Finleys Reise nach Andaria - Lillith Korn - E-Book + Hörbuch
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Finleys Reise nach Andaria E-Book und Hörbuch

Lillith Korn

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Beschreibung

»Ich bin Finley Freytag. Der Verrückte, der Dinge sieht und hört, die es nicht wirklich gibt.« Als Waise aufgewachsen, ist ein altes Armband alles, das Finley von seiner Familie geblieben ist. Doch als er es verliert und sich auf die Suche danach begibt, findet er sich plötzlich in der Welt Andaria wieder. Zwischen seltsamen Wesen, einer Prophezeiung und einem bösen König ist da noch Mara – die nicht nur ein dunkles Geheimnis verbirgt, sondern obendrein unausstehlich ist. Und ausgerechnet diese beiden sollen auserkoren sein, Andaria gemeinsam zu retten …

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Seitenzahl: 366

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Zeit:8 Std. 12 min

Sprecher:Patrick Kropp

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FINLEYS REISE NACH ANDARIA

FINLEY REISEN

LILLITH KORN

© 2022 Dark-Empire-Verlag

Auflage 1

Korrekturen: Veronika Schlotmann-Thiessen, Belinda Apicella

Satz: Lillith Korn

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer, www.casandrakrammer.de

Verwendetes Bildmaterial: Shutterstock.com, Depositphotos.com

Illustration: Julia Dessalles, www.juliadessalles.com

Illustration der Karte: Laura Béla Medrano, Belita Ilustraciones

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten und sonstigen Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dark-Empire-Verlag

Grünauer Str. 66

12557 Berlin

Für die Erdnuss <3

INHALT

1. Das Tor

2. Finley

3. Sankt Hildegard

4. Das Mädchen

5. Rabenburg

6. Das Armband

7. Andaria

8. Das fahrende Volk

9. Die Reise beginnt

10. Todesnixen

11. Die Zeitfresser des Nebelmoors

12. Der magische Wald

13. Das Orakel

14. Die Nordhexe

15. Der Bootsmann

16. Dracheninsel

17. Zurück in Andaria

18. Taylan

19. König Darius

20. Ashul

21. Neuanfang

Danksagung

Über den Autor

Über den Verlag

Herz oder Hirn

Better Life – Ausgelöscht

Dark Journals – Jahrmarkt des Grauens

DAS TOR

»König Darius von Nadassa, Ihr habt nach mir verlangt?« Der Magier verneigt sich ehrfürchtig und erhebt sich erst nach kurzem Zögern.

»Es ist so weit. Öffnet das Tor.«

Die Augen des Magiers weiten sich. »Aber seid Ihr sicher, dass …«

Der König baut sich drohend vor ihm auf. »Stellt noch ein Mal meine Befehle infrage und ich lasse Euch die Haut bei lebendigem Leibe abziehen.«

Zitternd kniet der Magier nieder und verbeugt sich erneut, so tief, dass sein Gesicht den Boden berührt.

Widerstrebend beginnt er das Ritual, hofft, sich an die richtigen Worte zu erinnern. Lang ist es her, dass jemand seine Dienste in Anspruch nahm. Er wagt es nicht, sich dem König zu widersetzen. Stattdessen fügt er bei der Öffnung des Tores etwas hinzu. Nur eine winzige Kleinigkeit, damit dem Auserwählten mehr Zeit verbleibt, seine Aufgabe zu erfüllen.

Als es getan ist, will er sich zum König umdrehen. Doch er kommt nicht mehr dazu. Stattdessen spürt er den Dolch, der durch seine Kehle gleitet wie ein heißes Messer durch Butter. Mit aufgerissenen Augen stürzt er in den schwarzen Strudel. Die bittere Erkenntnis in sich tragend, dass er verraten wurde.

FINLEY

Manchmal komme ich mir vor wie ein ausgedientes Möbelstück, das man mit Müh und Not repariert hat, weil es gerade noch zu schade zum Wegschmeißen war.

Ich drehe mich im Bett herum, strecke meinen Arm zu der weißen Nachttischlampe aus und schalte sie ein. Den Schlüssel für die Schublade der kleinen Kommode neben dem Bett trage ich immer bei mir. Tagsüber steckt er in meiner Hosentasche und nachts lege ich ihn unter das Kopfkissen. Denn das, was sich darin befindet, ist mein einziger, wirklich wichtiger Besitz. Das einzig Beständige seit meiner Geburt. Ich krame den Schlüssel hervor, stecke ihn in das Schloss und öffne die Schublade. Blind taste ich darin herum und finde schließlich, was ich suche.

Mein Armband. Ich ziehe es heraus und streiche über das weiche braune Leder. Ein Wort ist darauf eingebrannt. ANDARIA. Was es bedeutet, weiß ich nicht.

Plötzlich fliegt die Tür auf und ich schnappe nach Luft.

»Finley Freytag!«, donnert eine Frauenstimme.

Es ist Hedwig Kaminski, wer sonst. Sie ist die Betreuerin im katholischen Kinderheim Sankt Hildegard.

Körperlich betrachtet ist sie klein, rund und keine atemberaubende Schönheit, was mir jedoch ziemlich egal ist. Mich stört eher, dass sie so ungenießbar ist. Ihre geringe Größe mildert ihre Bedrohlichkeit nur unbeträchtlich.

Mit einer unauffälligen Handbewegung verstecke ich das Armband unter meinem Kopfkissen. »Äh, ja, Frau Kaminski?«

Warum bin ich in meinen Gedanken so viel cooler als in der Realität …?

Ihr Gesicht verzieht sich zu einer noch wütenderen Grimasse und während sie in den Flur deutet, knurrt sie: »Tu nicht so ahnungslos! Marsch, an die Arbeit!« Dann dreht sie sich um, knallt die Tür mit einem lauten Scheppern hinter sich zu und lässt mich wieder allein. Schnell lege ich das Armband in die Schublade, schließe ab und stecke den Schlüssel ein.

Als ich auf den kahlen Flur hinaustrete, fröstele ich. Es riecht leicht muffig, daran wird auch der Zitronenduft des Putzmittels nichts ändern. Aber, so sinnlos es mir auch vorkommen mag, ich muss den blöden Flur wischen. Bei Verweigerung der zugeteilten Aufgaben folgt eine Strafe. Manche widersetzen sich trotzdem, aber ich gehöre nicht dazu. Das Leben ist schon hart genug, da wische ich lieber widerwillig den Flur, als auch noch Taschengeldabzug zu bekommen. Für jede Aufgabe, die man nicht ausführt, muss man nämlich fünf Euro abdrücken. Besser gesagt, man bekommt sie gar nicht erst ausgezahlt. Und da ich ohnehin nur fünfundvierzig Euro pro Monat bekomme, möchte ich davon nichts verplempern.

Der Eimer mit dem Lappen steht noch exakt da, wo ich ihn vor zehn Minuten abgestellt habe. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich hoffte, mir noch einen Moment Ruhe gönnen zu können.

