Finale Berlin - Heinz Rein - E-Book

Finale Berlin E-Book

Heinz Rein

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Beschreibung

April 1945, die letzten Tage der Reichshauptstadt Berlin: Während die Bomben fallen, verteidigt das letzte militärische Aufgebot die Nazi-Herrschaft. In den Flüchtlingskolonnen und unter den sich auflösenden deutschen Heereseinheiten fahnden Sicherheitsdienst und Gestapo immer noch nach Juden, Oppositionellen und Deserteuren. Das Misstrauen der Menschen untereinander ist groß: Jeder könnte ein Verräter sein. Inmitten des Chaos sucht der junge Soldat Joachim Lassehn verzweifelt ein Versteck. Friedrich Wiegand, ein im KZ gefolterter Gewerkschafter, versucht durch Sabotageakte das Kriegsende zu beschleunigen. Der Arzt Walter Böttcher hilft Untergetauchten, in der Illegalität zu überleben. Und die Kneipe von Oskar Klose ist der konspirative Treffpunkt einer kleinen Widerstandsgruppe, der die SS auf der Spur ist. In seinem großen Roman Finale Berlin, einem der ersten Bestseller der Nachkriegszeit, verfolgt Heinz Rein das packende Schicksal einer kleinen Widerstandsgruppe und lässt den Leser die Atmosphäre im untergehenden Nazi-Reich miterleben.

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Seitenzahl: 1097

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Inhalt

[Cover]

Titel

Berlin, April 1945

I. Teil: Unruhe vor dem Sturm

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

II. Teil: Bis fünf Minuten nach zwölf

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

Das Ende

Der neue Anfang?

Nachwort

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Für Erich Weinert

›Die Kugel mitten in der Brust, die Stirne breit gespalten,So habt ihr uns auf blut’gem Brett hoch in die Luft gehalten!Hoch in die Luft mit wildem Schrei, daß unsre SchmerzgebärdeDem, der zu töten uns befahl, ein Fluch auf ewig werde!‹Ferdinand Freiligrath, Die Toten an die Lebenden

Vorfinale

›Eris schüttelt ihre Schlangen, Alle Götter fliehn davon, Und des Donners Wolken hangenSchwer herab auf Ilion.‹Schiller, Kassandra

Berlin, April 1945

Lissabon, San Franzisko und Tokio wurden in wenigen Minuten durch Erdbeben zerstört, es dauerte mehrere Tage, bis die Feuer von Rom, Chikago und London erloschen waren. Die Brände und Erdbeben, die über jene Stelle der Erdoberfläche herfielen, die den geographischen Schnittpunkt von 52 Grad 30 Minuten nördlicher Breite und 13 Grad 24 Minuten östlicher Länge bildet, haben fast zwei Jahre gedauert. Sie begannen in der klaren, dunklen Nacht des 23. August 1943 und endeten im Regengrau des 2. Mai 1945.

An dieser Stelle, 32 m über dem Meeresspiegel, eingebettet in eine Düne der Eiszeit, lag bis zu jener Nacht, da die Zerstörung ihren unheilvollen Lauf begann, die Stadt Berlin. Sie war vom Fischerdorf zur Burgstadt, zum Sitze der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg, zur Residenz der Könige von Preußen und zur Hauptstadt des kaiserlichen und republikanischen Deutschen Reiches erhoben worden, sie war entstanden als Folge des Vorstoßes kolonisierender deutscher Stämme in das Siedlungsgebiet der Wenden und Slawen und hatte jahrhundertelang abseits von den Stammgebieten der deutschen Kultur gelegen, war Bollwerk im deutschen Kolonialland, Außenwerk des alten deutschen Westens und Vorposten des neuen deutschen Ostens geworden und erst spät in den Bereich und noch später in den Mittelpunkt der deutschen Geschichte gerückt, sie ist gefügt aus einer Vielzahl von Klein-, Mittel- und Großstädten, von Dörfern, Siedlungen, Gütern und Vorwerken, die zwischen der Havel und der östlichen märkischen Seenplatte verstreut lagen und in Richtung auf die alten Burgstädte Berlin und Kölln zusammengewachsen waren. Der Stichel der Geschichte hat sehr sparsam gearbeitet, der Spuren ihres Aufstiegs und ihrer Wandlungen waren nicht viel, aber sie hatten ihr vieldeutiges Gesicht durch einige edle Züge geläutert, die dem Stadtkern fest eingeprägt waren. Die Spuren ihres Niederganges, der unmittelbar nach ihrer Erhebung zur Reichshauptstadt des Großdeutschen Reiches einsetzte, sind nicht zu zählen. Feuersbrünste, Flächenbrände genannt, und Stahlgewitter, gewebt aus Bombenteppichen, haben das blutvolle Antlitz der Stadt in die Grimasse eines Totenschädels verwandelt.

Am 23. August 1943 empfing die Stadt die erste Wunde, als zwölfhundert Flugzeuge der britischen Luftwaffe zum ersten großen Schlage ausholten. Die südlichen Vororte Lankwitz, Südende und Lichterfelde wurden zu einer rauchgeschwärzten Todesinsel im Meere des Lebens, aber diesmal verschlang das Meer nicht die Insel, sondern die Insel verdrängte das Meer, denn bald war sie nicht mehr allein, überall, in Moabit und in der Friedrichstadt, um Ostkreuz und in Charlottenburg, am Moritzplatz und um den Lustgarten erstanden Todesinseln, sie trieben ihre Ufer immer weiter vor und wuchsen zusammen, bis die ganze Stadt schließlich ein Todesland wurde, mit einigen Wassern, in denen noch Leben war. Jeder Angriff brach ein Stück aus dem Gefüge der Stadt heraus, vernichtete Eigentum und verschlechterte die Lebensbedingungen.

Ganze Stadtteile wurden zertrümmert und verödeten. Ausgedehnte Fabrikgelände, flankiert von erkalteten Essen, wurden eine Wildnis von niedergebrochenen Hallenkonstruktionen und verrosteten Maschinen, Röhren, Stangen, Drähten, Trägereisen, zahlreiche Straßen, in denen aufrechte Fassaden noch wie lebensvolle Häuser die Bürgersteige säumten, wurden zu zynischen Attrappen. Andere Bezirke sind bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und mit hart keuchendem Leben angefüllt, die Torsos ihrer verunstalteten Häuser erheben sich nackt und häßlich zwischen Ruinenhaufen, sie ragen wie Inseln aus dem Meere der Zerstörung, sie sind gerupft und zerzaust, die Sparren der verwehten Dächer sind wie Rippen, denen das Fell abgezogen wurde, die Fenster sind blind wie Augen, deren Lider ständig heruntergeklappt sind und die nur hin und wieder gläsern blinzeln, die Mauern sind kahl und haben den Putz verloren, wie alternde Frauen, von deren Gesicht ein unbarmherziger Schwamm Rouge und Schminke gewischt hat.

In anderen Stadtteilen ist die Zerstörung nicht so vollständig, in ihre Häuserzeilen hat die Pranke des Krieges zwar gewaltige Lücken geschlagen, sie geben oft einen überraschenden Blick auf Hinterhäuser frei, die dem Schlage entgangen sind und so zum ersten Male in das Blickfeld der Straßen rücken, sie können ihre häßlichen Fassaden nicht mehr hinter dem billigen Prunk der Vorderhäuser verbergen, da der Orkan der Explosionen gewissermaßen den Vorhang gelüftet hat. In diesen Straßen gibt es alle Grade und Spielarten der Zerstörung, von der vollkommenen Vernichtung bis zu den Papp- und Cellonglashäusern, Häuser, deren Dachstühle abgebrannt, und andere, die bis zum ersten Stockwerk von den Bränden verzehrt worden sind, und solche, die der Luftdruck leergefegt und ihnen die Fensterkreuze, Jalousien und Türen aus den Leibern gerissen hat und über denen sich die dürren Skelette der Dachstühle wie Knochen aus Kadavern aufsteilen. Es gibt Wohnungen, die wie Schwalbennester über den weggesprengten Fassaden hängen, weil die Bomben schräg einfielen, und Keller, die dem Drucke der einstürzenden Häuser standhielten, und nur rauchende Ofenrohre zwischen meterhohen Schuttbergen lassen erkennen, daß dort Menschen wie in einem Fuchsbau vegetieren. Die Anatomie der Häuser bietet sich unverhüllt dar, die Aufgänge und Zwischenwände, die Fahrstuhlschächte und Schornsteine sind wie Knochen, die Gas- und Wasserleitungen wie Arterien, die Radiatoren und Badewannen wie Eingeweide. Die Überreste des Lebens siechen inmitten des Ruinendschungels dahin, und nur die Natur beginnt die nackte Zerstörung zu bekleiden, indem sie die Schuttberge mit Unkraut überwuchert.

