im Kingazu-Camp hat ein Löwe einen deutschen Touristen getötet.«

»Welcher Trottel hat das denn zugelassen?«

»So ist das nicht abgelaufen. Der Löwe ist am helllichten Tag mitten ins Camp hineinspaziert, hat den Mann angefallen, als der aus dem Speisezelt zurück zu seiner Hütte ging, und ihn kreischend in den Busch gezerrt.«

»Und dann?«

»Das können Sie sich doch wohl vorstellen! Die Frau ist hysterisch geworden, das ganze Camp war in heller Panik, wir mussten einen Helikopter reinschicken, um alle Touristen auszufliegen. Die Camp-Mitarbeiter, die zurückgeblieben sind, haben eine Heidenangst. Der Mann war in Deutschland ein bekannter Fotograf – das ist verdammt schlecht fürs Geschäft!«

»Haben Sie den Löwen aufgespürt?«

»Wir haben Fährtenleser und Waffen, aber nach diesem Löwen im Busch zu suchen – das macht keiner. Wir verfügen über niemanden, der die dafür nötige Erfahrung – oder die Courage – besitzt. Und darum brauchen wir Sie, Pendergast. Sie müssen hier runterkommen, das Ungeheuer aufspüren und … na ja … die sterblichen Überreste dieses bedauernswerten Deutschen einsammeln, bevor nichts mehr übrig ist, das man bestatten kann.«

»Sie haben noch nicht mal die Leiche geborgen?«

»Niemand will da rausgehen und nach diesem Monstrum suchen! Sie kennen doch das Kingazu-Camp – all das dichte Gestrüpp, das wegen der Wilderei der Elefanten hochgekommen ist. Wir brauchen einen verflucht erfahrenen Jäger. Und ich muss Sie wohl auch nicht daran erinnern, dass die Bestimmungen Ihrer Jagdlizenz vorschreiben, dass Sie einzelgängerische Menschenfresser schießen müssen, wenn und falls das erforderlich wird.«

»Ah ja, verstehe.«

»Wo haben Sie Ihren Rover stehengelassen?«

»Bei den Fala Pans.«

»Kommen Sie in die Gänge, so schnell es geht. Kümmern Sie sich nicht darum, das Camp abzubrechen, schnappen Sie sich einfach Ihre Waffen und kommen Sie hier runter.«

»Das dauert einen Tag, mindestens. Sind Sie sicher, dass sich niemand näher dran befindet, der Ihnen helfen kann?«

»Niemand. Jedenfalls niemand, dem ich traue.«

Pendergast blickte zu seiner Frau. Sie lächelte, kniff ein Auge zusammen und imitierte mit ihrer sonnengebräunten Hand den Schuss aus einer Pistole. »Also gut. Wir machen uns sofort auf den Weg.«

»Noch etwas.« Der District Commissioner zögerte. Plötzlich herrschte Stille in der Funkverbindung, nur das Zischen und Knistern war zu hören.

»Ja, was ist denn?«

»Ist wahrscheinlich nicht wichtig. Aber die Ehefrau, die die Attacke miterlebt hat – sie hat gesagt …« Noch eine Pause.

»Ja?«

»Sie hat gesagt, dass der Löwe merkwürdig ausgesehen hat.«

»Was soll das heißen?«

»Dass er eine rote Mähne hatte.«

»Meinen Sie, ein wenig dunkler als üblich? Das ist nicht so ungewöhnlich.«

Es folgte ein sehr langes Schweigen. Schließlich sagte der District Commissioner: »Aber das kann natürlich nicht derselbe Löwe sein. Vor vierzig Jahren wurde mal so einer gesehen, im Norden von Botswana. Aber ich habe noch nie gehört, dass ein Löwe älter als fünfundzwanzig Jahre geworden ist. Sie etwa?«

Pendergast schwieg und schaltete das Funkgerät aus. Seine hellen Augen funkelten im letzten Licht der Dämmerung, die über dem afrikanischen Busch heraufzog.

2

Kingazu-Camp, Luangwa-Fluss

Der Landrover rumpelte und ruckelte über die Banga Road, eine schlechte Straße in einem Land, das berühmt war für seine schlechten Straßenverhältnisse. Pendergast riss das Lenkrad nach rechts und nach links, um den riesigen Schlaglöchern auszuweichen, von denen einige fast halb so tief waren wie der zerbeulte Rover hoch. Die Fenster standen weit offen – die Klimaanlage war defekt –, und das Wageninnere war voll vom Staub, der jedes Mal hereinwirbelte, wenn ihnen ein Fahrzeug entgegenkam.

Im Morgengrauen waren sie vom Makwele-Bach aufgebrochen und hatten sich ohne Führer zum zwanzig Kilometer langen Marsch durch den Busch aufgemacht, ausgerüstet nur mit ihren Waffen, Wasser, einer luftgetrockneten Salami und Fladenbrot. Gegen Mittag waren sie an ihrem Wagen angekommen. Mittlerweile fuhren sie schon seit mehreren Stunden durch weit voneinander entfernt liegende, ärmliche Dörfer: kreisrunde Gebäude mit Wänden aus zusammengebundenen Stöcken und spitz zulaufenden Reetdächern, die Sandpisten verstopft mit freilaufenden Rindern und Schafen. Der wolkenlose Himmel war von einem hellen, fast wässrigen Blau.

Helen Pendergast nestelte an ihrem Schal und zog ihn sich fester ums Haar, ein aussichtsloser Kampf bei dem allgegenwärtigen Staub. Er haftete auf jedem unbedeckten Zentimeter ihrer schweißnassen Haut und verlieh ihr ein geradezu schrundiges Aussehen.

»Es ist schon seltsam«, sagte sie, als sie abermals durch ein Dorf kamen und den Hühnern und Kindern auswichen. »Ich meine, dass es keinen Jäger gibt, der näher dran ist, um sich mit diesem Löwen-Problem zu befassen. Du bist schließlich nicht gerade ein Meisterschütze.« Sie lächelte verschmitzt; sie zog ihn des Öfteren damit auf.

»Deshalb zähle ich ja auf dich.«

»Du weißt doch genau, dass ich Tiere, die ich nicht esse, nur höchst ungern töte.«

»Und wie hältst du’s mit Tieren, die uns essen könnten?«

»Vielleicht kann ich da eine Ausnahme machen.« Sie stellte die Sonnenblende neu ein und wandte sich zu ihm um. Dabei wurden ihre Augen – blau mit kleinen violetten Flecken – in dem hellen Licht schmaler. »Also, was hat es mit diesem Rotmähnen-Löwen auf sich?«

»Man darf die Erzählungen nicht so ernst nehmen. Aber in diesem Teil Afrikas kursiert eine alte Legende über einen Menschenfresser-Löwen mit roter Mähne.«

»Erzähl mir davon.« Helens Augen funkelten vor Interesse.

»Also gut. Vor etwa vierzig Jahren – so wird erzählt – wurde das südliche Luangwa-Tal von einer Dürre heimgesucht, was die Wildbestände stark dezimierte. Ein Löwenrudel, das in dem Tal jagte, verhungerte, und ein Tier nach dem anderen starb, bis nur noch ein Rudelmitglied übrig blieb, eine schwangere Löwin. Sie überlebte dadurch, dass sie sich versteckt hielt und auf einem Friedhof der Nyimba die Toten fraß.«

»Wie furchtbar«, sagte Helen genüsslich.

»Es heißt, die Löwin habe ein Junges mit flammend roter Mähne geboren.«

»Erzähl weiter.«

»Die Dorfbewohner waren wütend wegen der andauernden Entweihung ihrer Begräbnisstätte. Schließlich spürten sie die Löwin auf, töteten sie, zogen ihr das Fell ab und nagelten es auf dem Dorfplatz an ein Gestell. Dann führten sie einen Tanz auf, um den Tod der Löwin zu feiern. Im Morgengrauen, während die Dorfbewohner ihren Kater nach all dem Maisbier ausschliefen, schlich ein Löwe mit roter Mähne ins Dorf, tötete drei der schlafenden Männer und schleppte einen Jungen mit sich fort. Einige Tage darauf wurden seine abgenagten Knochen in dichtstehendem mannshohen Gras ein paar Meilen außerhalb des Dorfes gefunden.«

»Du lieber Gott!«

»Im Laufe der Jahre tötete und fraß der Rote Löwe, der Dabu Gor, wie er in der Bemba-Sprache hieß, zahlreiche Dorfbewohner. Er sei sehr schlau, hieß es, so schlau wie ein Mensch. Er ändere häufig sein Revier und überquere manchmal sogar Landesgrenzen, um sich der Verfolgung zu entziehen. Die örtlichen Nyimba behaupteten, der Rote Löwe könne zwar ohne Menschenfleisch überleben, aber mit ihm würde er ewig leben.«

Pendergast fuhr um ein Schlagloch herum, das es hinsichtlich Breite und Tiefe durchaus mit einem Mondkrater aufnehmen konnte.