Ich tunke den Lappen in das lauwarme Wasser und beginne lustlos mit dem Putzen der knarrenden Dielen, die dringend einen Anschliff nötig hätten.

Das Sankt Hildegard wirkt ohnehin baufällig; auf allen drei Etagen – und in allen sechs Zimmern pro Etage. Ich will ja nicht lästern, aber einige der – wie ich zu sagen pflege – Insassen, wirken ebenfalls so.

Der Lappen bleibt an einer abgesplitterten Diele hängen und ich fluche. Wenn ich endlich achtzehn bin, also in knapp zwei Jahren, ziehe ich hier aus. In eine Wohnung, die nicht so muffig stinkt und einen intakten Fußboden hat.

Ich befreie den Lappen von dem Dielensplitter, tunke ihn erneut in das Wasser, wringe ihn aus und werfe ihn auf den Boden. Mein Blick schweift kurz durch den Flur. Vergilbte Tapete mit Dekor aus dem vorigen Jahrhundert blättert von den Wänden. Es wird nicht neu tapeziert, da sonst auch verputzt werden müsste und dazu fehlt das Budget, sagen die Betreuerinnen immer. Tja, hier ist es nicht mal außen hui.

Kurze Zeit später bin ich am Ende des Flurs angekommen und betrachte mein Werk. Das müsste genügen. Genervt stelle ich die Putzutensilien in die Kammer im Bad. Davon gibt es eines pro Etage. Was für ein Luxus wird es sein, mal ein eigenes Badezimmer zu haben? Eines, in dem keine Silberfische auf Wanderung gehen … Eines, in dem man keinen Fußpilz beim Duschen bekommt und in dem niemand über die Toilettentüren guckt.

Jetzt kommt der nervigste Teil. Das Putzmittel gehört in den Keller und ich muss Frau Kaminski bitten, ihn mir aufzuschließen. Wie ich das hasse, dass ich um alles betteln muss, selbst darum, die Sachen in den Keller zu stellen. Aber es hilft nichts.

Ich gehe zurück in den Flur, von dem eine Treppe in die unteren Stockwerke führt. Vor Kaminskis Büro angekommen, atme ich tief durch, ehe ich anklopfe.

»Frau Kaminski? Ich bin fertig. Können Sie mir den Keller aufschließen?«

»Komme gleich«, höre ich sie brummen. Dann klappert ihr Schlüsselbund und feste Schritte erklingen. Ich trete beiseite, denn der Kaminski steht man lieber nicht im Weg.

Sie würdigt mich keines Blickes, sondern stampft aus der Tür, läuft zum hinteren Ende des Flures und beäugt kritisch den Boden. Dabei verschränkt sie die Arme hinter dem Rücken und wippt mit den Fußballen einmal auf und ab. »Was ist denn das da?«

Ich gehe ein paar Schritte in ihre Richtung und folge ihrem Blick, den sie starr auf eine Stelle am Boden gerichtet hat. Doch ich kann nichts erkennen. Hat sie Staubdetektoraugen? Oder hätte sie gern welche? »Was meinen Sie?«, frage ich so unterwürfig wie möglich.

Sie stemmt die Hände in die Hüfte und funkelt mich an. Mit einem dicken schwarzen Winterpullover versucht sie vergeblich, ihre Speckrollen zu verbergen. »Ich meine ganz offensichtlich den Dreck, den du nicht weggeputzt hast, Finley. Komm wieder, wenn du wirklich fertig bist, und belästige mich nicht vorher!« Mit diesen Worten dreht sie sich um und ich unterdrücke ein genervtes Stöhnen. Jetzt darf ich wieder alles hervorholen und neu anfangen. Was für eine blöde Kuh!

Fluchend betrete ich das mintgrün geflieste Badezimmer und öffne die Tür zur Kammer, die sich direkt neben einer der Duschkabinen befindet.

»Na, drehste ne Extrarunde?«, ertönt es hinter mir.

Na toll. Kolja, der hat mir gerade noch gefehlt. Der Schläger und Mobber der dritten Etage, also der über meiner. Was bedeutet, dass er extra auf mich gewartet hat. Warum sollte er sonst im Badezimmer der zweiten Etage sein? Hey, Schicksal, möchtest du mich nicht auch noch auf einer Bananenschale ausrutschen lassen oder so? Das würde den heutigen Tag perfektionieren.

»Mhm«, antworte ich knapp.

»Ooooch, das tuuuut mir aber leid!« Er schlägt sich übertrieben die Hand vor den Mund. Dann greift er in die Duschkabine neben sich und ich ahne, was folgen wird. Kann ich noch flüchten? Die Kammer ist zu klein, da kann ich mich nicht reinquetschen. Und wenn ich in mein Zimmer renne, gibt es Ärger von Kaminski. Außerdem wird Kolja dann erst recht darauf warten, mich zu ärgern. Scheiße. Es gibt keinen Ausweg. Ich muss das – was auch immer jetzt kommen wird – wohl oder übel über mich ergehen lassen.

»Brauchst du Hilfe?«, fragt er grinsend.

»Ha, ha …«, antworte ich in dem schwachen Versuch, nicht ganz so hilflos dazustehen, und in der Sekunde darauf spüre ich bereits den Strahl kalten Wassers, der meinen Pullover durchnässt. Ich ziehe die Luft ein, bleibe wie gelähmt stehen und kneife die Augen fest zusammen. Ja, ich weiß, die Reaktion ist kindisch. Aber ich habe keine Ahnung, was ich sonst tun soll, und das Wasser ist eisig kalt.

Immerhin – Kolja, der von seinen Kumpels Kol und von mir in Gedanken Schleimhaar genannt wird, weil er so widerlich gegelte Haare hat, verlässt lachend das Badezimmer. »Gern geschehen, jederzeit wieder!«, ruft er.

Sehr witzig, wirklich.

Als die Badezimmertür hinter ihm zufällt, öffne ich die Augen wieder. Ich bin komplett durchnässt. Vor Kälte zitternd hole ich Eimer, Lappen und Wischmopp aus der Kammer und spähe danach vorsichtig in den Flur hinaus.

Schleimhaar ist wirklich weg, Gott sei Dank.

Ich befülle den Eimer neu und eile mit dem ganzen Kram zurück in mein Zimmer. Dort öffne ich den Schrank und angele mir Zähne klappernd ein Handtuch und trockene Klamotten. Unterwäsche, eine Jeans, ein Shirt und einen dunkelblauen Kapuzenpulli. Mein Mitbewohner und Freund Milo ist nicht da, deshalb ziehe ich mich einfach mitten im Zimmer um. Vorsichtshalber lasse ich aber die Schranktür offen und nutze sie als Sichtschutz. Nur falls doch jemand hereinkommt ohne anzuklopfen, zum Beispiel eine tollwütige Kaminski. Glücklicherweise passiert nichts dergleichen. Noch einmal wische ich entnervt den gesamten Boden, obwohl man meiner Meinung nach sowieso keinen Unterschied sieht. Er sieht immer gammelig aus.

