Fire & Frost, Band 2: Vom Feuer geküsst - Elly Blake - E-Book

Fire & Frost, Band 2: Vom Feuer geküsst E-Book

Elly Blake

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Beschreibung

Eis kann dich verbrennen. Feuer lässt dich zittern. Ruby und Arcus haben den Thron des Frostkönigs zerstört, doch bis zum Frieden zwischen Firebloods und Frostbloods ist es noch ein weiter Weg. Denn Ruby ist mit dem dunklen Wesen verbunden, das aus dem Frostthron befreit wurde und nun mordend durchs Königreich zieht. Um es aufzuhalten, muss Ruby an den Hof der Feuerkönigin reisen – an der Seite des charmanten Firebloods Kai. Und schon bald spürt sie, dass sein Feuer ihr auf mehr als eine Weise gefährlich werden könnte. Band 2 der Bestseller-Trilogie aus den USA! Die Bände der Fire & Frost-Trilogie: Band 1: Vom Eis berührt Band 2: Vom Feuer geküsst Band 3: Von der Dunkelheit geliebt

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2018 Ravensburger Verlag GmbHCopyright © 2017 by Elly BlakePublished by arrangement with Elly TakakiDie Originalausgabe erschien unter dem Titel »Fireblood« bei Little, Brown and Company.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Übersetzung: Yvonne HerganeLektorat: Gabriele DietzUmschlaggestaltung: Carolin Liepins, MünchenVerwendete Bilder von © Yuriy Zhuravov/Shutterstock, © wacomka/Shutterstock, © Chevnenko/Shutterstock, © iiiphevgeniy/Shutterstock und © Elnur/Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47924-5www.ravensburger.de

Für meine Mutter Nancy, die mich die Liebe zum Wort gelehrt hat

Auf der ausgedörrten Erde wirbelten meine Stiefel Staubwolken auf, als ich den Frostblood-Krieger umkreiste. Ein einziger kleiner Fehler, eine winzige Unaufmerksamkeit, und ich wäre verloren.

Seine linke Faust zuckte, bevor die rechte mit einem Eiszyklon hervorschoss. Aber ich kannte all seine Tricks, seine Finten, seine Ablenkungsmanöver. Ich wich aus und schleuderte aus den Handflächen eine Feuerwand auf ihn.

Mein Blick umwölkte sich, und eine Erinnerung bemächtigte sich auf einmal meiner: Meine Hände, feuerrot, wie sie sich zum eisigen Thron von Fors hinreckten, zum zeitlosen Denkmal der Frostblood-Herrschaft, dessen blitzende, todbringende Scherben mein dürftiges Feuer zu verhöhnen schienen. Ich konnte den Thron nicht schmelzen. Ich konnte den Fluch darin nicht zerstören.

Aber dann gesellte sich der Frost eines anderen zu meinem Feuer, und statt es zu löschen, verstärkte er es durch eine grellblaue Flamme, die zum Thron strebte, seine Kanten schmolz, seine Ecken abrundete, das Eis vor Wut über die Niederlage aufheulen ließ. Ich hörte, wie König Rasmus entzückt lachte, als der Minax sich aus dem sterbenden Herzen des Throns löste, sich als Schattenwesen an meine Haut schmiegte, Einlass begehrte, mir die Seligkeit von eintausend Sonnenexplosionen versprach und dass ich nie, nie, niemals wieder Schmerz oder Schwäche würde erleben müssen.

Mit einem Ruck kehrte ich in die Gegenwart zurück, taumelte, als ein eisiger Stoß mich an der Brust traf. Ich wankte, gewann mein Gleichgewicht wieder, aber meine Sicht blieb angesichts der viel zu wirklichen Erinnerung verschwommen. Neben meinem Ohr, dort, wo der Minax mich gezeichnet hatte, brannte meine Haut, und ich schrie auf.

»Ruby!«

Zwei Hände legten sich auf meine Schultern. Ich unterdrückte den Impuls, sie abzuschütteln und wegzulaufen.

