Findet Viivika - Jaak Paekivi - E-Book

Findet Viivika E-Book

Jaak Paekivi

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Beschreibung

Ein Brand verwüstet nachts einen Vorort bei Tallinn. In derselben Nacht trifft Kaari auf einer verlassenen Waldstraße auf ein kleines Mädchen namens Viivika. Nichtsahnend nimmt sie es mit und wird dadurch zum Spielball internationaler Organisationen, die sie ihrer gesamten Existensgrundlage berauben. Allmählich wird Kaari klar, dass Moskau in dem Mädchen eine wichtige Schlüsselfigur zur Durchsetzung seiner Interessen sieht, und ihre Verfolger kein Mittel scheuen, sie und das Kind zu finden. Den Ursprung dieser Geschichte bilden die Tallinner Unruhen im April 2007 mit ihren weitreichenden Folgen für das kleine Estland. Die Handlung beginnt zwölf Jahre später im selben Land, von Russland bedroht und unterwandert, durch das Wiederaufleben russischer Ansprüche auf dieses Territorium in allen Bereichen das von Melancholie und Depression geprägt ist. Ein politisch brisanter und hochspannender Spionagethriller.

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Jaak Paekivi

FINDET VIIVIKA

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-320-7

MOBI ISBN 978-3-95865-321-4

 

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Vorwort

Sämtliche Geschehnisse in diesem Buch sind bis zu einem verhängnisvollen Datum, das ich in meinem Roman als ›V-Tag‹ bezeichne, wahre Gegebenheiten und werden hier einschließlich der richtigen Namen und Bezeichnungen von Organisationen, offiziellen Abkürzungen und Abkommen unverfälscht und nach bestem Wissen wiedergegeben.

Der ›V-Tag‹ bedeutet in diesem Roman eine Gabelung, an der meine Geschichte einen anderen Weg einschlägt, als die wahre (insbesondere ›Moskaus Antwort‹ im Kapitel 12). Diese wurde somit im Rahmen der schriftstellerischen Freiheit in eigene Bahnen gelenkt und ist frei erfunden. Keinesfalls habe ich diesen Roman geschrieben, um irgendeine Person des privaten oder öffentlichen Lebens, eine Nation oder einen Staat zu diskreditieren und hoffe, niemand möge an meiner subjektiven Betrachtung der politischen und wirtschaftlichen Dinge sowie an der Darstellung einzelner Personen Anstoß nehmen. Alle Namen von Privatpersonen sind frei erfunden.

Inhalt

Vorwort

Inhalt

Prolog – Historie: Moskau, 9. Mai 2005, 10 Uhr Ortszeit

Kapitel 01 – 14 Jahre später

Kapitel 02 – mehrere Stunden später

Kapitel 03 – 13.30 Uhr Ortszeit

Kapitel 04 – Landung

Kapitel 05 – Flucht

Kapitel 06 – Am nächsten Tag

Kapitel 07 – Donnerstag - Katz und Maus

Kapitel 08 – Historie: Tallinn - Donnerstag, 26. April 2007

Kapitel 09 – 12 Jahre später

Kapitel 10 – Historie: Tallinn - Ende April 2007

Kapitel 11 – 12 Jahre später - Freitag - Helsinki

Kapitel 12 – »Moskaus Antwort« - Der V-Tag

Kapitel 13 – Auftakt in Rovaniemi

Kapitel 14– Erkenntnisse

Kapitel 15 – 12 Monate später – Hiiumaa

Epilog – Nachwort

Prolog

Moskau, 9. Mai 2005, 10 Uhr Ortszeit

Die prunkvolle Parade konnte beginnen. Siebentausend Soldaten in Sowjetarmeeuniformen aus dem Zweiten Weltkrieg und über zweitausend Kriegsveteranen nahmen am Marsch auf dem Roten Platz teil und feierten den sechzigsten Jahrestag des Weltkriegsendes. Um Terroranschlägen wie im letzten Jahr im Nordkaukasus und drei Jahre zuvor – auch jeweils am 9. Mai – vorzubeugen, sicherten rund zwanzigtausend Polizisten die Stadt. Präsident Putin hatte weder Kosten noch Mühen gescheut. Auf seiner Gästeliste standen über fünfzig Staats- und Regierungschefs, darunter der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und US-Präsident George W. Bush. Zu Putins Ärger fehlten allerdings zwei Staaten: Lettland und Estland. Die Amtsinhaber beider baltischen Staaten blieben der Zeremonie aus Protest fern. Sie konnten und wollten die russische Interpretation der Nachkriegsgeschichte nicht dulden, der zufolge sich die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland im Jahr 1945 freiwillig der Sowjetunion angeschlossen hätten.

Für die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga und für den estnischen Ministerpräsidenten Andrus Ansip war diese Version schlichtweg ein Hohn. Allein in Estland wurden zwischen 1949 und 1959 schätzungsweise neunzehntausend Esten von den Russen hingerichtet und weitere Zehntausende verschleppt. Wer konnte da noch von Freiwilligkeit sprechen und dies auch noch selbst glauben? Präsident Putin verbat sich jedoch jegliche Versuche ›baltischer Geschichtsumschreibung‹, nach der Russland die baltischen Staaten nach dem Sieg über Hitlerdeutschland zwangsweise annektiert hätte.

»Drei lange Jahre hat die Sowjetarmee fast im Alleingang gegen den Faschismus gekämpft, hier [im Baltikum] fanden die entscheidenden Schlachten statt. Hier wurde der Mythos von der Unbesiegbarkeit der Faschisten-Armee zerstört, bis 1945 der große Sieg kam.« Das war die russisch-heroische Version, die Putin an diesem Tag zum Ausdruck brachte.

Es standen sich zwei unterschiedliche Kulturen gegenüber und jede entschied das Recht für sich selbst. Die Balten sollten allerdings sehr bald spüren, wie gefährlich es war, den benachbarten russischen Bären zu reizen – mochten sie nun im Recht gewesen sein oder nicht. Der russische Bär hatte die Angewohnheit, auf eigenen, sehr traditionellen Wegen zu selbstdefinierter Gerechtigkeit zu kommen. Als Werkzeug diente ihm dafür eine große russische Minderheit im Baltikum, die er jederzeit über die Medien oder Mittelsmänner instrumentalisieren konnte – für die heutige russische Politik ein sehr nützliches Erbe Stalins.

Kapitel 1

14 Jahre später

Die schmale Mondsichel verschwand allmählich hinter den Wäldern, deren unebener Horizont sich nur noch schwer von der nunmehr schwarzen Himmelskuppel abhob.

Während Kaari ihren Wagen mit unangemessen hoher Geschwindigkeit über die einsame Waldstraße jagte, war sie wieder einmal in Gedanken versunken. Sie bemerkte kaum, dass ihr leichter Sommerschuh viel zu schwer auf dem Gaspedal lag.

Eine innere Stimme befahl ihr, auf die Uhr zu schauen. Sie gehorchte und stellte fest, dass es schon nach Mitternacht war. Angestrengt schaute sie nach vorn auf die dunkle Straße und blinzelte, als sie etwas Weißes in der Ferne auf der Straße zu erkennen glaubte, das dort normalerweise nicht hingehörte.

Endlich entschloss sich Kaari, das Tempo zu drosseln, bis sie ausmachen konnte, worum es sich bei diesem hellen Fleck handelte. Dieser näherte sich noch immer so schnell, dass sie sich schließlich für eine Vollbremsung entschied, um nach einem Ausweichmanöver neben dem weißen Ding endlich zum Stehen zu kommen. Kaari drehte ihren Kopf zur Seite, um zu sehen, was sie da gerade mit ihrem Wagen um ein Haar umgefahren hatte.

Ein kleines Kind.

Beide starrten sich durch das offene Beifahrerfenster fassungslos an. Das Mädchen trug lediglich ein weißes, aber schon arg verschmutztes Nachthemd. Plötzlich begann das Kind laut zu kreischen.

Kaari fuhr vor Schreck zusammen.

Nach einigen Augenblicken verebbte das Schreien zu einem wimmernden, mitleiderregenden Schluchzen. Der Schreck saß Kaari anfangs viel zu tief im Mark, als dass sie zu einer rationalen Handlung fähig gewesen wäre. Schließlich aber öffnete sie endlich die Fahrertür, um auszusteigen und nach dem Kind zu sehen. Die Innenbeleuchtung wurde durch das Öffnen der Tür automatisch eingeschaltet und beleuchtete die Szenerie, die sich neben ihrem Wagen abspielte, ein wenig.

Sie ging um ihren Geländewagen herum und begutachtete das Mädchen, das sie auf vielleicht sechs Jahre schätzte. Es war barfüßig, seine Füße waren kohlrabenschwarz und wirkten sehr beansprucht. Das weiße Kleid war – aus der Nähe betrachtet – aufgrund starker Verschmutzung nun doch nicht mehr so weiß, wie es aus der Ferne noch den Anschein gehabt hatte. Dessen Erscheinung war zwar erschütternd, erregte aber nicht den Eindruck, Opfer einer Gewalttat gewesen zu sein. Zumindest waren keine Blutspuren auf dem weißen Kleid und keine Wunden oder Prellungen auf der Haut sichtbar.