Nach gefühlten zwei Stunden, die in Wirklichkeit ungefähr eine Viertelstunde betragen haben müssten, mache mich erneut darauf gefasst, Kaminski entgegenzutreten.

Ich klopfe und höre, wie sie schimpfend aufsteht. Die Tür fliegt auf und diesmal starrt sie mich an. Sie spuckt mir ihre Worte direkt ins Gesicht. »Wehe, du hast es wieder verbockt. Ich habe keine Lust, noch mal aufzustehen oder am Ende beim Putzen deinen Babysitter zu spielen, nur weil du dir zu fein bist, ein einziges Mal etwas richtig zu machen!«

Mit Bedacht geht sie den Flur entlang und beäugt kritisch jede Ecke. Nichts entgeht ihrem prüfenden Blick. Doch diesmal scheint sie zufrieden zu sein; sie nickt kurz. »In Ordnung.«

Ich traue mich nicht, erleichtert aufzuseufzen, aber innerlich tue ich es.

Sie geht noch einmal ins Büro und ich sehe ihr hinterher. Ihr brauner Holzschreibtisch wirkt akribisch sortiert, alles hat einen festen Platz. Die Stifte sind akkurat nach Farben sortiert und Tacker, Locher sowie Notizbuch sehen aus, als hätte sie die Abstände zwischen ihnen bis auf den letzten Nanometer ausgemessen. Der Schreibtisch gegenüber gehört ihrer Kollegin und sieht wesentlich … nun, ich würde sagen, lebendiger aus.

Ich stecke die noch immer kalten Hände in die Hosentaschen, warte brav und beobachte, wie Kaminski schwerfällig den riesigen Schlüsselbund aus ihrer Schreibtischschublade holt. Zu ihrem verwaschenen, schwarzen Wollpulli trägt sie einen schwarzen Rock, eine grüne Wollstrumpfhose und schwarze Lederschuhe mit einem kleinen Absatz, auf denen sie aussieht wie ein Elefant, der Ballett tanzen möchte.

Sie tritt wortlos aus der Tür, schließt sie ab, dreht sich um und stöckelt zur Treppe. Ich nehme das Putzmittel und steige hinter ihr Stufe um Stufe hinab. Die rissigen Dielen knarzen unter unseren Schritten. Die Wände sind hier so gut wie leer.

So muss es in Kaminskis Kopf aussehen.

Der erste Stock liegt wie ausgestorben da, das Erdgeschoss ebenfalls; kein Wunder, es sind Ferien. Viele denken, wir Kinder im Heim wären alle Waisenkinder. Das trifft zwar auf mich zu, jedoch nicht auf alle. Manche Kinder oder Jugendliche haben nur vorübergehende Probleme zu Hause und können Verwandte in den Ferien besuchen.

Die letzte Treppenstufe vor der Kellertür knackt einmal laut, als Kaminski darauf tritt, und dann noch einmal, als ich es selbst tue. Sie holt die Schlüssel hervor und kneift die Augen zusammen, um den richtigen zu finden und anschließend das Schlüsselloch zu treffen. Vielleicht braucht sie eine Brille. Oder sie tut nur so angestrengt, um mir zu zeigen, wie viele Umstände ich ihr bereite. Hey, ich habe die Regeln nicht gemacht.

Sie öffnet die Tür und wedelt grimmig mit der Hand. »Mach schon, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«

Ich verkneife mir eine Antwort und betrete den Raum, in dem die Nahrungsmittel und andere Dinge des Haushalts für die zweite Etage untergebracht sind. Ich stelle das Reinigungsmittel in das dafür vorgesehene Regal und ein eiskalter Schauer läuft mir den Rücken hinab, weil ich Kaminskis Blicke spüre.

»Suchst du da drin nach dem Sinn des Lebens? Beweg dich, Junge!«

Bei ihren Worten zucke ich kurz zusammen. Eilig drehe ich mich um und verlasse unter ihren forschen Blicken den Raum, damit sie ordnungsgemäß abschließen kann.

»Ich bin zu alt für dieses ewige Hoch- und Runtergerenne!«, meckert sie hinter mir.

Schön wärs, denke ich.

Da ich jetzt nicht mehr auf sie warten muss, fliege ich die Treppen beinahe hinauf. Für heute bin ich sie los. Zumindest bis zum Abendessen.

In meinem und Milos Zimmer lasse ich mich rücklings aufs Bett fallen. Ruhe, endlich Ruhe! Ich versinke in den Kissen und überlege, was ich mit dem restlichen Tag anfangen soll. Wie spät ist es überhaupt? Stöhnend drehe ich mich zur Seite, um einen Blick auf die Uhr über der Tür zu erhaschen. Kurz vor sechs erst. Na toll. Um halb sieben gibt es Abendessen, was mache ich bis dahin? Schlafen? Nein, dann liege ich bestimmt die ganze Nacht wach. Aber ohne Milo ist es sooo la–

Plötzlich lugt ein fescher Lockenkopf durch den Türspalt und reißt mich aus meinen Gedanken.

»Hey!«, ruft er fröhlich.

»Milo! Ich habe gerade überlegt, was ich ohne dich machen soll. Komm rein, es zieht!« Ich grinse und freue mich wirklich, ihn zu sehen. »Wie wars mit deiner Mutter? War sie halbwegs gesund während eurer gemeinsamen Zeit?«

»Na ja, fit war sie nicht, aber es war okay«, antwortet er knapp und wuchtet sein Gepäck aufs Bett. Er redet nicht gern über seine Familiengeschichte. Ich weiß, dass seine Mutter schwer krank ist und sein Vater schon vor langer Zeit starb. Da es sonst keine Verwandten gab, die ihn hätten aufnehmen können, ist er im Heim gelandet. Seine Mutter wird gepflegt, und wenn er kann und darf, geht er sie besuchen. Danach folgen psychologische Gespräche, die er hinter sich bringen muss, um zu beweisen, dass er der psychischen Belastung standhält.

»Na, immerhin«, sage ich knapp. Ich möchte ihn nicht dazu drängen, mehr zu erzählen.

Er lächelt wissend und beginnt, seine Sachen auszupacken. Neben jeder Menge Kleidung hatte er offensichtlich noch einen MP3-Player und ein Tablet mitgehabt. Ich gebe offen zu, dass ich ein wenig neidisch bin. Ich habe zwar ein Smartphone, auf das ich lange gespart habe, aber es ist ein Billiggerät und hat bereits einen Riss im Display.

Was komisch ist: Jedes Mal, wenn er wiederkommt und seine Sachen auspackt, kommt es mir so vor, als ob sie weniger geworden sind. Das ist natürlich Quatsch. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sein Koffer auf dem Hinweg richtig vollgestopft war und jetzt nur noch annähernd gefüllt ist.