Das weitverzweigte Netz des Verkehrs, gewebt aus den zahlreichen Linien der Straßenbahnen und Autobusse, der Hoch- und Untergrundbahnen, der Stadt- und Ringbahn, der S- und Vorortbahnen ist zerrissen, notdürftig geflickt, behelfsmäßig hergerichtet, die Fahrpläne wechseln von Tag zu Tag, weil Zerstörungen an Geleisen, Oberleitungen, Stromschienen, Signalkabeln, Tunnels, Viadukten, Brücken und Bahnhöfen zu Einschränkungen, Stillegungen, Umleitungen zwingen.

Die besonderen Züge der Stadt, die Bauten des bürgerlichen Klassizismus, gruppiert um die Spreeinsel und die Schwingachse der Straße Unter den Linden, die Charakteristika ihres Antlitzes, geschaffen von den Meisterhänden Schinkels, Schlüters und Eosanders, Rauchs, Knobelsdorffs und Langhans’, sind ausgelöscht, bevor die Reißbrettarchitektur Speers von ihr Besitz ergreifen konnte, ihre Wahrzeichen sind jetzt die Hochbunker, Akkumulatoren der Angst, Inhalatoren der Flucht, graugrüne Betonklötze mit Flakgeschützen, die, wuchtig wie Übermammuts, den Friedrichshain, den Humboldthain und den Zoologischen Garten zerstampfen, ihre brutal-zweckmäßige Architektur ist durch keinen versöhnlichen Zug gemildert. Ihnen gesellen sich die zahlreichen Tief- und Flachbunker auf den Plätzen und an den Bahnhöfen der Innenstadt, in Siedlungen und Laubenkolonien, und deren primitivste Abart, die Splittergräben, bei, die in Parks, Waldstücken und an den Böschungen der Vorortbahnen in die Erde hineingewühlt sind.

Die Stadt hatte bei Ausbruch des Krieges 4330000 Einwohner, im April 1945 sind es nur noch 2850000. Die Männer sind zum Heeresdienst eingezogen, zur Organisation Todt dienstverpflichtet, zum Volkssturm aufgerufen, mit ihren Betrieben verlagert, die Frauen in die angeblich nicht luftgefährdeten Gebiete geflüchtet, die Alten und Kranken evakuiert, die Jugendlichen zum Arbeitsdienst einberufen, die Schulkinder in den Kinderlandverschickungslagern untergebracht, die Juden abtransportiert. Der Bevölkerungsverlust ist tatsächlich noch weit größer, denn unter den 2850000 Bewohnern der Stadt sind 700000 ausländische Zwangsarbeiter aus den unterworfenen und abhängigen Ländern, Ukrainer, Polen, Rumänen, Griechen, Jugoslawen, Tschechen, Italiener, Franzosen, Belgier, Niederländer, Norweger, Dänen, Ungarn und die arbeitsfähigen Juden und Konzentrationäre aus den Todeslagern des Ostens. Sie sind in Baracken gepfercht, die auf den Ödstrecken zwischen der Stadt und den Vororten, auf Schuttplätzen und in Baulücken, meist längs der Eisenbahnlinien, eilig errichtet und mit Stacheldrahtzäunen umgeben sind. Sie haben eine frappante Ähnlichkeit mit den für die Ausgebombten erstellten Behelfsheimsiedlungen, die grau und trostlos zwischen Waldstücken und Schrebergärten stehen, nur daß hier (wie überall) der Stacheldraht durch das unsichtbare Netz eines bis ins letzte ausgeklügelten Systems der Überwachung und des Zwanges ersetzt ist.

Die Ministerien haben Berlin verlassen, sind ›verlagert‹ oder in ›Ausweichstellen‹ abgerückt, in der Wilhelmstraße werden die Büros abgewrackt, werden Lastzüge Tag und Nacht mit Akten, Schränken und Kisten, aber auch mit Möbeln, Hausrat und Koffern beladen. Die hohe Ministerial- und Parteibürokratie flieht aus der Stadt, nur sogenannte ›Meldeköpfe‹ bleiben zurück, aber auch für sie ist gesorgt und die großzügige ›Transportbewegung Thusnelda‹ mit den Sonderzügen ›Adler‹ und ›Dohle‹ in Lichterfelde-West und Michendorf und zahlreichen Privatautos vorgesehen.

Unter dem Gebrüll der Alarmsirenen schweigen die Musen, nur die Stimmen ihrer jüngeren, illegitimen Schwester ertönen in den wenigen Stunden zwischen Stromsperren und Fliegeralarmen aus Mikrophonen und Tonfilmapparaturen, aber der heldische Baß des Mars wird überkreischt vom hysterischen Diskant einer befohlenen Unbeschwertheit, die kleine Schar der ›Kameraden‹, ›Kolberg‹, ›Spähtrupp Hallgarten‹, ›Schwarzer Jäger Johanna‹ und ›Der große König‹ stehen einsam zwischen den unendlichen Kolonnen der ›Jungen Herzen‹, ›Ein fröhliches Haus‹, ›Kollege kommt gleich‹, ›Der Mustergatte‹, ›Rund um die Liebe‹, ›Frau meiner Träume‹, ›Es fing so harmlos an‹, ›Es lebe die Liebe‹, ›Das Hochzeitshotel‹, ›Die große Liebe‹, ›Der Mann, der Sherlock Holmes war‹, ›Frauen sind doch bessere Diplomaten‹, ›Ein Mann für meine Frau‹, ›Fritze Bollmann wollte angeln‹, ›Liebesbriefe‹, ›Leichtes Blut‹, ›Tolle Nacht‹ und ›Man rede mir nicht von Liebe‹, der erlahmende Schneid des ›Fridericus Rex‹ und des ›Horst-Wessel-Liedes‹ vermischen sich mit dem ›Königswalzer‹, den Wochenschaumusiken, den gequälten Gelächtern und den Heultönen der Sirenen zu einer grausigen Kakophonie.

In dieser Ruinenstadt, deren Leib verbrannt und zerbrochen, deren Eingeweide zerfetzt und aufgerissen sind, wohnen die Menschen eng zusammengedrängt, sie führen ein Leben, das schrecklicher und schwieriger ist als das der Soldaten, deren Leben ganz auf Kampf und Gefahr eingestellt ist. Die Menschen dieser Stadt führen unter der kaum geringeren beständigen Bedrohung durch Explosion und Brand, durch Erstickung und Verschüttung noch eine Art Privatleben und schleppen den kärglichen Ballast der Zivilisation mit sich herum, sie müssen für sich und ihre Familien sorgen, sie müssen arbeiten und in jeder Sekunde damit rechnen, ihre Tätigkeit, der sie gerade obliegen, sei es schlafen oder lieben, fräsen oder rechnen, kochen oder rasieren, abrupt zu unterbrechen und sich einem Schicksal auszuliefern, das ihnen keine Chance des Entweichens läßt, sie führen ein Nomaden- und Höhlendasein, sie lassen in ihre Kinder den Keim einer vielleicht unheilbaren Neurose senken und liefern sie dem Analphabetismus aus, sie sehen mit an, daß die Substanz der Jugend in Arbeitsdienstlagern und Flakstellungen aufgezehrt und das Gefühl für eine sinnvolle Lebensordnung durch die Erziehung zum kriegerischen Nomaden getötet wird. Sie haben sich von ihrem Ursprung bereits so weit entfernt, das Menschliche verdorren und verkümmern lassen, daß sie schließlich nur noch Mechanismen sind, die auf den leisesten Druck eines Fingers oder eines Zungenschlages willig reagieren. Es ist das Phlegma fatalistisch gewordener Menschen, die sich ihres eigenen Willens völlig begeben haben und stur den einmal eingeschlagenen Weg weitergehen, Befehl wie Sonderzuteilung gleichmütig hinnehmen und ihre innere und äußere Gleichgültigkeit immer wieder als Heldentum und ihre Geduld als Standhaftigkeit preisen und sich bescheinigen lassen, sie sind nicht mehr das ›verwegene Geschlecht‹, als das Goethe sie bezeichnete. Unter der Asche ihrer betäubten Seelen schwelt noch die Hoffnung auf die göttliche Vorsehung, die aus dem Munde des Antichrist verkündet wird, auf jene berühmte Wendung durch Gottes Fügung, auf die sich die Hitler und Goebbels, Fritzsche und Dittmar jetzt so gern berufen. Sie wissen, daß das Verhängnis, das die Wucht eines Gefälles von der Wolga und vom Atlantischen Ozean her hat, nicht vor den Toren ihrer Stadt zum Stillstand kommen wird, aber kein revolutionärer Funke glüht in ihnen auf, kein entfesselter Zorn sprengt die Ketten des Zwanges, kein Aufschrei der Verzweiflung weckt die Gewissen. Die Katastrophen, die die britische und amerikanische Luftwaffe schulmäßig im Luftraum über der Stadt exerzieren, absorbieren die Denkfähigkeit, sie schicken die Betroffenen auf die Jagd nach Unterkunft, Nahrung und Kleidung, Bezugsscheinen, Lebensmittelkarten und Bombenausweisen, sie beschäftigen die Verschonten mit Instandsetzung, Sicherung der Habe und vermehrten Strapazen, um die Arbeitsstätten zu erreichen. Die Formen zivilisierten Lebens sind zerbrochen, die Wohnungen sind dunkle Höhlen geworden, da die schützende Hülle, die um die empfindlichen Nervenstränge der Großstadt, die Telefon- und Stromkabel, die Gas- und Wasserleitungen und die Kanalisation gelegt ist, aufgerissen und zerfetzt ist. Die Menschen der Großstadt sind wieder zu Pumpe, Herd und Talglicht zurückgekehrt.