»Wer bist Du? Was machst Du hier mitten in der Nacht im Wald? Bist Du allein?« Kaari vermutete, dass dieses Mädchen schon seit Stunden durch den Wald herumirrte, und konnte sich dafür überhaupt keinen Grund erklären. Das Mädchen schien stark geschwitzt zu haben, während dessen ausgetrocknete und rissige Lippen bereits von Dehydration zeugten.

»Wir müssen hier weg«, schrie das Kind plötzlich völlig unvermittelt und riss die erschrockene Kaari aus ihren Gedanken.

»Wie bitte?«

»Wir müssen sofort hier weg«, schrie es wieder, dieses Mal noch etwas lauter. Obwohl das Mädchen immer hysterischer wurde, wirkte es doch irgendwie beängstigend abwesend und desorientiert.

Kaari sah sich hilfesuchend um, als könnte sie in dieser Einsamkeit irgendjemanden um Rat fragen. Trotz der warmen Spätsommernacht fröstelte sie leicht.

»Wir müssen hier weg«, wiederholte das Mädchen, diesmal im ruhigen, aber bestimmtem Tonfall.

»Ich bin einverstanden«, nickte Kaari. »Steig ein!«

Bevor sie die Beifahrertür vollständig öffnen konnte, war das Mädchen schon in den Innenraum gehuscht. Kaari bestieg ebenfalls das Fahrzeug und gab Gas.

Kein anderes Fahrzeug hatte sie in der Zwischenzeit überholt. Die Straße erschien wie ausgestorben und bis auf die Scheinwerferkegel des eigenen Wagens war es stockdunkel.

»Wie heißt du?«, fragte sie und drehte sich kurz zu diesem armen Geschöpf hin, sah aber aufgrund der Dunkelheit nur ihre Silhouette.

»Wie alt bist du?«

Wieder bekam sie keine Antwort.

Fieberhaft dachte sie nach, was sie nun für das Mädchen tun könnte, vor allem, was sie mit ihr tun sollte.

Gut zwanzig Kilometer westlich gab es eine etwas größere Ortschaft mit einem eigenen Polizeirevier. Allerdings war es in Zeiten wie diesen fraglich, wie weit und ob sie dort überhaupt Hilfe zu erwarten hätte. Ostwärts wiederum gab es nichts als Wald, der sich bis zum Binnensee erstreckte.

Aufgrund der späten Stunde beschloss sie, das Mädchen zu sich nach Hause zu nehmen, damit es erst einmal ruhen konnte. Immerhin war es nicht offensichtlich verletzt und schien keine dringende ärztliche Hilfe zu benötigen. So hoffte sie jedenfalls.

Sie blickte zum Beifahrersitz und fand das Mädchen bereits schlafend vor. Sich auf die monotone Fahrt konzentrierend, schaute sie wieder nach vorn und hielt diesmal strikt das Tempolimit von neunzig Stundenkilometern ein.

Das Dröhnen des Dieselmotors ließ sie jedoch schläfrig werden, und als sie spürte, wie der Schlaf sie zu übermannen drohte, schüttelte sie sich, als ließe sich damit die Müdigkeit einfach abschütteln.

Endlich erreichte sie den kleinen Sandweg, in den sie links abbog. Als sie zum Beifahrersitz blickte, fand sie das Mädchen noch immer schlafend vor. Geschickt lenkte sie ihren Geländewagen durch den dicken, trockenen Sand. Auf dem Weg vor ihr zeichneten sich noch grob die breiten Spuren ihres Autos ab, die dessen Reifen heute früh in den Sand gedrückt hatten.

Einige Minuten später erreichten sie und das Mädchen eine Lichtung, in deren Mitte ein landestypisches Holzhaus stand. Kaari parkte ihren Wagen direkt vor der Haustür. Ein Platz, auf dem sie irgendwann einmal groben Kies ausgestreut hatte, um ihn als Parkplatz zu markieren und Pflanzenwuchs darunter zu ersticken.

Beim Aussteigen und sanften Zuschlagen der Fahrertür hoffte sie, dass das Mädchen langsam erwachen würde. Doch nichts regte sich im Innenraum. Kaari öffnete die Beifahrertür und betrachtete nachdenklich das sich immer noch im Tiefschlaf befindliche junge Mädchen. Sie wollte es eigentlich nicht wecken, aber dann streckte sich das Mädchen, gähnte laut und öffnete seine Augen. Mit verwirrten Blicken schaute es um sich, dann sah es Kaari neben sich stehen. Diese lächelte die Kleine beruhigend an.

»Gehen wir in mein Haus und trinken eine Limonade?«

Das Mädchen schaute sie nur aus erschöpften Augen an, nickte dann aber schließlich und stieg aus dem Wagen. Ein Bewegungsmelder ließ den Bereich vor der Haustür großzügig ausleuchten, so dass Kaari diese ungehindert aufschließen konnte. Das Mädchen folgte ihr ins Haus.

»Setz Dich auf die Couch! Ich hol dir eine Limo.«

Kaari deutete auf eine Eckcouch mit geschmackvoll ausgesuchten Polsterfarben. Das Mädchen tat artig wie ihm geheißen und setzte sich schüchtern, dicht an eine Seitenlehne des Sofas gedrängt.

Als Kaari ihr schließlich ein gefülltes Glas hinstellte, beobachtete sie, wie das Kind gierig trank.

»Wir müssen deine Eltern suchen.«

Doch plötzlich begann das Mädchen wie vor Kälte, zu schlottern. Um es zu beruhigen, streckte Kaari ihm eine Hand entgegen.

»Komm, Schatz. Wir machen Dir jetzt erst mal eine warme Badewanne.«

Im Bad zog sich das Kind aus und hüpfte in die Wanne, während Kaari den nackten Körper möglichst unauffällig nach äußerlicher Gewalteinwirkung untersuchte. Sie konnte jedoch keine Symptome entdecken.

»Das ist eine schöne Kette. Woher hast du sie?« fragte Kaari und deutete dabei auf eine dünne Halskette mit einem etwas überdimensionierten Anhänger. Vorsichtig griff sie danach und las eine eingravierte Inschrift ab. Nur ein Wort. Ein Name: ›Viivika‹.

»Ist das dein Name?«

Das Mädchen schaute kurz auf, entgegnete aber nichts.

Kaari entschied, sie vorerst nicht mit weiteren Fragen zu martern und verließ das Badezimmer. Vorsichtshalber blieb sie jedoch in der Nähe.

Nach dem Bad stellte sie dem Mädchen einige Kleidungsstücke aus ihrer eigenen Garderobe zur Verfügung, während sie das verschmutzte Nachthemd in die Waschmaschine steckte. Die Sachen waren dem Kind natürlich um einiges zu groß, aber sie waren wenigstens sauber.

Kaari saß mit dem Mädchen im Wohnzimmer, als sie sich bemühte, behutsam etwas auf ihm herauszubekommen.

»Ist ›Viivika‹ dein Name?«

Es dauerte einige Augenblicke, bis sie eine Antwort bekam.

»Ich weiß es nicht.« Es errötete etwas. »Ich erinnere mich nicht an meinen Namen.«

»Dann weißt du auch nicht mehr, was vorhin passiert ist?«

»Ich weiß nur noch, dass ich allein auf der Straße gestanden habe und du mich mitgenommen hast. Ah, und irgendwie habe ich vorher Feuer gesehen.«

»Du hast Feuer gesehen?«

»Ja, im Traum. Oder vielleicht doch in Echt, ich weiß nicht. Irgendwie hat alles um mich herum gebrannt.«

»Gebrannt?«

Kaari schaute sie skeptisch an und war sich ziemlich sicher, nicht die geringste Spur von Brandgeruch im Nachthemd des Mädchens wahrgenommen zu haben.

»Wie heißen deine Eltern?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Aber weißt du denn, wo du wohnst?«

»Nein.«

»Nein ...«, wiederholte Kaari nachdenklich.

»Ich glaube, wir sollten jetzt schlafen gehen«, entschied sie schließlich. »Es ist schon nach drei Uhr morgens. Wir können morgen überlegen, was wir tun werden. Heute sind wir viel zu müde dazu. Was meinst du?«

Viivika nickte nur.

Kaari führte sie in ihr Arbeitszimmer und bereitete das Gästebett für das Kind vor. Sie zog das Rollo herunter, um dem frühen Tageslicht den Eintritt zu verwehren, schloss die Tür beim Hinausgehen bis auf einen kleinen Spalt und ging ins Wohnzimmer. Dort vertrieb die Morgendämmerung bereits die Dunkelheit.

Nun stand sie unschlüssig in der Mitte des Raumes, allein gelassen mit viel zu vielen, nach einer Lösung schreienden Gedanken. Sie ging ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett, konnte jedoch erst nach einer geraumen Zeit in einen flachen, alptraumhaften und sehr unruhigen Schlaf fallen.

Sonnenlicht versuchte, die dunklen Vorhänge zu durchdringen, hatte jedoch nur den bescheidenen Erfolg, das Schlafzimmer in ein trübes, gruftiges Licht zu tauchen. Benommen stand Kaari auf, ging zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite und kniff gequält die Augen zu, als sie von der Sonne geblendet wurde.