»Und weiter?«

»Das ist die ganze Geschichte, mehr weiß ich nicht.«

»Aber was ist mit dem Löwen passiert? Ist er denn getötet worden?«

»Mehrere Berufsjäger haben versucht, ihn aufzuspüren, aber ohne Erfolg. Er hat einfach weiter getötet, bis er an Altersschwäche starb – wenn er denn tatsächlich gestorben ist.« Pendergast verdrehte ein wenig theatralisch die Augen.

»Also wirklich, Aloysius! Du weißt doch ganz genau, dass es sich nicht um ein und denselben Löwen handeln kann.«

»Es könnte sich um einen Nachkommen mit der gleichen genetischen Mutation handeln.«

»Und vielleicht dem gleichen Geschmack«, sagte Helen und lächelte makaber.

 

Im Laufe des späten Nachmittags und frühen Abends – das übliche Geschrei der Kinder und das Gemuhe der Rinder war dem Gesumm der Insekten gewichen – fuhren sie durch zwei weitere verlassene Dörfer. Erst nach Sonnenuntergang, als sich schon ein blaues Zwielicht über die Buschlandschaft senkte, kamen sie im Kingazu-Lager an. Das Camp lag am Ufer des Luangwa-Flusses, bestand aus einer Gruppe von direkt am Ufer gelegenen rondevaals und verfügte über eine Openair-Bar und ein Speisezelt.

»Was für eine hübsche Anlage«, sagte Helen und blickte sich um.

»Kingazu ist eines der ältesten Safari-Camps im ganzen Land«, antwortete Pendergast. »Es wurde in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegründet, als Sambia noch zu Nord-Rhodesien gehörte, von einem Jäger, der erkannte, dass es ebenso erregend sein kann, Tiere zu fotografieren, wie sie zu töten. Und sehr viel lukrativer.«

»Vielen Dank, Professor. Muss ich nach der Vorlesung einen Test schreiben?«

Als sie auf den staubigen Parkplatz bogen, waren die Bar und das Speisezelt leer, das Camp-Personal hatte in den umliegenden Hütten Zuflucht gesucht. Alle Lichter brannten, der Generator tuckerte auf vollen Touren.

»Ängstliche Leutchen«, sagte Helen, stieß die Wagentür auf und trat in die heiße, von schrillem Zikadengezirpe erfüllte Abendluft.

Die Tür des nächstgelegenen rondevaal öffnete sich, worauf ein gelblicher Lichtstreifen auf die festgetretene Erde fiel. Ein Mann, der eine Khakihose mit messerscharfen Bügelfalten, lederne Buschstiefeln und Kniestrümpfe trug, trat heraus.

»Der Distriktskommissar, Alistair Woking«, flüsterte Pendergast Helen zu.

»Darauf wäre ich nie gekommen.«

»Und der Bursche mit dem australischen Buschhut neben ihm, das ist Gordon Wisley, der Pächter des Camps.«

»Bitte treten Sie ein«, sagte Woking und reichte ihnen die Hand. »In der Hütte können wir uns in Ruhe unterhalten.«

»Um Himmels willen, nein!«, sagte Helen. »Wir waren den ganzen Tag im Auto eingepfercht – trinken wir ein Glas an der Bar.«

»Nun ja –«, sagte Woking zögerlich.

»Wenn sich der Löwe ins Camp schleicht, umso besser. Dann müssen wir uns nicht die Mühe machen, ihm im Busch aufzulauern. Stimmt’s, Aloysius?«

»Tadelloses Argument.«

Helen hob die Segeltuchtasche, in der sich ihre Waffe befand, von der Ladefläche des Landrover. Pendergast tat das Gleiche und legte sich einen schweren Munitionskoffer aus Aluminium auf die Schulter.

»Gentlemen?«, sagte er. »Auf zur Bar?«

»Wie Sie wünschen.« Woking betrachtete die großkalibrigen Safari-Gewehre, die offenbar einen beruhigenden Eindruck auf ihn machten. »Misumu!«

Ein Afrikaner mit einem Filzfez auf dem Kopf steckte den Kopf aus einer Tür im Personal-Camp.

»Wir würden gern etwas an der Bar trinken«, sagte Woking. »Wenn Sie nichts dagegen hätten.«

Sie gingen zu der mit Stroh gedeckten Bar; der Barkeeper nahm seinen Platz hinter der Theke aus poliertem Holz ein. Er schwitzte, aber nicht wegen der Hitze.

»Maker’s Mark«, sagte Helen. »On the rocks.«

»Zwei«, fügte ihr Ehemann hinzu. »Und geben Sie ein wenig Minze hinein, wenn Sie welche haben.«

»Maker’s Mark für uns alle«, sagte Woking. »Sind Sie damit einverstanden, Wisley?«

»Solange er stark ist«, ergänzte Wisley und lachte nervös. »Was für ein Tag.«

Der Barkeeper schenkte die Gläser voll. Pendergast wusch sich mit einem ordentlichen Schluck den Staub aus der Kehle. »Aber nun erzählen Sie doch mal, was passiert ist, Mr.Wisley.«

Wisley war ein hochgewachsener, rothaariger Mann mit neuseeländischem Akzent. »Es ist nach dem Mittagessen passiert. Wir hatten zwölf Gäste im Camp – volles Haus.«

Pendergast zog derweil den Reißverschluss der Transporttasche auf und holte seine Waffe heraus, eine Holland & Holland »Royal« Doppelbüchse Kaliber 465. Er öffnete das Schloss und begann die Waffe zu reinigen, indem er den Staub von dem langen Lauf wischte. »Was gab es denn zu essen?«

»Sandwiches. Mit gegrilltem Kudu, Schinken, Truthahn, Gurken. Dazu Eistee. Wir servieren während der heißen Mittagsstunden stets einen leichten Lunch.«

Pendergast nickte und polierte den Schaft aus Walnussholz.

»Ein Löwe hatte fast die ganze Nacht draußen im Busch gebrüllt, aber am Tag war es ruhig geblieben. Wir hören hier oft Löwengebrüll – was aber, ehrlich gesagt, eine der Attraktionen des Camps ist.«

»Charmant.«

»Aber die Löwen haben uns noch nie belästigt. Ich begreife das alles nicht.«

Pendergast blickte ihn kurz an, dann widmete er sich wieder seinem Gewehr. »Dieser Löwe kam nicht aus der Gegend, nehme ich an.«

»Nein. Wir haben mehrere Rudel hier. Ich kenne jedes Tier vom Sehen her. Bei diesem handelt es sich um ein Einzelgänger-Männchen.«

»Groß?«

»Irrsinnig groß.«

»Groß genug, um ins Buch der Rekorde zu kommen?«

Wisley verzog das Gesicht. »Größer als alles im Buch der Rekorde.«

»Verstehe.«

»Der Deutsche, Hassler mit Namen, und seine Frau sind als Erste vom Tisch aufgestanden. Das muss so gegen vierzehn Uhr gewesen sein. Sie gingen gerade zurück zu ihrem rondevaal, als – laut Aussage der Frau – der Löwe aus seiner Deckung am Flussufer sprang, den Ehemann zu Boden riss und ins Genick biss. Die Frau fing an zu kreischen und um Hilfe zu rufen, und der arme Kerl hat natürlich auch geschrien. Wir sind alle sofort da hingelaufen, aber der Löwe hatte ihn schon in den Busch gezerrt und war verschwunden. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entsetzlich das war. Wir haben gehört, wie der Mann geschrien hat, immer wieder. Und dann war auf einmal alles ganz still, bis auf die Geräusche, als der Lö–« Er stockte.

