Fieker und die schlafenden Hunde - Jochen Pogrzeba - E-Book

Fieker und die schlafenden Hunde E-Book

Jochen Pogrzeba

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Beschreibung

Der Tuniberg wird zum Schauplatz grausamer Verbrechen: Eine Reihe von Morden an Personen, die scheinbar keine Verbindung zueinander haben, hält die Freiburger Kriminalpolizei in Atem. Doch je tiefer der schrullige Hauptkommissar Bernhard Fieker in die Ermittlungen eintaucht, desto mehr wird klar, dass die Opfer alle eine gemeinsame Vergangenheit haben. Im Fokus der Ereignisse steht eine elitäre Privatklinik und deren illustre Besitzerfamilie. Ein tödlicher Plan, längst vergessen geglaubte Verstrickungen und das düstere Erbe einer Familie verbergen sich hinter den ehrbaren Fassaden und führen Fieker auf die Spur eines alten Geheimnisses, das bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht.

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Seitenzahl: 438

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Tuniberg wird zum Schauplatz grausamer Verbrechen: Eine Reihe von Morden an Personen, die scheinbar keine Verbindung zueinander haben, hält die Freiburger Kriminalpolizei in Atem. Doch je tiefer der schrullige Hauptkommissar Bernhard Fieker in die Ermittlungen eintaucht, desto mehr wird klar, dass die Opfer alle eine gemeinsame Vergangenheit haben.

Im Fokus der Ereignisse steht eine elitäre Privatklinik und deren illustre Besitzerfamilie. Ein tödlicher Plan, längst vergessen geglaubte Verstrickungen und das düstere Erbe einer Familie verbergen sich hinter den ehrbaren Fassaden und führen Fieker auf die Spur eines alten Geheimnisses, das bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht.

Über den Autor:

Jochen Pogrzeba, geb. 1967, lebt und arbeitet in Freiburg und schreibt seit mehreren Jahren Geschichten aus den Bereichen Mystery, Science-Fiction oder Krimi. „Fieker und die schlafenden Hunde“ ist sein vierter Roman und nach „Fieker und der Teufelskreis“ der Zweite aus der „Fieker-Reihe“.

Inhaltsverzeichnis

Ein festlicher Empfang

Die Straße nach Waltershofen

Wilhelm (Oktober 1940)

Die Braunfels-Klinik

Zwillinge

Attilafelsen

Blüten und Barbecue

Wilhelm (August 1944)

Colombi

Äpfel und Fleischwunden

Ehrenstetter Grund

Lothar (Dezember 1951)

Bayreuth

Rene

Kunstfasern und Klemmbrett

Julia

Die Gerichtsverhandlung

Lothar (Februar 1970)

Von Neuruppin nach Sardinien

Abseits

Flori

48 °0‘36‘‘ 7°41‘24‘‘

Lothar (Oktober 1989)

Berta

Der Honigtopf

Kühle Brise

Ein festlicher Empfang

Das scharfe Knirschen unter den Vorderrädern zeigte an, dass ich die geteerte Straße in Richtung Gottenheim verlassen hatte und auf die gekieste Auffahrt des alten Gutes Hohenberg eingebogen war. Der dicke Maybach mit Baden-Badener Kennzeichen hatte sich schon in Umkirch vor meine Nase gesetzt. Seine Rücklichter hatten mir an diesem Märzabend den Weg durch die malerischen Weinberge des Tunibergs geleitet. Meine Vermutung wurde zur Gewissheit, der mir unbekannte Fahrer hatte offensichtlich das gleiche Ziel wie ich. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass eine weitere dunkle Karosse in die Auffahrt eingebogen war. Ungefähr hundert Meter vor mir konnte ich das hell erleuchtete Herrenhaus sehen. Die Gastgeber hatten das Anwesen ordentlich herausgeputzt, gelbe Scheinwerfer leuchteten die Fassade an und tauchten das herrschaftliche, leicht barock angehauchte Gebäude in ein helles, aber angenehmes Licht. Mein Mietwagen schlich jetzt im Schneckentempo die Auffahrt entlang, die auf beiden Seiten mit brennenden Fackeln gesäumt war. Die Familie Braunfels hatte für heute Abend nichts dem Zufall überlassen. Langsam fuhr ich an den akkurat geschnittenen Hecken vorbei zum kreisrunden Vorplatz, auf dem ein kleiner Springbrunnen einen zerstäubten Wasserstrahl in die beginnende Dunkelheit sprühte. Ein Diener in Livree wies die ankommenden Fahrzeuge ein. Mit einem kurzen Wink lotste er mich auf einen Parkplatz direkt neben dem Seitenflügel des Hauses, wo ich zwischen einem schneeweißen Lamborghini Aventador und einem, – wie sollte es anders sein? – knallroten Ferrari F12 parkte. Ich hatte den richtigen Riecher gehabt, als ich mir beim Leihwagenhändler einen relativ neuen Audi Q8 geben ließ, so fiel ich bei der Armada der hochpreisigen Luxuslimousinen nicht sofort negativ auf. Meine Krawatte zurechtzupfend, warf ich einen Blick in den Rückspiegel. Ich kam mir ein bisschen verkleidet vor, doch da ich die Einladung zum siebzigsten Geburtstag eines der bedeutendsten Firmenmagnaten der Region angenommen hatte, war mir nichts anderes übrig geblieben, als mich dem unausgesprochenen Protokoll zu beugen. Ich ging zur großen Vordertür, wo ein gutes Dutzend Menschen auf den Einlass wartete. Damen im eleganten Abendkleid sowie Herren im edlen Frack standen brav aufgereiht in einer Schlange. Ich meinte kurz das Gesicht des ehemaligen Regierungspräsidenten zu erkennen, der sich mit der Seniorchefin der Huber-Gruppe unterhielt. Etliche Pressefotografen hatten sich hinter einer dicken roten Kordel platziert, die zwischen zwei klobigen Ständern gespannt war. Die wartenden Gäste schienen sich nicht um die Damen und Herren der Presse zu kümmern, die auf ihren Kamerakoffern sitzend darauf warteten, ein oder zwei bekannte Gesichter der lokalen Prominenz vor die Linse zu bekommen. Am Eingang nahm ein seriös wirkender Herr meine Eintrittskarte entgegen. Er blätterte die gefaltete Karte auf, um den in der Innenseite gedruckten Namen zu lesen.

„Nick Reetmann, Kriminalpolizei Freiburg“, las er laut vor. Ein anderer Herr hakte einen Eintrag auf einer Liste ab, die er auf ein Klemmbrett geheftet hatte. Mit ernstem Blick gab er mir den DIN-A6-großen Umschlag zurück und stammelte mir ein „Herzlich willkommen“ entgegen. Ich grinste nur kurz und ersparte uns beiden die Erklärung, dass ich heute nicht dienstlich hier sei, sondern nur aufgrund einer rein privaten Einladung. Ein bulliger Personenschützer, der mit seiner Glatze und Sonnenbrille genau dem Klischee dieses Berufsstandes entsprach, starrte anteilslos in die Szenerie, ein überdimensioniertes Bluetooth-Headset auf seine rechte Ohrmuschel geklemmt.

Ich betrat das Haus und fand mich in einem großen Foyer wieder, in dem rechts eine Garderobe aufgebaut war. Meinen Mantel hatte ich im Auto gelassen, so dass ich direkt in den großen Saal durchging, der bereits gut gefüllt war. Der Raum war geschätzte dreißig Meter lang und zehn Meter hoch, gesäumt von einer Balustrade auf halber Höhe. Die Decke bestand aus einem kunstvoll gearbeiteten Glasdach, in dem sich das Licht der Kronleuchter spiegelte. Überall herrschte eine geschäftige Atmosphäre, Kellner und anderes Service-Personal liefen Slalom um plaudernde Gäste. Einen Diener, der mir ein Glas Sekt anbieten wollte, ignorierte ich fürs Erste. Ich schaute nach bekannten Gesichtern, konnte aber auf die Schnelle niemanden entdecken. Die hier versammelte Gesellschaft entsprach weder meiner Alters- noch Gehaltsklasse. Ich schlich am Büfett entlang und warf einen kurzen Blick darauf, auch wenn es noch nicht offiziell eröffnet war. Hier war nur das Beste vom Besten aufgefahren worden. Üppig belegte Canapés mit Anchovis und Granatapfelkernen, Unmengen von Wachtelbrüstchen auf geschnittener Drachenfrucht und verschiedene Terrinen in kleinen und großen Förmchen, angerichtet auf schwarzen Schieferplatten. Das Ambiente hatte etwas von einem mondänen Casino irgendwo an der Côte d‘Azur, bevölkert von der heimischen Prominenz und solchen, die zu dieser dazugehören wollten. An der Stirnseite des großen Saales war eine Bühne aufgebaut, auf der sich nur ein einsamer Ständer mit Mikrofon befand. Das blaue Logo der Braunfels-Kliniken war auf eine weiße mannshohe Leinwand gedruckt, welche die Rückwand der Bühne bildete, die sie zur großen Treppe abgrenzte. Ich ging eine Runde durch den Saal, um das Ambiente auf mich wirken zu lassen. Zwischendurch machte ich einen kleinen Abstecher auf die Toilette, wo ein sanftes, stimmungsvolles Vogelgezwitscher aus einem Lautsprecher meine Verrichtung dezent begleitete. Als ich wieder in den Saal zurückging, sah ich, dass sich auf der Bühne etwas tat. Das Saallicht wurde leicht gedimmt und ein Techniker fuchtelte am eingeschalteten Mikrofon herum. Ich suchte mir einen Platz unter der Balustrade direkt neben dem Büfett. Hier hatte ich aus ungefähr zehn Metern Entfernung einen leicht schrägen, doch guten Blick auf das Geschehen.