Bisher war sie überzeugt gewesen, dass das Mädchen noch schlafen würde – erschöpft, wie es in der vergangenen Nacht gewesen war. Dann verriet ihr ein Blick auf die Wanduhr, dass es schon fast Nachmittag war: 13.15 Uhr. Nun war sie nicht mehr so sicher, ob das Kind es wirklich so lange im Bett ausgehalten hatte.

Schnell verließ sie ihr Zimmer und hastete in Richtung Arbeitsraum, in dem Viivika übernachtet hatte. Leise öffnete sie die Tür, schlich herein und sah das Mädchen friedlich schlafen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen! Sorgen und Gedanken würde es heute im Laufe des Tages noch genug geben. Schließlich wandte sie sich wieder ab und erinnerte sich an die schon lange fertige Wäsche in der Waschmaschine.

Kaari öffnete die Terrassentür und brachte sie zum Trocknen hinaus. Ein strahlend blauer Himmel lächelte sie an und begrüßte sie mit üppigem und heißem Sonnenschein. Der an ihr großes Grundstück angrenzende Wald ließ seine Laubbäume im leichten Wind rascheln. Schon seit mehreren Jahren lebte sie hier einsam und genoss den Frieden.

Sie sog die würzig-frische Luft tief in ihre Lungenflügel und fühlte sich frei. Wie lange würde sie dieses Gefühl noch genießen können? Der feine Grad zwischen Einsamkeitsgenuss und Eremitendaseins mit fortschreitender Menschenscheu ist schnell überschritten, das wusste sie als intelligente Frau. Aber gegenwärtig war das nun mal ihr Leben.

Ohne eine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, wurde sie durch ein Geräusch aus dem Hausinneren aus ihren Gedanken vertrieben. Zurück durch die Terrassentür ins Wohnzimmer, sah sie das Mädchen seelenruhig auf der Couch sitzen, den Blick auf den Fernseher gerichtet, von finnischen Nachrichten berieselt.

»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich. »Verstehst du denn Finnisch?«

Viivika schüttelte den Kopf.

»Hier hast du die Fernbedienung. Du kannst ja ein bisschen herumzappen, wenn du magst.«

»Danke.« »Wie hast du geschlafen?«

»Ganz gut.«

»Und wie geht es dir jetzt?«

»Mir geht es gut, danke.«

»Erinnerst du dich an die letzte Nacht?«

Viivika hielt die Fernbedienung in der Hand und drückte sie von unten an ihr Kinn, um den Kopf darauf abzustützen.

»Ich weiß noch, dass ich in dein Auto gestiegen bin und du mich hierher gebracht hast. Dann habe ich bis jetzt geschlafen.«

»Aber warum du in der letzten Nacht allein im Wald warst, das weißt du nicht mehr?«

Das Mädchen schien ernsthaft angestrengt nachzudenken. Sein Gesicht nahm dabei einen verzweifelten Ausdruck an. »Ich kann mich einfach nicht mehr erinnern«, rief es und war plötzlich den Tränen nahe.

Kaari umarmte das arme Geschöpf in dem Versuch, ihm dadurch etwas Trost zu spenden.

»Ich denke, es ist nur vorübergehend. Deine Erinnerungen werden wiederkommen, da bin ich mir sicher. Soll ich uns erst mal ein schönes Frühstück machen? Was isst du denn gerne?«

»Hm, ich mag Toast mit Speck und Ei, dazu Spagetti.«

Kaari lachte. »Was? Mit Spagetti? Klingt ja furchtbar. Aber es ist schön, dass du dich wenigstens daran erinnern kannst«, bemerkte sie aufmunternd.

Viivika lächelte. Es war das erste Mal, dass Kaari sie überhaupt lächeln sah.

»Dann werde ich mal mein Bestes geben und dir ein leckeres Frühstück zaubern. Gib mir ein paar Minuten! Und Du kannst ruhig umschalten. Diese Nachrichten müssen dich ja schrecklich langweilen.«

Sie zog sich in den Küchenbereich zurück und suchte etwas Passendes für das gemeinsame Frühstück zusammen.

Ein flaues Gefühl im Magen entwickelte sich bei ihr bei der Zubereitung des Frühstücks, da sie noch nicht so recht wusste, wie es nach dem Frühstück weitergehen sollte. Das Mädchen war labil, durch irgendetwas immer noch im halben Schockzustand, und es hatte sein Gedächtnis verloren – ganz offensichtlich eine Schutzfunktion seiner Psyche zum Ausschalten schrecklicher Erlebnisse in den Erinnerungen.

Kaari war sich im Klaren, dass sie die Polizei rufen sollte, fürchtete sich aber vor Viivikas Reaktion daraufhin ... fürchtete sich aber auch instinktiv vor ausführenden Staatsgewalten, von der sie bisher noch niemals Hilfe zu erwarten hatte. Wahrscheinlich war eher Letzteres für ihren unruhigen Magen verantwortlich. Mittlerweile fühlte sie sich für das Mädchen ein wenig verantwortlich und würde es nicht fertigbringen, sein Schicksal in fremde, schmierige, korrupte Hände zu legen. Andererseits mussten Viivikas Eltern ausfindig gemacht werden, und dazu hatte sie hier nun mal nicht die Möglichkeiten.

Kaari kam mit zwei Tellern in den Händen in den Wohnzimmerbereich zurück und wollte mit Viivika auf dem Couchtisch essen, um es ein wenig gemütlich zu haben. Kaari hörte sie schon von weitem laut lachen und musste dabei selbst lächeln.

»Du hast wohl was Lustiges im Fernsehen gefunden, was?«

Viivika antwortete nicht, starrte stattdessen wie gebannt auf den Fernseher – sichtlich amüsiert. Kaari wandte den Blick zum Bildschirm und erwartete eine alte Comic-Konserve als Grund für Viivikas Heiterkeit. Stattdessen schaute sie auf ein melancholisches, unzufriedenes Gesicht mit ausdruckslosen Augen – die ganze Gestalt in Form eines lächerlichen Schaumstoffweißbrotes. Dieses sprechende Brot sah weder lustig aus noch passierte irgendetwas Komisches. Es stand einfach vor der Kamera und schlug mit jammernder Stimme einen kläglichen Weltuntergangston an. Kaari hörte genauer zu, verstand jedoch nichts, da es eine fremde Sprache war. In der oberen rechten Ecke des Bildschirmes war der Titel der Sendung geschrieben: ›Bernd, das Brot‹. Was immer es bedeuten mochte, aber es war Deutsch!

Kaari hatte nie Deutsch gelernt, aber das Erscheinungsbild dieser Sprache war ihr schon vertraut. Nun hörte sie auch, dass dieses Brot Deutsch sprach, obgleich sie den Sinn nicht verstand. Sie beobachtete das Mädchen, wie es auf der Couch saß und immer noch gebannt auf das Brot schaute – und wie es lachte.

Viivika verstand, was es sagte. So musste es sein, weil diese trostlose Brotfigur mit dunkler, männlicher Stimme nichts anderes tat als monoton scheinbar sein Leid zu klagen.

Sie dachte nach. Auch wenn Viivika bereits die Schule besuchen sollte, konnte sie noch kein Deutschunterricht als Schulfach belegen; und selbst wenn: So viel Deutsch hätte sie in dieser kurzen Zeit seit der Einschulung unmöglich lernen können, weil Viivika schlichtweg noch nicht alt genug war, um diese Sprache jahrelang gelernt und praktiziert zu haben.

Vielleicht amüsierte sie sich aber einfach nur über das Erscheinungsbild der Brotpuppe?

Kaari beobachtete Viivika, wie sie wieder lachte, als das Brot einen Satz beendete. Nein. Eindeutig verstand Viivika Deutsch.

»Das Frühstück ist fertig, Kleines.«

Nun wandte sie ihren Blick erstmals vom Fernseher. »Oh, es duftet wirklich lecker.«

Kaari lächelte. »Lass es dir schmecken.«

Beim Essen fragte sie: »Du verstehst Deutsch?«

Viivika schaute sie an, und schien nachzudenken. Ein Mädchen, wohl gerade in diesem Augenblick erst im Klaren darüber, mit zwei verschiedenen Sprachen konfrontiert worden zu sein. »Äh, ja, ich weiß nicht. Ist das Deutsch?« Viivika runzelte etwas hilflos ihre Stirn.

»Ja, ist es. Vielleicht kommt dein Papa oder deine Mama aus Deutschland. Vielleicht wirst du dich ja bald wieder daran erinnern.«

»Vielleicht.«

»Ich zeige dir dann mal meinen Garten, wenn du magst, Viivika.«

Diese war gerade dabei, sich die kurze Hose hochzuziehen, hielt dabei aber plötzlich inne.

»Ja.« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Ja, ich heiße wirklich Viivika. Ich erinnere mich wieder.« Nun lächelte sie.

Kaari erwiderte ihr Lächeln, erfreut über Viivikas wiedergekehrte Erinnerung

»Vielleicht fällt dir sogar bald wieder ein, wo du wohnst und wer deine Eltern sind. Aber alles zu seiner Zeit. Gehen wir erst mal an die Luft.«

Die Spätsommersonne flammte auf ihre Köpfe. Obwohl das Grundstück mit viertausend Quadratmetern für eine alleinstehende Frau viel zu groß war, legte sie großen Wert auf einen gepflegten Garten. Sogar für einige Gemüsebeete war Zeit und erst recht genügend Platz vorhanden. Drei Seiten des Grundstückes waren durch einen dichten Laubwald eingegrenzt, die vierte Seite verlief parallel zum staubigen Weg, auf dem sie in der letzten Nacht angekommen waren. Dieser endete hier und war eigens für dieses Haus angelegt worden.