Milo pfeffert die Kleidung in einen Wäschekorb neben dem Bett, legt sein Tablet auf die kleine Nachtkommode und schnauft. »Die Auspackerei nervt!«, sagt er, schiebt den leeren Koffer achtlos auf den Boden und setzt sich auf das Bett. »Neues aus dem Hause Kaminski?« Er steckt sich ein Zimtkaugummi in den Mund und schmatzt übertrieben laut.

Ich winke ab. »Alles wie immer. Durfte heute zweimal den Flur putzen – check. Kolja ist ein verdammter Arsch wie immer – check.«

Milo schießt ruckartig hoch und ballt die Faust. »Was hat er jetzt wieder gemacht?«

Ich winke ab. »Na ja, das Übliche halt. Heute gabs eine kalte Dusche. Aber was solls, hab mich halt umgezogen und fertig.«

Resigniert zucke ich mit den Schultern. Gegen Kolja kann ich nichts ausrichten, er ist größer, stärker und hat mehr Freunde als ich. Nicht, dass ich schwächlich wäre, mit Sicherheit nicht. Aber ein Muskelprotz bin ich auch nicht gerade. Ganz normal eben.

Milo ist schon eher muskulös, weil er in einem Jugendprojekt regelmäßig zum Boxen geht.

»So ein Idiot! Ich würde es ihm so gerne heimzahlen!«, knurrt er. »Ach, Finley. Es tut mir echt leid, dass du dauernd unter diesem Idioten zu leiden hast.«

Erneut winke ich ab. »Unkraut vergeht nicht und so …«

Milo schnaubt und ich verspüre das dringende Bedürfnis, das Thema zu wechseln.

»Was machen wir jetzt? Ist noch ein bisschen hin bis zum Abendessen«, frage ich stattdessen.

»Wer kocht denn heute?« Milo nimmt das Kaugummi aus dem Mund, überlegt offensichtlich, ob er aufstehen und zum Mülleimer gehen soll, und klebt es dann doch unter sein Bett.

»Igitt, Milo! Du pennst ja fast in deinem Rotz!«

Ich schüttle mich, aber er grinst nur. »Also, wer hat Dienst?«

Ich überlege kurz. »Irgendjemand aus Etage drei, glaube ich. Also wird es eventuell essbar.« Ein paar aus der dritten Etage können halbwegs kochen. Die Chancen stehen fifty-fifty.

Milo setzt zu einer Antwort an, da klopft es an der Tür.

»Ja?«

Ein Junge aus dem Erdgeschoss, er heißt Ben, stößt die Tür ein Stück auf. »Gibt heute früher Essen, ihr sollt in zehn Minuten runterkommen.« Kaum, dass er seinen Satz beendet hat, ist er auch schon wieder verschwunden. Natürlich ohne die Tür zu schließen.

Ich stöhne auf. Schon wieder Neuzugänge?

Milo denkt offensichtlich dasselbe, denn er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht zieht ja Kolja oder einer seiner Kumpels dafür aus.«

SANKT HILDEGARD

Milo gibt ein genüssliches »Mhmm« von sich ­ zu recht, es riecht tatsächlich gut.

Gemeinsam schlängeln wir uns zwischen den Kindern und Jugendlichen entlang, die sich ebenfalls einen Weg in Richtung Essen bahnen. Der Speisesaal ist riesig und mit sieben Tischen ausgestattet, die wie ein U zusammengestellt sind. Immerhin müssen sechsunddreißig Kinder in den Saal passen. Wir müssen bei jedem Essen anwesend sein, außer wir sind offiziell entschuldigt.

Ganz am Ende des Raumes befindet sich die Durchreiche der großen Küche. Dort entdecke ich Kolja mit zwei seiner Kumpels am Tisch. Das ist der beliebteste Platz, weil es nicht weit ist bis zum Nachschlag. Leider hat er mich soeben entdeckt, deshalb wende ich mich hastig Milo zu, der Kolja passenderweise böse Blicke zuwirft. Da Milo nicht so ein Schwachmat (Das ist ein Zitat, ich bin ja nicht bescheuert und bezeichne mich selbst so) ist wie ich, geht Kolja ihn seltener an. Somit bin ich gewissermaßen geschützt in Milos Nähe. Langsam könnte er aufhören, Kolja anzustarren wie eine wild gewordene Mama-Sau, sonst überlegt es sich Schleimhaar vielleicht anders. Ich blicke zwischen den beiden hin und her und kann beinahe die Luft zwischen ihnen knistern hören. Der Hass zwischen den beiden ist beinahe greifbar.

Besteck und Teller klappern, leises Stimmengemurmel durchdringt den Raum. Außer Kolja nimmt niemand großartig Notiz von uns. Kaminski oder andere Mitarbeiter sind nicht zu sehen, nur die Praktikantin, die mit dem Jugendlichen zusammen das Essen auf die Teller klatscht. Anders kann man es nicht bezeichnen.

»Milo«, flüstere ich, als wir uns weiter nach vorne schlängeln, in Richtung der Essensausgabe. »Was hast du denn mit Schleimhaar am Laufen?«

Keine Reaktion. Ich zupfe Milo am Ärmel. »Hallo? Erde an Milo!«

»Was hast du gesagt?« Er schaut mich irritiert an.

»Ich habe gefragt, was du mit Schleimhaar am Laufen hast. Ihr starrt euch an, als wärt ihr Dracula und Van Helsing!«

Jetzt zieht er fragend eine Augenbraue hoch. Wie macht er das? Ich kann so etwas nicht. Oder doch? Muss ich mal vorm Spiegel testen.

»Quatsch!« Mit einer energischen Handbewegung versucht er, meine Bedenken wegzuwischen. »Der guckt bloß immer so blöde. Vielleicht sollte ich mal mit der Faust zurückgucken.«

Ich bin ein wenig ratlos. Milo kenne ich als Klassenclown, Quatschmacher und Spinner, aber mit Sicherheit nicht als boxenden Proleten. Vielleicht war das Wochenende mit seiner Mutter doch zu viel für ihn. Ich zucke mit den Schultern. »Ich würds lassen.«

Es ist nur noch einer vor uns in der Schlange und der Geruch des Gulaschs lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Erst jetzt registriere ich, dass es Ben ist, der das Essen ausgibt und es somit auch gekocht haben muss. Ich nicke ihm zu, während er mir zwinkernd eine besonders große Portion auf meinen Teller schaufelt. Wunderbar.

Die Praktikantin hat hektische Flecken auf ihren Wangen ­ kein Wunder, bei einem derartigen Publikum ­ und befüllt angespannt Milos Teller.

Wir nehmen unser Essen, schlagen einen großen Bogen um Schleimhaar und seine Clique und verdrücken uns ganz nach hinten in die Nähe des Ausgangs. Dort ist noch ein Tisch frei, in dessen Mitte ein Korb mit Brot steht. Ich greife noch beim Hinsetzen zu, reiße ein Stück ab und tunke es in das Gulasch. »Dasch isch escht köschtlisch!«, nuschle ich begeistert und trotzdem so leise, dass nur mein Freund mich hören kann. Ist natürlich herzlich wenig diskret, wenn ich dabei versehentlich mehrere angekaute Stückchen auf den Tisch spucke. Mein Blick fällt neben mich, wo Steven mit grimmigem Gesichtsausdruck in ein Stück trockenes Brot beißt. Er ist Vegetarier und etwas anderes Fleischloses gibt es heute nicht. Wir haben kein Recht auf Sonderwünsche.