»Gütiger Himmel«, sagte Helen. »Hat denn niemand ein Gewehr geholt?«

»Doch, ich«, sagte Wisley. »Ich bin zwar kein guter Schütze, aber wie Sie wissen, sind wir gesetzlich dazu verpflichtet, während unserer Ausflüge mit den Touristen eine Waffe zu tragen. Ich habe mich nicht getraut, dem Löwen ins mannshohe Gras zu folgen – ich bin ja kein Jäger, Mr.Pendergast –, aber ich habe ein paarmal in die Richtung der Geräusche geschossen, was den Löwen offenbar noch tiefer in den Busch getrieben hat. Vielleicht habe ich ihn auch verwundet.«

»Das wäre bedauerlich«, sagte Pendergast kurz und trocken. »Kein Zweifel, der Löwe hat die Leiche mit sich fortgeschleppt. Haben Sie die Spuren am Ort des Angriffs gesichert?«

»Ja. Natürlich hat der Bereich während der Panik zunächst ein wenig gelitten, aber danach habe ich ihn abgeriegelt.«

»Ausgezeichnet. Und niemand ist in den Busch gegangen, um dem Löwen nachzusetzen?«

»Nein. Die Leute waren alle einfach nur hysterisch – wir haben seit Jahrzehnten keine tödliche Attacke eines Löwen mehr gehabt. Wir haben alle Mitarbeiter evakuiert, nur die unverzichtbaren sind noch im Camp.«

Pendergast nickte, dann warf er seiner Frau einen kurzen Blick zu. Auch sie hatte ihre Jagdwaffe – eine Krieghoff Doppelbüchse Big Five 500/416 – gereinigt und genau zugehört.

»Haben Sie den Löwen seitdem gehört?«

»Nein. Die ganze gestrige Nacht und heute am Tag war es verflucht still. Vielleicht ist er ja weitergezogen.«

»Eher unwahrscheinlich, das macht er erst, wenn er seine Beute gefressen hat«, erwiderte Pendergast. »Löwen schleppen ihre Beute höchstens eine Meile mit sich fort. Sie können sicher sein, dass er noch in der Nähe ist. Hat ihn sonst noch jemand gesehen?«

»Nur die Ehefrau.«

»Und die hat gesagt, dass er eine rote Mähne hatte?«

»Ja. Zunächst hatte sie in ihrer Hysterie behauptet, er sei voller Blut gewesen. Aber nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, konnten wir sie eingehender befragen, und es scheint tatsächlich so zu sein, dass der Löwe eine tiefrote Mähne hatte.«

»Und woher wissen Sie so genau, dass es sich nicht um Blut gehandelt hat?«

Helen meldete sich zu Wort. »Löwen sind sehr pingelig, was ihre Mähne betrifft. Sie säubern sie regelmäßig. Ich habe noch nie einen Löwen mit Blut in der Mähne gesehen, nur im Gesicht.«

»Was machen wir jetzt also, Mr.Pendergast?«, fragte Wisley.

Pendergast genehmigte sich einen großen Schluck von seinem Bourbon. »Wir müssen bis zur Morgendämmerung warten. Ich benötige Ihren besten Fährtenleser und einen Waffenträger. Und meine Frau wird natürlich als zweiter Schütze eingesetzt.«

Stille. Wisley und der Distriktskommissar sahen Helen an. Sie erwiderte die Blicke der Männer mit einem Lächeln.

»Ich fürchte, das könnte ein wenig, äh, irregulär sein«, sagte Woking und räusperte sich.

»Weil ich eine Frau bin?«, fragte Helen amüsiert. »Keine Sorge, es ist nicht ansteckend.«

»Nein, nein«, lautete die hastige Antwort. »Es ist nur so, dass wir uns in einem Nationalpark befinden und nur jemand, der eine von der Regierung ausgestellte Jagdlizenz besitzt, hier schießen darf.«

»Von uns beiden«, sagte Pendergast, »ist meine Frau der bessere Schütze. Außerdem ist es lebenswichtig, zwei gute Schützen zu haben, wenn man Löwen im Busch nachstellt.« Er hielt inne. »Es sei denn natürlich, Sie wären gern der zweite Schütze.«

Der Distriktskommissar verstummte.

»Ich werde nicht zulassen, dass mein Mann allein da reingeht«, sagte Helen. »Es wäre zu gefährlich. Mein armer Liebling könnte zerfleischt werden – oder Schlimmeres.«

»Danke, Helen, für dein Vertrauen«, sagte Pendergast.

»Na ja, du weißt doch, Aloysius, dass du diesen Ducker auf zweihundert Meter Entfernung verfehlt hast. Das war ungefähr so schwierig, wie an einem Scheunentor vorbeizuschießen.«

»Ach komm, es herrschte starker Seitenwind. Und außerdem hat sich das Tier im letzten Moment bewegt.«

»Du hast zu lange gebraucht, um den Schuss anzubringen. Du denkst zu viel, das ist dein Problem.«

Pendergast wandte sich an Woking. »Wie Sie sehen, gibt es uns beide nur im Doppel. Entweder beide oder keiner.«

»Also gut.« Woking runzelte die Stirn. »Mr.Wisley?«

Wisley nickte widerstrebend.

»Wir treffen uns morgen früh um fünf«, fuhr Pendergast fort. »Und es war mein voller Ernst, als ich sagte, dass wir einen sehr, sehr guten Fährtenleser benötigen.«

»Wir haben einen der besten in Sambia – Jason Mfuni. Natürlich wird er kaum einmal für die Jagd eingesetzt, nur für Fotografen und Touristen.«

»Hauptsache, er hat Nerven wie Drahtseile.«

»Die hat er.«

»Sie müssen den Einheimischen Bescheid sagen und dafür sorgen, dass sie sich in größerer Entfernung aufhalten. Der Löwe darf auf keinen Fall abgelenkt werden.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Wisley. »Vielleicht sind Ihnen auf der Fahrt hierher zum Camp die menschenleeren Dörfer aufgefallen. Außer uns werden Sie im Umkreis von zwanzig Meilen keine Menschenseele finden.«

»So schnell haben die Bewohner Ihre Dörfer verlassen?«, fragte Helen. »Aber der Angriff hat doch erst gestern stattgefunden.«

»Es war der Rote Löwe«, erwiderte Woking, als würde das als Erklärung genügen.

Pendergast und Helen wechselten einen Blick. Einen Augenblick war es still in der Bar.

Schließlich erhob sich Pendergast, fasste Helen bei der Hand und half ihr beim Aufstehen. »Danke für den Drink. Aber wenn Sie uns nun bitte entschuldigen und unsere Hütte zeigen würden?«

3

Die Fieberbäume

In der Nacht war es still gewesen. Selbst die lokalen Rudel, deren Brüllen sonst oft in der Dunkelheit erklang, schwiegen, und die üblichen Laute der nachtaktiven Tiere klangen gedämpft. Aus der Ferne drang das leise Gurgeln und Rauschen des mächtigen Flusses herüber und versetzte die Luft mit dem Geruch von Wasser. Erst im Morgengrauen erklangen die ersten Geräusche der sogenannten Zivilisation: Heißes Wasser wurde in Vorbereitung der Morgentoilette in Kübelduschen gegossen.

Pendergast und seine Frau hatten ihre Hütte verlassen und saßen, die Waffen neben sich, im schwachen Schein der einzelnen Glühbirne im Speisezelt. Es waren keine Sterne am Himmel zu sehen – es war bewölkt, die Finsternis total. Regungslos und schweigend hatten sie in der vergangenen Dreiviertelstunde dort gegessen. Sie hatten ihr Zusammensein genossen, verbunden durch jene Art unausgesprochener Symbiose, die ihre Ehe charakterisierte, und sich mental und emotional auf die Jagd vorbereitet. Helen hatte den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt. Pendergast streichelte ihre Hand und spielte ab und zu mit dem Stern-Saphir an ihrem Ehering.

»Den gebe ich nie wieder her, weißt du«, sagte sie schließlich, wobei ihre Stimme nach dem langen Schweigen hauchig klang.

Er lächelte nur und streichelte weiter ihre Hand.

Aus dem Halbdunkel erschien eine kleine Gestalt; sie hatte einen langen Speer in der Hand und trug eine lange Hose und ein langes Hemd, beides von dunkler Farbe.

Helen und Pendergast richteten sich auf. »Jason Mfuni?«, fragte Pendergast leise.

»Ja, Sir.«

Pendergast streckte die Hand aus. »Es wäre mir lieb, wenn Sie mich nicht mit ›Sir‹ ansprächen. Mein Name ist Pendergast. Und das hier ist meine Frau, Helen. Sie zieht es vor, beim Vornamen angeredet zu werden, ich beim Nachnamen.«

Der Mann nickte und schüttelte Helen langsam, geradezu phlegmatisch die Hand. »Der Distriktskommissar will mit Ihnen sprechen, Miss Helen, in der Messe.«

Helen stand auf. Pendergast ebenso.