Als der Veranstaltungstechniker seine Arbeit erledigt hatte, erschien kurz darauf das Geburtstagskind auf der Bühne. Dr. Robert Braunfels war ein steinreicher Mann und Sprössling einer im Breisgau eingesessenen Unternehmerfamilie. Er hatte die Braunfels-Privatkliniken von seinem Vater geerbt, zu einem europaweiten Imperium ausgebaut und dieses vor drei Jahren an seinen ältesten Sohn übergeben. Auch wenn er von eher kleiner Statur war und mit einer im Kronleuchterlicht glänzenden Glatze gesegnet war, sprühte er doch die Eleganz und Weltgewandtheit eines wohlhabenden Mannes aus. Wie im Widerspruch zum edlen schwarzen Frack hing eine turnbeutelartige Tasche über seiner linken Schulter. Kurz darauf betrat seine Ehefrau, Camila Braunfels, die Bühne. Sie war knapp dreißig Jahre jünger als ihr Mann, eine bekannte Society-Lady und, das war hier jedem klar, der eigentliche Star der Veranstaltung. Sie trug ein enges, rotglitzerndes Abendkleid, das vermutlich den Wert eines Kleinwagens hatte und ihre schlanke Figur perfekt betonte. Ein donnernder Applaus begleitete die beiden. Robert Braunfels trat an das Mikrofon und hob lächelnd die Hände, um die Menge zur Ruhe zu bitten, doch diese quittierte diese Geste mit einem schiefen „Happy Birthday“.

„Ich bitte euch, liebe Freunde.“

Langsam verebbte der Gesang, als Braunfels‘ Worte über die leistungsstarke PA-Anlage in alle Ritzen des Saales drangen.

„Werte Gäste. Ihr wisst, ich bin kein Freund großer Worte, deswegen will ich meine Rede kurz halten, damit ihr nicht so lange auf das Büfett warten müsst.“

Ein heiteres Lachen lag in der Luft. Es waren diese Art von harmlosen Bonmots, die jeder auf einer solchen Veranstaltung erwartete. Seine Frau hielt sich am Rand der Bühne auf und warf mit einem unechten Lachen ihre behandschuhten Hände in die Luft, als wollte sie die Heiterkeit des Publikums dirigieren.

„Siebzig Jahre bin ich heute alt, und ich kann sagen, liebe Freunde, es waren siebzig bewegte Jahre. Einige von euch konnten mich ja einen großen Teil davon begleiten. Gute vierundzwanzig Jahre davon durfte ich mit meiner lieben Frau Camila verbringen, die …“

Er kam nicht dazu, die Worte zu Ende zu sprechen, da sofort wieder ein donnernder Applaus den Saal erfüllte. Camila Braunfels schien diese Aufmerksamkeit zu genießen, winkte aber nur mit aufgesetztem Understatement in die Menge.

„Siebzig ereignisreiche Jahre liegen hinter mir und doch kamen sie mir vor wie im Flug. Es waren viele erfolgreiche Jahre dabei, privat wie beruflich. Taten, die mich mit Stolz und Glück zurückblicken lassen. Meine Frau und meine beiden Kinder aus erster Ehe, die meinem Leben, auch abseits der täglichen Arbeit, seinen Sinn geben.“

Er machte eine kurze Pause, bis der Saal wieder komplett zur Ruhe gekommen war.

„Und so habe ich einen Beschluss gefasst, an dem ich euch teilhaben lassen will. Heute wird ein neues Zeitalter in der Familienhistorie der Braunfels‘ geschrieben und ihr seid hier, um dies zu bezeugen.“

Er breitete beide Arme aus, wie ein Prediger auf einer Kanzel. Die Stofftasche hing reichlich schief über seiner Schulter und baumelte auf Hüfthöhe. Abermals brandete Applaus auf. Der kleine alte Mann auf der Bühne hatte die Menge perfekt im Griff. Es schien mir ein geschickter Schachzug zu sein, eine derartige Ankündigung mit solch einer überdimensionierten Geburtstagsfeier zu verbinden.

„Und deswegen, liebe Freunde, habe ich eine Entscheidung getroffen …“

Er beugte sich nach vorne und begann nun an seiner seltsamen Umhängetasche herumzunesteln. Er griff hinein und zog einen schwarzen Gegenstand heraus.

„… eine Aufgabe, die wirklich überfällig ist und die heute endlich zu Ende gebracht werden muss.“

In den vorderen Reihen machte sich ein Grummeln breit, durchsetzt von kurzen, spitzen Schreien. Nun konnte ich es auch erkennen, Dr. Robert Braunfels hatte eine Pistole in seiner Hand. Er warf die Tasche auf den Boden und richtete die Waffe auf ein imaginäres Ziel gegenüber der Bühne. Bevor die Menge verstand, was vor sich ging, drehte er die Pistole um und steckte den Lauf in seinen Mund. Ein lauter Knall hallte durch den Saal und im selben Moment, als Braunfels‘ Kopf nach hinten gerissen wurde, spritzte eine dunkelrote Fontäne auf die weiße Leinwand im Bühnenhintergrund und hinterließ auf dem Firmenlogo ein Muster, ähnlich einem aus dem Ruder gelaufenen Rorschach-Test. Der Körper sackte nach unten und blieb reglos neben dem Mikrofonständer liegen. Ein lauter Schrei aus Dutzenden von Kehlen erfüllte den Saal, begleitet vom Klirren zerbrechender Gläser und dem Poltern umfallender Stühle. Camila Braunfels wurde von zwei Bodyguards von der Bühne eskortiert. Ich blieb inmitten des ganzen Tumults ruhig in meiner Ecke stehen und schaute auf die Szenerie. Ich fixierte den riesigen Blutfleck auf dem Logo, auf dem sich kleine Bröckchen Gehirnmasse den Weg Richtung Boden bahnten.

Ich konnte mir ein innerliches Grinsen nicht verkneifen. Das war wahrlich ein Abgang, eines großen Mannes würdig.

Die Straße nach Waltershofen

Die frühe Mittagssonne blendete mich durch den Rückspiegel, als Fieker und ich von Haslach kommend auf den Tuniberg zufuhren. Ich drehte den Spiegel von mir weg, um einen freien Blick auf die Straße vor uns zu haben, die sich am Rebberg vorbeischlängelte. Leichte Kumuluswolken hingen über dem kleinen, langgezogenen Berg zwischen Schwarzwald und Rhein, der seinen heutigen Bestimmungszweck als Weinanbaugebiet hinter jeder Straßenbiegung erkennen ließ.

Wie üblich fuhr ich das Dienstfahrzeug, Fieker saß stumm neben mir, in irgendwelche Papiere versunken, die er sich aus einer abgewetzten Ledertasche im Fußraum gezogen hatte. Fieker, soll heißen Hauptkommissar Bernhard Fieker vom Freiburger Morddezernat, war seit ungefähr einem Jahr mein Chef. Ein Jahr zwischen allen Höhen und Tiefen, zwischen Bewunderung ob seiner kriminalistischen Fähigkeiten und tiefer Verzweiflung wegen der oftmals nervigen Schrullen des alten Unikums. Knapp ein Jahr war es jetzt her, dass Fieker mit meiner bescheidenen Hilfe den Fall des Teufelskreises von Liebenau gelöst hatte. Ein Erfolg, der über die regionale Presse hinaus einige Aufmerksamkeit erregt hatte. Für manche der Verantwortlichen im Polizeipräsidium kam dieser Erfolg eher ungelegen, hatte Fieker doch durch seine mit der Polizeiverwaltung wenig kompatiblen Methoden mehr Feinde angehäuft als mancher der von ihm überführten Verbrecher. Und das würde sich die paar Jahre, die ihm bis zu seiner Pensionierung blieben, auch nicht mehr ändern, da war ich mir sicher.