Viivika genoss die heißen Sonnenstrahlen sichtlich und begeisterte sich für eine vom Weg sich vorsichtig nähernde Katze.

»Sie spaziert hier öfter mal vorbei. Ich habe sie ›Muska‹ getauft. Ich weiß gar nicht, wem sie oder ob sie überhaupt jemandem gehört. Aber ich habe extra Futter gekauft, das ich ihr immer gebe, wenn sie mich besucht.«

Viivika horchte erfreut auf. »Darf ich sie füttern?«

»Natürlich. Ich hole es aus der Küche. Du musst ihr etwas Zeit geben, dann kommt sie von selbst zu dir.«

Auf dem Weg durch das Wohnzimmer schaltete sie den noch immer laufenden Fernseher auf einen regionalen Nachrichtenkanal, über den sie sich mit lokalen Neuigkeiten aus ihrem Land informierte. Zurzeit liefen Sportnachrichten, aber im unteren Bereich war ein rotes Band mit den aktuellen Neuigkeiten in Laufschrift eingeblendet. Diese ignorierte sie jedoch zunächst, um das Trockenfutter aus dem Küchenschrank zu holen, das sie schließlich draußen dem Mädchen überreichte.

Die Katze hatte sich inzwischen vorsichtig genähert. Als sie den Pappkarton des Trockenfutters erkannte, miaute sie laut und kam mit kleinen schnellen Schritten angetrippelt. Viivika nahm ein paar Stücke des Futters heraus und ließ die Katze aus ihrer Hand fressen.

»Wie schön sie ist. Ihr muss doch ganz warm sein in der Hitze. Sie hat so ein dickes Fell.«

»Jetzt ist sie zufrieden und hat in dir eine neue Freundin gefunden. Sicherlich kannst du sie jetzt eine ganze Weile streicheln.«

Tatsächlich ließ sich Muska auf ihr dickes Fell plumpsen und legte sich erwartungsvoll der kommenden Streicheleinheiten entgegen auf die Seite. Während Viivika sie in langen Zügen streichelte, schnurrte das Tier und schloss die Augen dabei.

Kaari ließ die beiden eine Weile ungestört und ging zurück in die Küche. Im Nachrichtenkanal hörte sie die ihr vertraute Stimme des Nachrichtensprechers, die sie nun aufhorchen und schließlich erstarren ließ.

»... erschwerten die sommerlichen Temperaturen die großflächigen Löscharbeiten. Nach Angaben der Feuerwehr sei das Feuer aber weitgehend unter Kontrolle.«

Dann folgte ein Interview mit dem Feuerwehrsprecher – mit wichtiger Miene vor der Kamera aufgebaut. »Die Ermittlungen können bald aufgenommen werden. Das Feuer ist unter Kontrolle. Es müssen aber noch zahlreiche Glutherde heruntergekühlt werden. Dafür sind Spezialisten mit Wärmedetektoren im Einsatz, um diese ausfindig zu machen. Die Zahl der Opfer ist noch nicht abzusehen. Wir müssen aber leider davon ausgehen, dass deren Zahl beträchtlich ist, da das Feuer zur Nachtzeit ausgebrochen war, also mitten in der Schlafenszeit. Unsere Leute sind bereits auf der Suche nach Überlebenden und werden weiterhin ihr Bestes tun.«

Als die darauf folgenden Filmaufnahmen einen Eindruck vom Geschehen vermittelten, schauderte es Kaari. Eine weite Fläche verwüsteten menschlichen Lebensraumes bot sich ihr dar, einem Kriegsschauplatz gleichend. Vermutlich eine der vielen neuen Vorstadtsiedlungen. Vielleicht sogar mehrere auf einmal, wenn man die Luftaufnahmen betrachtete. Eine fürchterliche Katastrophe.

›Ich habe Feuer gesehen. Irgendwie hat alles um mich herum gebrannt‹, schallte es ihr plötzlich durch den Kopf. Das waren Viivikas Worte kurz vor dem Schlafengehen gewesen! ›Im Traum oder vielleicht doch in Echt. Ich weiß es nicht genau.‹

Als der Reporter im Hubschrauber den Brandort bekanntgab, überraschte es Kaari kaum noch, dass dieser keine zwanzig Kilometer von ihrem Haus entfernt war. Viivika war also vor dem Feuer geflüchtet. Das ergab Sinn. Oder doch nicht? Wer diese Verwüstung sah, konnte sich nur schwer vorstellen, dass sich ausgerechnet ein kleines Mädchen aus eigenen Stücken aus dieser Katastrophe retten konnte. Aber irgendwie hatte sie es ja geschafft. Vielleicht nur ganz knapp. Glück gehabt!

Aber eine vertraute eigene Stimme im Kopf wisperte ihr zu, dass Viivika nicht im Geringsten nach Rauch gerochen hatte.

Nachdenklich beobachtete sie das Mädchen durch die Terrassentür. Noch immer streichelte es die dankbare Katze. Gegen Mitternacht hatte sie das Kind von der Straße aufgegabelt. Es musste schon mindestens eine Stunde vorher umhergeirrt sein – womöglich noch viel länger. Der Sprecher hatte die vermutlich hohe Zahl der Opfer betont, da das Feuer in der Nachtzeit ausgebrochen war. Hätte Viivika irgendetwas mit dem Feuer zu tun gehabt, so musste dieses noch vor 23 Uhr ausgebrochen sein, wenn man den weiten Weg durch den Wald und die Antreffzeit von Viivika berücksichtigte. Schliefen so viele Menschen schon vor 23 Uhr, wie es der Nachrichtensprecher den Zuschauern suggeriert hatte? Kaari kam der Gedanke, dass diese ganze Feuergeschichte vielleicht doch nur Zufall war und es keinen Zusammenhang mit Viivika gab.

›Irgendwie hat alles um mich herum gebrannt.‹ Wieder diese verdammte Stimme in ihrem Kopf! Sie ließ den Fernseher eingeschaltet und ging hinaus in den Garten.

»Viivika?«

Die Katze lag inzwischen auf dem Rücken, die Vorderpfoten weit nach vorn ausgestreckt, und ließ sich von dem Mädchen ihren pelzigen Bauch kraulen.

»Ja?«

»Gestern Nacht hast du mir erzählt, dass du von Feuer geträumt hättest. Erinnerst du dich noch?«

»Ach, ja, ich weiß es noch. Manchmal träume ich wirklich ganz schreckliche Dinge.«

»Wäre es möglich, dass es wirklich gebrannt hat und du es vielleicht gar nicht geträumt hast?«

Viivika schaute sie aus ihren großen blauen Augen an und runzelte sowohl nachdenklich als auch ein wenig ängstlich die Stirn. »Ich weiß nicht. Manchmal fühlen sich meine Träume so echt an, dass ich danach gar nicht mehr weiß, ob es wirklich echt war oder nur im Traum.«

»Ist dir jetzt wieder etwas mehr eingefallen? Wer deine Eltern sind oder warum du durch den Wald gelaufen bist?«

»Nein, ich weiß es immer noch nicht.« Sehnsüchtig schaute sie wieder zur schnurrenden Katze.

»Also gut. Wir müssen uns überlegen, was wir jetzt tun, Viivika. Vor allem, wie wir deine Eltern wiederfinden. Sie werden sich gerade große Sorgen um dich machen.«

»Rufst du jetzt die Polizei und ich muss dann mit ihnen gehen?«

Kaari war erstaunt, dass sich dieses kleine Kind eher um die Einmischung der Polizei sorgt als um den Verbleib ihrer Eltern. »Hast du denn Angst vor der Polizei?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß ja nicht, wohin sie mich dann bringen.«

»Sie können dir helfen, deine Eltern zu finden.«

»Und wenn sie meine Eltern nicht finden? Komme ich dann in ein Heim?«

»Natürlich finden sie deine Eltern.« Sie hatte plötzlich großes Mitleid mit dem armen Geschöpf und hockte sich neben das Mädchen und streichelte ihm durch sein langes Haar.

Viivika schwieg.

»Hey, ich lass dich schon nicht einfach allein, okay? Ich werde bei dir bleiben, bis wir deine Eltern gefunden haben. Das verspreche ich dir.«

»Okay. Aber ...« Sie dachte nach.

Kaari ließ ihr Zeit.

»Ich ... ich ... erinnere mich wieder an etwas. Wir wohnen in einem großen Haus. Ein blaues Haus. Und es gibt dort viele Häuser. Ich weiß es wieder.«

»Das ist schön, wenn deine Erinnerungen so schnell wiederkommen. Sicherlich wird es noch eine ganze Weile dauern, bis dir alles wieder einfällt. Lass dir ruhig Zeit, Viivika. Niemand macht dir Druck«, versicherte sie ihr mit sanfter Stimme.

Plötzlich war ihr klar, dass sie es nicht mehr über das Herz bringen würde, Viivika der Polizei zu übergeben und sie einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Zumindest nicht, solange es noch andere Optionen gab.