»Entschuldigen Sie, Mr.Pendergast, er wollen allein mit ihr sprechen.«

»Was soll das denn?«

»Er machen sich Sorgen, ob sie genug Erfahrung mit Jagd hat.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Pendergast. »Die Frage ist doch längst geklärt.«

Helen winkte ab und lachte. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Hier draußen herrscht offenbar immer noch das British Empire. Die Frauen sitzen auf der Veranda, fächeln sich kühle Luft zu und fallen beim Anblick von Blut in Ohnmacht. Ich werde das richtigstellen.«

Pendergast nahm wieder Platz. Der Fährtenleser wartete neben ihm und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.

»Möchten Sie sich nicht setzen, Jason?«

»Nein, danke.«

»Wie lange arbeiten Sie schon als Fährtenleser?«, fragte Pendergast.

»Seit ein paar Jahren«, lautete die lakonische Antwort.

»Sind Sie gut?«

Schulterzucken.

»Haben Sie Angst vor Löwen?«

»Manchmal.«

»Haben Sie mit diesem Speer schon einmal einen Löwen getötet?«

»Nein.«

»Verstehe.«

»Das ist ein neuer Speer, Mr.Pendergast. Wenn ich Löwen mit Speer töte, brechen oder verbiegen er meistens, muss dann neuen besorgen.«

Stille senkte sich über das Camp; das Morgenlicht zog hinter dem Busch herauf. Fünf Minuten vergingen, dann zehn.

»Wieso brauchen die so lange?«, fragte Pendergast verärgert. »Wir wollen nicht zu spät losgehen.«

Mfuni zuckte mit den Achseln, stützte sich auf den Speer, wartete.

Plötzlich erschien Helen. Rasch setzte sie sich.

»Hast du dem Quälgeist deine Meinung gesagt?«, fragte Pendergast und lachte.

Einen Augenblick gab ihm Helen keine Antwort. Als er sich fragend an sie wandte, erschrak er, weil sie ganz blass im Gesicht war. »Was hast du denn?«

»Nichts. Nur … Schmetterlinge im Bauch wegen der bevorstehenden Jagd.«

»Du kannst immer noch im Camp bleiben, weißt du.«

»O nein«, widersprach sie vehement. »Nein, ich darf das hier auf keinen Fall verpassen.«

»Dann sollten wir jetzt endlich aufbrechen.«

»Noch nicht«, sagte sie leise. Er spürte ihre kühle Hand auf seinem Arm. »Aloysius … ist dir eigentlich klar, dass wir gestern Abend vergessen haben, den Mondaufgang zu beobachten? Es war Vollmond.«

»Bei all der Aufregung wegen dieses Löwen wundert mich das gar nicht.«

»Komm, wir wollen uns einen Augenblick Zeit nehmen und zuschauen, wie der Mond untergeht.« Helen fasste ihn bei der Hand und umschloss sie mit ihrer, eine für sie ungewöhnliche Geste. Aber zumindest fühlte sich ihre Hand nicht mehr so kalt an.

»Helen …«

Sie drückte seine Hand. »Nicht reden.«

Der Vollmond versank gerade im Busch am gegenüberliegenden Ufer des Flusses – eine buttergelbe Scheibe, die durch einen malvenfarbenen Himmel herabstieg und deren Spiegelbild sich wie vergossene Sahne über das strudelnde Wasser des Luangwa-Flusses ergoss. Sie hatten sich in einer Vollmondnacht kennengelernt und gemeinsam zugesehen, wie der Mond aufgegangen war. Seit ihrer Werbungszeit und Hochzeit war es Tradition, dass sie, ganz gleich, was sonst in ihrem Leben geschah, egal, vor welchen Reisen oder Verpflichtungen sie standen, dem Aufgang des Vollmonds zuschauten.

Der Mond streifte die fernen Baumkronen jenseits des Flusses, dann glitt er langsam hinter die Wipfel. Der Himmel wurde heller, und schließlich verschwand der Mond hinter dem dichten Buschwerk. Die geheimnisvolle Nacht war vorüber, der Tag war angebrochen.

»Good-bye, alter Mond«, sagte Pendergast leichthin.

Helen drückte ihm die Hand, dann stand sie auf, während der Distriktskommissar und Wisley auf dem Weg von der Küchenhütte erschienen. Bei ihnen war ein dritter Mann, hohlgesichtig, sehr hoch aufgeschossen und schlaksig. Das Weiße seiner Augen war gelb.

»Das ist Wilson Nyala«, sagte Wisley, »Ihr Waffenträger.«

Hände wurden geschüttelt. Der Barkeeper, der sie am Vorabend bedient hatte, trat mit einer großen Kanne Lapsang-Souchong-Tee aus der Küche; alle Tassen wurden mit dem heißen, kräftigen Rauchtee gefüllt.

Sie tranken schnell und schweigend. Pendergast stellte seine Tasse ab. »Es ist hell genug, wir können uns jetzt ansehen, wo der Löwe angegriffen hat.«

Nyala schlang sich je eine Jagdbüchse über die Schultern, dann betraten sie den Trampelpfad, der sich am Fluss entlangzog. Dort, wo er an den dichtstehenden Miombo-Sträuchern vorbeiführte, war ein Bereich mit einem Seil und Holzpfählen abgesperrt. Pendergast kniete sich hin und untersuchte die Fährte. Im Staub waren zwei riesige Tatzenabdrücke zu erkennen, daneben sah man eine Lache dunklen Bluts, das inzwischen trocken und rissig geworden war. Während er sich umsah, rekonstruierte er in Gedanken die Attacke. Es war ziemlich eindeutig, was geschehen war: Der Mann war aus dem Unterholz gezerrt, niedergeworfen, gebissen worden. Die ersten Berichte trafen zu. Der Staub zeigte, wo der Löwe das wild um sich schlagende Opfer zurück ins Unterholz gezerrt und dabei eine Blutspur hinterlassen hatte.

Pendergast erhob sich. »Also, so kann’s klappen: Ich bleibe knapp drei Meter hinter Jason, ein wenig links von ihm. Helen wiederum geht knapp drei Meter hinter mir, aber rechts von Jason. Und Sie, Wilson, Sie gehen einfach hinter uns.« Pendergast warf seiner Frau einen Blick zu, die knapp und zustimmend nickte.

»Wenn es so weit ist«, fuhr er fort, »machen wir Zeichen, uns die Waffen zu bringen – mit geschlossenen Sicherheitsriegeln. Und nehmen Sie von meiner Büchse den Gurt ab. Ich möchte nicht, dass er sich im Unterholz verfängt.«

»Mein Gurt bleibt dran«, sagte Helen entschlossen.

Wilson Nyala nickte mit seinem knochigen Kopf.

Pendergast streckte den Arm aus. »Mein Gewehr bitte.«

Wilson reichte es ihm. Pendergast öffnete den Verschluss, untersuchte den Lauf, schob zwei Teilmantelgeschosse 465 Nitro Express – groß wie Macanudos-Zigarren – in die Läufe, schloss die Jagdbüchse, verriegelte sie, vergewisserte sich, dass die Sperre vor war, und reichte sie Nyala zurück. Helen tat das Gleiche mit ihrer Jagdbüchse und lud sie mit 500/416ern, oben gerundeten Teilmantelgeschossen.

»Das ist ein ziemlich großes Gewehr für eine zarte Frau«, sagte Woking.

»Ich finde große Waffen recht anziehend«, erwiderte Helen.

»Also, ich kann dazu nur eines sagen«, fuhr Woking fort. »Ich bin heilfroh, dass ich diesem Menschenfresser nicht in den Busch folgen muss, ob nun mit oder ohne großem Gewehr.«

»Haltet die Formation ›Langes Dreieck‹ so eng wie möglich, solange wir vorrücken«, sagte Pendergast und blickte von Mfuni zu Nyala und wieder zurück. »Der Wind ist auf unserer Seite. Gesprochen wird nur, wenn es absolut notwendig ist. Verwendet Handzeichen. Lasst die Taschenlampen hier.«

Alle nickten. Rasch verflog die Stimmung der aufgesetzten Fröhlichkeit. Schweigend warteten sie, bis die Sonne so hoch stand, dass das Unterholz in ein schwaches, bläulich schimmerndes Halbdunkel getaucht war. Dann bedeutete Pendergast Mfuni loszugehen.