Als wir Opfingen hinter uns gelassen hatten, bog ich auf einen asphaltierten Feldweg oberhalb von Sankt Nikolaus ein. Die Landschaft des Tunibergs und auch des benachbarten Kaiserstuhls faszinierte mich sehr, eine Kulturlandschaft, die ich von meiner ursprünglichen Heimat, der Ostalb, so nicht kannte. Bisher hatte ich es noch nicht geschafft, Melanie zu einem Ausflug in den Kaiserstuhl zu bewegen. Wir waren seit gut einem Jahr ein Paar und bisher hatte sie mehr oder weniger über unsere Freizeitgestaltung bestimmt. Die Basler Museen und Straßburger Handwerkergassen waren eher in ihrem Sinne als die von Eidechsen bewohnten Hohlwege, die sich durch den Kaiserstuhl zogen. Melanie, genauer gesagt Kommissarin Melanie Urbanczyk, war eine der fähigsten Kolleginnen, die ich bisher in meinem jungen Berufsleben kennen lernen durfte. Auch wenn wir beide noch nicht so recht wussten, wohin uns diese Beziehung führen würde, war ich doch froh, sie an meiner Seite zu wissen.

Das letzte Mal, dass ich hier am Tuniberg unterwegs gewesen war, war nun ein halbes Jahr her. Anlass war die Geburtstagsfeier von Robert Braunfels gewesen, dessen theatralischer Suizid die lokalen Gazetten noch heute in Aufregung versetzte.

Ein Räuspern von Fieker riss mich aus meinen Gedanken.

„Ich hoffe, die Spurensicherung hat am Tatort keine Verwüstung angerichtet, wie sie das sonst immer so gerne tut. Manchmal denke ich, die machen das absichtlich, seit ich mich vor einigen Jahren diesbezüglich geäußert habe.“

Ich musste innerlich grinsen. Fieker hatte vor wenigen Jahren tatsächlich einen Beschwerdebrief an den baden-württembergischen Innenminister geschrieben, weil ein Praktikant der Spusi ein aufgepilztes Projektil in den falschen Probebeutel gesteckt hatte. Eine Anekdote, die im Präsidium noch heute für Heiterkeit sorgte. Ich selbst empfand es als entspannend, an den Tatort zu kommen, wenn die Spusi bereits einen Teil ihrer Arbeit erledigt hatte und schon erste Ergebnisse übergeben konnte. Fieker sah das komplett anders – was er nicht selber gesehen oder herausgefunden hatte, dem stand er prinzipiell skeptisch gegenüber.

Bald darauf erreichten wir eine Biegung auf einem Höhenzug kurz vor der Merdinger Gemarkungsgrenze. Zwei Polizeiwagen standen an der Straßenseite, von der aus ein geschotterter Wirtschaftsweg in die Reben führte. Die meisten Rebstöcke waren bereits abgeerntet, nur in einzelnen Reihen hingen noch Trauben für die Spätlese. Der Einsatzort war von beiden Seiten mit Sicherheitsband abgesperrt, dazwischen ein kleiner Seitenweg, der zu einem Gartenhäuschen führte. Als wir aus dem Wagen stiegen, umwehte ein sachter Wind die Szenerie. Fieker, mit seiner obligatorischen Schiebermütze auf dem Kopf, starrte gedankenversunken einen Weinberg hinauf. Manchmal kam mir Hauptkommissar Fieker wie ein verwirrter alter Mann vor, der irgendwie fehl am Platz war. Ein Rentner, der im Stadtpark die Tauben fütterte oder mit dem Kissen auf dem Fensterbrett die Falschparker aufschrieb. Nichts an seinem Äußeren deutete auf seine enormen Fähigkeiten als Ermittler hin.

Wir gingen auf eine junge Kollegin in einem blauen Overall zu, die mit einem freundlichen Lächeln das Absperrband hochhob. Fieker ließ ein kurzes „Guten Morgen“ hören, als er, ohne den Kopf einziehen zu müssen, unter dem weiß-roten Plastik hindurchging. Zwei Männer, ebenfalls in blaue Overalls gekleidet, standen neben einem Fahrrad, das schräg an einen Rebstock gelehnt war. Einer davon hatte uns bemerkt und kam uns entgegen. Ich konnte Roland erkennen, den Leiter der Spusi, einen extrovertierten und leicht zynischen Kollegen, der mich äußerlich immer an den Schauspieler Steve Buscemi erinnerte.

„Hallo, ihr zwei. Ich muss euch bitten, Latex-Handschuhe anzuziehen. Ihr wisst schon, Kontaminierung und so.“

Während ich die milchfarbenen Handschuhe entgegennahm, die Roland mir entgegenstreckte, ging Fieker wortlos auf das Fahrrad zu.

„Bernhard, dann fasse wenigstens nichts an!“, schrie Roland hinter ihm her. Fieker griff seelenruhig an den Lenker und betätigte wie zum Trotz die Bremse. Roland drehte sich zu mir um.

„Der Alte bringt mich noch ins Grab. Wie hältst du das bloß mit dem aus? Wäre er mein Chef, hätte ich so viele Versetzungsanträge geschrieben, dagegen wäre Krieg und Frieden ein dünnes Heftchen.“

Fieker lehnte das Fahrrad wieder an den Rebstock an. „Roland, beruhige dich. Ich mache hier schon nichts kaputt.“

Roland ging den schmalen Feldweg entlang, der einige Meter weiter oben an einem kleinen Geräteschuppen endete, ich hinter ihm her.

„Dann lass mich dir wenigstens erzählen, was wir hier vorgefunden haben“, sagte er, den Kopf in meine Richtung gedreht. „Wenn schon Bernhard mir nicht zuhören will. Dort oben befindet sich unser Kunde.“ Roland zeigte kurz auf das Rebhäuschen. Es war ein kleiner, fensterloser Geräteschuppen aus Kunststoff mit ungefähr zwei mal zwei Quadratmetern Grundfläche. Der Schuppen war knapp zehn Meter von der Straße weg, rechts und links von Reben umrahmt. Die Tür stand weit offen und vor der Hütte lag reichlich Werkzeug wild auf dem Weg verteilt. Als wir uns näherten, konnte ich den beißenden Geruch von Rauch wahrnehmen. Roland hielt seinen Arm vor meine Brust. „Passt ein bisschen auf. Der Winzer, der heute Morgen den Toten fand, liegt jetzt selbst mit einer Kohlenmonoxidvergiftung im Krankenhaus. Wir haben die Tür schon eine gute Stunde offen, der größte Teil des Gases müsste draußen sein. Trotzdem ist es mir lieber, wenn wir alle vorsichtig sind.“

Ich blickte aus ungefähr zwei Metern Entfernung in den kleinen Plastikverschlag. Ein umgekippter Gartenstuhl lehnte neben einem Körper, der wie in einer Art stabiler Seitenlage in der Hütte lag. Daneben konnte ich vier handelsübliche Einweg-Kohlegrills erkennen, deren Aluminiumschalen in einer Pfütze lagen.

„Bei unserer Ankunft mussten wir die Grills mit einem gehörigen Schluck aus einem Wassereimer ausmachen. Ansonsten hätten wir uns der Hütte nicht gefahrlos nähern können.“

Mittlerweile war Fieker zu uns gestoßen, der mit einer tief gerunzelten Stirn auf den Toten starrte. Der Mann, der in der kleinen Hütte vor uns lag, war groß, schlank und um die fünfzig, auch wenn das in dieser Situation schwer einzuschätzen war. Seine Kleidung hatte nichts, was auf irgendeinen besonderen Anlass schließen ließ, durchschnittliche Alltagskleidung an einem durchschnittlichen Menschen. Er war mit einer hellbraunen Stoffhose, einem weißen Hemd und braunen Lederschuhen bekleidet. Lockige und deutlich angegraute Haare saßen auf seinem Kopf.

„Eine Kohlenmonoxidvergiftung also“, fuhr Roland fort. „Vermutlich Suizid und deswegen wahrscheinlich kein Fall für euch. Ich habe den Eindruck, dass er sich hier eingeschlossen, die vier Kohlegrills entzündet und dann auf seinen Tod gewartet hat, der, das könnt ihr mir glauben, zügig kam.“

„Ich dachte immer, der klassische Fall eines Selbstmordes durch Kohlenmonoxid geschieht hinter dem Steuer eines Autos mit einem Schlauch in das Wageninnere“, bemerkte Fieker.

Roland setzte zum Sprechen an, doch ich war schneller.