Arcus’ Stimme drang tief und ruhig an mein Ohr, wollte mich besänftigen, aber der Schmerz darin war nicht zu überhören. »Atme ruhiger. Es geht vorbei.«

Es ist nicht wirklich es ist nicht wirklich es ist nicht wirklich.

Mein Herz schlug mir wie mit Fäusten gegen den Brustkorb. Etwas schnürte mir die Kehle zu. »Ich kriege keine Luft.«

Arcus schob eine Hand mit sanftem Druck zu meinem Brustbein, die abgespreizten Finger ruhten an meinem Hals. »Langsam und ruhig … Alles ist gut. Ich bin hier. Du bist in Sicherheit.«

Mit jeder Sekunde ließen die sanften Worte und seine Berührung meine Furcht ein Stück mehr schwinden. Ich blinzelte, bis ich den Schlossgarten sehen und den Duft der Rosen und der Silberkerzensträucher wieder wahrnehmen konnte. Kegelförmige Eiben standen rings um die große Lichtung Wache, dahinter beugten sich die höheren Ahornbäume und Birken über die immergrünen Büsche wie noble Herren über die Hand edler Damen. Die Wärme des spätsommerlichen Sonnenuntergangs beruhigte mich, ebenso wie das gelegentliche Rauschen der Blätter, die von der Hand von Cirrus, dem Westwind, gestreift wurden.

Ich wandte den Kopf und versank in Arcus’ eisblauen Augen. Seine Brauen waren sorgenvoll hochgezogen. Arcus’ Gesicht war bleich. Ich fuhr ihm mit einer zitternden Hand über die kalte Wange und lächelte, weil er nicht zusammenfuhr, als ich mit den Fingerspitzen seine Narben berührte.

»Deine Schübe häufen sich«, sagte er.

Als ich mit den Schultern zuckte, löste sich seine Hand, die immer noch an meinem Hals gelegen hatte, und rutschte zur Wölbung meiner Brust hinunter. Offenbar bemerkten wir das beide zugleich, denn ich spürte, wie ich errötete, und Arcus senkte hastig den Blick und ließ seine Hand zu meinem Oberarm wandern.

Es gab immer noch unausgesprochene Grenzen, die wir nicht überschritten, und ich war mir nicht sicher, ob dies an Arcus’ Selbstbeherrschung lag oder an der Tatsache, dass es nur selten Zeiten gab, in denen wir allein waren, und wir allzu oft gestört wurden.

»Habt ihr inzwischen etwas Neues über den Fluch herausgefunden?«, fragte er.

»Noch nicht.« Bruder Thistle und ich hatten viele Stunden damit zugebracht, in der Palastbibliothek nach Informationen über den Minax zu suchen, das Schattenwesen, das von Eurus, dem Gott des Ostwinds, in den Eisthron eingesperrt worden war. Eurus’ Fluch korrumpierte jeden Herrscher, der den Thron bestieg, stachelte ihn zu Krieg und Tyrannei auf, was den Fluch nur noch weiter befeuerte. Je mehr Gewalt und Tod, desto mehr erstarkte seine Macht.

Der Minax hatte in Arcus’ jüngerem Bruder Rasmus ein leichtes Opfer gefunden, in einem jungen Mann, der zu viel Wut und Angst in sich trug, um gegen den Fluch anzukämpfen. Unter dem Einfluss der verlockenden Versprechungen und der rauschhaften Befreiung von Furcht und Schmerz hatte König Rasmus seine Soldaten ausgeschickt, um Firebloods zu jagen und zu töten, und so hatten viele der Meinen bei Überfällen und Plünderungen ihr Leben verloren. Die Stärksten allerdings wurden in die Hauptstadt Forsia verschleppt, wo sie in der Arena des Königs kämpfen und sterben mussten. Soweit ich wusste, war ich die einzige Fireblood im ganzen Reich, die überlebt hatte, und mithilfe von Arcus und Bruder Thistle war es mir gelungen, den Thron zu schmelzen. Wir hatten angenommen, auch der Fluch würde damit gebrochen sein.