Die Bewegungen der Menschen, ihre Sprache haben etwas seltsam Gehetztes, jedes Geräusch, das aus der fließenden Eintönigkeit aufzuckt, läßt sie zusammenfahren und erregt lauschen. Sie kennen nur ein Gesprächsthema: die Luftlage, ob das Reich feindfrei, ob Bomberverbände eingeflogen sind, welchen Kurs sie nehmen, ob sie abfliegen. Jeder, der seine Wohnung verläßt, nimmt von seinen Angehörigen Abschied wie jemand, der eine lange, beschwerliche Reise in die Ungewißheit eines unbekannten, gefährlichen Landes unternimmt, jeder führt einen Koffer, einen Rucksack, eine pralle Aktentasche oder eine Umhängetasche mit sich, da die Alarme sie oft überraschen und zwingen, irgendwo, weitab von der Wohnung, Deckung zu nehmen.

Aber es ist nicht nur die Gefahr des Luftkrieges, die auf den Menschen lastet, eine andere Bedrohung hat das Gewicht dieser Last noch erhöht: die Fronten. Seit den Rheinübergängen bei Remagen und Oppenheim haben die westlichen Alliierten in einem unerhörten Raid durch West- und Mitteldeutschland die Elbe erreicht, aus den Brückenköpfen von Pulawy, Warka und Baranow sind die sowjetischen Heere durch Polen und Ostdeutschland bis an die Oder vorgebrochen, aber obwohl die Front im Westen in zügiger Bewegung ist, hat Berlin sein Gesicht nach Osten gerichtet, wo hinter der Oder die sowjetischen Heere in drohender Bereitschaft stehen.

Es ist die Unruhe vor dem Sturme, die über der Stadt liegt, eine Unruhe, die erzeugt wird von der unheimlichen Ruhe, die sich hinter dieser letzten Barriere im Osten der Stadt ausbreitet, es ist eine rastlose Ruhe, in der ununterbrochen die Eisenbahnzüge und Autokolonnen aus den Rüstungsbetrieben des russischen Hinterlandes, aus Tscheljabinsk, aus Swerdlowsk, aus Gorki, aus Magnitogorsk, aus den Ural- und Kusnezk-Kombinaten an die Oder vorrollen. Es ist niemand in der Stadt, der nicht weiß, daß jeder Tag der Ruhe vor dem großen Sturm dazu benutzt wird, um neue Geschütze in Feuerstellung gehen, neue Panzer in Bereitstellungsräume einrücken, neue Flugzeuge in Startbereitschaft rollen, neue Divisionen in die Einsatzräume schleusen zu lassen. Die fernen Welten, Sowjetunion und Vereinigte Staaten, sind unheimlich nahe gerückt, die Distanz zwischen dem Sternenbanner und der Roten Fahne ist auf die Entfernung Frankfurt an der Oder–Magdeburg verkürzt, und in der Mitte liegt die belagerte Stadt, die – einst geschützt durch die Fluten der Wolga und des Ärmelkanals – ein unerreichbares Hinterland schien, der Torso Berlin. Zwar stehen die feindlichen Heere noch hinter den großen Strömen, die die letzten Wälle bilden, aber ihre Luftflotten schließen sie bereits ein und schnüren ihre dünnen Lebensfäden ab, sie bereiten den letzten Angriff vor, der in jeder Stunde über Oder und Elbe losbrechen und sich mit der Gewalt einer Lawine auf die Stadt heranwälzen kann.

Der Torso ist in eine improvisierte Festung verwandelt und in Verteidigungszustand gebracht worden. Panzergräben sind tief in das Vorfeld der Stadt eingeschnitten, Laufgräben ziehen sich quer durch Schrebergärten und Felder, Einmannlöcher sind in Bahndämme, Böschungen und Waldstücke eingelassen, Pakstellungen und Panzersperren blockieren alle Zufahrtsstraßen, bewegungsunfähige Panzer sind an Straßenkreuzungen eingegraben, Flakartillerie hat sich auf Endziele eingeschossen, die Betriebe haben die Arbeit eingestellt, da elektrischer Strom, Kohle und Treibstoffe ohnehin kaum zur Verfügung stehen, ihre Arbeiter und Angestellten schanzen im Vorgelände der Stadt, werfen immer neue Gräben auf, reihen Barrikade hinter Barrikade. In den Straßen, in Restaurants und Lichtspielhäusern, in Bunkern und den Wartesälen der Bahnhöfe fahnden Streifen der Wehrmacht, der SS, der OT, der Gestapo und der Polizei nach Arbeitsflüchtigen und Deserteuren, bietet die Partei noch einmal alle Machtmittel auf, um jeden zum Einsatz zu zwingen.

Wie eine dunkle Wetterwand stehen die Fronten im Osten und Westen der Stadt. Sie sind wie ferne Gewitter, noch ist kein Donnergrollen zu hören, noch lauern die Blitze hinter der Wolkenwand, aber ein wirbelnder Wind kündigt das Nahen des Unwetters an, eine beklemmende, schwefelgelbe Helligkeit breitet sich aus, Gewitterschwüle liegt über der Stadt. Eine zitternde Erwartung hat sich der Menschen bemächtigt, sie schwanken zwischen der Hoffnung auf ein Wunder, das von der Führung immer wieder versprochen und in unmittelbare Aussicht gestellt wird, und dem lähmenden Entsetzen vor dem Ende mit Schrecken. Während die Bomben und Phosphorkanister auf die Stadt fallen, so wie einst Pech und Schwefel auf Sodom und Gomorrha regneten, warten die kleinen Gruppen der Widerstandsbewegung auf die Befreiung mit schmerzlicher Sehnsucht, weil sie nicht vermögen, sich aus eigener Kraft zu befreien.

I. TeilUnruhe vor dem Sturm

»Wir müssen jetzt wie Friedrich der Große denken und handeln. Aber wenn wir untergehen sollten, dann wird mit uns das ganze deutsche Volk untergehen, und zwar so ruhmreich, daß selbst noch nach tausend Jahren der heroische Untergang der Deutschen in der Weltgeschichte an erster Stelle steht.«

Dr. Joseph GoebbelsReichsminister für Volksaufklärung und Propagandaim März 1945 zu Journalisten

I

14. April, 14.00 Uhr

In den frühen Nachmittagsstunden des 14. April 1945 wird die Tür eines Restaurants in der Straße Am Schlesischen Bahnhof in einer Weise geöffnet, wie es niemals zuvor geschehen ist. Sie wird nicht weit aufgerissen oder einfach mit den Füßen aufgestoßen, wie manche Gäste es gern tun, es wird auch nicht übermütig oder mit Kraftaufwand auf die Klinke geschlagen oder einfach ohne jede Zeremonie aufgeklinkt, nein, die Tür wird langsam, fast behutsam geöffnet, nur einen schmalen Spalt weit, die Lücke zwischen dem Türrahmen und dem flankierenden Schaufenster ist gerade so breit, daß sich ein schmächtiger junger Mann eben noch hindurchzwängen kann. Er drückt die Tür hastig wieder ins Schloß, läßt seinen Blick blitzschnell durch das leere Lokal laufen und steuert mit schnellen Schritten, als fürchte er, daß ihm jemand zuvorkommen könnte, auf die entlegenste Ecke zu, die zugleich auch die dunkelste ist. Hier läßt er sich schwer und mit einem fast vernehmbaren, tiefen Aufatmen nieder, lehnt sich für ein paar Sekunden weit zurück und schließt die Augen, dann aber reißt er mit einer gewaltsamen Anstrengung, die ihn gleichsam wie ein Schlag durchfährt, die Augenlider wieder hoch und ruft mit lauter Stimme: »Ein Bier!«