»Du wirst bis morgen bei mir bleiben«, entschied sie und gestand sich ein, dass sie sich in diesem Moment mindestens genauso freute wie das Mädchen, einfach weil sie seine Gesellschaft mochte. Trotzdem war sie sich im Klaren, dass sie Entscheidungen, die Viivika betrafen, objektiv zu treffen hatte – zum Wohle des Kindes und nicht zu ihrem eigenen Wohle.

Sie umarmte das Mädchen und ging ins Wohnzimmer, um Näheres über die Feuerkatastrophe zu erfahren. Dabei gab es weitere Spekulationen über die Brandursache und Opferzahlen, neue Theorien wurden hervorgebracht – eine wilder und verschwörerischer als die andere.

Ein jämmerlich aussehender Mann mit halb zerrissener Kleidung und rußigem Gesicht erschien ungebeten im Blickfeld der Fernsehkamera und konnte gerade noch »Das waren wieder die Russen. Ich schwör's Euch. Die machen so lange, bis sie unser Land haben. Erst dann geben sie Ruhe!« kreischen, bevor er eilig wieder entfernt wurde. Wie nach jedem Unglück und jeder Katastrophe in diesem Land geriet Moskau automatisch unter Generalverdacht.

Aber selbst die Hardliner unter den Spekulanten glaubten nicht so recht an diese Annahme. Einer von ihnen äußerte vor der Kamera: »Davon hätten die Russen nichts. Einfach einen Vorort niederbrennen, das ist nicht ihr Stil. Wenn sie Lust auf Provokationen hätten, würden sie mit Flugzeugen kommen und Kulturgüter zerstören oder eben andere Sachen, auf die wir stolz sind und die uns wichtig sind. Anschließend würden sie sich für dieses ›Missverständnis‹ entschuldigen. Nein, das hier muss eine andere Ursache haben!«

Kaari stimmte ihm zu. Allerdings glaubte sie auch nicht an die anhaltend trockene Witterung als Ursache, wie es eine andere aufgeregte Person annahm. Das Feuer brach nachts aus, und soweit sie es in der Kameraführung erkennen konnte, war zwar die Ortschaft völlig niedergebrannt, aber die angrenzenden Wälder konnten relativ schnell gelöscht werden, ohne dass ein größerer Flächenwaldbrand entstand. Tatsächlich wirkte es, als wäre das Feuer genau in der Mitte der Siedlung entfacht worden – von wem oder was auch immer.

Ein Passant zauberte bereits einen Tatverdächtigen aus dem Ärmel: einen wohlbekannten Umweltschützer, der auf diese Art gegen die Zersiedlung der Landschaft protestieren wollte, um den wenigen noch verbliebenen Bären ihre Lebensräume zu erhalten. Taktisch klug hätte er sich die Uhrzeit ausgesucht, so der Umweltschützer. Zwischen drei und vier Uhr wäre genau der richtige Zeitpunkt, um unentdeckt Straftatbestände solchen Ausmaßes zu erfüllen.

›Zwischen drei und vier Uhr!‹ Kaari stutzte und rief mit der Fernbedienung die Online-Seite des Senders auf. Auch dort wurde von einer angenommenen Tatzeit von kurz vor halb vier Uhr morgens berichtet.

Dann war das Feuer also definitiv nicht der Grund für Viivikas nächtlichen Waldspaziergang. Um halb vier Uhr hatte sie hier schon längst geschlafen!

Sie fühlte sich etwas erleichtert, weil ein ganz kleiner Teil in ihr bisher die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, Viivika könnte das Feuer selbst gelegt haben. Dieses hatte sie ja selbst immerhin erwähnt, auch das sie rechtzeitig fort gerannt war und demzufolge nicht nach Rauch gerochen hatte – theoretisch alles Indizien einer Brandstiftung. Keine Flucht vor einem Feuer, sondern Flucht vor der eigenen Tat. Nein, das war nun ausgeschlossen! Vielleicht würde das Mädchen sein Gedächtnis in den nächsten Stunden wiederfinden und sich erinnern, wovor es dann sonst auf der Flucht gewesen war.

Den Rest des Tages verbrachte Kaari mit ihrer neuen Mitbewohnerin und genoss es, sich mit ihr zu beschäftigen. Viivika ließ ein heiteres und lebenslustiges Kind in ihrem sympathischen Wesen erkennen, wenn sie auch bis zum Abend ihr Gedächtnis nicht wiedererlangte. Von dieser Sorge überschattet machte sie sich bettfertig und legte sich wieder auf das Gästebett, voller Angst vor dem kommenden Tag. Kaari beruhigte sie so gut sie konnte. »Mach dir keine unnötigen Sorgen! Ich bleibe auf jeden Fall bei dir, mein Kind.«

»Ja.«

»Wir werden morgen zur Polizeiwache fahren und uns dort erkundigen, was wir tun können. Ich werde dich dort auf keinen Fall allein lassen. Du bleibst so lange bei mir, bis wir deine Eltern gefunden haben. Das verspreche ich dir.«

Viivika Miene entspannte sich nun etwas. »Ehrenwort?«

»Ehrenwort.« Sie hielt zwei Finger hoch, um die Ernsthaftigkeit ihrer Worte zu unterstreichen.

»Ich weiß überhaupt nicht, wie du eigentlich heißt.« Viivika kratzte sich am Kopf, wie um ihre Verwunderung über diese Unkenntnis zu unterstreichen.

»Du kannst mich Kaari nennen – wie alle meine Freunde.«

»Dann sind wir jetzt also Freunde«, stellte Viivika selig fest.

Kaari nickte lächelnd. »Das sind wir. Schlaf jetzt! Gute Nacht, Viivika.«

»Gute Nacht, Kaari.«

Schmunzelnd verließ Kaari das Zimmer und zog die Tür ran.

In dieser Nacht erwachte sie von einem Geräusch außerhalb ihres Schlafzimmers. Erschrocken fuhr sie in ihrem Bett hoch und hörte, wie Viivika laut und erbärmlich schluchzte. Schnell lief sie zu ihrem Bett und fand das Mädchen zwar schlafend, aber heftig zuckend und schwitzend vor, als hätte es schlimme Alpträume.

Sie berührte Viivika sanft an der Schulter. »Viivika.«

Das Mädchen erwachte und blinzelte die Frau verwirrt an.

»Du hattest einen schlimmen Traum.«

»Ja«, schluchzte sie. »Ganz viele böse Männer haben mich gesucht und sind dann hinter mir hergerannt.« Sie zitterte.

Kaari schloss sie in ihre Arme und beruhigte sie. »Es ist alles gut – nur ein Traum.«

Sie küsste sie auf ihr verschwitztes Haar. »Möchtest du lieber bei mir im Bett schlafen?«

Viivika nickte heftig.

»Dann komm mit!«

Während sie nebeneinander im Bett lagen und Viivika schon längst wieder eingeschlafen war, lag Kaari noch eine ganze Weile wach und musste nachdenken.

Früh am Morgen begann es leicht zu regnen, und als sie und das Mädchen beinahe gleichzeitig aufwachten, fiel der Regen bereits hörbar auf den Gartenboden und prasselte gegen das Schlafzimmerfenster.

Beim gemeinsamen Frühstück durchstöberte Kaari die regionalen Nachrichtenkanäle nach Neuigkeiten. Der Großbrand von vorletzter Nacht war zwar nicht mehr das Thema Nummer eins, aber immer noch gab es wilde Verschwörungstheorien und gemeine Verdächtigungen. Letztendlich tappte die örtliche Polizei nach Aussage eines Nachrichtensprechers aber noch völlig im Dunkeln.

»Ist dir noch irgendetwas eingefallen?«, fragte sie das Mädchen.

Viivika schüttelte mit vollen Backen den Kopf.

»Nach dem Frühstück putzt du dir schön die Zähne und dann machen wir uns auf den Weg zur Polizei. Die können uns bestimmt weiterhelfen.«

»Aber ich bleibe nicht dort!«

»Nein, das habe ich dir doch versprochen.« Insgeheim machte sie sich große Sorgen, ob sich dieses Versprechen später auch wirklich einhalten ließe.

Nach dem Frühstück trafen sie ihre Vorbereitungen. Kaari packte einen Rucksack mit etwas Proviant und Wechselwäsche ein, falls der Tag länger dauern sollte, als sie annahm, während Viivika sich im Bad fertigmachte. Inzwischen zeigte die Wohnzimmeruhr kurz nach elf Uhr an.

Als Viivika sich gerade die Zähne putzte, ertönte ein lautes Schrillen im gesamten Haus, das sie heftig zusammenzucken ließ: Kaaris selbst angefertigte Alarmanlage. Abgesehen von einem Braunbären, der vor einigen Monaten dort vorbeilief und diese Alarmanlage ausgelöst hatte, war von ihr bisher noch nie ein Alarm ausgegangen.

Kaari war nicht weniger vor Schreck zusammengezuckt als Viivika und eilte ins Arbeitszimmer.