Milo schmatzt und nickt mir begeistert zu. »Schmeckt hammermäßig. Wie viele Neuankömmlinge sinds, weißt du das?«

Nachdenklich lege ich meine Stirn in Falten. (Das kann ich.) »Mal überlegen. Wer ist denn alles ausgezogen? Jared und Sam sind in ein anderes Heim gezogen … und Karim aus Etage drei ist weg.«

»Ah, stimmt. Na, dann werden es wohl drei Neue sein, zwei für uns, einer für oben. Oder meinst du, jemand von uns kann nach oben ziehen? Es gibt doch bestimmt …«

Ich beende meinen Satz nicht, weil Kaminski in den Raum gestampft kommt. Im Schlepptau hat sie die Heimleitung, Herrn Alfred Wittich, und einen Jungen im Alter von ungefähr dreizehn Jahren.

Milo schluckt seinen Bissen Brot herunter und starrt ebenfalls zur Tür. »Wieso dieses ganze Tamtam für einen kleinen Pubertisten? Ich dachte, die kommen zu dritt?«, flüstert er.

Ich zucke mit den Schultern. Der Junge tut mir jetzt schon leid. Er stolpert ängstlich zwischen Kaminski und dem alten Wittich in die Mitte des Raumes. Ich erinnere mich selbst noch gut an das ganze Vorstellungsprozedere. Ich kam damals, mit zwölf Jahren, aus einem anderen Heim hierher, einem gemischten Heim für Jüngere. Indem sie Mädchen und Jungs ab einem gewissen Alter trennen, wollen sie wohl ungewollten Schwangerschaften vorbeugen oder was weiß ich.

Ich kam also hier an, kannte niemanden, und lief genauso eingepfercht wie der Junge da vorne zwischen Kaminski und Wittich in die Mitte des Raumes, etliche Augenpaare auf mich gerichtet. Das ist hier das übliche Vorgehen. Die Jungs kommen morgens an, werden herumgeführt, bekommen ein Zimmer zugewiesen. Abends werden sie dann der ganzen Besatzung kurz vorgestellt und jeder muss den Neuen begrüßen. Zumindest, indem er seinen Namen verrät.

Normalerweise essen wir allerdings erst auf und werden nicht mitten beim Essen unterbrochen. Milo und ich legen unser Besteck beiseite. Ich werfe einen Blick zu Kolja, der sich von dem Neuankömmling nicht beeindrucken lässt und weiter Gulasch in sich hineinschaufelt.

Frau Kaminski versucht sich an so etwas wie einem Lächeln, sieht aber eher aus, als hätte sie einen Krampf im Gesicht. Der weißbärtige Herr Wittich legt seine Hand milde lächelnd auf die Schulter des Jungen, der dabei merklich zusammenzuckt. »Ich möchte euch Victor Giese vorstellen. Er wohnt seit heute bei uns im zweiten Stock.«

Sofort wird das Gemurmel und Getuschel lauter. Natürlich hat sich die Nachricht herumgesprochen, es lief die letzten Tage kaum etwas anderes im Radio und im Fernsehen. Peter Giese war ein berühmter Schlagerstar und eine echte Skandalnudel. Andauernd war der Typ in den Schlagzeilen gewesen, ob nun wegen einer Prügelei, einem Striptease auf der Polizeistation im Vollsuff oder einer neuen Geliebten. Vor Kurzem erschien dann seine wohl letzte, berühmte Schlagzeile.

Peter Giese verursacht volltrunken einen Autounfall und reißt vier weitere Menschen mit in den Tod.

Armer Victor. Obwohl Herr Wittich es meiner Vermutung nach absichtlich nicht erwähnt hat, ist Victor der Sohn des verstorbenen Sängers.

»Ruhe, bitte!« Kaminski klatscht mehrmals laut in die Hände – ich wette, sie stellt sich vor, unsere Köpfe wären dazwischen – und das Gemurmel verstummt.

Victor knetet verlegen seine Hände und schaut zu Boden. Ich glaube, er hat Tränen in den Augen. Genau kann ich es nicht sagen, weil ihm hellbraune Strähnen ins Gesicht fallen und er den Kopf nach unten hängen lässt. Er tut mir schrecklich leid, wie er da auf dem Präsentierteller sitzt.

Wittich fährt fort. »Bitte behandelt unseren Neuankömmling gut, ich möchte keine Klagen hören! Respekt heißt das Zauberwort.« Er lässt seinen Blick mahnend durch die Runde schweifen und übergibt Kaminski das Wort.

Sie nickt, und ich finde, die beiden benehmen sich, als hätten sie das Ganze einstudiert wie ein Theaterstück.

»Also«, verkündet sie. »Stellt euch kurz vor. Ihr wisst, wie es abläuft. Vernünftig, bitte! Du fängst an.« Sie fuchtelt auffordernd mit der Hand zu Milo und sofort geht es los. War klar, dass ich als Letzter mit dem Sprechen dran bin – weil ich es hasse.

»Hi Victor, ich bin Milo, siebzehn Jahre alt und wohne auf Etage zwei.«

Victor krächzt ein leises »Hallo«, ohne den Blick zu heben.

So geht es ganze zwanzig Mal, bis Kolja an der Reihe ist.

Er wartet eine Sekunde lang ab, ob ihn auch wirklich alle ansehen. Dann lehnt er sich lässig zurück und spuckt nur drei Worte aus: »Kol, achtzehn, drei.« Bei dem Wort »drei« grinst er zu Milo und mir herüber. Wahrscheinlich will er seine Macht demonstrieren, weil er eine Etage über uns ist. Einfach nur lächerlich.

Kaminski und Wittich werfen ihm finstere Blicke zu, lassen ihn jedoch gewähren.

Victor reagiert inzwischen nicht mehr mit einem »Hallo«, sondern nickt bloß kurz nach jeder Vorstellung. Ich würde ihn am liebsten davor bewahren, aber keiner kann sich über diese dämliche Vorstellungsvorschrift hinwegsetzen. Als ich damals in der Mitte gestanden habe, waren meine Knie weich gewesen wie Butter, die im Hochsommer in der Sonne gelegen hat, und ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass sich ein Loch im Boden auftut und mich verschlingt.

Nur noch Steven ist vor mir dran. Obwohl Victor selbst ein Häufchen Elend ist, wird mir bei der Vorstellung, vor allen zu sprechen, immer wieder angst und bange. Ich spüre mein Herz schneller pochen, als mein Vorgänger seinen obligatorischen Satz beendet und mit einem Nicken das Wort an mich weitergibt.