Aber wir hatten uns getäuscht.

Und nun taten Bruder Thistle und ich unser Bestes, meinen Visionen ein Ende zu bereiten, und damit auch dem Minax selbst.

Gedankenverloren rieb ich mir über die Narbe an meinem kleinen Finger. Sie kribbelte, wenn ich aufgebracht war, eine ständige Erinnerung an meine Zeit in der Frostblood-Arena und an das, was ich hatte tun müssen, um Arcus zu helfen, seinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron einzunehmen. Aber jetzt, da der Minax immer noch frei umherwanderte, sich fremder Körper bemächtigte und darauf wartete, dass seine Zeit kam, begann ich mich zu fragen, ob ich durch die Zerstörung des Throns nicht mehr Schaden als Nutzen verursacht hatte.

Arcus beobachtete mich eine Minute lang, dann nahm er meine Hand und zog mich durch eine kaum sichtbare Lücke in der grünen Hecke auf einen sich windenden Pfad. »Ich möchte dir etwas zeigen. Schließ die Augen!«

Ich ließ mich von ihm führen. Der Boden unter meinen Füßen war mit Steinplatten und weichen Kiefernnadeln bedeckt, dann plötzlich wechselte er zu Kies, der unter unseren Stiefeln knirschte.

»Da sind wir. Du kannst die Augen wieder aufmachen.«

Er hielt meine Hand weiter fest, als ich die Augen aufschlug. Wir standen inmitten eines kleinen Urwalds aus Blumen, Büschen und klein gewachsenen Bäumen.

»Es ist alles weiß!«, keuchte ich erstaunt und näherte mich einem großen Kübel, in dem eine üppige Pflanze mit alabasterweißen Stängeln im blitzenden Sonnenlicht ihre Blütenpracht entfaltete. Ich strich über ein Blütenblatt, und die Kälte biss mir in den Finger. »Die sind ja aus Eis!«

Arcus stellte sich hinter mich, seine Brust streifte nur leicht meinen Rücken, und seine Hand berührte meine, als er die Blüte umfasste, die ich bewundert hatte. »Gefallen sie dir?«

Wie weiße Hobelspäne wölbten sich Blütenblätter über sanft gebogenen Stängeln, Stauden mit delikat durchbrochenen Rändern wie gehäkelte Spitze hoben die Köpfe aus dem Beet. Hohe, fedrige Farnwedel thronten über dichten Eisrosentrauben wie Eltern, die über einem Bett schlafender Kinder wachen. Winzige Bäumchen mit durchscheinendem Stamm, deren Rinde von einer frostigen Holzmaserung verziert war, trugen stolz ihre flachen, geäderten Blätter und pfirsichförmigen Früchte zur Schau. Eiskristalle hingen wie gefrorene Tränen von jedem Ast und jedem Zweig und schlugen leise klimpernd als verdrillte, feengleiche Gestalten in der morgendlichen Brise aneinander.

»Wunderschön«, hauchte ich. Seine Augen funkelten erfreut.

»Ich hatte gehofft, dass es dir gefallen würde«, sagte er weich. »Auch wenn es nicht gerade das naheliegendste Geschenk an eine Fireblood ist.«

In seiner Stimme schwang Verletzlichkeit mit, und ganz plötzlich wurde mir klar, warum. »Das hast du erschaffen?« Ehrfürchtig ließ ich den Blick noch einmal durch den Garten wandern, über das Meer der im Wind schwankenden Blumen, die sorgsam gestutzten Sträucher, die ranken Baumstämme und die gebogene, fast anderthalb Meter hohe Eismauer, die alles umgab. »Du ganz allein?«

Er nickte, auf den Lippen ein spitzbübisches Lächeln. »Es treibt Fürst Usthatius zur Verzweiflung, mich hier anzutreffen statt im Ratssaal. Aber ich habe ihm erklärt, dass mir das beim Nachdenken hilft.«

»Hilft es wirklich?«

»Ja. Es hilft mir, an dich zu denken.«

Seine Zärtlichkeit schmolz die letzte Anspannung in meinem Körper. Er schlang die Arme um mich, ich legte ihm meine um den Nacken, und unsere Lippen trafen sich vorsichtig und zart, als bestünden wir selbst aus demselben dünnen Eis wie die frostigen Blüten, das zerbrechen könnte, wenn wir uns zu fest aneinanderpressten.