Die Alarmanlage hatte sie vor einiger Zeit per Funksignal mit einem Bewegungssensor verbunden, den sie am Beginn des Sandweges an zwei gegenüberliegenden Bäumen montiert hatte. Die Bewegungsmelder waren so programmiert, dass nur größere Ereignisse registriert wurden, wie zum Beispiel das Einfahren eines Autos von der Hauptstraße in den Sandweg. Kaari wollte in dieser Einsamkeit vor unangekündigten Menschen gewarnt werden, die ihren kleinen Waldweg benutzten, auf dem sich normalerweise niemand zufällig befand und der einzig von ihr selbst befahren wurde.

Mit einem äußerst unguten Gefühl schaute sie auf ihren Tabletcomputer. Ununterbrochen in Betrieb, um die Funktion des Warnsystems zu gewährleisten, war auf dem Rechner eine Satellitenkarte mit permanenter Internetverbindung geöffnet, die den Sandweg aus dem Weltraum in recht vernünftiger Qualität und in Echtzeit darstellte und jedes größere Detail enthüllte. Dichte Laubbäume verhinderten den größten Teil der Sicht auf den Sandweg, jedoch konnte sie die Bewegung von zwei oder drei hintereinander fahrenden Fahrzeugen wahrnehmen. Aufgrund einer grünfarbenen Lackierung hoben sich diese nur sehr schwer vom Laubwerk der Bäume ab und waren daher auf dem Bildschirm schwer auszumachen. Dennoch glaubte Kaari zu erkennen, dass es sich um Militärfahrzeuge handelte. Ihr Verstand raste und nach nur wenigen Sekunden hatte sie bereits eine Entscheidung getroffen. Energisch klemmte sie sich das Tablet unter den Arm und rief Viivika.

»Viivika. Zieh dich an! Wir müssen hier schnell weg.«

Viivika hatte ihre hastigen Schritte wohl bereits vernommen und war inzwischen verwundert aus dem Badezimmer gekommen. Noch immer die Zahnbürste im Mund schaute das kleine Mädchen sie fragend an.

»Wir haben nur ein paar Minuten. Wir müssen ganz schnell weg. Zieh dich an, Schatz!«

»Was ist denn los?«

»Irgendjemand kommt. Ich weiß nicht, wer. Mach jetzt!«

Fieberhaft überlegte sie, was sie für unterwegs brauchen könnte und schätzte das Eintreffen der sich annähernden Fahrzeuge auf die nächsten sechs Minuten.

Kaari rannte von Zimmer zu Zimmer, nahm einen großen Rucksack, steckte einige Dinge des täglichen Bedarfs sowie ihr Mobiltelefon hinein, griff nach den Autoschlüsseln und schaute in Viivikas vor Angst weit geöffnete Augen. »Steig ins Auto! Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Während Viivika das Haus verließ und ins regnerische Freie trat, dachte sie noch an zwei Jacken für das Mädchen und sich selbst. Geistesgegenwärtig griff sie nochmals in den Rucksack und holte das Mobiltelefon wieder heraus, um es auszuschalten. Wenn diese Unbekannten schon den versteckten Sandweg kannten, dann bestand auch die Gefahr, dass sie ihre Telefonnummer wussten, mit deren Hilfe sie eine Funknetzortung vornehmen konnten. Da ihr Mobiltelefon nun ausgeschaltet war, konnte es keine verräterischen Signale mehr von sich geben.

Sie schloss die Haustür und verriegelte sie zweimal, um den Besuchern nicht das Gefühl zu vermitteln, sie hätten das Haus fluchtartig verlassen. Somit erhoffte sie sich einen kleinen Zeitvorsprung.

Viivika patschte hinter ihr über das nasse Gras zum Wagen und sprang auf den Beifahrersitz. Kaari warf die beiden Jacken und ihren Rucksack nach hinten in den Fond, rannte um den Wagen herum und nahm eilig auf dem Fahrersitz Platz. Ihre vom Regenwasser nassen Hände zitterten, als sie versuchte, den Zündschlüssel in das Schloss zu stecken.

»Wohin fahren wir?«, fragte Viivika.

»Von dort kommen gleich Fahrzeuge, aber ich kenne einen Weg durch den Wald, den bin ich schon einmal entlang gelaufen«, antwortete sie und startete dabei den Motor, legte den Rückwärtsgang ein und stieß den Nissan in ihrer Aufregung etwas zu heftig zurück, so dass das Heck beinahe gegen den Grundstückszaun gestoßen wäre.

Mit wild pochendem Herzen wendete sie den Wagen auf ihrem Grundstück und fuhr auf das Ende der Sandstraße zu. Dort ließen zwei hohe Kiefern einen so großen Abstand zueinander, dass der Wagen in der Breite gerade noch hindurchpasste. Von weitem würde ein Unbeteiligter niemals auf die Idee kommen, dass ein Auto durch diese schmale Gasse entkommen konnte.

Tatsächlich hatte sie, nachdem sie in das Haus eingezogen war, nach einer Fluchtmöglichkeit ›für den Fall der Fälle‹ gesucht und sich für diesen Weg zwischen den beiden Kiefern entschieden. Sie war erleichtert gewesen, als sie versucht hatte, mit dem Wagen hindurch zu gelangen und es wider Erwarten sogar funktionierte – wenn auch nur knapp.

Nun saß Kaari mit dem Mädchen in ihrem Geländewagen und konnte von ihrer einstigen Voraussicht profitieren. Sie ließ die beiden Bäume unbeschadet hinter sich und tastete sich mit ihrem Wagen vorsichtig durch den verregneten Wald.

Die Reifen schmatzten im nassen Moos, dicke Regentropfen ließen das Dach wie ratternde Maschinengewehrsalven ertönen. Kaari musste sich unheimlich zusammenreißen, um nicht die Nerven zu verlieren und sich hundertprozentig auf die Fahrt konzentrieren zu können. Sie schätzte, dass inzwischen fünf bis sechs Minuten seit dem Ertönen der Alarmanlage verstrichen sein mussten und wagte einen Blick in den Rückspiegel. Mittlerweile war die Entfernung zwischen ihnen und dem Haus so groß geworden, dass sich zu viele Bäume in den Weg gestellt hatten, um etwas erkennen zu können. Trotzdem bildete sie sich ein, weit hinter sich Scheinwerferlicht zu sehen.

Sie war etwas besorgt wegen ihrer Rücklichter, die sich nicht ausschalten ließen, ohne den Motor abzustellen. Dieses rotleuchtende Doppellicht war vermutlich noch in ziemlich weiter Entfernung auffällig genug, um die Aufmerksamkeit der Unbekannten auf sich zu lenken. Aber sie dachte sich, dass diese Eindringlinge – wer auch immer sie sein mochten – wohl nicht damit rechneten, dass sie überhaupt auf der Flucht war. Außerdem regnete es mittlerweile so stark, dass die Sicht zu ihrem Gunsten erheblich beeinträchtigt wurde.

Unbeirrt fuhr sie weiter und tastete sich und ihren Geländewagen durch das weiche Moos. Einmal lag ein umgestürzter Baum im Weg, der jedoch dünn genug war, um von den breiten Reifen des Nissans erfasst und erklommen werden zu können. Halb schlitternd bewältigte der Wagen somit das erste anspruchsvolle Hindernis.

Das zweite war ein großer verfaulter Baumstumpf in der Mitte des Weges, umgeben von Moos und weicher Erde. Durch den Regen war die umliegende Erde völlig aufgeweicht, so dass Kaari befürchten musste, der Boden würde so weit nachgeben, dass der Baumstumpf der Ölwanne oder anderen wichtigen Teilen des Fahrzeugunterbaus gefährlich nahekommen und diese womöglich noch zerstören könnte.

Die geschickte Fahrerin entschied sich daraufhin, ihr Auto so weit wie möglich nach links zu lenken, klappte dabei den linken Außenspiegel ein, so dass zwischen diesem und dem nahestehenden Baum nur noch wenige Millimeter Spielraum war. Es schien zu funktionieren. Der Baumstumpf befand sich nun etwa in Höhe des rechten Vorderreifens, sodass sie ihn einfach überfahren konnte, ohne sich den Unterboden aufzureißen. Sie gab Gas, aber der Reifen schlitterte nur singend auf dem nassen Holz. Es regnete durch das Fahrerfenster, das immer noch geöffnet war, nachdem sie den Spiegel eingeklappt hatte.

»Scheiße«, rief sie, um gleich daraufhin etwas beschämt zu Viivika zu schauen, die immer noch mit großen Augen auf dem Beifahrersitz saß und angstvoll nach vorn starrte.

Um etwas Anlauf zu nehmen, fuhr sie einen Meter zurück und gab im Vorwärtsgang wieder kräftig Gas. Als der Reifen in schneller Umdrehung die nasse Baumrinde berührte, schlitterte er zwar wieder, durch den Schwung schaffte er es diesmal aber erfolgreich über den Baumstumpf hinweg. Dafür krachte es in diesem Moment neben Kaaris linkem Ohr und plötzlich befand sich der abgerissene Außenspiegel in ihrer Armbeuge. Durch die Erhebung der rechten Fahrzeughälfte war die linke Seite naturgemäß in Richtung Baum gerutscht, der ohnehin nur wenige Millimeter entfernt war. Daran hatte sie nicht gedacht! In dem Versuch, sich davon nicht beirren zu lassen, nahm sie den Außenspiegel, legte ihn auf den Fahrzeugboden und schloss endlich per Knopfdruck die Fensterscheibe. Schließlich musste sie ja die Nerven behalten! Sehr langsam ließ sie den Vorderreifen vom Baumstumpf wieder hinabgleiten und behandelte das Hinterrad mit der gleichen Vorsicht.