Unauffällig schließe ich meine Hand fester um den Löffel. »Hi, Victor. Ich bin Finley Freytag, sechzehn Jahre alt und wohne auf Etage zwei. Herzlich willkommen.«

Wieder nickt Victor.

Kaminski lächelt, wahrscheinlich muss sie ihn aufgrund seines Status’ besser behandeln als andere. »Such dir einen Platz und iss etwas, Victor«, säuselt sie. Gleich muss ich brechen.

Herr Wittich klopft dem Jungen auffordernd auf die Schulter. »So, jetzt lasst es euch weiterhin schmecken, es riecht wirklich vorzüglich, ich wünschte, meine Frau könnte so kochen!«, beendet er seinen Vortrag und verlässt, dicht gefolgt von Kaminski, den Speisesaal.

Augenblicklich schwillt das Gemurmel wieder an. Victor sucht mit seinen Blicken den Raum ab und entdeckt den freien Platz neben Milo und mir. Er zögert. Ich lächle und nicke ihm zu, deute auf den freien Platz. Langsam setzt er sich in Bewegung und lässt sich schließlich neben mir auf der Sitzbank nieder.

Wir schweigen und aus dem Augenwinkel beobachte ich ihn. Warum er wohl ausgerechnet in dieses Heim gekommen ist, wenn sein Vater doch so viel Geld hatte?

Der Junge hat die Ärmel seines Shirts über die Hände gezogen, die Hände zu Fäusten geballt, und sie in seinen Schoß gelegt. Vermutlich traut er sich nicht, sich etwas zu essen zu holen.

»Möchtest du was essen?«, frage ich. Möglicherweise hilft ein kleiner Anstoß.

Ganz kurz sieht er zu mir auf und schüttelt den Kopf. Na gut, entweder hat er keinen Hunger oder braucht noch Zeit. Beides legitim.

Milo versteht, dass ich dem Neuen Mut machen will, und versucht, ein Gespräch zu beginnen. »Und welches Zimmer hast du?«, fragt er, während er die letzten Nanopartikel des Gulaschs vom Teller kratzt.

Leise räuspert Victor sich. »Eins im zweiten Stock, gleich rechts neben dem Badezimmer.«

»Ah!« Milo nickt.

»Darf man hier gehen, wenn man fertig ist oder keinen Hunger hat?«, fragt Victor unsicher, diesmal an mich gewandt.

»Ja, kannst du ruhig machen. Hauptsache, du warst hier anwesend. Wenn jemand fragt, hab ich dich essen sehen, okay?«

»Danke.« Er steht auf und verlässt mit gesenktem Kopf den Speisesaal, ohne zurückzusehen.

»Der Arme«, sage ich zu Milo, der inzwischen mit seinem Löffel einen Rhythmus auf dem Tisch klopft.

»Ja. Da müssen wir wohl oder übel alle durch. Nachschlag?« Er deutet auf meinen Teller und ich schüttle den Kopf. Eigentlich bin ich müde und möchte nur noch schlafen, obwohl es viel zu früh ist. »Nee, ich glaub, ich geh nach oben. Iss eine zweite Portion für mich mit.« Gähnend strecke ich mich.

Milo zuckt mit den Schultern und steht auf. »Mach ich.«

»Warte.« Ich grinse, als Milo beim Aufstehen innehält. »Wenn du für mich mitisst, musst du auch meinen Teller mitnehmen.«

DAS MÄDCHEN

Es ist düstere Nacht, die Sterne glitzern am Himmel und vor mir liegt eine tiefe Schlucht. Ich blicke in die tosenden Fluten unter mir. Sehe und höre, wie sich die Wellen donnernd an den Klippen brechen. Ein heftiger Wind lässt mich bedrohlich schwanken. Noch ein bisschen mehr und ich falle, stürze in das tiefe, dunkle Wasser … Doch ich kann keinen Schritt zurückgehen, sosehr ich es auch versuche. Mein Herz rast immer schneller. Ich bin dem Schicksal ausgeliefert und bereite mich innerlich auf den Sturz vor.

Ein Mädchen mit blonden lockigen Haaren taucht plötzlich auf, tanzt vor mir im Kreis und summt eine Melodie. Sie scheint mich nicht zu sehen. Mir ist bewusst, dass sie in der Luft schwebt, aber in diesem Moment kommt es mir völlig normal vor.

Die Angst frisst sich einen Weg durch meine Eingeweide und formt sich zu einem Schrei, der mir die Kehle hinaufkriecht. Noch immer kann ich nicht rückwärts gehen; bin wie gefangen.

Plötzlich stoppt die Melodie und das Mädchen sieht mir direkt in die Augen. »Bald.«

Ich schrecke hoch und versuche, mich zu orientieren. Milos Bettdecke raschelt, als er sich murrend auf die Seite dreht, und langsam komme ich in der Realität an.

Ich hasse diese Träume, aber sie wiederholen sich jede Nacht. Eine Mischung aus Albtraum und … Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Der Ablauf ist meistens derselbe. Immer wieder bin ich in bedrohlichen Situationen und jedes Mal taucht dieses Mädchen auf. Sobald sie mich sieht oder etwas sagt, wache ich schweißgebadet auf. Das geht jetzt schon seit Monaten so und ich weiß nicht, warum.

Liebend gerne würde ich die Träume vermeiden, aber das ist unmöglich. Auch heute Abend hatte ich irgendwann keine Lust mehr gehabt, die Zeit totzuschlagen, und bin schlafen gegangen. Prinzipiell schlafe ich gern … bloß lieber traumfrei.

Selbst, wenn ich das nicht gern täte: gegen das natürliche Schlafbedürfnis kann man sich nicht wehren. Ich weiß es, ich habe es ausprobiert. Ich habe eine komplette Nacht durchgemacht und sogar eine zweite geschafft. Dann bin ich aufgewacht, als mein Kopf beim Einschlummern in das morgendliche Müsli gefallen ist, und habe beschlossen, dass das keine Lösung sein kann. Cerealien machen sich nicht gut in der Nase und ich trinke Milch lieber, als sie zu atmen. Wie dem auch sei; beim Kopfsprung ins Müsli habe ich jedenfalls beschlossen, dass ich mein Problem anders beseitigen muss. Mein nächster Versuch: alle zehn Minuten den Wecker stellen. In der Hoffnung, dass ich zwar in Etappen schlafe, der Körper sich also erholen kann, ich aber nicht in einer Traumphase lande. Das hatte zur Folge, dass ich gar nicht erst eingeschlafen bin und am nächsten Tag total gerädert war.

Inzwischen nehme ich es einfach hin, wie es ist. Na ja, einfach ist leichter gesagt als getan, trotzdem … Fakt ist: Ich muss schlafen, wie jeder andere Mensch auch.

Seufzend schlage ich die Decke zurück und schleiche zum Fenster, um hinauszusehen. Es ist stockdunkel, die Straßen sind wie ausgestorben.