Meine Fireblood-Haut wärmte seine, die bestürzende Kälte seiner Lippen kühlte meine auf eine angenehme Temperatur. Sein Kuss war weich und forschend, seine frisch rasierten Wangen seidenweich, der Geruch nach Seife von einem Hauch seines Körperdufts betont, den ich berauschender und schöner fand als jeden noch so betörenden Wildblumenstrauß.

Lange verloren wir uns in dem Gefühl, beieinander zu sein, ließen uns von der seltsamen Musik umfangen, die der Eisgarten um uns herum erzeugte. Arcus strich mir mit einer Hand über die Wange, mit der anderen zog er mich fester, fordernder an sich. Er schmeckte nach dem Minztee, den er jeden Morgen trank, und sein Haar fühlte sich unter meinen Fingern dicht und samtig weich an. Wie ein Garn von einer Spule, die über den Boden rollt, löste sich meine Selbstbeherrschung. Hitze entströmte meinem Körper, sodass aus den Bäumen über uns kleine Tropfen Schmelzwasser auf unsere Wangen herabfielen. Arcus lächelte und strich mir die Tröpfchen von Augenbrauen und Nase.

Ich trat gerade weit genug von ihm zurück, um ihm in die Augen sehen zu können. »Ich wäre schon mit einer einzigen Blume glücklich gewesen.«

»Eine einzige Blume wäre doch innerhalb von ein, zwei Stunden geschmolzen«, sagte er, und seine Stimme war heiserer als sonst.

Ich zog eine Braue hoch. »Denkst du wirklich, sie hätte eine ganze Stunde in meiner Hand überlebt?«

Er grinste, bevor er mich noch einmal küsste, die Arme eng um meine Taille gelegt. »Ich weiß, dass du manchmal aus dem Schloss rausmusst, und ich wollte dir etwas schenken, was dich daran erinnert, dass Eis nicht immer hart und gnadenlos sein muss. Es kann auch zart und einladend und formbar sein, es kann sich in vielerlei Gestalt zeigen, schmelzen und beim nächsten Mal in neuer Form wieder erkalten.«

Beim Klang seiner fürsorglichen Worte wurde mir warm ums Herz. Ja, es stimmte, nur zu gern wäre ich von Zeit zu Zeit dem königlichen Hof entflohen. Immer wenn der neue König nicht zugegen war, starrten die Höflinge mich an und machten sich ungeniert über mich lustig, stellten seine Entscheidung, eine »wilde Fireblood« in den Palast zu holen, unverhohlen infrage. Ich fürchtete, ich könnte für Arcus zur Belastung werden, denn er stand vor der großen Aufgabe, die neuen Mitglieder des Hofs, die ihn während der Rebellion unterstützt hatten, mit den etablierten Höflingen zu versöhnen, die seinerzeit König Rasmus nahegestanden hatten. Dass der neue König nun eine Fireblood nicht nur tolerierte und begünstigte, sondern vielleicht sogar in sie verliebt war, ging dabei so manchem zu weit.

Aber Arcus’ Worte erinnerten mich daran, dass er nicht wie sein Hofstaat war, dass er bereit war, sich mir anzupassen, wenn ich das brauchte, dass er mich so annahm, wie ich war, selbst wenn niemand anders es tat. Und das rührte mich mehr, als ich hätte sagen können. Ich wünschte, ich hätte die richtigen Worte finden können, um es auszudrücken, aber in letzter Zeit schien mir das immer schwerer zu fallen.