Der Fährtenleser betrat, den Speer in der Hand, das Buschwerk und folgte der Blutspur. Der Pfad entfernte sich vom Fluss und führte durch dichtes Dornengestrüpp und durchgewachsene Mopane-Sträucher an einem kleinen Seitenarm des Luangwa namens Chitele entlang. Sie gingen langsam und folgten der Spur, die das Gras und das Laub durchzog. Der Fährtenleser blieb stehen und wies mit dem Speer auf ein Dickicht aus flachgedrücktem Gras. Dort war eine große, mit Blut befleckte Fläche zu sehen, noch feucht, das Laub ringsum war mit arteriellem Blut vollgespritzt. Hier hatte der Löwe sein Opfer das erste Mal abgelegt und zu fressen begonnen, während es noch lebte und bevor auf ihn geschossen wurde.

Jason Mfuni beugte sich vor und hielt schweigend einen Gegenstand hoch: die Hälfte eines Unterkieferknochens, samt Zähnen, abgenagt an den Rändern und sauber geleckt. Schweigend schaute Pendergast darauf. Mfuni legte den Knochen wieder hin und zeigte auf eine Bresche in der Mauer aus Vegetation.

Sie gingen weiter, durch diese Lücke und hinein in dichtes grünes Buschwerk. Mfuni blieb alle zwanzig Schritte stehen, um zu lauschen und die Luft zu schnuppern oder einen Blutfleck auf einem Blatt zu untersuchen. Ab diesem Punkt war die Leiche ausgeblutet, und die Blutspur wurde schwächer: Nur noch winzige Schlieren und kleine Flecken waren zu sehen.

Der Fährtenleser blieb zweimal stehen, um auf eine Fläche mit flachgedrücktem Gras zu zeigen. Dort hatte der Löwe den Leichnam abgelegt, um ihn besser mit dem Maul packen zu können, und wieder vom Boden aufgehoben. Der Tag zog schnell herauf, die Sonne erschien über den Baumkronen. Nur war es an diesem Morgen, bis auf das ständige Gesumme der Insekten, ungewöhnlich still und leise.

Mehr als anderthalb Kilometer folgten sie der Fährte des Löwen. Die sengende Sonne stand über dem Horizont, im Unterholz herrschte eine backofenähnliche Hitze, die Tsetse-Fliegen stoben sirrend in Wolken auf. Es roch stark nach Staub und Gras. Schließlich endete der Pfad und führte aus dem Buschland hinaus in eine Salzpfanne unter dem breiten Geäst eines Akazienbaums, auf der sich ein einzelner Termitenhügel wie eine Zinne vor dem weißglühenden Himmel abzeichnete. In der Mitte der Salzpfanne erhob sich ein roter und weißer, von einer laut summenden Wolke aus Fliegen umschwärmter Haufen.

Mfuni ging vorsichtig darauf zu, Pendergast, Helen und der Waffenträger folgten ihm. Schweigend versammelten sie sich um den halb aufgefressenen Leichnam des deutschen Fotografen. Der Löwe hatte den Schädel aufgebrochen, das Gesicht und einen Großteil des Oberkörpers gefressen; übrig geblieben waren zwei völlig unversehrte Beine, sauber geleckt, sowie ein abgetrennter Arm, dessen Faust ein Büschel Mähnenhaare umklammert hielt. Niemand sprach ein Wort. Mfuni beugte sich vor, zog das Mähnenhaar aus der Faust und betrachtete es eingehend. Dann legte er es Pendergast in die Hand. Es war von tiefroter Farbe. Pendergast reichte es weiter an Helen, die es ebenfalls inspizierte und anschließend Mfuni zurückreichte.

Während die anderen in der Nähe der Leiche stehen blieben, umkreiste der Fährtenleser langsam die Trockensenke auf der Suche nach Spuren in der alkalihaltigen Erdkruste. Er legte den Finger an den Mund und zeigte über die Senke in ein vlei, eine sumpfige Niederung in der Regenzeit, in der – jetzt, wo die Trockenzeit kurz bevorstand – extrem dichtstehendes, drei bis vier Meter hohes Gras gewachsen war. Mehrere hundert Meter in dem vlei stand ein großer, dichter Hain aus Fieberakazien, deren regenschirmähnliche Kronen sich vor dem Horizont abzeichneten. Der Fährtenleser deutete auf die Spur im hohen Gras, die der Löwe bei seinem Rückzug hinterlassen hatte. Mit ernster Miene kehrte er zu den anderen zurück und flüsterte Pendergast ins Ohr: »Da drin.« Dabei zeigte er mit seinem Speer. »Er ruhen.«

Pendergast nickte und warf Helen einen kurzen Blick zu. Sie war noch immer blass, schien aber völlig gefasst zu sein; ihr Blick wirkte kühl und entschlossen.

Nyala, der Waffenträger, war nervös. »Was ist denn?«, fragte Pendergast leise und drehte sich zu ihm um.

Nickend wies er in die Richtung des extrem hohen Grases. »Der Löwe schlau. Zu schlau. Ganz schlechter Ort.«

Pendergast zögerte, er blickte vom Waffenträger zum Fährtenleser, zum hohen Gras und wieder zurück. Dann bedeutete er dem Fährtensucher voranzugehen.

Langsam und verstohlen betraten sie das extrem hohe Gras. Die Sicht betrug jetzt weniger als fünf Meter. Die hohlen Stengel raschelten bei jeder Bewegung, in der stehenden Luft war der süßliche Geruch nach dem von der Sonne erwärmten Gras beinahe erstickend. Ein grünlich schimmerndes Halbdunkel hüllte sie ein, während sie sich weiter in das dichte Gras hineinbegaben. Das Gesumme der Insekten wurde zu einem steten, lauten Brummen.

Je weiter sich die Gruppe dem Hain der Akazienbäume näherte, desto langsamer ging der Fährtenleser; er hob die Hand, zeigte auf seine Nase. Pendergast atmete ein und roch den schwachen, moschusartigen Löwengeruch, überlagert von einem leicht süßlichen Geruch nach Aas.

Der Fährtenleser ging in die Hocke und machte den anderen Zeichen, das Gleiche zu tun. Die Sicht in dem Horstgras war am Boden besser, dort bot sich ihnen eine größere Chance, das gelbbraune Aufblitzen des Löwen zu erkennen, bevor er sich tatsächlich auf sie stürzte. Langsam rückten sie in den Hain der Fieberbäume vor, wobei sie sich in der Hocke fortbewegten. Der getrocknete Schlicksand war hart gebacken wie Fels und wies keinerlei Spuren auf, aber die gebrochenen und geknickten Stengel bewiesen, dass der Löwe hier hindurchgegangen war.

Wieder blieb der Fährtenleser kurz stehen und machte Zeichen, dass sie sich beratschlagen sollten. Pendergast und Helen gingen zu ihm, dann kauerten sie zu dritt in dem dichten Gras, wobei sie gerade so laut flüsterten, dass ihre Stimmen trotz des Insektengesumms zu hören waren.

»Löwe ist irgendwo vor uns. Zwanzig, dreißig Meter. Bewegen sich langsam.« Mfunis Gesichtszüge wirkten faltig vor lauter Sorge. »Vielleicht wir sollten warten.«

»Nein«, flüsterte Pendergast. »Jetzt ist die beste Gelegenheit, ihn zu erwischen. Er hat gerade gefressen.«

Sie rückten vor und gelangten auf eine kleine, offene Fläche ohne Gras, nicht größer als drei Quadratmeter. Der Fährtenleser blieb stehen und schnüffelte die Luft, dann zeigte er nach links. »Löwe«, flüsterte er.

Pendergast blickte nach vorn, schaute nach rechts, dann schüttelte er den Kopf und zeigte geradeaus.

Der Fährtenleser runzelte die Stirn und beugte sich vor an Pendergasts Ohr. »Löwe nach links gegangen. Er sehr schlau.«

Pendergast schüttelte weiterhin den Kopf und beugte sich über Helen. »Du bleibst hier«, flüsterte er, so nahe, dass seine Lippen ihr Ohr streiften.