Mein Schlafshirt klebt an mir. So werde ich mich sicher nicht wieder hinlegen. Mit Waschutensilien sowie frischer Kleidung husche ich hinaus in den Flur.

Als ich barfuß auf den Dielen entlanggehe, bildet sich Gänsehaut auf meinen Beinen, die über meinen Rücken bis auf meine Arme wandert. Wahrscheinlich sollen Heizkosten gespart werden. Klar. Lasst uns ruhig frieren.

Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick auf die Tür, hinter der Victor hoffentlich ein wenig Schlaf findet. Der Arme. Die ersten Tage sind die schlimmsten.

Ich biege links ins Bad ab und als meine Füße die Fliesen berühren, zieht sich meine Kopfhaut zusammen, so kalt ist es. Warum habe ich mir keine Hausschuhe angezogen? Oder wenigstens Socken? Manchmal bin ich ein Idiot.

Ich beschließe, nicht zu duschen, sondern mich schnell zu waschen. Nachts wird das warme Wasser ausgestellt und ich habe keine Lust, mir Eiszapfen aus der Nase wachsen zu lassen. Zehn Minuten später – sauber, abgetrocknet und warm angezogen – sieht die Welt wieder besser aus und ich schlendere zurück. Etwas scheppert. Abrupt bleibe ich stehen, sehe mich um und lausche.

Erneut scheppert es, gefolgt von einem kurzen Poltern und Gänsehaut auf meinen Armen, bloß dieses Mal nicht der Kälte wegen. Kam das Geräusch aus dem leeren Zimmer neben Victors? Langsam nähere ich mich und überlege, ob ich mich verhört haben könnte. Wahrscheinlich. Oder irgendjemand raucht da drin heimlich verbotene Substanzen und stolpert jetzt über seine eigenen Füße, weil er zu bekifft ist, den Weg nach draußen zu finden.

Meine Hand bewegt sich nach vorne, bis sie das kalte Metall der Türklinke berührt. Meine Beine zittern und obwohl mich keiner sieht, ist es mir peinlich, dass ich solche Angst habe.

Reiß dich zusammen, Finley!

Ich zähle bis drei, drücke die Türklinke herunter und stoße die Tür mit einem Ruck auf, schlage beinahe zeitgleich auf den Lichtschalter rechts von mir.

Nichts.

Natürlich nicht, was hast du erwartet, Finley? Einen Poltergeist?, stöhne ich innerlich.

Vorsichtshalber sehe ich mich trotzdem um. Das Zimmer ist frei von persönlichen Dingen, da die Bewohner ja ausgezogen sind. Hier stehen nur zwei buchefarbene Betten (so was von 90er) und daneben jeweils ein kleines Nachttischchen. Außerdem ein Kleiderschrank, den sich die baldigen Bewohner teilen müssen. Auf dem Boden liegt PVC, dessen verblichener Aufdruck Dielen darstellen soll. Rundum hässlich, gefährlich eher nicht. Höchstens für die Augen.

Kopfschüttelnd will ich das Licht ausschalten, als hinter mir jemand wispert.

»Finley …«, flüstert eine weibliche Stimme.

Mit klopfendem Herzen fahre ich herum. Doch wie schon zuvor sehe ich nichts. Folgen mir die Albträume jetzt in die Realität? Oder werde ich verrückt?

Letzteres scheint mir die realistischere Variante und … ach, egal. Das ist einfach nie passiert, so. Ich gehe rückwärts in den Flur, den Blick vorsorglich weiter ins Zimmer gewandt, schalte das Licht aus und knalle ohne Rücksicht auf die Schlafenden die Tür zu.

»Junger Mann!«

Erneut fahre ich herum und erkenne dann, dass es Kaminski ist, die mit wütendem Blick vor mir steht, die Hände in die Hüfte gestemmt.

So langsam habe ich das Gefühl, ich hätte mir die Körperpflege sparen können, denn wieder spüre ich Schweiß auf meiner Stirn und an meinem Rücken. Trotz ihres gelb-schwarz-gestreiften Pyjamas, der sie aussehen lässt wie eine überdimensional dicke Hummel, wirkt sie Furcht einflößend. Warum trägt sie so was außerordentlich … Merkwürdiges? Na ja, wer weiß schon, was in ihrem Kopf vorgeht. Und vor allem: Wer will es wissen? Ich nicht. Habe auch so ausreichend Albträume.

»Hallo!? Schlafwandelst du oder was?«

Schön wärs. Dann wäre mir die Erinnerung an diesen Anblick erspart geblieben.

»Äh, ich wollte nur … ich habe ein …«

Scheiße. Jetzt stehe ich hier und stammle vor mich hin.

»Was?« Auffordernd sieht sie mich an.

Ich deute auf das Zimmer. »Da war ein Geräusch. Ich habe nur nachgesehen, ob alles in Ordnung ist.«

Herzlichen Glückwunsch. Ich habe einen vollständigen Satz herausgebracht.

Kaminski kneift die Augen zusammen, wobei ihre Krähenfüße sich noch tiefer einfurchen, und schiebt mich unsanft beiseite.

Ich erhasche einen Blick auf ihr Hinterteil und kann mir ein Lachen nur schwer verkneifen. An ihrem Po ist ein kleiner Puschel angebracht. Die Hummel soll ein Tiger sein! Offenbar ist sie Seitenschläferin oder komplett schmerzbefreit.

Sie schaltet das Licht ein und wirft einen prüfenden Blick in das Zimmer, sodass ich Zeit habe, mich zu beruhigen. Letztlich drückt sie erneut auf den Schalter, schließt die Tür mindestens so rücksichtslos laut wie ich zuvor, und dreht sich ärgerlich zu mir. »Da ist nichts. Geh zurück ins Bett und lass mich nicht noch einmal für so einen Quatsch aufstehen!«

Ich murmele eine Entschuldigung und folge, innerlich dankbar, ihrer Aufforderung.

Spätestens nach ihren trampelnden Schritten zurück in ihr Büro, an das ein kleines Schlafzimmer für Mitarbeiter grenzt, dürfte die komplette Etage wach sein. Seufzend begebe ich mich unter die warme Decke und werfe einen Blick auf Milo. Er schläft friedlich. Das würde er wahrscheinlich noch tun, wenn neben uns eine Bombe explodiert.

Ich lächle in mich hinein, drehe mich zur Seite und hoffe auf einen traumlosen Restschlaf.

RABENBURG

»Haaaaaallo!«

Stöhnend wälze ich mich herum. »Was?«, gähne ich verschlafen und blinzele Milo müde an. Er hat die verdammte Gardine aufgezogen und die Sonne strahlt mir direkt ins Gesicht. Wieso ist das blöde Ding so hell?

»Na was wohl? Ich versuche schon seit geschlagenen fünf Minuten, dich zu wecken. Du sollst aufstehen, Mann! Es ist acht Uhr.«

Ich ächze wie ein alter Mann, als ich mich hochstemme.