„Das war einmal. Aber seit die Autos mit einem Kat ausgerüstet sind, kommt da kaum genug CO heraus, als dass ein Suizid möglich wäre.“

Fieker trat nun näher an den Toten heran. Roland warf beide Arme in die Höhe. „Bernhard, bitte pass ein bisschen auf!“

Wie zum Trotz beugte sich Fieker zu dem Toten hinunter und drehte seinen Kopf leicht zur Seite.

„Bleib ruhig, Roland. Wir achten alle aufeinander, dann passiert keinem was. Deine Kollegen dürfen die Leiche raustragen, so können wir ihn näher in Augenschein nehmen.“

Roland winkte zwei seiner in weiße Schutzanzüge gekleideten Mitarbeiter zu sich her, um aber gleich wieder in seinem Vortrag fortzufahren. „Eine Kohlenstoffmonoxidintoxikation ist ein schneller Tod und war deswegen so beliebt unter Suizidanten, bis, Nick hat es gerade erwähnt, die Autos mit Katalysatoren ausgestattet wurden. Die Engländer nennen dieses Gas nicht umsonst den ‚Silent Killer‘. Wenn die akuten Symptome beginnen, ist es schon zu spät. Als dieser kleine Raum voller Gas war, brauchte es vielleicht vier oder fünf Atemzüge, bis die Bewusstlosigkeit eintrat. Es gab keine Chance für ihn, es sich nochmal zu überlegen. Nach gut drei Minuten war er vermutlich tot. Doch dazu wird euch die Forensik mehr sagen. Ein klassischer Suizid, kein Futter für die Mordkommission.“

Fieker trat wieder einen vorsichtigen Schritt Richtung Türöffnung vor. „Wenn das Gas so schnell wirkt, warum liegt er dann neben dem Stuhl? Der Gartenstuhl sieht relativ stabil aus, ebenso der betonierte Boden dieses Schuppens. Ich hätte nach deinen Ausführungen jetzt erwartet, dass er weiterhin im Stuhl sitzt.“

„Nun ja“, erwiderte Roland. „Wenn die Konzentration in der Luft noch nicht zu hoch ist, kommt es zu plötzlichen Krampfanfällen, bevor die Bewusstlosigkeit eintritt. Vermutlich hat das zu einem Umkippen des Stuhls geführt.“

Die zwei Mitarbeiter der Spusi zogen den Toten aus der Hütte auf den Feldweg. Ich griff mir einen der nassen Grills und trug ihn nach draußen.

„Sind schon eine Umweltsauerei, diese Einweggrills. Einmal benutzt, und ab in den Müll. Passt aber zu dem Zeug, das die meisten Menschen damit zubereiten. Dabei geht nichts über ein paar geile Spareribs aus einem ordentlichen Smoker.“

Fieker schaute mich wortlos an. Es hätte mich gewundert, wenn er darauf eingegangen wäre. Ich hatte ihn als einen Menschen kennengelernt, der sich voll und ganz seinem Beruf verschrieben hatte. Kulinarische Genüsse oder überhaupt Lebensfreude schienen ihm nicht viel zu bedeuten. Mit einer Beweglichkeit, die ein Außenstehender dem kleinen, leicht dicklichen Mann nicht zugetraut hätte, beugte er sich zu dem Toten hinab. Fieker nestelte in den Jackentaschen und drehte dabei das Futter auf links. „Mal schauen, was wir hier finden. Mit einem Abschiedsbrief ist eher nicht zu rechnen. Diese ‚Auf Wiedersehen, schnöde Welt‘-Poesie ist doch nur ein Mythos. Wer so weit ist, sich das Leben zu nehmen, hat meist den Zurückgelassenen nichts mehr zu sagen. Wie ich dachte, keine Spuren von einem Portemonnaie oder einem Kassenzettel.“

Ich schaute Fieker an. „Was für ein Kassenzettel?“

Ohne weiteren Blickkontakt fuhr Fieker mit der Untersuchung der Leiche fort, wobei er mittlerweile bei den Hosentaschen angekommen war.

„Für diese Einweggrills. Es wäre ja zu vermuten, dass unser Mann diese Sachen gestern erst gekauft hat. Dann könnte ein Kassenzettel hier in seinen Taschen stecken.“ „Oder aber er hat den Kassenzettel nicht mitgenommen, mache ich meistens auch nicht. Vielleicht hatte er die Dinger noch im Keller.“

„Nick, bringen Sie mir doch mal den Grill, den Sie gerade nach draußen getragen haben.“

Ich hatte die Aluschale an den Wegrand gelegt, ohne sie sofort einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Ich hob sie wieder auf und reichte sie Fieker hinüber.

Der, immer noch neben der Leiche kniend, schüttete die Asche und die Reste an unverbrannter Kohle aus und hielt sich die Aluschale direkt vor das Gesicht. „Nick, kennen Sie sich mit solchen Einweggrills aus?“

„Eher nicht, wieso fragen Sie?“

„Weil hier ein Haltbarkeitsdatum in das Aluminium eingestanzt ist. Kohle müsste doch ewig halten?“

„Das kann sich eigentlich nur auf den enthaltenen Grillanzünder beziehen. Das ist meistens ein mit irgendeiner Flüssigkeit getränktes Papierstückchen. Wenn man diese Dinger zu lange im Keller hat, brennt das nicht mehr und man muss einen neuen Anzünder benutzen.“

Fieker hielt mir die Grillschale entgegen und zeigte mit seinem Finger auf eine Stanzung, die ich aber aus der Entfernung nicht erkennen konnte. „Ablaufdatum, Oktober nächsten Jahres. Daneben das Logo der Firma REWE. Ich vermute, die Grills sind neu. Und dann liegt nahe, dass sie extra für diese Aktion hier angeschafft wurden.“

Fieker drehte sich zu Roland um.

„Roland!“ Der Gerufene stand einige Meter entfernt am Fahrrad und unterhielt sich mit seinen beiden Mitarbeitern. Er drehte sich sofort zu uns um.

„Roland, habt ihr in der Umgebung irgendwas gefunden, was auf die Identität unseres Mannes hier hindeutet?“

Ein wortloses Kopfschütteln war die Antwort.

„Ach, und, Roland, wie sieht es mit der Tür des Geräteschuppens aus? Wurde sie aufgebrochen?“

Roland ging nun wieder einige Schritte auf uns zu.

„Ja. Wir haben einen Schraubenschlüssel neben der Tür gefunden. Ist schon verpackt und liegt im Auto. Diese Hüttchen sind ja schnell aufgebrochen. Die sind meistens schlecht gesichert, weil außer einigen Werkzeugen kaum was Wertvolles dort aufbewahrt wird. Die richtig teuren Gerätschaften bringen die Arbeiter morgens mit herauf in den Weinberg.“

Fieker drehte sich wortlos weg, was Roland dazu veranlasste, sich seinem Kollegen zuzuwenden.

„Ach, Roland, nochmal!“, rief Fieker den Weg hinunter.

Roland drehte sich abermals mit einem Augenrollen zu uns herum.

„Gibt es hier jemanden, der über Ortskenntnisse verfügt? Wir suchen einen REWE-Markt in der Nähe.“

Ohne Rolands Antwort abzuwarten, griff ich in die Jackentasche, zog mein Smartphone heraus und hielt es Fieker unter die Nase. „Wir brauchen keine Ortskenntnisse, Chef, wir haben das hier.“

Für einen kurzen Moment starrte er mich an, bevor er sich mit einem gemurmelten „Dann schauen Sie halt nach!“ wieder dem Toten zuwendete. Ich durchsuchte einen bekannten Kartendienst, der mir zügig drei Treffer präsentierte.