Kaari war nie die gesamte Waldstrecke bis zur nächsten Straße abgelaufen. Somit konnte sie nicht wissen, ob es überhaupt möglich war, quer durch den Wald bis zu einer Straße zu gelangen.

Insgesamt vier Mal landete sie in einer Sackgasse – aus zu eng zusammenstehenden Bäumen gebildet – und musste manchmal mehrere hundert Meter rückwärts wieder herausfahren. Nach einer halben Stunde Fahrt quer durch den Wald, fühlte sie sich restlos erschöpft. Sie kam sich wie in einem Labyrinth gefangen vor, und sehr weit gekommen waren sie auch noch nicht. Viivika hatte zwar die ganze Zeit brav auf dem Beifahrersitz gesessen, wirkte aber sehr besorgt und angespannt.

Tapfer fuhr Kaari weiter.

Nach einer weiteren halben Stunde sah sie links von sich in der Ferne ein in gleicher Richtung fahrendes Auto. Eine Straße. Sie hatten es also fast geschafft!

In Schlangenlinien tastete sie sich durch den lichten Kiefernwald weiter, um einen Pfad zur Straße zu finden. Sie schien mit Viivika noch eine halbe Ewigkeit parallel zur heißersehnten Straße zu fahren, bis sie völlig überraschend auf einen Forstweg trafen, der direkt nach links zu der Straße führte und dort einmündete. Erleichtert ließ Kaari die dicken Reifen ihres Nissans aus dem Moos wühlen, um sie endlich festeren Grund greifen zu lassen. Ein unglaublich befriedigendes Gefühl beschlich sie auf der nun ruhigen Fahrt über den Forstweg bis zur asphaltierten Straße. Ihr gutes Orientierungsvermögen verhalf ihr zu der Einschätzung, dass es sich hier nur um dieselbe Landstraße handeln konnte, die zu ihrem Sandweg führte. Nach links abzubiegen bedeutete, wieder direkt zu ihrem Haus zu fahren, aber darauf konnte sie gut und gern verzichten.

Also bog sie rechts ab. Sie beschleunigte rasch und folgte der einzigen Straße weit und breit in Richtung Nordwesten.

Viivika hatte die ganze Zeit über nicht ein einziges Wort geäußert, nun begann sie jedoch ein Gespräch aus eigener Initiative.

»Wieso wusstest du, dass jemand kommt? Kam denn überhaupt jemand?«

»Ja, es kam jemand«, antwortete sie. »Ich habe weit vorn am Weg eine Alarmanlage aufgebaut, die sofort schrillt, wenn Fahrzeuge in meine Straße fahren.«

»Vielleicht war es nur ein Freund von dir.«

»Nein, ich konnte auf meinem Computer drei große Fahrzeuge von Soldaten erkennen. Außerdem wissen meine Freunde von der Alarmanlage und melden sich vor ihrem Eintreffen bei mir an.«

»Wieso geht die Alarmanlage nicht an, wenn du selbst mit deinem Auto durchfährst?«

Etwas erstaunt über den Scharfsinn und die Geistesgegenwärtigkeit des kleinen Mädchens, deutete sie auf ihre Hosentasche. »Hier drin habe ich eine Fernbedienung, mit der ich die Alarmanlage vor dem Durchfahren ausschalten kann.«

Viivika dachte eine Weile nach. »Wenn es Soldaten sind ... vielleicht haben sie nur eine Frage. Sie müssen uns ja nicht gleich Böses wollen.«

Kaari lächelte dünn. »Was könnte das denn für eine Frage sein? Da hätten sie auch nur eines ihrer Fahrzeuge zu mir schicken können; und vielleicht auch ein kleineres.«

Viivika schaute die Fahrerin von der Seite an. »Hast du etwas Falsches getan?«

»Ich? Nein. Nicht, dass ich wüsste.«

»Aber was wollen die dann von dir?«

»Das weiß ich nicht, mein Engel. Aber ich wollte auch nicht zu Hause warten, um es herauszufinden. Die heutigen Zeiten sind sehr schwer für uns alle. Man darf der Armee und der Polizei nicht immer bedingungslos trauen.«

»Was bedeutet ›bedingungslos‹?«

»Es bedeutet, dass in besseren Zeiten jedermann die Polizei rufen oder zu ihr gehen konnte und ihnen, egal, worum es ging, vollständig vertrauen und auf ihre Hilfe hoffen durfte.« Sie zwinkerte ihrer interessierten Beifahrerin zu. Ihr gefiel diese Art wissbegieriger Neugier.

»Aha.«

Schweigend fuhren sie auf der einsamen Straße weiter. Viivika schien wieder nachzudenken.

»Wenn wir der Polizei nicht trauen können, warum fahren wir jetzt zu ihnen?« Nun warf ihr Kaari einen flüchtigen Seitenblick zu. »Wir fahren nicht zur Polizei.«

»Und wohin fahren wir dann?«

»Das werden wir uns gleich überlegen. Ich werde jetzt während der Fahrt mal etwas nachdenken müssen.«

»Okay.«

In Wirklichkeit wusste sie schon seit dem Verlassen des Forstweges, wohin sie fahren würden.

»Hast du denn Feinde?«, fragte Viivika unvermittelt.

Kaari war bei dieser plötzlichen Frage etwas verblüfft, dachte dann aber über diese Möglichkeit nach. »Nein, hab ich nicht. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

›Zumindest habe ich keine!‹ Dieser Gedanke brachte sie auf die Spur, dass die Armeefahrzeuge nicht hinter ihr selbst, sondern hinter Viivika her waren – aus welchen rätselhaften Gründen auch immer. Eine weitere Möglichkeit war, dass die Insassen der Armeefahrzeuge das Mädchen suchten, weil es einen Zusammenhang mit dem Feuer geben konnte. Vielleicht hatte Viivika in dem nun niedergebrannten Gebiet gewohnt und ihre Leiche galt nun als vermisst.

In diesem Fall hatte man sie dann aber außerordentlich schnell wiedergefunden! Was sich in der heutigen Zeit der lücken- und makellosen Satellitenüberwachung allerdings auch nicht als besonders schwierig erweisen konnte. Aber dann gleich ein Aufmarsch von drei Armeefahrzeugen?

»Viivika?« »Ja?«

»Du hast in der letzten Nacht von Männern geträumt, die dich verfolgt haben. Weißt Du das noch?«

Sie nickte schweigend.

»Kanntest du sie?«

Diesmal schüttelte sie ihren Kopf.

»Und du sagtest, dass du öfter mal solch seltsame Träume hättest.«

»Ja, ich glaube, ich hatte schon viele davon. Aber ich kann mich an keinen anderen mehr erinnern.«

Fast hatte Kaari schon wieder vergessen, dass Viivika unter Gedächtnisschwund litt.

»Aber, Moment. Ich weiß noch, wie ich von meinem Papa geträumt habe. Ich habe geträumt, dass er verletzt war. Es war ziemlich schlimm. Ich glaube, das waren andere Männer. Böse Männer. Als ich am nächsten Morgen Frühstück gegessen hatte, war Papa nicht da. Er kam erst abends und hatte so ein Ding um seinen Arm, weil er gebrochen war.«

»Du meinst solch ein Plastikteil?«

»Ja. Glaubst du, es sind die Männer aus meinem Traum, die uns jetzt suchen?«

Kaari seufzte und schaute etwas resigniert zu ihr herüber. »Das würde ich jetzt am liebsten dich fragen, Liebes. Ich habe absolut keine Ahnung, wer das sein könnte.«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Wir fahren jetzt in die Stadt, Viivika.«

»In welche Stadt?«

Sie teilte es ihr mit.

»Und was tun wir dort, wenn wir da sind?«, fragte Viivika weiter.

»Wir werden nicht zur Polizei gehen, sondern sie anrufen.«

Viivika schien zu überlegen. »Hm, okay.«

Zwar wusste sie nicht so recht, was sie zu tun gedachte, aber zumindest hatte sie schon mal eine Idee. Sie würde mit der Polizei telefonieren. Allerdings nicht zum Zwecke der Übergabe von Viivika, sondern als Kontrollanruf. Feinfühlig würde sie die Reaktion der Polizei testen, wenn sie ihr von dem aufgefundenen Kind berichtete. Dann würde man weitersehen.

In einer halben Stunde würden sie die Stadt erreichen. Kaari war sehr mulmig auf dieser einsamen Landstraße zumute. Es gab nicht viele Straßen, die von ihrer Wohnumgebung wegführten. Wenn man die beiden Flüchtigen wirklich suchte, bräuchte es nur weniger Straßensperren, um sie ausfindig zu machen. Eine Beschreibung ihres Wagens zum Zwecke der Fahndung lag sicherlich schon längst vor. Sie mussten sich also beeilen. Als Konsequenz dieser Erkenntnis trat sie stärker auf das Gaspedal.

Der Himmel zeigte nun zögernd ein wenig Blau und ließ die Sonne zeitweilig durch die Wolken in heißen Strahlen die Landschaft aufheizen. Die noch nasse Straße begann zu dampfen.