In diesem Augenblick reißt mir Milo mit einem beherzten Ruck die Decke weg und grinst, dabei hängt ihm eine seiner schwarzen Locken keck ins Gesicht. »Geht doch«, sagt er zufrieden.

»Bist du bescheuert? Wir haben Ferien!«, schimpfe ich, lasse mich wieder fallen und vergrabe meinen Kopf im Kissen. »Gib mir die Decke wieder!«

Seine Antwort ist ein kurzes Lachen. »Nichts da. Du schläfst nicht nackt, also gibt es für mich keinen Grund, dir die Decke zurückzugeben. Komm lieber mit zum Frühstück, noch ist vermutlich was übrig.«

»Vielleicht sollte ich nackt schlafen, um derartige Szenarien zukünftig erfolgreich zu verhindern«, brumme ich. Wie kann man nur in den Ferien freiwillig so früh aufstehen? Und dann auch noch andere mit reinziehen! Nach meiner nächtlichen Unterbrechung bin ich endlich tief eingeschlafen und kaum habe ich dieses Glück … Egal. So wie ich Milo kenne, wird er nicht locker lassen. Widerwillig schwinge ich die Beine aus dem Bett.

Dabei werde ich von Milos ungeduldigem Fingergetrommel am Bettpfosten begleitet.

»Ist ja gut, ist ja gut«, knurre ich, öffne den maroden Kleiderschrank und nehme mir meine Standardsachen heraus. Eine blaue Jeans, ein schwarzer Kapuzenpulli und natürlich Unterwäsche. Damit verschwinde ich gähnend aus dem Zimmer und ignoriere das »Beeil dich!«, das mir Milo hinterherruft.

Auf den Rückweg vom Bad bleibe ich kurz stehen, um den Aushang im Flur zu betrachten.

Liebe Jungs,

am Montag um 16:00 Uhr machen wir einen Ausflug nach Kaltenberg, um die Rabenburg zu besichtigen. Bitte findet euch pünktlich um 15:45 Uhr auf dem Vorplatz ein.

Diejenigen, die nicht pünktlich sind oder gar nicht erscheinen, erwartet eine angemessene Strafe.

A. Wittich, H. Kaminski

Heimleitung

Montag – das ist heute!

Als ich Milo die freudige Nachricht überbringe, zuckt er lediglich mit den Schultern. »Macht doch nichts, ich hab eh nichts anderes vor. Du etwa?«

»Nö«, sage ich knapp und folge ihm, als er mich ungeduldig hinter sich herwinkt.

Auf dem Weg kann ich mir einen skeptischen Blick in Richtung des Geisterzimmers nicht verkneifen. Wir steigen die knarzenden Stufen hinab. »Das wird doch wieder peinlich heute, denkst du nicht?«, frage ich.

»Wie immer halt«, meint er nur, als wir in die Gemeinschaftsküche einbiegen. Victor steht dort mit einem Teller in der Hand, er hat sich gerade ein Brot gemacht. Mit einem vagen Nicken flüchtet er aus dem Speisesaal. Wahrscheinlich weiß er nicht, dass wir auf den Zimmern nicht essen sollen. Es wäre gemein, ihn in sein Verderben namens Kaminski rennen zu lassen.

»Victor?«, rufe ich, als er bereits den Treppenabsatz erreicht.

Er bleibt stehen, dreht sich um und sieht mich fragend an.

»Wir dürfen leider kein Essen mitnehmen. Aber du kannst dich ja zu uns setzen, wenn du magst.« Ich deute auf einen der Holzstühle an dem großen runden Tisch.

Schüchtern kommt er zurück und setzt sich, rührt aber sein Brot nicht an.

Während dieser kurzen Zeit hat Milo es bereits geschafft, sich ein Nutellabrot im Stehen reinzupfeifen, und bereitet gerade ein zweites zu, ehe er sich zu Victor setzt.

Ich selbst koche mir einen Tee. Mit dem dampfenden Getränk setze ich mich neben Milo, der wie ein Schwein isst. Ganz im Gegensatz zu Victor, der winzige Häppchen von seinem Brot abbeißt.

»Lasst es euch schmecken.« Ich puste in meine Tasse und atme den Duft von aromatisiertem Schwarztee ein.

»Ihr eumpf au«, antwortet Milo und ich brauche einen Moment, bis ich ihn verstanden habe.

Auf Frühstück habe ich keinen richtigen Appetit, die Nacht und die Müdigkeit liegen mir zu schwer im Magen.

Erst einmal versuche ich, Konversation zu betreiben, um die Müdigkeit restlos zu verscheuchen.

»Wart ihr schon mal auf der Rabenburg?«

Milo und Victor schütteln den Kopf.

»Ich auch nicht.«

Beide schweigen und essen weiter.

Hm. Da außer mir niemandem nach Reden zumute zu sein scheint, belege ich mir ein Brot für unterwegs und packe es ein, ehe ich nach oben gehe.

»Alle auf ihre Plätze!« Kaminski fuchtelt geschäftig herum, während Herr Wittich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen daneben steht und das Treiben beobachtet. Er hat eine Sonnenbrille auf und erinnert mich an eine alte Werbung, die ich mal beim Stöbern auf Youtube gefunden habe. Ich glaube, sie war aus den Neunzigern. Da sagt so ein Hüttenmensch: »It’s cool, man!« Irgendwie warte ich jetzt die ganze Zeit darauf, dass er so etwas sagt, aber es passiert nicht.

Milo und ich gehen im Bus ganz nach hinten durch, Victor bleibt in unserer Nähe. Ganz links sitzt Victor am Fenster, ich in der Mitte, und den Fensterplatz neben mir hat Milo sich geschnappt.

Leider sitzt Kolja nur zwei Reihen vor uns und ich wette, er hat uns längst auf dem Kieker. Von der Mitte aus kann ich ihn gut sehen, das Haar wie immer mit einer Tonne Gel eingekleistert.

Während einige sich noch ihre Plätze suchen, blicke ich zum Heim zurück. So modrig es von innen auch riecht, das rote Backsteingebäude hat einen gewissen Charme. An allen sieben großen Altbaufenstern pro Etage blättert der Lack derartig ab, dass man es sogar von hier erkennen kann. Ganz oben erinnert das Gebäude an eine Kirche, zumindest befindet sich über dem schrägen Dachfenster ein Kreuz.

Der Motor startet surrend und lullt mich in Gemeinschaftsarbeit mit der Heizung unter dem Sitz ein. Am liebsten würde ich die Augen schließen und ein wenig dösen, aber das lohnt sich nicht. Wir werden nur ungefähr fünfzehn Minuten fahren. Ich war noch nie auf der Rabenburg, obwohl der Ausflug ungefähr einmal jährlich stattfindet. Bisher war ich jedes Mal entschuldigt. Also hoffe ich, dass wir wenigstens etwas Interessantes zu sehen bekommen oder erfahren werden.

»Nächster Halt: Donnerhain.« Der Busfahrer nuschelt und ich kann es gerade so verstehen.