Der Wirt dieser Kneipe hat in seinem dreißigjährigen Budikerdasein schon manchen seltsamen Vogel bedient und versteht sich daher recht gut auf die richtige Einschätzung seiner Gäste. Er vermag ohne weiteres einen schweren Jungen von einem Gelegenheitsdieb, eine Tippelschickse von einer Amateurnutte, einen Nepper von einem gewöhnlichen Kartenspieler zu unterscheiden, er weiß sofort, wann er es mit einem Radaubruder und wann mit einem harmlos Angetrunkenen zu tun hat. Er zieht seine Schlüsse, wenn man die mehr instinktiven Erkenntnisse so nennen will, aus Benehmen und Kleidung, Haltung und Gebärde, Sprache und Blick, und bei dem da, der sich eben durch die Tür gezwängt, sich scheu in eine finstere Ecke gedrückt und erleichtert aufgeatmet hat, als sei er in das letzte Rettungsboot gesprungen, in dessen Augen Gehetztsein und Angst sitzen, dessen Bewegungen von nervöser Wachsamkeit sprechen, dessen Kleidung zusammengesucht und nicht eben vom besten Schneider ist, Kleidung, in die er ganz zweifellos nicht hineingehört, denn der junge Mann hat zwar ungepflegte, aber lange, schmale Hände, mit biegsamen, beweglichen Fingern, bei dem ist ohne Zweifel Verschiedenes nicht in Ordnung.

Während der Wirt das Bier in einen Becher schäumen läßt und dann seinen massigen Körper hinter der Theke hervorschiebt, mustert er den einsamen Gast noch einmal genau, die Skimütze, die auf der rechten Seite schmutzige Druckstellen zeigt, die dreckbespritzten Stiefel, die er todsicher schon seit Tagen nicht mehr von den Füßen gehabt hat, den zerschlissenen grünlichen Rucksack: die Sache ist ganz klar. Der junge Mann ist ein Deserteur.

Als er das Bier vor ihn hinsetzt, sagt er so nebenbei: »Na, wohin soll die Reise gehen, junger Mann?«

Der Angeredete schrickt zusammen und blinzelt unruhig. »Reise?« fragt er zurück. »Wieso denn Reise? Sehe ich denn wie ein Reisender aus?«

Der Wirt lacht glucksend auf.

»Sie müssen das nicht so wörtlich nehmen, junger Mann«, meint er. »War nur so ’ne Frage. Man muß doch mit seinen Gästen was reden, nicht wahr?«

Dabei setzt er sich seinem Gast gegenüber und blickt ihm mit unverhohlener Neugier ins Gesicht.

»Gewiß«, bestätigt der junge Mann, aber aus seiner Miene ist unschwer zu erkennen, daß er nicht unterhalten sein will, daß ihm das Gespräch sogar lästig ist. Er trinkt das Bier mit einem gewaltigen Schluck aus und schiebt dem Wirt das Glas hastig zu. »Noch eins!«

»Sofort«, sagt der Wirt, aber er macht keine Miene, aufzustehen, seine kleinen Augen, die zwischen geschwollenen Augenlidern sitzen, lassen den Gast nicht los, umkreisen ihn fortwährend.

Der junge Mann wendet sich verlegen ab und beginnt die Plakate an den Wänden zu lesen. ›Ein Volk, ein Reich, ein Führer!‹, ›Boa-Lie, das köstliche Erfrischungsgetränk‹, ›Wir kapitulieren nie!‹, ›So appetitlich frisch, Bergmann Privat‹, ›Juden haben keinen Zutritt!‹ Er wendet sich angewidert ab, nimmt das ›12-Uhr-Blatt‹ vom Haken und beginnt zu lesen.

»OKW: Schwerpunkt Mittelabschnitt

Schwere Straßenkämpfe toben in der Donaustadt – Weimar gefallen.«

Wie Siegesfanfaren breiten sich die Überschriften fett und schwarz aus. Er überfliegt den Bericht, ihn interessieren anscheinend nur die Fronten rings um Berlin.

»Führerhauptquartier, 13. April

Von der Front bis zur Pommerschen Bucht werden keine Kampfhandlungen von Bedeutung gemeldet. Der Gegner setzt in Schlesien und an der unteren Oder seine Angriffsvorbereitungen fort. Marinekampffähren versenkten …«

»Du«, sagt der Wirt und klopft mit dem Zeigefinger ein paarmal auf den Tisch. »Ich möcht’ dich mal was fragen.«

Der junge Mann zuckt flüchtig zusammen, aber er blickt nicht von der Zeitung auf.

»Zwischen Ems und Weser …

Bei Wittenberge an der Elbe stehen Aufklärungskräfte im Kampf mit unserer Brückenkopfbesatzung auf dem Westufer. Weiter südlich drangen die Amerikaner gegen Magdeburg vor.«

»Laß doch die Faxen!« sagt der Wirt, und in seiner Stimme mischen sich seltsam Befehl und Bitte. »Seit wann bist du denn unterwegs?«

Der junge Mann wirft noch rasch einen Blick auf die Überschriften.

»Ein verwüsteter Erdteil schickt Roosevelt seinen Fluch nach«

»Der Kriegsanstifter vom Schicksal gerichtet«

»Große Bestürzung in London«

»Massenmorde auf seinem Schuldkonto«

Dann läßt er die Zeitung sinken und starrt den Wirt mit weit aufgerissenen Augen an.

»Wie meinen Sie das, Herr?«

»Wann du getürmt bist, will ich wissen!« sagt der Wirt ungeduldig.

»Ich verstehe Sie nicht«, sagt der junge Mann und legt die Zeitung wieder beiseite, als störe sie ihn jetzt, dann richtet er sich steil auf, legt beide Hände auf die Knie und schiebt den Oberkörper vor. Seine Haltung deutet Angespanntheit und Sprungbereitschaft an.

»Mir machst du doch nichts vor, mein Junge«, meint der Wirt und verzieht seinen dicken, schwabbligen Mund zu einem breiten Grinsen, »du bist getürmt, bist abgehauen, hast in den Sack gehauen, hast die Faxen dicke oder – man kann es natürlich auch so ausdrücken – bist desertiert.«

Der junge Mann schnellt hoch und zieht hastig einen Revolver aus der Manteltasche. »Ich schieße sie glatt über den Haufen, wenn Sie versuchen sollten, mich den Greifern auszuliefern«, ruft er atemlos.

Der Wirt lehnt sich behaglich in den Stuhl zurück, legt das Kinn auf die Brust und blickt unter hochgezogenen Augenbrauen auf. »Steck das Ding weg«, sagt er ruhig. »Hast du bei mir nicht nötig.«

»Ich traue Ihnen nicht«, sagt der junge Mann erregt und nimmt den Finger nicht vom Abzug, »ich traue niemandem, jeder ist heutzutage …«

»Nicht jeder, mein Junge, nicht jeder«, unterbricht ihn der Wirt.

»Leg das Ding weg und setz dich wieder hin.«

Der junge Mann nimmt zögernd wieder Platz, aber er legt den Revolver nicht fort und beobachtet jede Bewegung des dicken Gastwirts. »Wer sind Sie denn«, fragt er, »daß Sie sich davon ausnehmen?«

Der Wirt lacht schallend auf. »Ich bin Oskar Klose, Kneipenwirt. Mein Name steht draußen groß und breit dran für jeden, der zu lesen versteht. Und wer bist du?«

»Nein, nein«, sagt der junge Mann, »so können Sie mit mir nicht reden. Mich hier ausholen und dann …« Er schüttelt den Kopf, holt eine Geldtasche aus dem Mantel und legt einen Fünfmarkschein auf den Tisch. »Ziehen Sie das Bier ab.«

Der Wirt knipst den Geldschein verächtlich zurück. »Warum traust du mir nicht, Junge?« fragt er.