»Aber der Fährtenleser …«

»Der Fährtenleser irrt sich. Du bleibst hier, ich gehe nur ein paar Schritte vor. Wir nähern uns dem hinteren Ende des vlei. Der Löwe wird in Deckung bleiben wollen. Wenn ich mich auf ihn zubewege, wird er sich unter Druck gesetzt fühlen. Er könnte losstürmen. Mach dich bereit und halt rechts von mir eine Schussbahn frei.«

Pendergast winkte nach seiner Büchse. Er packte den wegen der Hitze warmen Metalllauf und schob ihn sich unter den Arm. Mit dem Daumen löste er die Sperre und stellte das Nachtsichtgerät auf – ein Korn aus Elfenbein –, damit er im Zwielicht, das hier mitten im Gras herrschte, besser zielen konnte. Nyala reichte Helen ihr Gewehr.

Pendergast betrat das unmittelbar vor ihm liegende dichte Gras, der Fährtenleser folgte ängstlich schweigend, sein Gesicht eine Fratze der Angst.

Pendergast drängte sich durch das Gras und trat dabei mit äußerster Vorsicht auf den steinharten Boden. Gleichzeitig lauschte er auf den ganz besonderen, hustenähnlichen Laut, der den Angriff ankündigte. Er würde Zeit für einen einzigen Schuss haben: ein attackierender Löwe konnte hundert Meter in vier Sekunden zurücklegen. Er fühlte sich sicherer, weil Helen hinter ihm stand; zwei Gelegenheiten, den tödlichen Schuss abzugeben.

Nach zehn Metern blieb er stehen und wartete. Der Fährtenleser stellte sich neben ihn, größtes Unbehagen zeichnete sich in seinen Gesichtszügen ab. Geschlagene zwei Minuten blieben beide Männer reglos stehen. Pendergast lauschte angestrengt, hörte jedoch nur Insekten. Die Jagdbüchse fühlte sich glatt in den schweißnassen Händen an, er schmeckte den alkalischen Staub auf der Zunge. Ein Windstoß, gesehen, aber nicht gefühlt, fuhr ins Gras in der unmittelbaren Umgebung und erzeugte ein leises Rascheln. Das Insektengesumme wurde leiser und erstarb schließlich ganz. Jetzt war alles völlig still.

Langsam, ohne irgendeinen anderen Körperteil zu bewegen, streckte Mfuni einen Finger aus – abermals neunzig Grad zu seiner Linken.

Pendergast blieb völlig regungslos stehen und folgte der Geste mit den Augen. Während er in den trüben Dunst aus Gras spähte, versuchte er einen Blick auf ein gelbbraunes Fell oder das Leuchten eines bernsteinfarbenen Auges zu erhaschen. Nichts.

Ein leises Husten – und dann ein fürchterliches, die Erde erschütterndes, eruptives Geräusch, ein gewaltiges Brüllen, das wie ein Frachtzug auf sie zukam. Nicht von links, sondern von unmittelbar geradeaus.

Pendergast wirbelte im selben Moment herum, als ein Schemen aus ockerfarbenen Muskeln und rötlichem Fell aus dem Gras hervorbrach, das rosafarbene, mit dolchartigen Zähnen bestückte Maul weit aufgerissen. Er gab einen Schuss mit gewaltigem Krawumm! ab, aber weil er keine Zeit gehabt hatte, ruhig zu zielen, sprang der Löwe auf ihn, knapp dreihundert Kilo stinkende Riesenkatze, die ihn zu Boden warf, wobei er spürte, wie sich die Reißzähne in seine Schulter bohrten, so dass er aufschrie, sich unter der erstickenden Körpermasse wand und mit dem freien Arm um sich schlug, um an seine Waffe heranzukommen, die ihm durch den gewaltigen Prankenhieb aus der Hand geschlagen worden war.

Der Löwe hatte sich so gut versteckt, und der Angriff war so schnell und aus der Nähe erfolgt, dass Helen Pendergast erst schussbereit war, als der Löwe sich bereits auf ihren Mann gestürzt hatte. Da war es aber schon zu spät, denn die beiden befanden sich so dicht beieinander, dass sie keinen Schuss riskieren konnte. Sie lief von der Stelle zehn Meter hinter ihrem Mann los und drängte sich durch das hohe Gras, schrie dabei und versuchte, die Aufmerksamkeit des monströsen Löwen auf sich zu ziehen, während sie auf den grässlichen Laut eines gedämpften, feuchten Knurrens zurannte. Als sie am Schauplatz des Geschehens eintraf, bohrte Mfuni dem Löwen gerade seinen Speer in die Eingeweide. Das Tier – größer, als ein Löwe eigentlich wurde – sprang von Pendergast herunter, schlug mit der Pranke nach dem Fährtenleser und riss ihm einen Teil seines Beins ab, dann sprang er mit einem Satz ins Gras, den im Bauch steckenden Speer hinter sich herschleifend.

Helen zielte genau auf den Rücken des fliehenden Löwen und drückte ab, während der Rückschlag der großen 500/416 Nitro Express-Patrone sie heftig durchrüttelte.

Der Schuss war danebengegangen. Der Löwe war verschwunden.

Sie lief zu ihrem Mann. Er war noch bei Bewusstsein. »Nein«, sagte Pendergast. »Ihn.«

Sie blickte zu Mfuni. Er lag auf dem Rücken; dort, wo der Wadenmuskel seines rechten Beins an einem Hautfetzen herabhing, spritzte Blut in den Staub.

»O mein Gott.« Sie riss von ihrem Hemd die untere Hälfte ab, drehte den Stoff fest zusammen und schlang ihn oberhalb der durchtrennten Arterie ums Bein. Dann tastete sie nach einem Stock, steckte ihn zwischen Stoff und Bein und drehte ihn, um einen Druckverband anzulegen.

»Jason?«, sagte sie eindringlich. »Halten Sie durch! Jason!«

Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, seine Augen waren weit aufgerissen und zitterten leicht.

»Halten Sie den Stock hier fest. Lockern Sie den Verband, wenn das Bein anfängt, sich taub anzufühlen.«

Die Augen des Fährtenlesers weiteten sich. »Misses, der Löwe kommt zurück.«

»Halten Sie einfach den –«

»Er kommt zurück!« Mfuni brach vor Todesangst die Stimme.

Sie ignorierte ihn und widmete sich ihrem Mann. Er lag auf dem Rücken, sein Gesicht war grau. Seine Schulter wirkte deformiert und war von verklumptem Blut überzogen. »Helen«, sagte er mit rauher Stimme und versuchte aufzustehen. »Hol deine Waffe. Sofort.«

»Aloysius –«

»Um Himmels willen, hol dein Gewehr!«

Es war zu spät. Unter ohrenbetäubendem Gebrüll brach der Löwe erneut aus der Deckung, ein Wirbel aus Staub und herumfliegendem Gras stob auf, und dann war er auf ihr. Helen schrie auf und wollte ihn abwehren, aber da packte er sie auch schon am Arm. Als der Löwe seine Zähne in Helen schlug, hörte man einen Knochen brechen. Das Letzte, was Pendergast von ihr sah, ehe er ohnmächtig wurde, war, wie sie wild um sich schlagend und schreiend ins hohe Gras fortgezerrt wurde.

4

Pendergast tauchte aus seiner Ohnmacht auf und nahm die Welt ringsum wahr. Er lag in einem der rondevaals. Das ferne Knattern von Hubschrauberrotoren drang durch das Strohdach der Hütte und wurde rasch lauter.

Er setzte sich auf, stieß einen Schrei aus und sah, wie Woking, der Distriktskommissar, von dem Stuhl aufsprang, auf dem er am anderen Ende der Hütte gesessen hatte.

»Überanstrengen Sie sich nicht. Der Rettungshubschrauber ist schon da, es wird sich um alles gekümmert …«

Pendergast setzte sich mühsam auf. »Meine Frau! Wo ist sie?«

»Seien Sie ein braver Junge und –«

Pendergast schwang die Beine aus dem Bett und blieb unsicher auf wackeligen Beinen stehen, angetrieben von reinem Adrenalin. »Meine Frau, Sie Dreckskerl!«

»Wir waren machtlos, sie ist einfach fortgezerrt worden, einer unserer Leute war ohne Besinnung, und der andere war am Verbluten …«

Pendergast wankte zur Tür der Hütte. Seine Büchse war da, sie stand im Gestell. Er packte sie, klappte sie auf, sah, dass noch eine Patrone drin war.