„Die Märkte in Bötzingen, Munzingen und Merdingen sind hier in unmittelbarer Nähe.“

„Dort werden wir auf dem Weg nach Freiburg mal vorbeischauen. Nick, ich habe hier ein seltsames Gefühl.“

Fieker war mittlerweile aufgestanden und hatte sich direkt neben mich gestellt, um mir in fast verschwörerischer Manier ins Ohr zu flüstern. „Hier stimmt etwas nicht. Es scheint, als hätte der Tote keine Spuren hinterlassen wollen, wer er ist oder woher er kam. Keine Papiere, kein Schlüssel, keine weiteren Hinweise, absolut nichts.“

„Warum hätte er Dokumente oder Ähnliches dabeihaben sollen, wenn er vorhatte, sich umzubringen?“

„Vordergründig könnte man das meinen, doch funktioniert ein Selbstmord nicht immer so perfekt, wie man sich das vorstellen mag. Menschen, die in suizidaler Absicht unterwegs sind, durchleben emotionale Höhen und Tiefen. Es wäre ungewöhnlich, wenn jemand so nüchtern seinen Suizid durchführt. Hier seelenruhig mit dem Fahrrad hochfährt, vier Einweggrills auf dem Gepäckträger, sich in eine Hütte setzt und auf seinen Tod wartet. Das wirkt einfach zu glatt. Ich möchte definitiv, dass der Tote in die Rechtsmedizin kommt. Bitte leiten Sie das in die Wege, und dann sind wir hier fertig. Machen Sie außerdem ein Porträtfoto des Mannes. Ich gehe davon aus, dass Ihr Telefondingens das auch kann.“

„Sicher, aber hat nicht Roland bereits …“

„Das nützt uns nichts, da wir gleich ein Foto zur Identifizierung benötigen. Lassen Sie uns aufbrechen.“

Ich telefonierte mit dem Kommissariat und bestellte einen Leichenwagen, um den Toten in die Rechtsmedizin des Freiburger Universitätsklinikums bringen zu lassen. Sollten Indizien für einen gewaltsamen Tod sprechen, wäre es Sache der Staatsanwaltschaft, für eine Obduktion zu sorgen.

Mittlerweile war es kurz vor Mittag, als wir die Straße Richtung Opfingen nahmen, um über Tiengen nach Munzingen zu fahren. Inzwischen war es ein schöner Herbsttag geworden, der noch leichte Züge des Spätsommers in sich trug. Fieker machte sich einige Notizen in seine abgegriffene braune Lederkladde und es schien mir, als kritzelte er gedankenverloren vor sich hin.

Kurze Zeit später fuhren wir auf den Parkplatz des REWE-Marktes in Munzingen. Es war ein typischer Flachbau, wie er auch im Gewerbegebiet jedes anderen Dorfes in der Republik hätte stehen können. Wir gingen in den Laden, vorbei am Bäcker im Eingangsbereich in Richtung des Kassenbereichs. Es war wenig los, so dass nur eine Kasse besetzt war. Eine junge Kassiererin schob einige verpackte Wurstwaren über den Infrarotsensor. Im Augenwinkel konnte ich erkennen, dass ein Kunde, bekleidet mit einer braunen Jacke und versehen mit einer kurzen Raspelfrisur, uns den Rücken zugewandt, an den aufgereihten Einkaufswagen stehen blieb und etwas in seinem Geldbeutel suchte.

Zwischen Fieker und mir hatte sich im Laufe unserer Zusammenarbeit die Vorgehensweise herauskristallisiert, dass er mir in diesen Fällen das Reden überließ. Ich wartete kurz ab, bis die junge Frau, offensichtlich südländischer Abstammung, eine Kundin abgefertigt hatte. Ich zückte den Dienstausweis und hielt ihn ihr unter die Nase.

„Mein Name ist Kommissar Reetmann, das ist mein Kollege Hauptkommissar Fieker, Kripo Freiburg. Wir hätten einige Fragen zu einem Produkt, das womöglich in den letzten Tagen bei Ihnen gekauft wurde. Ist Ihre Marktleitung zu sprechen?“

Die junge Frau schaute uns leicht irritiert an und führte ihr Gesicht zum Standmikrofon, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Frau Kleber, Kasse zwei. Frau Kleber bitte.“

Sofort drang eine laute Stimme aus einer der Regalschluchten zu uns herüber. „Eylül, was ist denn jetzt schon wieder? Ich muss hier diese Müsli-Lieferung einräumen.“

Die junge Frau, die, wie wir jetzt wussten, auf den türkischen Namen Eylül hörte, griff nochmal zum Mikrofon.

„Die Polizei ist hier. Ich glaube, es wurde jemand ermordet.“

Eine Kundin, die wenige Meter von uns entfernt in einer Zeitschrift blätterte, ließ vor Schreck eine Werbebeilage aus dem Heftchen fallen.

„Von Mord haben wir nichts gesagt, kein Grund zur Aufregung. Es geht um Einweggrills, die, wie wir annehmen, in Ihrem Markt verkauft wurden.“

Die gerufene Frau Kleber kam um die Ecke, sich die Hände an einem Lappen abwischend, den sie hinter Eylül unter die Kasse warf.

„Um was geht es denn, meine Herren?“

Ich wollte gerade meine Frage stellen, als Eylül mir zuvorkam.

„Es geht um die Einweggrills, Frau Kleber, vielleicht ist damit jemand verbrannt.“

„Nein, niemand ist verbrannt.“ Ich merkte, wie das Mädchen mir so langsam auf die Nerven ging. Ich wandte mich demonstrativ Frau Kleber zu. „Wir sind auf der Suche nach einer Person, die vermutlich in den letzten Tagen, vielleicht gestern, vier Einweggrills der REWE-Eigenmarke gekauft hat. Können Sie uns sagen, ob dies hier der Fall war?“

„Oh, da haben Sie Glück.“

Ich warf einen Blick zu Fieker, der sofort alle Kanäle auf Empfang stellte. Ich drehte mich um und konnte erkennen, dass der kurzhaarige Kunde immer noch bei den Einkaufswagen stand. Eylül fiel ihrer Chefin ins Wort. „Das war doch gestern, ein paar Stück davon hat der gekauft. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, was der jetzt im Oktober mit diesen Grills macht.“

„Ich kann mich deswegen gut erinnern, weil er eigentlich fünf davon wollte, wir aber nur vier dahatten“, sagte Frau Kleber. „Jetzt im Herbst werden die ausgelistet.“

„Ich habe ihn gefragt, was er damit wollte“, fuhr Eylül fort, „aber er hat mir keine Antwort gegeben. Voll weird, der Typ.“

„War er alleine?“

„Ich denke schon, ich habe sonst niemanden bei ihm gesehen.“

Frau Kleber schüttelte ebenfalls den Kopf.

„Eylül, können Sie ihn mir näher beschreiben? Wie hat er ausgesehen?“

„Ziemlich groß mit Glatze, normale Kleidung, nichts Auffälliges. Aber muskulös war er, das hat man sofort gesehen. Oberarme wie Schenkel, der geht bestimmt jeden Tag pumpen.“

Ich schaute zu Fieker, der sofort Augenkontakt zu mir suchte. Für einen kurzen Moment meinte ich ein Blitzen in seinen Augen zu sehen, wie bei einem alten Wolf, der die Fährte eines Beutetieres aufgenommen hat. Diese Beschreibung passte überhaupt nicht zu unserer Leiche.

„Eylül, ich habe hier ein Handyfoto eines Mannes, das ich Ihnen gerne zeigen würde. Mich interessiert, ob Sie ihn im Zusammenhang mit dem Grillkauf gesehen haben. Ich muss Sie aber vorwarnen, es handelt sich um das Bild eines Toten.“

„Ein Toter? Krass. Keine Sorge, ich halt das aus, ich schaue ‚Walking Dead‘ und solche Sachen.“

Ich zückte mein Handy und hielt ihr das Display mit dem vorher aufgenommenen Bild unter die Nase. Sie kniff die Augen zusammen und starrte auf den kleinen Bildschirm. Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nö, das war er nicht. Der Typ von gestern war ein richtiger Macker und auch viel jünger als der hier. Und der ist echt tot? Wie wurde er denn umgebracht?“

Frau Kleber, die immer noch neben der Kasse stand, rollte mit den Augen. Ein kurzer Blick zu den Einkaufswagen zeigte mir, dass der Kunde mit der braunen Jacke nun verschwunden war.

„Das sind ein paar Fragen zu viel, liebe Eylül“, würgte ich die junge Frau ab. „Warten wir es erstmal ab. Aber trotzdem würde ich Sie um Ihre Kontaktdaten bitten. Ich möchte gerne, dass unsere Phantomzeichnerin mit Ihnen einen Termin ausmacht, damit wir ein Bild von dem Mann bekommen. Sie müssen ihn genau beschreiben und dann wird ein digitales Abbild von dem Mann erstellt.“

Eylül drehte sich blitzschnell zu ihrer Chefin um. „Krass, Alter. Frau Kleber, haben Sie gehört, ich soll zur Polizei!“

Sofort drehte sie sich wieder zu mir. „Geht das an einem Dienstag oder Donnerstag? Dann muss ich nicht in die Berufsschule.“

Als wir wieder im Wagen saßen, war mir sofort klar, dass Fieker Redebedarf hatte. Ich spürte, wie nun Bewegung in die Sache gekommen war.