»Warum sollte ich gerade Ihnen vertrauen?« fragt der junge Mann zurück. »Vertrauen ist eine Pflanze, die in Hitler-Deutschland nicht mehr gedeiht.«

»Jetzt hast du dich doch verschnappt, mein Junge«, sagt Klose und legt seine fette Hand auf den Arm des jungen Mannes.

Der junge Mann schüttelt die Hand unwillig ab. »Lassen Sie das, sonst …«, fügt er drohend hinzu und legt den Revolver wieder an.

»Jetzt aber Schluß mit dem Quatsch«, sagt Klose böse und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich meine es gut mit dir, und du … Du hast die Scheiße satt, bis oben hin, das ist doch ganz klar.«

»Da bin ich wohl nicht der einzige in Deutschland«, wirft der junge Mann ein.

»Nee, das bist du ganz bestimmt nicht«, sagt Klose. »Und du kannst mir glauben, daß ich das braune Kroppzeug hasse wie die Pest, du kannst wirklich Vertrauen zu mir haben. Oder meinst du, du bist der erste, der meinen Laden angesteuert hat, weil er die verfluchte Uniform in den Dreck geschmissen hat und abgehauen ist, ganz gleich, was daraus wird?«

»Da erzählen Sie mir nichts Neues, Herr Klose«, sagt der junge Mann. »Aber es gibt soviel Verrat und Spitzelei …«

»Kommt vor, kommt sogar oft vor«, gibt der Wirt zu, »aber bei mir …« Er schüttelt den Kopf. »Setz dich wieder hin, dann will ich dir mal was erzählen.«

Der junge Mann setzt sich wieder auf seinen Stuhl, aber er bleibt ganz vornean sitzen, sprungbereit und aufmerksam, noch immer läßt er den Revolver nicht aus der Hand.

»Ich habe den ersten Weltkrieg mitgemacht«, beginnt Klose, »das heißt natürlich mitmachen müssen. Ich war ein schlechter Soldat, nicht, daß ich feige bin, ich hab’ schon oft in meinem Leben das Gegenteil bewiesen, aber das ging nicht in meinen Kopf rein, daß wir kleinen Leute uns für die großen Herren die Knochen kaputtschlagen lassen sollen, und wenn man solche Gedanken im Kopf hat, kann man kein guter Soldat sein. Stimmt’s?«

Der junge Mann nickt. »Genau so ist es jetzt, nur …«

Klose winkt ab. »Du kannst nachher auspacken, jetzt rede ich erst. Mich haben sie damals ein paarmal an den Pfahl gebunden, du, das vergißt man sein Lebtag nicht, und so manches andere auch nicht, so wie mir zum Beispiel die SA nach der sogenannten Machtübernahme die Scheiben zertöpperte und mich grün und blau schlug, weil bei mir ›Solidarität‹ und ›Fichte‹ getagt haben und weil ich immer gespendet habe für die IAH und die Rote Hilfe und für die Eiserne Front, aber davon hast du ja keinen Schimmer mehr. Wie alt bist du denn?«

»Zweiundzwanzig.«

Klose schüttelt bedauernd den Kopf. »Da bist du ja schon nicht mehr in normalen Zeiten aufgewachsen, das heißt, so ganz normal ging’s ja vorher auch nicht mehr zu … Aber als du anfingst zu denken, hatten dir die Giftmischer das Gehirn schon verkleistert. Und wie heißt du?« Der junge Mann zögert mit der Antwort und spielt verlegen mit dem Revolver.

»Na, raus mit der Sprache, Knabe«, muntert Klose ihn auf.

»Joachim Lassehn«, sagt der junge Mann schließlich.

»Sehr angenehm«, sagt Klose mit einer kleinen ironischen Verbeugung. »Und ich bin Oskar Klose, achtundfünfzig Jahre alt, verwitwet, Besitzer dieser hochherrschaftlichen Kutscherkneipe, aber das weißt du schon. Und was bist du von Beruf?«

Lassehn lacht bitter auf und zuckt resigniert die Schultern. »Beruf?« fragt er. »Wie sollte ich zu einem Beruf kommen? Überlegen Sie doch mal, Herr Klose, dann werden Sie einsehen, daß Ihre Frage, entschuldigen Sie schon, Unsinn ist. Ostern einundvierzig habe ich mein Abitur gemacht, dann ließ ich mich auf der Hochschule für Musik immatrikulieren, Klavierstudium, ein Semester habe ich gerade absolviert, dann kam der Einberufungsbefehl zum Arbeitsdienst. Der fiel mir verdammt schwer, denn ich bin ziemlich schwächlich, und meine Hände« – er streckt dem Gastwirt seine schmalen, zarten Hände hin – »taugen nun einmal mehr zum Klavierspielen als zum Schippen. Und vom Arbeitsdienst ging’s dann gleich zum Militär. Wie sollte ich da einen Beruf haben?«

»Hast recht, Joachim«, stimmt Klose zu, »war ’ne dumme Frage von mir. Und weiter?«

»Ist schnell erzählt, Herr Klose«, antwortet Lassehn. »Ausbildung im Munsterlager, Besatzung in Norwegen und dann frisch auf zum fröhlichen Jagen gegen die Sowjets. Hatte bald die Schnauze voll, können Sie mir glauben. Ich weiß nicht, ob ich eine besondere Art Mensch bin, aber ich kam nicht in Konnex mit meinen Kameraden. Sie fanden immer alles richtig und gut und glaubten alles unbesehen, aber vielleicht darf man nicht allzu hart mit ihnen ins Gericht gehen, denn sie sind ja zur Urteilslosigkeit, zum sturen Gehorsam, zum Götzenanbetertum erzogen worden. Können Sie sich in unsere Lage versetzen, Herr Klose. Sechs Jahre Nazischule, vier Jahre HJ, ein Jahr Arbeitsdienst, dazu hämmern sie in Presse und Rundfunk auf unsere Gehirne ein, können Sie sich da wundern …«

»Ich wunder’ mir über janischt mehr, sagte der selige Otto Reuter«, wirft Klose ein, aber er lächelt dabei nicht, in sein gutmütiges, breites Gesicht mit den roten Hängebacken ist ein böser, verkniffener Zug getreten. »Hast recht, Junge, verflucht noch mal, aber erzähl erst mal von dir. Klar, daß die bald spitz hatten, was mit dir los war.«

»Selbstverständlich«, bestätigt Lassehn, »sie haben mich nach allen Regeln der preußischen Militärkunst schikaniert und geschurigelt, wo sie nur konnten, besonders als sie mich dabei abfaßten, wie ich ein sowjetisches Flugblatt nicht ablieferte.«

»Was für ein Flugblatt«, fragt Klose.

»Von deutschen Soldaten in russischer Gefangenschaft, ich habe den Wortlaut noch ziemlich genau im Gedächtnis:

›Kameraden an der Front! Deutsche Männer und Frauen!

Unsere Opfer sind sinn- und zwecklos. Unsere Kameraden sterben für eine vollkommen aussichtslose Sache.

Es gibt zwei Deutschlands:

Das Deutschland der Nazischmarotzer und das Deutschland der Werktätigen, das Deutschland der vertierten Raub- und Mordgesellen und das Deutschland des ehrlichen und fleißigen Volkes.

Zwischen diesen beiden Deutschlands klafft ein Abgrund. Das deutsche Volk braucht nicht die Versklavung anderer Völker, sondern seine eigene Befreiung aus der Naziknechtschaft.

Das deutsche Volk muß nicht Herr fremder Gebiete, sondern muß Herr seines eigenen Landes werden. Es muß sein eigenes Haus von der Nazipest säubern, die das deutsche Volk zu Hunger, Entbehrungen und endlosen Kriegen verdammt.

Durch den Sturz Hitlers kann und wird unser Volk die Geschicke Deutschlands in seine eigenen Hände nehmen.

Es wird ein neues Deutschland schaffen, in dem das Volk Herr im eigenen Hause sein wird.‹

So ungefähr war der Text.«

»Kenn’ ich, Junge«, meint Klose.