»Was in Gottes Namen machen Sie denn da?«

Pendergast klappte die Büchse zu und richtete sie auf den Distriktskommissar. »Aus dem Weg!«

Woking trat beiseite. Taumelnd trat Pendergast aus der Hütte. Die Sonne stand tief am Himmel. Zwölf Stunden waren vergangen. Der Distriktskommissar kam, wild mit den Armen gestikulierend, hinter ihm hergelaufen. »Hilfe! Ich brauche Hilfe! Der Mann ist verrückt geworden!«

Pendergast rannte durch die Bresche im Unterholz und kämpfte sich durch das hohe Gras, bis er den Trampelpfad gefunden hatte. Die vereinzelten Rufe aus dem hinter ihm liegenden Camp waren nicht mehr zu hören. Ohne auf seine Schmerzen zu achten, stürmte er den Trampelpfad mit den Blutspuren entlang und schob dabei das Gestrüpp zur Seite. Fünf Minuten vergingen, zehn, dann fünfzehn – und dann stand er plötzlich in der Salzpfanne. Dahinter lagen das vlei, das dichtstehende Gras, der Hain der Akazienbäume. Er holte tief Luft, und dann lief er taumelnd über die Trockensenke und ins Gras hinein, schwenkte dabei seine Waffe mit dem guten Arm hin und her, um sich einen Weg zu bahnen, worauf die Vögel über ihm ob der Ruhestörung kreischten. Seine Lunge schmerzte, sein Arm war blutüberströmt. Trotzdem rückte er weiter vor, aus der aufgerissenen Schulter stark blutend, unartikulierte Laute ausstoßend. Und dann blieb er stehen und verstummte. Vor ihm im Gras lag etwas, klein, blass, auf dem brettharten Schlickboden. Er starrte darauf herab. Es war eine abgetrennte Hand – eine menschliche Hand, an deren Ringfinger ein Stern-Saphir steckte.

Mit einem tierähnlichen Aufschrei der Wut und Trauer schritt Pendergast taumelnd weiter und stürmte aus dem hohen Gras auf eine offene Fläche, wo der Löwe, dessen Mähne rot strahlte, kauerte und seelenruhig fraß. Pendergast erfasste das Grauen mit einem Blick: die Knochen mit den Fleischfetzen, den Hut seiner Frau, die zerrissene Khakikleidung und dann plötzlich den Geruch, den schwachen Duft ihres Parfüms, der sich mit dem Gestank der Großkatze verband.

Als Letztes sah er Helens Kopf. Er war vom Körper abgetrennt, ansonsten jedoch – welch grausame Ironie! – unversehrt verglichen mit dem Rest. Blicklos starrten Helens blau-violette Augen zu ihm herauf.

Pendergast ging wankend bis auf zehn Meter Entfernung an den Löwen heran. Der hob seinen riesigen Kopf, leckte sich mit der Zunge über die blutigen Lefzen und sah ihn seelenruhig an. Während er stoßweise Luft holte, hob Pendergast mit seinem unverletzten Arm die Holland & Holland, stützte sie mit dem verletzten Arm und nahm den Löwen über das Elfenbein-Korn ins Visier. Und drückte ab. Das gewaltige Geschoss mit einer Mündungsenergie von 6600 Joule traf den Löwen genau zwischen die Augen, etwas oberhalb von ihnen, so dass der Kopf sich ähnlich einer Sardinenbüchse öffnete und das Schädeldach in einem roten Sprühnebel aufplatzte. Der mächtige, rotmähnige Löwe rührte sich kaum; er sank bloß auf seine Beute herab und blieb dann reglos liegen.

Ringsum in den ausgedörrten Fieberbäumen kreischten Tausende Vögel.

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In der Gegenwart

5

St. Charles Parish, Louisiana

Langsam glitt der Rolls-Royce Silver Shadow über die kreisförmige Auffahrt, wobei das vernehmliche Knirschen der Kieselsteine unter den Reifen hier und da von kleinen Stellen mit Fingerhirse gedämpft wurde. Dem Rolls folgte ein metallicsilberner Mercedes neueren Baujahrs. Schließlich hielten beide Autos vor einem großen, neoklassizistischen Plantagenhaus, das von uralten, mit Spanischem Moos behängten Schwarzeichen umstanden war. Eine kleine, an die Fassade angeschraubte Bronzeplakette verkündete, dass das Herrenhaus unter dem Namen Penumbra bekannt war, im Jahre 1821 von der Familie Pendergast erbaut worden war und im Verzeichnis der Kulturdenkmäler der Vereinigten Staaten aufgeführt wurde.

A. X. L. Pendergast stieg aus dem Fond des Rolls und nahm seine Umgebung in Augenschein. Es war ein später Nachmittag Ende Februar. Das weiche Licht, das die griechischen Säulen umspielte, warf goldene Lichtstreifen auf die überdachte Veranda. Ein leichter Nebel trieb über den verwilderten Rasen und das Unkraut im Garten. Hinter dem Haus sangen Zikaden schläfrig in den Hainen der Sumpfzypressen und den Mangrovensümpfen. Die Kupferleisten an den Balkonen im ersten Stock waren von einer dicken Schicht Grünspan überzogen. Kleine abgeplatzte Placken weißer Farbe wölbten sich von den Säulen. Haus und Anlage verströmten eine Atmosphäre der Feuchtigkeit, Vergessenheit und Vernachlässigung.

Ein sonderbarer Gentleman, klein und untersetzt, gekleidet in einen schwarzen Cutaway und mit einer weißen Nelke im Knopfloch, stieg aus dem Mercedes. Er wirkte mehr wie ein Oberkellner eines englischen Herrenclubs zu Beginn des 20. Jahrhunderts und weniger wie ein Rechtsanwalt aus New Orleans. Trotz des Sonnenlichts trug er einen fest eingerollten Regenschirm akkurat unter den Arm geklemmt. In der anderen, rehbraun behandschuhten Hand hielt er eine Alligatorenhaut-Aktentasche. Er setzte seinen Bowler auf und tippte kurz darauf.

»Mr.Pendergast. Wollen wir?« Der Rechtsanwalt zeigte auf einen überwucherten, rechts vom Haus liegenden und von einer Hecke umschlossenen Baumgarten.

»Selbstverständlich, Mr.Ogilby.«

»Vielen Dank.« Der Anwalt ging mit raschen Schritten voran und fegte dabei mit seinen Budapester Schuhen durchs feuchte Gras. Pendergast folgte langsameren Schritts und weniger zielstrebig. Als Mr.Ogilby vor einer Pforte in der Hecke ankam, schob er sie auf. Gemeinsam betraten sie den Baumgarten. Kurz darauf blickte Ogilby verschmitzt lächelnd zurück und sagte: »Kommen Sie, halten wir Ausschau nach dem Gespenst!«

»Ja, das wäre spannend«, sagte Pendergast, ebenso scherzhaft.

Der Anwalt ging rasch weiter auf dem einst mit Kies bestreuten, heute aber mit Unkraut überwucherten Weg. Hinter einer großen Hemlocktanne war ein rostiger Eisenzaun zu sehen, der ein kleines Stück Land umschloss. Hier und da ragten Grabsteine aus Schiefer und Marmor aus dem Gras, einige aufrecht stehend, andere geneigt.

Vor einem der größeren Grabsteine blieb Ogilby, dessen schwarze, mit Bügelfalten versehene Hose inzwischen klitschnass war, stehen, wandte sich um und wartete, die Aktentasche mit beiden Händen umklammernd, bis sein Mandant zu ihm aufschloss. Pendergast ging, sich über das blasse Kinn streichend, nachdenklich auf dem privaten Friedhof umher, bis er schließlich neben dem picobello gekleideten Anwalt stehen blieb.

»Also! Da wären wir wieder!«

Pendergast nickte abwesend. Er kniete sich hin, schob das Gras von der Vorderseite des Grabsteins weg und las laut vor:

Hic Iacet Sepultus

Louis de Frontenac Diogenes Pendergast

2. April 1899 – 15. März 1975

Tempus Edax Rerum

Ogilby, der hinter Pendergast stand, stellte seine Aktentasche auf dem Grabstein ab, löste die Verschlüsse, hob den Deckel an und zog ein Schriftstück heraus. Dann legte er es auf den ein wenig kippelig auf dem Grabstein liegenden Aktenkoffer.

»Mr.Pendergast?« Er hielt ihm einen schweren silbernen Füllfederhalter hin.

Pendergast unterzeichnete das Schriftstück.

Ogilby nahm den Füllfederhalter zurück, setzte seine schwungvolle Unterschrift unter das Dokument, versah es mit einem Notarssiegel, datierte es und steckte es wieder in die Aktentasche. Dann klappte er sie zu und schloss sie ab.