„Wir haben vier Einweggrills, die gestern hier in Munzingen gekauft wurden. In der folgenden Nacht kommt jemand vermutlich durch vier solcher Grills zu Tode. Und der Käufer und der Tote sind nicht die gleiche Person. Das ist im einfachsten Fall ein dummer Zufall, im schwersten Fall aber ein durch einen zweiten Beteiligten vorgetäuschter Suizid. Und das wäre dann eine waschechte Mordermittlung. Wir müssen die Identitäten zweier Personen klären. Von einem schlanken, älteren Grauhaarigen und einem jungen, muskulösen Glatzkopf. Die müssen doch zu finden sein. In einer Gegend wie dem Tuniberg muss die jemand kennen.“

„Vielleicht müssen wir noch nach einer dritten Person fahnden, Chef. Ist Ihnen der Kunde mit der Raspelfrisur und der braunen Jacke aufgefallen?“

Fieker nickte. „Kam er Ihnen merkwürdig vor?“

„Ich habe den Verdacht, dass er uns zugehört hat. Und sich dann, ohne den Verkaufsbereich zu betreten, vom Acker gemacht hat.“

Wilhelm (Oktober 1940)

Es war spät geworden, doch Wilhelm Braunfels hatte noch nicht vor, das Fest zu beenden. Der große Salon seines Anwesens am Tuniberg war mittlerweile mit dem Rauch der teuersten Zigarren gefüllt. Er blickte voller Stolz um sich, die gesamte NSDAP-Führungsriege, die hier im Südwesten eine Rolle spielte, war seiner Einladung gefolgt, dazu weitere hohe Persönlichkeiten. Robert Wagner, Gauleiter in Baden, oder Arthur Seyß-Inquart, erst kürzlich zum Reichskommissar für die Niederlande ernannt. Wilhelm nippte an seinem Cognacschwenker, als ihm jemand von hinten auf die Schulter klopfte.

„Komm, Wilhelm, setz dich zu uns. Der Reichskommissar möchte dich gerne kennenlernen.“

Hinter ihm stand SS-Obersturmbannführer Franz Albert, ein alter Freund aus Studientagen, der seit der Machtübernahme der NSDAP eine rasante Karriere hingelegt hatte. Mit einem sanften Griff an der Schulter zog er Wilhelm zu einer Sitzgruppe, die sich um einen Mann in einem schwarzen Anzug, mit einer kleinen ovalen Brille auf der Nase und glatten, zurückgekämmten Haaren, die deutliche Geheimratsecken offenbarten, geschart hatte. Andere hochrangige Vertreter aus Partei und SS hatten sich in die mit rotem Samt überzogenen Sessel gesetzt. Ein heiteres Gespräch lag in der Luft, untermalt vom Klirren der vollen Weingläser.

„Arthur, ich möchte dir Wilhelm Braunfels vorstellen. Er ist hier der Hausherr und ein alter Freund von mir. Wir haben uns im Medizinstudium kennengelernt, doch im Gegensatz zu mir ist er der Quacksalberei treu geblieben.“

Seyß-Inquart stand auf und streckte Wilhelm die Hand entgegen. „Setzen Sie sich zu uns, verehrter Braunfels. Wir sprechen gerade über den Luftkrieg gegen England. Ein glänzendes Bild, das die Luftwaffe in diesen Tagen abgibt, finden Sie nicht?“

Wilhelm setzte sich und hielt einem Diener ein leeres Glas entgegen, das dieser wortlos mit einem Gutedel auffüllte.

„Natürlich, Herr Reichskommissar. Der Führer weiß, was er tut. Den Engländern wird es noch leidtun, dass sie das großzügige Friedensangebot abgelehnt haben. Und genau wie kürzlich in Paris, wird der Führer dann über die Themse marschieren und den dicken Churchill aus dem Land jagen.“

„Ich mag, wie Sie sprechen, Braunfels. Ein wenig vulgär zwar, doch immer auf den Punkt. Sie gefallen mir. Ebenso wie dieser exzellente Tropfen.“

Die Männer in der Sofaecke lachten schallend und hoben zu einem Prost an.

„Wissen Sie, Herr Reichskommissar, es liegt an der besonderen Natur der Menschen dieser Region. Wir haben Herz und Zunge auf dem rechten Fleck.“

„So muss das sein, Braunfels. Ich sehe, wir verstehen uns.“

Eine gute Stunde später, einige der Gäste hatten sich schon verabschiedet, stand Wilhelm vor dem teilweise abgeräumten Büfett und wies einen Diener an, die Getränke ein letztes Mal aufzufüllen. Seyß-Inquart stand direkt hinter ihm und blies Wilhelm seinen rauchgeschwängerten Atem in den Nacken. „Braunfels, können wir uns auf eine Zigarre unter vier Augen zurückziehen? Ich habe etwas mit Ihnen zu bereden.“

„Sicher. Wir können nach nebenan in den kleinen Salon gehen.“

Wilhelm führte den großgewachsenen Mann in ein Kaminzimmer, welches bis zur Hüfthöhe mit einem dezent rötlichen Nussbaumholz ausgekleidet war.

„Setzen Sie sich bitte, Herr Reichskommissar.“

„Ich sehe, dass Gauleiter Wagner nicht übertrieben hat, als er Sie mir als eifrigen Verfechter unserer Sache beschrieb. Menschen wie Sie werden gebraucht, Braunfels. Der Krieg steht erst am Anfang, es warten einige wichtige Pflichten auf uns. Manche dieser Aufgaben sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, weder für inländische noch für feindliche Intelligenz. Und dabei können Sie helfen. Ihre Klinik liegt abgeschieden, in einem Teil des Reiches, der weit weg ist von den Kriegswirren um uns herum. Hier gibt es die Sicherheit, Dinge erledigen zu können, die erledigt werden müssen. Und zwar ohne dass fremde Augen und Ohren davon Wind bekommen. Braunfels, verstehen Sie, was ich meine?“

„Nicht ganz, Herr Reichskommissar. Welche Aufgaben werden mir zugedacht?“

„Sachte, sachte, mein lieber Braunfels. Dazu kann ich noch nichts sagen. Kommt Zeit, kommt Rat. Es geht mir darum, mich Ihrer Loyalität zu versichern. Es reicht mir zu wissen, dass ich auf Sie zählen kann, wenn uns die Abgeschiedenheit des Breisgaus von Vorteil sein sollte.“

„Aber natürlich können Sie das. Auf jeden Fall.“

Seyß-Inquart drückte seine Zigarre in einem kleinen Aschenbecher aus, der auf einem Beistelltisch stand.

„Ich habe nächste Woche ein Treffen mit dem Reichsmarschall.“

„Mit Göring?“

„Genau. Ich werde ihm von Ihnen erzählen. Er ist immer auf der Suche nach wichtigen Persönlichkeiten, die unserer Sache verpflichtet sind. Ihre Klinik wird ihm sicher gefallen, vielleicht wird er ihr bald einen Besuch abstatten. Sie wissen ja, dass er einen Bezug zu Freiburg hat.“

„Das wäre natürlich äußerst lukrativ für meine Klinik. Ein Mann von dieser Prominenz in unserem Haus!“

„Dann wissen Sie, was zu tun ist, Braunfels. Wir bleiben in Kontakt. Und wenn ich Sie und Ihre Klinik brauche, zähle ich auf Sie.“

Kurze Zeit später stand Wilhelm auf der großen steinernen Treppe, die auf die gekieste Auffahrt führte. Der Tross mit den schweren Karossen setzte sich in Bewegung. Seyß-Inquart saß auf dem Rücksitz eines Horch 850 Pullman. Die Silhouette seines kantigen Gesichtes war durch das Seitenfenster zu erkennen. Wilhelm hob die Hand, um ihn zu verabschieden. Doch Seyß-Inquart drehte sich nicht mehr um. Wilhelm stand noch einige Zeit reglos auf der Treppe, bis die Rücklichter der Wagen zwischen den Bäumen des kleinen Wäldchens verschwunden waren.

Die Braunfels-Klinik

Ich erkannte an den leicht rasselnden Schlafgeräuschen, dass Melanie neben mir im Begriff war aufzuwachen. Seit gut einer Stunde lag ich wach und schmökerte in meinem Smartphone durch die Nachrichten des gestrigen Tages. Ich versuchte, dies möglichst leise zu tun. Seit ich Melanie vor wenigen Wochen mit dem versehentlichen Abspielen eines Werbejingles aus dem Schlaf geschreckt hatte, wusste ich, dass jegliche ungeplante Geräuschkulisse einem gemütlichen Aufstehen abträglich war. Melanie drehte ihren Kopf zu mir, ohne die Augen zu öffnen.

„Guten Morgen“, flüsterte ich ihr leise zu. Ein nicht zu deutendes Brummeln war die Antwort.