»Kennen Sie?« fragt Lassehn erstaunt. »Waren Sie denn auch draußen?«

»Nee«, lacht Klose, »aber auf Kurzwelle einunddreißig Meter sendet Moskau deutsch.«

Lassehn nickt. »Daher also. Aber lassen Sie mich weitererzählen. Als ich mich eines Tages weigerte, russische Kriegsgefangene zu exekutieren, die nichts anderes verbrochen hatten, als daß sie ein Mitgliedsbuch der Kommunistischen Partei in der Tasche hatten oder Juden waren, oder nur einfach deshalb, weil sie intelligent aussahen, da war’s, wie man zu sagen pflegt, passiert. Ich kam in eine Strafkompanie.«

Klose nickt. »Verstehe, Himmelfahrtskommando, Minen ausbuddeln, Blindgänger entschärfen, Brückenschlag im feindlichen Feuer und so. Richtig?«

»Richtig!« bestätigt Lassehn. »Versuchte schon damals, zum Iwan überzulaufen, aber es war nicht möglich, die SS paßte zu scharf auf. Dann wurde ich im Dezember dreiundvierzig bei Woronesch verwundet, zuerst schien es nur ein einfacher Oberschenkeldurchschuß zu sein, aber die Wunde verschlimmerte sich, weil man versäumt hatte, mir eine Tetanusspritze zu verabreichen. Wochenlang bestand die Gefahr, daß mein rechtes Bein amputiert werden mußte, ich habe jedenfalls monatelang festgelegen, zuerst in Charkow, dann in Kowel, schließlich landete ich in Oberschlesien, in Ratibor, als sich unser großer Führer in grandiosem Siegesmarsch der Heimat näherte. Als die Russen am zwölften Januar am Baranow-Brückenkopf zum Großangriff antraten, da wurde unser Lazarett rücksichtslos geleert, wer nicht gerade am Verenden war, wurde felddienstfähig geschrieben. In Ratibor wurde eine Ersatzkompanie aufgestellt, der wurde ich zugeteilt. Die Kompanie war noch nicht einmal voll ausgerüstet, als die Russen ins oberschlesische Industriegebiet einbrachen. So wie wir waren, teilweise ohne Waffen, ohne warme Kleidung, kamen wir an die Front, alles ging drunter und drüber – und da machte ich nicht mehr mit, ich warf die Knarre weg, holte mir aus einem verlassenen Bauerngehöft Zivilkleidung und setzte mich ab. Es war eine höllisch schwierige Sache, bis nach Berlin zu kommen, überall strolcht die Feldpolizei und wimmelt die Gestapo herum, und die sind jetzt sehr schnell dabei, einen umzulegen. Na, jedenfalls bin ich jetzt in Berlin.«

Klose hat aufmerksam zugehört. »Sehr schön, mein Junge«, sagt er, »aber was wird nun?«

Lassehn hebt die schmalen Schultern. »Ich habe keinen bestimmten Plan«, antwortet er, »lange kann der Krieg doch nicht mehr dauern, unsere sind ja total fertig. Wenn der Russe an der Oder erst einmal loslegt …«

»Ganz meine Meinung«, bestätigt Klose, »aber lassen wir die hohe Strategie einmal beiseite und wenden wir uns der brennenden Tagesfrage zu: Wo willst du unterkommen? Wo wohnen deine Eltern?«

Lassehn senkt den Kopf. »Meine Eltern sind im August dreiundvierzig beim großen Angriff auf Lankwitz umgekommen«, sagt er leise.

Eine kleine Pause entsteht. Klose hebt langsam die Schultern, als wollte er mit dieser Bewegung ein Bedauern ausdrücken, dann steht er auf und schaltet den Radioapparat ein. »Wolln mal sehn, was die Luftlage macht«, sagt er dabei.

»… mit dem Gongschlag vierzehn Uhr zwei Minuten. Achtung, die Luftlagemeldung. Über dem Reichsgebiet befindet sich kein feindlicher Kampfverband. Ich wiederhole: Über dem Reichsgebiet …«

»Frechheit«, wirft Klose ein, »über dem Reichsgebiet. Über dem uns noch verbliebenen Rest des Reichsgebietes muß es heißen.«

»… kein feindlicher Kampfverband. Es folgt der Wehrmachtsbericht. Führerhauptquartier, den vierzehnten April. Das Oberkommando der Wehrmacht …«

»Wolln mal sehen, was sie uns heute vorsetzen«, sagt Klose.

»Das wichtigste ist die Oderfront«, meint Lassehn, »die Ruhe – dort …«

»Ruhe!« sagt Klose. »Hör lieber zu!«

»An der Front bis zum Stettiner Haff, an der Danziger Bucht und in Kurland fanden keine besonderen Kampfhandlungen statt.

An der Elbe gelang es dem Feind nach heftigen Kämpfen mit schwächeren Kräften südöstlich Magdeburg auf dem Ostufer des Flusses Fuß zu fassen. In Mitteldeutschland drangen die Amerikaner durch Angriffe nach Norden und Südosten weiter ein. Aufklärungsverbände fühlten gegen die Saale bei Halle und gegen den Raum beiderseits Zeitz vor.«

Klose schaltet den Apparat wieder mit einer verächtlichen Bewegung aus. »Das Weitere kennen wir«, sagt er wütend, »kennen wir ganz genau. Der Angriff wurde siegreich abgeschlagen, der Ort ging leider verloren.« Er wendet sich wieder Lassehn zu, der beide Arme breit auf den Tisch gestützt hat und starr vor sich niederblickt, und tippt ihm mit ausgestrecktem Zeigefinger ein paarmal auf die Schulter. »Nicht gehenlassen, Junge«, sagt er, »nicht weich werden.«

Lassehn sieht ihn mit verschwimmenden Augen an. »Ist schon vorüber, Herr Klose.« Klose setzt sich wieder.

»Hast du gar keine Verwandten in Berlin?« fragt er.

In Lassehns Gesicht spielt ein kleines, zaghaftes Lächeln hinein.

»Verwandte? Nein, oder doch, nämlich …« Er zögert merklich.

»Nämlich eine Frau.«

»Drück dich gefälligst unmißverständlich aus, Joachim«, sagt Klose, verständnisinnig lächelnd, »du meinst eine Braut oder Freundin, so’n kleinen Betthasen zum Einkuscheln. Hab’ ich recht?«

»Diesmal nicht, Herr Klose«, antwortet Lassehn ernst. »Wie ich schon sagte: eine Frau. Ich bin nämlich verheiratet.«

»Junge, Junge«, sagt Klose und schüttelt den Kopf. »Warum denn das?«

»Seltsame Frage, Herr Klose, und schwer zu beantworten.«

»Große Liebe und so, verstehe.«

Lassehn schüttelt ganz unmerklich den Kopf. »Große Liebe?« sagt er nachdenklich. »Ich weiß nicht, ob es große Liebe war. Ein paar Monate vor meiner Verwundung erhielt ich Urlaub, ich war sehr allein, Freunde habe ich nicht, denn ich bin immer ein Einzelgänger gewesen, meine Freunde sind Bach und Beethoven und Chopin gewesen. Frauen hatten bis dahin in meinem Leben überhaupt keine Rolle gespielt, da lernte ich sie kennen, und mit einem Male überwältigten mich die Einsamkeit und die verhaßte Pflicht, wieder an die Front zurückkehren zu müssen … Wissen Sie, Herr Klose, wenn man so tief im Dreck steckt, ist einem schließlich alles gleich, aber wenn Sie den Dreck erst einmal abgestreift und wieder Sauberkeit kennengelernt haben und dann in den Dreck zurückmüssen … Also ich brauchte einfach jemanden, der gewissermaßen die Zielscheibe für meine Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte sein konnte, da erwachte in mir der brennende Wunsch nach weiblicher Zärtlichkeit, der Wunsch, ganz in einem anderen Menschen aufzugehen, es war …«

Lassehn unterbricht sich und sieht Klose fragend an. »Hoffentlich langweile ich Sie nicht, Herr Klose, Sie sind es sicher nicht gewohnt …«

»Ich bin allerhand gewohnt! Sprich nur ruhig weiter, mein Junge«, sagt Klose ermunternd, »du sprichst beinah wie ein Dichter, ist mal was andres, höre ich ganz gern, also weiter im Text.«

Lassehn nickt ihm dankbar zu. »Es tut wohl, sich einmal richtig aussprechen zu können. Ja, also es war ja nicht nur das allein, es war also auch gewissermaßen der Wunsch, eine Zuflucht für seine Gedanken zu haben, wenn man wieder draußen in Schnee und Dreck und Eis lag, wenn das Leben wertloser schien als alle anderen Dinge auf der Welt, wenn nur rohe Landsergespräche auf einen eindrangen, vom Fressen und Saufen, von Weibern und vom … Gott, Sie wissen das ja selbst, Herr Klose, Sie sind ja auch Soldat gewesen. Ja, da lernte ich Irmgard kennen und verliebte mich in sie, wie ich mich wahrscheinlich auch in jede andere verliebt hätte, weil eben die Bereitschaft dazu latent war. Ihr ging es wohl ähnlich, und noch am selben Abend waren wir uns darüber einig, daß wir noch in diesem Urlaub heiraten würden. So etwas geht ja ganz schnell, wenn die Papiere da sind, und außerdem nahmen sie es bei den Urlauberehen ja nicht so genau. Nun ja, da heirateten wir eben, in unser beider Leben änderte sich dadurch nicht viel, ich ging wieder an die Front, meine Frau blieb bei ihrer Tante wohnen und übte ihren Beruf weiter aus … Ja, das ist eigentlich alles.«

Klose wiegt den Kopf hin und her. »Junge, Junge«, sagt er dann und stößt den Atem heftig aus. »Nur um das bißchen … na, du weißt schon, Mensch, mußte denn da gleich geheiratet werden?«

»Aber Herr Klose«, widerspricht Lassehn, »ich sagte Ihnen doch schon, daß es das nicht war.«

»Du kannst mir doch nichts einreden, Junge«, sagt Klose energisch. »Anders war sie wohl nicht rumzukriegen?«

»Das hat allerdings auch eine Rolle gespielt«, gibt Lassehn zu, »aber nicht die entscheidende.«

»Wie alt ist denn dein Fräulein Frau?« fragt Klose.