»Fertig! Hiermit wird Ihnen bescheinigt, dass Sie das Grab Ihres Großvaters besucht haben. Und somit werde ich Ihnen die Zuwendungen aus der Stiftung der Familie Pendergast auch weiterhin auszahlen, zumindest bis auf weiteres.« Er lachte auf.

Pendergast erhob sich, worauf Ogilby ihm sein kleines Händchen hinhielt. »Es war mir ein Vergnügen, Mr.Pendergast. Und in fünf Jahren werde ich doch wohl abermals das Vergnügen haben, mit Ihnen zusammenzutreffen?«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite – und wird es immer bleiben«, erwiderte Pendergast und lächelte ironisch.

»Ausgezeichnet! Dann mache ich mich jetzt auf den Rückweg in die Stadt. Fahren Sie auch zurück?«

»Ich schaue noch einmal kurz bei Maurice vorbei. Er wäre todtraurig, wenn er erführe, dass ich wieder weggefahren bin, ohne ihm einen Besuch abgestattet zu haben.«

»Ganz recht, ganz recht! Wenn man sich vorstellt, dass er sich nun schon seit – wie vielen Jahren: zwölf? – ohne fremde Hilfe um Penumbra kümmert. Wissen Sie, Mr.Pendergast …« Ogilby beugte sich vor und senkte die Stimme, so, als wolle er ein Geheimnis ausplaudern. »Sie sollten das Haus wirklich renovieren lassen. Sie könnten ein hübsches Sümmchen dafür bekommen – ein wirklich hübsches Sümmchen! Plantagenhäuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg sind derzeit groß in Mode. Man könnte es doch in eine charmante kleine Pension umwandeln!«

»Vielen Dank, Mr.Ogilby, aber ich werde das Haus noch eine Weile länger behalten, glaube ich.«

»Wie Sie wünschen, wie Sie wünschen! Aber halten Sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr draußen auf – Sie wissen schon, bei den vielen Familiengespenstern.« Ogilby ging mit langen Schritten davon, vor sich hin kichernd, die Aktentasche schwingend; bald war er verschwunden, so dass Pendergast allein an dem Familiengrab zurückblieb. Er hörte, wie der Mercedes gestartet wurde, hörte, wie das Knirschen auf dem Kies leiser wurde.

Er spazierte noch einige Minuten auf dem Friedhof umher und las dabei die Inschriften auf den Grabsteinen. Jeder Name weckte Erinnerungen, eine seltsamer und exzentrischer als die andere. Viele der sterblichen Überreste stammten von Familienangehörigen, die nach dem Brand aus den Ruinen der Kellerkrypta der Pendergastschen Villa in der Dauphine Street exhumiert worden waren; andere Vorfahren hatten den Wunsch geäußert, in ihrer alten Heimat die letzte Ruhe zu finden.

Das goldene Licht verblasste, die Sonne versank hinter den Bäumen. Langsam zogen aus Richtung des Mangrovensumpfs fahle Nebelschwaden über die Rasenfläche. Die Luft roch nach Grün, Moos und Farnkraut. Schweigend und reglos stand Pendergast lange auf dem Friedhof, während der Abend sich über das Land senkte. Der gelbliche Schein von Lampen, die in den Fenstern des Plantagenhauses angingen, fiel durch die Bäume des Arboretums. Der Geruch nach brennendem Eichenholz lag in der Luft; ein Geruch, der unweigerlich Erinnerungen an Kindheitssommer zurückbrachte. Als Pendergast aufblickte, sah er, dass aus einem der großen Backsteinschornsteine des Herrenhauses träge eine blaue Rauchfahne emporstieg. Er verließ den Friedhof, durchquerte den Baumgarten und gelangte zur überdachten Veranda, deren wellig verzogene Dielen unter seinen Schritten knarrten.

Er klopfte an, trat einen Schritt zurück und wartete. Ein Knarren von drinnen; das Geräusch langsamer Schritte; ein kompliziertes Entfernen von Riegeln und Ketten; dann endlich schwang die große Tür auf, und vor ihm stand ein gebeugter alter Mann von unbestimmbarer Rasse, gekleidet in eine uralte Butler-Uniform, mit ernstem Gesicht. »Master Aloysius«, sagte er höflich und zurückhaltend, ohne sogleich die Hand auszustrecken.

Pendergast streckte seine Hand aus, worauf der alte Mann einschlug. Die knorrige alte Hand wurde freundlich geschüttelt. »Maurice, wie geht es Ihnen?«

»Mittelprächtig«, antwortete der alte Mann. »Ich habe gesehen, wie die Wagen vorgefahren sind. Ein Glas Sherry in der Bibliothek, Sir?«

»Ja, das wäre schön, danke.«

Maurice wandte sich um und ging langsam durch die Eingangshalle in Richtung Bibliothek. Pendergast folgte ihm. Im Kamin prasselte ein Feuer, weniger um Wärme zu spenden, sondern um die Feuchtigkeit aus dem Zimmer zu vertreiben.

Unter Gläserklirren hantierte Maurice auf der Anrichte, schenkte ein kleines Sherry-Glas voll, stellte es auf ein silbernes Tablett und trug es höchst zeremoniell zu Pendergast hinüber. Der nahm das Glas, nippte daran und blickte sich dann um. Nichts hatte sich zum Guten verändert. Die Tapete war stockfleckig, in den Ecken lagen Staubflusen. Seit seinem letzten Besuch in Penumbra vor fünf Jahren war es mit dem Haus sichtlich bergab gegangen.

»Es wäre schön, wenn Sie mich einen Hausmeister einstellen ließen, der im Hause wohnt, Maurice. Und eine Köchin. Das würde Ihnen viel von Ihrer Last abnehmen.«

»Unsinn! Ich bin auch ohne fremde Hilfe in der Lage, mich um das Haus kümmern.«

»Ich bezweifle, dass Sie hier allein sicher sind.«

»Nicht sicher? Natürlich ist das Haus sicher. Nachts ist es immer gut verriegelt.«

»Gewiss.« Pendergast trank einen kleinen Schluck Sherry, ein ausgezeichneter trockener Oroloso. Ein wenig träge überlegte er, wie viele Flaschen in dem weitläufigen Keller wohl noch lagerten. Vermutlich sehr viel mehr, als er in seinem Leben trinken konnte, von dem Wein, dem Port und dem guten alten Cognac ganz zu schweigen. Im Laufe der Zeit waren die Seitenzweige seiner Familie ausgestorben, weswegen sich die verschiedenen Weinkeller – wie auch der Reichtum – bei ihm, dem letzten überlebenden Angehörigen der Familie mit klarem Verstand, angesammelt hatten.

Er trank noch einen Schluck und stellte das Glas ab. »Maurice, ich sehe mich mal im Haus um. Um der alten Zeiten willen.«

»Jawohl, Sir. Ich bin hier, falls Sie mich brauchen.«

Pendergast erhob sich, öffnete die Kassettentür und betrat die Eingangshalle. Eine Viertelstunde lang spazierte er durch die Räume im Erdgeschoss: die leere Küche und die leeren Wohnräume, der Salon, die Speisekammer und der Gesellschaftsraum. Das Haus roch ein wenig wie in seiner Kindheit – nach Möbelpolitur, altem Eichenholz und, unendlich fern, dem Parfüm seiner Mutter; das alles überlagert von einem sehr viel neueren Geruch nach Feuchtigkeit und Schimmel. Jeder Gegenstand, jedes Figürchen und Gemälde, jeder Briefbeschwerer und silberne Aschenbecher stand an seinem Platz, und jedes kleine Objekt barg Tausende Erinnerungen an längst verstorbene Menschen, an Hochzeiten und Taufen und Begräbnisfeiern, an Cocktailpartys und Maskenbälle und Kinder, die unter den warnenden Rufen ihrer Tanten über die Flure liefen.

Vergangen, alles vergangen.

Er ging die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Hier führten zwei Flure zu den Schlafzimmern in den gegenüberliegenden Flügeln des Hauses, wobei der obere Salon geradeaus hinter einem bogenförmigen, von zwei Elefanten-Stoßzähnen bewachten Durchgang lag.

Pendergast betrat das Wohnzimmer. Auf dem Boden lag ein Zebrafell, über dem großen Kamin schmückte der Kopf eines Kapbüffels die Wand und blickte mit seinen Glasaugen auf ihn herab. An den Wänden hingen weitere Trophäen: Kudu, Buschbock, Hirsch, Reh, Hirschkuh, Wildschwein, Elch.