„Es ist kurz vor sieben, der Wecker geht gleich hoch.“ Kaum hatte ich diesen Satz zu Ende gesprochen, meldete sich das Gerät mit einem impertinenten Piepsen. Ich griff nach dem rechteckigen Kasten und schaltete den Ton mit einem Druck auf die silbergraue Taste aus. Melanie hatte sich jetzt aufgesetzt. „Der Ton deines alten Weckers war nicht ganz so nervig.“

„Offenbar lästig genug, dass du ihn letzte Woche gegen die Wand gedonnert hast und ich gestern losziehen musste, um im Kaufhof einen neuen zu besorgen.“

„Falls du drauf bestehst, gebe ich dir das Geld dafür.“

„Es würde mir schon reichen, wenn du mein Inventar aus deinen gelegentlichen Wutausbrüchen heraushalten könntest.“

Melanies Schlaf-Shirt war leicht verrutscht. Auf ihrem Brustbein konnte ich die Narben der Schnittwunden sehen, eine unliebsame Erinnerung an den Liebenauer Fall. Die äußeren Spuren würden Melanie bis an ihr Lebensende begleiten, doch innerlich war sie schon längst wieder die Alte. Sie hatte die schlimmen Erlebnisse bald abgehakt und selbst der Gang zum Polizeipsychologen war von ihr abgelehnt worden.

Ich stand auf und ging in die Küche, um zwei Tassen Kaffee aufzusetzen. Neben den Herd hatte ich die Jura-Kaffeemaschine gestellt, so ziemlich der einzige Luxusgegenstand in meiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung am Schlossbergring, die sonst eher an eine Studentenbude erinnerte. Das Verpackungspapier der Zartbitterschokolade, die wir gestern verputzt hatten, lag auf einem alten, vor dem Sperrmüll geretteten Barhocker neben einem abgegriffenen Prospekt der Seenotrettung, welchen ich vorgestern aus dem Briefkasten gefischt hatte. Meine Bude benötigte dringend wieder eine Grundreinigung, doch momentan kam ich nicht dazu. Melanies Wohnung in der Beurbarung war zwar ähnlich klein, sie hatte aber die Unordnung besser im Griff. Wir hatten nie darüber gesprochen, zusammenzuziehen, und ich war mir sicher, dass dieses Thema auch mittelfristig nicht auf die Tagesordnung kommen würde.

Melanie ging ins Bad, was ich am Vogelgezwitscher der Toilettenprinzessin erkennen konnte. Ein Kumpel hatte mir dieses Gerät aus Japan mitgebracht, das mögliche Körpergeräusche eines Toilettenganges mit lauten, aber sanften Naturklängen übertönte. In Ostasien waren diese Geräte ein absolutes Muss, hier war ich mir jedoch sicher, dass auch dieses Utensil demnächst einer von Melanies Launen zum Opfer fallen würde.

Das Klingeln meines Handys riss mich aus den morgendlichen Gedanken. Am gewählten Klingelton, dem gequakten Angie von den Rolling Stones, konnte ich erkennen, dass es Angelika Leibinger war, Aktenführerin und gute Seele unserer Truppe.

„Guten Morgen, was gibt‘s?“

„Morgen, Nick. Wann wolltest du denn kommen? Der Chef fragt nach dir.“

„Es ist gerade mal kurz nach sieben. Ich wollte so langsam los und mich aufs Fahrrad schwingen. Was soll denn der Stress?“

„Ich verstehe es ja auch nicht, aber der Chef hat mich gestern Abend angerufen. Ich soll dir gleich heute Morgen sagen, dass du das Auto klarmachen und ihn dann zuhause abholen sollst. Den Schlüssel habe ich schon hier, ich hinterlege ihn an der Pforte. Ihr fahrt an den Tuniberg, wegen dieses Johannes Frick.“

„Wer bitte?“

„Johannes Frick. Das ist der Todesfall, den ihr letzte Woche untersucht habt.“

„Ach, dann hat er mittlerweile einen Namen? Alles klar, ich hole das Auto und fahre beim Chef vorbei.“

Hastig zog ich meine Morgenroutine durch. Melanie lehnte an der Küchenzeile und schlürfte laut ihren Kaffee.

„Ich muss gleich los“, sagte ich. „Es scheint eine Spur wegen unseres Selbst- oder Nichtselbstmörders zu geben. Sehen wir uns heute Abend?“

„Ich denke nicht. Ich muss unbedingt mal wieder ins Spinning. Sonst habe ich die Kursgebühr umsonst gezahlt.“

„Okay, viel Spaß dabei. Du kannst die Tür hinter dir zuziehen. Wie üblich.“

„Wie üblich“, flüsterte Melanie in ihre Tasse. „Wie üblich, wenn der Alte ruft.“

Kurze Zeit später fuhr ich mit dem Auto die Carl-Kistner-Straße entlang Richtung Haslach, um Fieker von zuhause abzuholen. Wie immer stand er bereits vor dem Haus in der Staufener Straße, als ich dort eintraf. Ich wusste nie, ob er ein überpünktlicher Mensch war oder er dies mit Absicht tat, damit ich nicht in seine Wohnung musste. Zu neugierig war ich, wie dieser Mann so lebt, ganz alleine ohne Familie. Doch da ich die Unordnung in seinem Büro kannte, wollte ich mir nicht vorstellen, wie es in seiner Wohnung aussehen mochte. Dort hatte er keine Angelika Leibinger, die versuchte, das Chaos einigermaßen im Zaum zu halten.

„Wo bleiben Sie denn so lange?“, raunzte er zur Begrüßung in das Wageninnere.

„Ich musste erst noch den Wagen holen.“

Ohne darauf einzugehen, stieg er ein und hielt sich dabei umständlich an der Dachrehling fest. Als er dann saß, nestelte er ungeduldig am Gurtschloss neben seinem Sitz herum. Wie üblich hatte er Schwierigkeiten mit der doch filigranen Technik eines handelsüblichen Sitzgurtes. Als er schließlich sicher auf dem Beifahrersitz saß, starrte er mich mit einem fragenden Blick an. „Na los, Nick, fahren Sie!“

Ich schaute ihn an. „Wohin, Chef?“

Für einen kurzen Moment herrschte ein Schweigen im Wagen, bis Fieker wieder das Wort ergriff.

„Ach, ich habe ganz vergessen, dass Sie die letzten vier Tage Urlaub hatten. Ich werde Sie auf der Fahrt über die neuesten Entwicklungen informieren, die Sie verpasst haben.“

„Ich war nicht im Urlaub, ich war auf einer Fortbildung.“

„Ach ja, was war denn das Thema?“

„Neue psychologische Methoden der Vernehmungstaktik.“

Ein lautes verächtliches Schnauben war Fiekers Reaktion.

„Ich sage doch, Urlaub.“

Ich kapitulierte und wechselte das Thema. „Und wo fahren wir jetzt hin?“

„Nach Merdingen zur Braunfels-Klinik. Unser Selbstmörder war dort Patient.“

Ich startete den Wagen und fuhr langsam in Richtung der Carl-Kistner-Straße.

„Die Braunfels-Kliniken also“, sagte ich. „Seit dem theatralischen Tod des alten Braunfels kommt diese Familie nicht aus den Schlagzeilen.“

„Waren Sie damals nicht dabei? Wie lange ist das jetzt her?“

„Ein gutes halbes Jahr. Ich hatte über das Präsidium eine Einladung abstauben können. Ich dachte, schau dir mal die Hautevolee der Gegend an und fahr mal vorbei. Ich ahnte natürlich nicht, welche Show mir da letztendlich geboten werden sollte. Das war wirklich sehr … skurril.“

Ich zögerte mit dem letzten Wort, da ich mir nicht sicher war, ob man mir deswegen einen Mangel an gebotener Pietät unterstellen könnte. Doch wusste ich auch, dass mir von Fieker mit seiner Abscheu gegen jede Autorität kein negatives Urteil drohte.

„Und wie sieht es aus mit unserem Selbstmörder?“, fragte ich. „Wie war sein Name?“

„Frick. Johannes Frick. Die Kollegen aus Breisach waren fleißig. Sie haben mit einem Foto des Mannes die Dörfer am Tuniberg abgeklappert und landeten noch am selben Tag einen Treffer. Eine Pflegekraft der Braunfels-Klinik konnte sich an ihn erinnern. Und dann ging alles ganz schnell. Eine eindeutige Beschreibung, ein verschwundener Patient, diverse Unterlagen … und wir hatten unseren Mann. Johannes Frick, wohnhaft irgendwo in den neuen Bundesländern. Doch jetzt werden wir uns erstmal vor Ort umschauen.“

„Und was ist mit dem Glatzkopf, der die Grills gekauft hat?“

„Keine Neuigkeiten. Das wird eine harte Nuss, Kahlrasierte mit Muskeln gibt es wie Sand am Meer. Und da Gebelhoff noch keinen offiziellen Ermittlungsauftrag erteilt hat, kommen wir da erstmal nicht weiter.“

Oberkriminalrat Gebelhoff war Fiekers direkter Vorgesetzter und damit in der Rolle des Lieblingsfeindes gesetzt.