»Dreiundzwanzig.«

Klose nickt ein paarmal. »Hat ihr imponiert, junge Frau zu spielen. Und außerdem« – Klose blickt Lassehn prüfend ins Gesicht –, »kann mir vorstellen, daß du ein ganz hübscher Bursche bist, wenn du rasiert und anständig in Schale bist, dazu hast du so was Künstlerhaftes, das haben die Mädchen gern. Na, da hat sie dich eben geheiratet. Was ist denn heutzutage auch die Ehe? Heute heiratet man so, wie man früher Freundschaften schloß, kommt ja gar nicht darauf an. Die Ehe ist heute soviel wert wie der ganze Hitler-Staat. Über eins bin ich mir aber vollkommen klar: du kennst deine Frau kaum, ist ja auch gar nicht anders möglich.«

»Da haben Sie recht, Herr Klose«, sagt Lassehn, »die wenigen Tage, die uns verblieben …«

»Verstehe ohne Brille«, lacht Klose, »raus aus den Betten, rin in in die Betten, und dazwischen nur Flitterwochengespräche. Du kennst von deiner Frau die Beine, die Brust, das süße Schnäuzchen und andere hübsche Sachen, aber wes Geistes Kind sie ist, davon hast du keinen blassen Schimmer. Stimmt’s oder hab’ ich recht?«

Lassehn blickt Klose überrascht an und nickt. »Es ist erstaunlich, Herr Klose, wie Sie das so …«

Klose lacht glucksend. »Nischt ist erstaunlich, aber der olle Klose ist nicht aus Dummsdorf, sondern aus Rixdorf, und da werden nur schlaue Knäblein geboren. Kann dich verstehen, Musikstudente Joachim Lassehn, wolltest einmal richtig leben, bevor du wieder nach Woronesch zurückgingst, bevor du dich wieder in die Lotterietrommel des Todes schütten ließest. Ging mir damals genau so, wenn ich aus Frankreich auf Urlaub zu Hause war, da habe ich auch Bäume ausgerissen und alles Geld auf den Kopf gehauen, daß es nur so rauchte. Wenn Leben und Tod so dicht gekoppelt sind wie im Kriege, dann schöpft man das Leben aus wie einen Brunnen, daß nur ja kein Tropfen ungenutzt bleibt. Du hast das wohl ein bißchen zivilisierter gemacht, Joachim, aber genau besehen war es dasselbe.«

Lassehn sitzt ganz still da.

»Bist ja so stille geworden, Junge«, sagt Klose. »Woran denkst du denn?«

»An die Worte unseres Bataillonskommandeurs, als wir zum ersten Male in den Kampf gingen«, antwortet Lassehn.

»Und was hat der gute Onkel seinen lieben Kinderchen erzählt?« fragt Klose.

»Daß der Krieg der Vater aller Dinge sei«, antwortet Lassehn, »daß sich erst in ihm die Persönlichkeit entwickele und die wahren menschlichen Werte zeigten.« Er lacht auf, es ist ein kurzes, stoßweises Lachen, wie in kleine, höhnische Aufschreie zerteilt, sein jungenhaftes Gesicht, in das männliche Falten tief eingewurzelt sind, ist böse und drohend gespannt, die fast sanften, blauen Augen haben die Starre eines lauernden Raubtierblickes.

»Scheint dir nicht eingeleuchtet zu haben«, sagt Klose. »Dein eigener menschlicher Wert ist dir da wohl plötzlich recht fragwürdig vorgekommen, was?«

»Ja«, bricht Lassehn los, »ich habe im Kriege Fähigkeiten in mir entdeckt, von deren Vorhandensein ich bis dahin keine Ahnung hatte, nämlich die Fähigkeit zu Rache, Mord und Totschlag. Da war ein Obergefreiter bei uns, ein sogenannter Volksdeutscher aus den Sudeten, seine Worte kniffen mich wie Zangen, seine Befehle waren wie Stöße in den Nacken …« Lassehn ballt die Hände, die bisher ruhig auf dem Tisch gelegen haben.

»Der hat dich dauernd beim Arsch gehabt«, ergänzt Klose und nickt. »Das kenn’ ich, mein Junge, da wird in einem was locker und federt, bis die Feder eines Tages losschnellt.«

»Ja«, bestätigt Lassehn ein wenig ruhiger, »dann sind Geduld, Sturheit und Ergebenheit verweht, dann durchfährt einen ein Rachegefühl wie ein heißer Schmerz und macht besinnungslos … So ein Augenblick war das, die Wut war wie ein Nebel um mich, da holte ich mit dem Gewehrkolben aus und schlug blindwütig zu.« Er holt tief Atem und entspannt seine Hände.

»Na, und?« fragt Klose.

Lassehn sitzt unbeweglich da. »Er wich gewandt aus, und ich schlug ins Leere«, erwidert er langsam.

»Und weiter?« drängt Klose.

»Nichts«, antwortet Lassehn. »Er riß ein Messer aus dem Stiefelschaft und wollte sich auf mich stürzen, aber plötzlich war eine Rata über uns und warf ein paar Bomben. Wissen Sie, Herr Klose, die Russen haben eine Sorte Fliegerbomben, kleinkalibrig, aber mit großer Brisanz, so ein Ding fiel in der Nähe, und ein Sprengstück riß dem Obergefreiten die Brust auf …«

»Hast du Schwein gehabt, mein Junge«, sagt Klose. »Hätt’ ich dir übrigens gar nicht zugetraut, mit dem Gewehrkolben auf einen Vorgesetzten …«

»Das sagte ich ja schon«, meint Lassehn lebhaft. »Ich bin ein friedlicher Mensch, Herr Klose, ich hasse Gewalt in jeder Form, aber …«

»Schon gut«, sagt Klose und legt seine Rechte auf Lassehns Arm. »Jetzt wolln wir uns wieder mal der Gegenwart zuwenden. Wo wohnt denn deine verehrte Frau Gemahlin?«

»In Charlottenburg«, antwortet Lassehn und seufzt tief auf.

»Was hat denn der junge Ehemann?« fragt Klose. »Sitzt hier rum, anstatt nach Hause zu gehen. Traust dich wohl nicht?«

»Ja«, platzt Lassehn heraus, »genau das ist es.« Sein Gesicht ist ernst, um seinen Mund liegt ein Zug stummer Verzweiflung. »Stellen Sie sich doch einmal die Situation vor, Herr Klose. Meine Frau lebt in dem Bewußtsein, daß ich an der Front bin, und jetzt tauche ich hier plötzlich auf, illegal, heimlich, verdreckt und verkommen, ein Deserteur, ein Vaterlandsverräter. Weiß ich denn, wie sie das auffassen wird?«

»Es ist nicht gut, wenn der Mensch zuviel denkt«, sagt Klose. »Mensch, Joachim, das wär’ ja gelacht … Sie ist doch deine Frau!« Lassehn hebt den Kopf mit einem Ruck. »So? Ist sie meine Frau?« Klose kneift die Augen zusammen. »Was soll denn das nun wieder heißen? Du hast doch vorhin gesagt, das ist alles in Ordnung, mit Standesamt und so, und jetzt redest du wieder anders. Mußt du mir schon erklären, Junge.«