Nur wenige Minuten nach dreizehn Uhr erreichten sie ungehindert ihr Ziel: die uralte Universitätsstadt als zweitgrößte Stadt dieses Landes.

In der Nähe des örtlichen Busbahnhofes gab es einen riesigen gebührenpflichtigen Parkplatz. Kaari befuhr die Auffahrt, woraufhin sich automatisch eine Schranke öffnete und die dort angebrachte Kameralinse das Kennzeichen registrierte. Zwar diente sie ausschließlich dem Zwecke des späteren Parkgebühreneinzugs, trotzdem versuchte sie so weit wie möglich, ihr Gesicht dem Orwell'schem Auge zu entziehen, indem sie nach unten schaute. Sie war sich im Klaren, dass es ein Fehler war, diesen Parkplatz aufzusuchen. Falls die Polizei oder wer auch immer ernsthaft nach ihrem Auto fahnden würde, war es durch diese Technik möglich, entsprechende Informationen binnen Minuten zu erhalten.

Aber nun war es zu spät. Es gab eh keine anderen öffentlichen Parkplätze im weiten Umkreis, die nicht auf gleiche Weise kontrolliert wurden. Außerdem würde die Polizei innerhalb der nächsten Stunde sowieso wissen, dass sie und Viivika sich in dieser Stadt aufhielten. Also suchte sie sich einen freien Bereich auf dem Gelände und parkte das Auto ab.

Kaari griff nach all den Dingen, die sie vor kurzem im Haus noch eilig eingepackt hatte, stieg mit Viivika aus, verschloss den Wagen und machte sich gemeinsam mit ihr zu einem nahegelegenen Kaufhaus.

Im ersten Stock gab es einen Telekommunikationsladen, den Kaari zielstrebig ansteuerte. Dort kaufte sie eine Telefonprepaidkarte für ihr Mobiltelefon, bezahlte bar und verließ das Geschäft wieder.

Sie hatte sich schon früher gewundert, dass in einem Staat wie diesem, in dem scheinbar alles und jeder überwacht und kontrolliert wurde, Telefonkarten ohne namentliche Registration verkauft werden durften. Vielleicht hatte daran einfach noch niemand gedacht. Nun ja, Glück für sie!

Draußen nahm Kaari ihr Smartphone aus dem Rucksack, werkelte daran etwas herum und entfernte den Akku sowie die SIM-Karte und legte die neu gekaufte ein. Mit leisem Klicken war der Akku wieder an seinem Platz und der Rückdeckel eingerastet. Sie schaltete das Handy ein und stellte zufrieden fest, dass es bei vollem Empfang funktionierte und ein ausreichendes Guthaben im Kaufpreis inbegriffen war. Damit konnte sie, falls und wenn es darauf ankam, anonym telefonieren oder sich ins Internet einwählen.

Nach der erfolgreichen Funktionsüberprüfung öffnete sie wieder den Rückdeckel und tauschte die beiden SIM-Karten erneut aus, so dass sie nun wieder ihre alte benutzen konnte, die vertraglich auf ihren Namen registriert war.

Sie verließen das Kaufhaus und suchten sich einen ruhigen Winkel in einer der Nebenstraßen. In der Nähe des Stadttheaters blieb Kaari stehen und zückte ihr Handy aus der Tasche.

»Ich rufe jetzt die Polizei an.«

Viivika blieb stumm.

Daraufhin legte Kaari ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. »Lass mich nur machen und vertrau mir einfach!«

»Okay.«

Sie fühlte sich kaum fähig, die Nummer der Polizei zu wählen, so stark klopfte ihr Herz gegen die Rippen. Trotzdem wählte sie die in ihrem Handy eingespeicherte Nummer der Polizeiwache, die für ihren Wohnort zuständig war.

Eine unendlich erscheinende Weile schien niemand das Gespräch entgegenzunehmen – nur das ständige Geräusch eines Freizeichens war zu hören. Dann endlich vernahm sie ein lautes Knacken in der Verbindung und eine genervte, männnliche Stimme meldete sich.

»Landkreispolizei hier. Worum geht's?«

Schlagartig fühlte sie sich in eine Zeit zurückversetzt, in der sie einmal die Nähe der Polizei aufgesucht hatte und nur auf Arroganz, Gleichgültigkeit und Hohn gestoßen war. Trotzdem musste sie sich jetzt zusammenreißen. Sie fasste sich wieder, entrichtete höflich den Tagesgruß und nannte ihren wahren Namen.

»Ja, was wollen Sie denn nun? Worum geht es?« Plötzlich aber schien der Kommissar zu stutzen. »Moment mal. Sagten Sie ›Kaari Vääts‹?«

»Ja, genau.« Sie hörte ein leises Rascheln, worauf kurzes Schweigen folgte, als würde der Beamte das Mikrofon mit der Hand abdecken und jemandem etwas zuflüstern – oder diesen Jemand zum Mithören an sein Telefon heranwinken.

»Also, Frau Vääts. Wie kann ich Ihnen helfen?« Der plötzlich viel freundlichere Tonfall des Kommissars gefiel ihr überhaupt nicht. Nun war sie sich schon ziemlich sicher, dass die Polizei etwas mit dem Überraschungsbesuch auf ihrem Grundstück zu tun hatte oder zumindest darüber Bescheid wusste. Vor allem, wenn ihr Name schon so bekannt war, dass er im Gedächtnis eines Polizeibeamten haften blieb. Sie beschloss, nur eine stark gekürzte Variante ihrer Geschichte darzustellen, da sie den Verdacht hegte, ihr Anruf würde bereits zurückverfolgt werden, um ihren aktuellen Aufenthaltsort zu ermitteln.

»Ich habe in der Nacht ein Mädchen im Wald aufgefunden. Es war nur im Nachthemd bekleidet gewesen und ich weiß nicht, was ich mit der Kleinen machen soll.« Kaari beschloss, während des Telefonats ein wenig die Straße entlang zu laufen und machte dem Mädchen ein Zeichen.

Der Kommissar tat überrascht. »Ein Mädchen im Wald? Und das mitten in der Nacht?« fragte er übertrieben ungläubig. »Wann war denn das? Und wie ist der Name des Kindes?«

»Das Mädchen heißt ›Viivika‹.«

Wieder ein längeres Schweigen in der Leitung.

»Wo sind Sie jetzt, Frau Vääts?«

Kaari wollte das Telefongespräch nun möglichst schnell beenden, um die Rückverfolgung zu ihrem derzeitigen Standort zu erschweren. Natürlich würde schon ein Sekundenanruf ausreichen, um den exakten Standpunkt ausfindig zu machen. Aber die Rückverfolgung selbst würde eine gewisse Zeit dauern. Hoffte sie jedenfalls.

Für die Prozedur einer Standortermittlung wollte sie der Polizei jedoch noch keinen Grund bieten und spielte die naive, ehrliche Frau, die einfach nur ein Kind loswerden wollte. Daher gab sie auch ihren wahren, derzeitigen Aufenthaltsort preis – zumindest ungefähr, da sie diesen per telefonischer Rückverfolgung vermutlich eh schon auf dreißig Kilometer genau eingrenzen konnten. »Hören Sie, ich dachte, ich könnte gleich zu Ihnen aufs Revier fahren, um das Mädchen bei Ihnen abzugeben. Dann kann ich Ihnen auch alles ganz genau erzählen. Ich kann nicht mehr lange sprechen, denn mein Akku ist jeden Moment leer.«

»Die zuständige Polizeibehörde des Landkreises, in dem Sie sich gerade aufhalten, wird Sie abholen. Sagen Sie mir ihren genauen Standort! Dann werde ich einen Kollegen schicken.«

»Ich befinde mich gerade in meinem Auto mitten auf einer Landstraße«, log sie. »Ich bin sozusagen gerade auf dem Weg nach Hause und komme sowieso bei Ihnen vorbei. Deshalb rufe ich ja auch auf Ihrer Wache an und habe auf den nationalen Notruf verzichtet. Ich könnte Ihnen jetzt sowieso nicht beschreiben, wo ich gerade genau bin.«

Der Kommissar brummte. »Na, meinetwegen. Dann kommen Sie aber unverzüglich und ohne Umwege direkt zu mir! Wann darf ich Sie denn erwarten?«

»Ich werde in weniger als einer Stunde bei Ihnen sein«, versprach Kaari.

»Einverstanden.« Die Stimme des Kommissars wirkte zufrieden. »Dann erwarte ich Sie und das Mädchen. Sagen Sie unten in der Wache Bescheid, wenn Sie da sind!«

»Mach ich. Aber eine Frage noch, Herr Kommissar: Sind Ihnen die Eltern dieses Kindes schon bekannt?«

Eine kurze Pause folgte, ehe er schwammig antwortete: »Wissen Sie, es gibt so viele entlaufende Kinder in diesem Land. Aber jedes einzelne Schicksal ist uns natürlich sehr wichtig, verstehen Sie? Bis später.« Dann legte er auf.

Am liebsten hätte Kaari verbittert aufgelacht. Der letzte Satz war nun wirklich etwas zu dick aufgetragen, fand sie. Die Polizei scherte sich schon seit langem um niemanden mehr außer sich selbst. Nein, dort würde sie das arme Kind ganz sicher nicht abgeben!