Wir hatten mittlerweile Opfingen hinter uns gelassen und der Tuniberg lag direkt vor uns. Ich wusste nicht, was ich von diesem Fall halten sollte, wollte ich die Ereignisse zu diesem Zeitpunkt überhaupt als Fall bezeichnen. Die Vehemenz, mit der Fieker voranging, wunderte mich sehr. Ich musste an den Fall im Frühjahr denken, als ein toter Mountainbiker bei Oberried in den Bergen gefunden worden war. Wir wurden routinemäßig dazugeholt, doch es zeigte sich bald, dass es sich um einen tragischen Sportunfall handelte. Fieker hatte sich damals überhaupt nicht dafür interessiert, als ob er geahnt hätte, dass es dort nichts zu holen gab. Doch hier und jetzt sah das völlig anders aus. Ein vermutlicher Suizid in den Weinbergen bekam seit einigen Tagen seine volle Aufmerksamkeit. Dieser Umstand gab mir sehr zu denken, war doch die Intuition des alten Fuchses etwas, auf das man sich zumeist verlassen konnte.

„Ich möchte, dass Sie eine komplette Personenrecherche durchführen“, riss mich Fieker aus meinen Gedanken.

„Am besten heute, damit wir zumindest bald Klarheit über die persönlichen Hintergründe haben.“

„Sind Sie immer noch der Meinung, dass wir es hier nicht mit einem gewöhnlichen Suizid zu tun haben?“

Fieker zögerte mit einer Antwort. Sollte ich den Alten dabei erwischt haben, zu sehr auf sein Bauchgefühl gehört zu haben?

„Wissen Sie, Nick, ein Suizid ist eine emotional hochkomplexe Sache. Vielleicht sollten Sie dazu mal eine Fortbildung besuchen.“

Ich zuckte kurz zusammen, bemerkte aber gleich, dass diese Bemerkung keine Spitzfindigkeit war, wie ich zuerst vermutete. Es gehörte zu Fiekers mangelhafter Sozialkompetenz, Äußerungen unbedarft rauszuhauen, ohne jegliches Gefühl dafür, wie das Gesagte beim Gegenüber ankommt.

„Man begeht keinen Selbstmord, als ob man mal um die Ecke zum Einkaufen gehen würde. Wenn er hier zur Kur war, war er vermutlich ortsfremd. Und dann mutet es äußerst seltsam an, dass er mit einem Fahrrad in den Weinberg fährt, einen Geräteschuppen aufbricht, sich gemütlich in einen vorhandenen Gartenstuhl setzt und vier Einweggrills anzündet, die er, die Vermutung liegt nahe, nicht mal selber gekauft hat. Ich habe da starke Bedenken, dass es sich so abgespielt hat, wie uns jemand glauben machen will. Die Sache ist es wert, näher unter die Lupe genommen zu werden.“

Über Gottenheim fuhren wir nach Merdingen und bogen dann in die Weinberge zur Braunfels-Klinik ab. Hinter einer Kurve präsentierte sich das Gebäude in seiner ganzen Pracht. Ein vierstöckiges Haus mit mehreren Giebeln und einem Seitenflügel, dessen weiße Farbe in der Mittagssonne glänzte. Weinrote Fensterläden gaben dem Gebäude etwas Verspieltes und nahmen ihm so seine Mächtigkeit. Trotzdem schien irgendein Schleier über dem Haus zu liegen. Diese Institution war untrennbar mit dem Namen der Familie Braunfels verbunden, deren Patriarch, Robert Braunfels, vor einem halben Jahr den Freitod gewählt hatte. Ich musste an den Abend zurückdenken und die Szene schwirrte wieder in meinem Kopf umher. Ich war mittlerweile einiges gewohnt, was den Anblick von Leichen anging, doch war das damals eine andere Hausnummer. Ich war weit genug von der Bühne entfernt gewesen, so dass ich keinen direkten Blick auf die Leiche hatte. Ein hellroter Nebel, der im Fallen aus seinem Hinterkopf austrat, war alles, was damals in meinem Blickfeld zu sehen war. Im Tohuwabohu nach dem tödlichen Schuss war nicht daran zu denken, die Leiche von Robert Braunfels näher in Augenschein zu nehmen. Jedem der geladenen Gäste stand damals nur der Sinn danach, so schnell wie möglich den Saal verlassen zu können. Ich hatte mich als Polizist zu erkennen gegeben und dem Wachpersonal geholfen, die Evakuierung über die Bühne zu bringen, bis der Notarzt und die Kollegen eingetroffen waren. Bald darauf war ein Kurzfilmchen im Internet aufgetaucht, das den Selbstmord in allen Facetten zeigte, inklusive des letzten Zuckens von Robert Braunfels, der mit offenen Augen in der Kulisse lag, den Kopf noch einmal hin- und herbewegend, während das Blut wie ein Sturzbach aus Nase und Mund rann. Der Verbreiter des Filmchens wurde zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, doch war die Ausbreitung nicht mehr aufzuhalten. Der schreckliche Tod des Firmenpatriarchen war zu einem billigen Gruselfilmchen verkommen, welches sich pubertierende Jugendliche feixend und kichernd auf den Schulhöfen weiterleiteten. Viel war in der Presse geschrieben worden, von Verwicklungen in illegale Geschäfte, Spielschulden oder ernsthaften Eheproblemen. Auch wenn nichts davon nachgewiesen werden konnte, hatte sich die Boulevardpresse wie Hyänen auf die Familie gestürzt. Diese jedoch hatte sich in Schweigen gehüllt. Der älteste Sohn Daniel führte wie bisher unauffällig die Geschäfte weiter, ebenso wie seine Schwester Konstanze. Die frischgebackene Witwe Camila Braunfels hatte sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und ihre Auftritte in der feinen Gesellschaft des Dreiländerecks auf ein Minimum beschränkt.

Ich stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab, der gut zwanzig Meter vom Eingang entfernt lag. Wir betraten das Gebäude, dessen Marmorfußboden auf das Niveau dieser Einrichtung hinwies. Eine Klinik, in der sich Hinz und Kunz die Mandeln rausnehmen lässt, war das hier sicherlich nicht. Hier ging es um mehr als nur schnöde Kassenleistungen für die arbeitende Bevölkerung, das strahlte schon der Eingangsbereich aus. Eine Staffelei mit einer großen Schwarz-Weiß-Fotografie des kürzlich verstorbenen Robert Braunfels war mitten in der Aula aufgestellt. Fieker stand, offenbar vom Ambiente unbeeindruckt, an der Pforte und diskutierte wild gestikulierend mit der älteren Dame hinter dem Tresen.

„Ficker?“, hörte ich sie flüstern, doch laut genug, dass man sie im Foyer deutlich wahrnehmen konnte.

„Nein, mit ‚ie‘, langgezogen. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen.“

Ich musste innerlich grinsen. Es kam immer wieder vor, dass einfache Gemüter über den Nachnamen des Chefs stolperten und, anstatt höflich darüber hinwegzugehen, das verbotene F-Wort aussprachen. Fieker war nicht unbedingt als Choleriker bekannt, doch konnte er in solchen Augenblicken schnell seine Contenance verlieren. Als ich zu ihm an die Pforte trat, sah ich, dass sein Dienstausweis auf der Theke lag und die Dame wieder an einem kleinen Tisch saß, wo sie eine Telefonanlage bediente. Nach kurzer Zeit schien sie jemanden am anderen Ende der Leitung zu haben.

„Ich habe hier einen Hauptkommissar Fieker von der Kripo Freiburg mit einem Kollegen. Sie haben einen Termin bei Herrn Dr. Braunfels. Außerdem möchten sie mit der Pflegekraft sprechen, die diesen Selbstmörder aus den Reben identifiziert hat.“

Dieses Mal hatte sie pingelig darauf geachtet, das ‚ie‘ fast schon übertrieben langgezogen auszusprechen, gefolgt von einigen „Mmh“ und „Ja“. Mit einer hektischen Bewegung warf sie das Mobilteil des Telefons vor sich auf die Schreibtischunterlage. Sie stieß sich mit ihren Füßen von einer unter dem Tisch versteckten Fußablage ab und rollte hin zum Tresen.

„Sie können schon mal zu Herrn Braunfels gehen, der Weg zur Geschäftsführung ist ausgeschildert.“ Sie zeigte quer durch die Aula in Richtung eines Personenaufzugs. „Und wenn Sie fertig sind, wird die Kollegin hier auf Sie warten.“