»Sehen Sie, Herr Klose, die Sache ist so«, sagt Joachim langsam. »Irmgard ist zwar meine Frau, juristisch und … und auch in anderer Beziehung, Sie verstehen schon, aber darüber hinaus ist nichts zwischen uns, absolut nichts. Ich habe sie ja auch seit den paar Tagen Ehe nicht wiedergesehen, und das ist jetzt beinahe zwei Jahre her.«

Klose pfeift ziehend durch die Zähne. »Daher weht der Wind. Hm, hm, jetzt ist mir alles klar, Kerlchen, du weißt von deiner Frau eigentlich nur, wie sie aussieht, wie sie küßt und wie sie im Bett ist. Mensch, Joachim, ich lach’ mich tot.«

Lassehn schüttelt unwillig den Kopf. »Ich kann nichts Lächerliches dabei finden, Herr Klose, die ganze Angelegenheit ist ausgesprochen ernst, denn ich bin kein oberflächlicher Mensch, das dürfen Sie mir glauben.«

Klose wird wieder ernst. »Hast recht, Joachim, entschuldige meine Heiterkeit, war nicht böse gemeint. Aber jetzt geht mir ein Seifensieder auf, da kommt einer nach Hause, der die schöne graue Felduniform ausgezogen hat, der nicht mehr an den Endsieg glaubt, und er traut sich nicht nach Hause, denn seine Frau ist möglicherweise eine Naziziege und schlägt die Hände entsetzt über ihrem treudeutschen Dutt zusammen. Habt ihr euch denn nie geschrieben?«

»Doch«, antwortet Lassehn, »wenn auch nicht sehr oft, aber aus diesen Briefen habe ich kein Bild gewinnen können. Irmgard schrieb nur über kleine Alltäglichkeiten oder frischte Erinnerungen an die kurze Zeit unseres Zusammenlebens auf, außerdem waren ihre Briefe auch stets ziemlich kurz. Aber nun einmal hiervon abgesehen, da ist noch etwas.«

»Noch was? Ja, Menschenskind, was denn?«

»Sie sagten vorhin, ich wüßte eigentlich nur, wie meine Frau aussähe.«

»Na und?«

»Ich weiß nicht einmal das, Herr Klose«, sagt Lassehn bedrückt.

»Es sind ja jetzt ziemlich zwei Jahre her, ich habe sie niemals vorher und niemals nachher gesehen, ihr Bild ist im Laufe dieser zwei Jahre vollkommen überdeckt worden durch Krieg und Verwundung, durch Elend und Tod. Zuerst habe ich ihr Gesicht noch deutlich vor meinen Augen gehabt, aber das Bild verblaßte immer mehr, ich versuchte verzweifelt, es mir ins Gedächtnis zurückzurufen, aber es war vergeblich, es gelang mir einfach nicht. Und ihr geht es vielleicht nicht anders. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir auf der Straße aneinander vorbeigehen und uns nicht erkennen. Ich weiß, wie die Partitur der Mondscheinsonate aussieht, ich kann Ihnen jede Note der Appassionata aufschreiben, aber ich weiß nicht, wie meine Frau aussieht. So, nun wissen Sie alles.«

Klose hat mit unbewegtem Gesicht zugehört. »Junge, Junge«, sagt er nach einer Weile, »das ist ’ne Sache. Was soll denn nun mit euch zwei Hübschen werden?«

»Das weiß ich selbst noch nicht«, erwidert Lassehn, »aber eins ist mir jedenfalls klar, daß ich vorsichtig sein muß, ich muß mich an meine Frau heranpürschen wie ein Jäger an ein gefährliches Wild, das, wenn es gereizt wird, zur mordenden Bestie werden kann. Kein schöner Vergleich, aber er hat seine innere Berechtigung.«

Klose hat ihm kopfschüttelnd zugehört. »Junge, Junge«, sagt er. »Wie ist denn deine Frau so? Ist sie gutmütig oder ist sie ’n Aas? Meinst du, daß sie es fertigbringt, dich zu verpfeifen?«

»Das weiß ich eben nicht, Herr Klose«, antwortet Lassehn, »und deshalb bin ich auch nicht sofort zu ihr gegangen.« Er hält inne und denkt nach. »Gutmütig ist sie wohl, jedenfalls hat sie auf mich diesen Eindruck gemacht, aber wie ihr wirkliches Wesen ist … ja, davon habe ich keine Ahnung.«

»Na, dann werden wir mal überlegen müssen, was wir da machen, Kleiner«, sagt Klose und steht auf. »Vorsicht, da kommt einer. Paß mal auf, Junge, wenn ich jetzt ganz plötzlich ohne jede Veranlassung das Radio einschalte, dann heißt das Gefahr.«

II

14. April, 21.00 Uhr

Die Nacht ist auf die Ruinenstadt Berlin herabgesunken. Hell strahlt die schlanke Sichel des Mondes am tiefblauen Himmel, Stern funkelt neben Stern, es ist eine Nacht wie geschaffen zu Besinnlichkeit und Einkehr, für friedlichen Schlaf und glückliche Träume, aber in dieser Stadt gibt es das nicht mehr. Aus der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht kriecht eine würgende Angst vor dem Unentrinnbaren, preßt ein fieberheißes Entsetzen der Erwartung die Herzen zusammen. Das große Schweigen der Nacht, das früher wie eine sanfte Hand war, ist zur furchtbaren Drohung geworden, die Menschen zwingen sich zur Lautlosigkeit, um die Rufe der Sirenen nicht zu überhören, die immerfort in ihren Ohren gellen, auch wenn sie schweigen, sie kreisen in den Hirnen, sie sind immer da wie die Erinnerung an einen schrecklichen Traum, weil die schrecklichen Träume Tag für Tag und Nacht für Nacht zu zermalmender, feuriger Wirklichkeit werden. Hier sind nur noch Furcht und Schrecken nächtlicher Bedrohung, Fieberträume, angstvolles Warten, dünner Schlaf, immer ein Lauschen nach dem Heulton der Sirenen, äußerste Rücksichtslosigkeit im Kampf um das eigene Leben beim Ansturm auf die bombensicheren Luftschutzbunker, hier gibt es jetzt keine Ruhe nach der Hast und der Arbeit des Tages, kein Ruhen in weichen Betten. Hier hocken jetzt schon Zehntausende dicht gedrängt in den Bunkern und Untergrundbahnhöfen, lauern sprungbereit Millionen auf das Höllenkonzert der Sirenen, stehen Koffer, liegen Stahlhelme, Gasmasken, Schutzbrillen griffbereit, die Radioapparate laufen auf vollen Touren, aber niemand hört auf die Musik oder die Worte, es ist auch ganz gleichgültig, ob Beethoven oder Lehár den Lautsprechern entströmt, Rilke oder Goebbels, man läßt alles stumpf in sich hineinströmen, man lauscht nur auf den Augenblick, in dem Musik oder Sprache ausgeblendet werden, die Stimme des Sprechers gleichsam einen Vorhang beiseite schlägt und an die Rampe tritt, die Zeit ansagt und sein unheilverkündendes ›Achtung, Achtung, eine Luftlagemeldung‹ beginnt, oder im Drahtfunk der Dreiklang einsetzt und sich der Divisionsgefechtsstand Berlin meldet. Dann beginnt die Stadt, in der die Straßenbahnen gespenstisch durch ausgestorbene Häuserschluchten fahren und die S-Bahn sich wie eine Geisterbahn zwischen Ruinenreihen hindurchwindet, für eine Viertelstunde zu leben, dann hetzen die Menschen mit Koffern, Rucksäcken, Taschen, Decken, Bettrollen, Kinderwagen zu den Bunkern, stürzen die Treppen hinunter in die Luftschutzkeller, hocken sich auf schmale Wandbänke und lauschen mit angespannten Sinnen, ihr ganzer Körper wird zur Ohrmuschel, ihre Gehirne sind wie Selenzellen, die auf bestimmte Geräusche bestimmte Reaktionen auslösen. Unterdes sind hoch über der Erde die Flugzeuge, greifen Scheinwerferarme nach ihnen, donnern die Flakgeschütze in die Luft, schweben rote, gelbe, grüne Leuchtkaskaden zur Erde, fallen tod- und verderbenbringende Lasten, Konstruktionen aus Stahl und Pulver, herab und löschen alles aus, was sie berühren. Wenn die langgezogenen Schreie der Sirenen über der brennenden Stadt schallen, quellen die Menschen aus den Höhlen und Löchern, atmen auf, wieder einmal die Habe gerettet, das Leben bewahrt zu haben, für den Rest der Nacht der Vernichtung entronnen zu sein.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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