Gefühle für ihn zu haben war einfach. Doch diese Gefühle in Worte zu kleiden, wurde zunehmend schwierig für mich.

Arcus schaute mir in die Augen und lächelte, und er sah dabei so umwerfend und männlich aus, dass mein Herz raste. Immer wenn er lächelte, wurde sein strenges Gesicht strahlend schön. Ich schlang die Arme um seinen Nacken, spielte mit seinem Haar. Er zog mich an sich, seine Lippen streiften meine Wange und wanderten dann tiefer zur pulsierenden Halsschlagader.

Ein lautes Husten durchbrach die Stille. Ich zuckte zurück, doch Arcus presste den Mund weiter auf meinen Hals und ließ mich erst los, als ich die Hände gegen seinen Brustkorb stemmte. Er drückte mir einen letzten Kuss auf die Wange und drehte sich dann langsam um, die Arme immer noch um meine Taille geschlungen.

»Fürst Usthatius, Euer Timing ist mit Abstand schlechter als bei jedem anderen Menschen, den ich kenne. Was auch immer Euer Begehr sein mag, ich bin sicher, es hat Zeit.«

Er wollte sich wieder zu mir umdrehen, doch der Berater hüstelte mit säuerlichem Gesicht noch einmal und schaffte es tatsächlich, in dieses Hüsteln sowohl eine Entschuldigung als auch Missbilligung zu legen. »Ich fürchte, es hat keineswegs Zeit, Majestät. Es handelt sich um eine dringliche Angelegenheit.«

Arcus seufzte frustriert, und sein Blick umwölkte sich. »Wie viele dringliche Angelegenheiten denn noch …?«

»Sehr viele«, erwiderte Fürst Usthatius mit Augen, so grau schimmernd wie eine Gewitterwolke – ein klares Zeichen dafür, dass er gleich zu einer seiner nur allzu vertrauten Strafpredigten ansetzen würde. »Wenn man ganze Armeen nach Hause beordert, diplomatische Gespräche mit den Nachbarländern führt, die Herzen des Volkes für sich zu gewinnen versucht, und all dies gleichzeitig, dann ist es nun einmal so, dass man von allen Seiten gefordert wird. Hingabe. Opfer. Selbstlosigkeit. All dies wird von Euch erwartet, wenn Eure ehrgeizigen Pläne eine Chance haben sollen, in Erfüllung …«

»In Erfüllung zu gehen, ich weiß«, unterbrach ihn Arcus. »Ja, mein geschätzter Ratgeber, Ihr habt mir diese Lektion so tief in den Kopf gehämmert, dass ich die Worte selbst nachts im Schlaf noch höre. Allerdings brauche auch ich ab und zu ein bisschen frische Luft, um nicht völlig verrückt zu werden. Die Wahrnehmung dieses Bedürfnisses werdet Ihr mir doch sicherlich gönnen, nicht wahr?«

»Wenn Ihr das Bedürfnis nennen wollt, Majestät …«

Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen anfingen.

Arcus drückte besänftigend meine Hand. »Worin besteht die Krise denn diesmal?«

»Ein Botschafter aus Safra ist soeben eingetroffen, und er besteht darauf, seine Nachricht ausschließlich Eurer Majestät persönlich zu überbringen. Außerdem habe ich eine Krisensitzung des Rates einberufen, um zu besprechen, wie die Verwundeten versorgt werden sollen, die aus den Kriegen heimkehren. Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Forsia kommen, wird täglich höher, und wir müssen den steigenden Bedarf an medizinischer Versorgung und Unterkünften decken.«

Mit jedem Wort schienen sich immer mehr Gewichte auf Arcus’ Schultern herabzusenken. Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich mir zu.

»Es tut mir leid«, sagte er leise.

Ich schüttelte den Kopf. »Du wirst gebraucht. Ich bin froh, dass ich dich überhaupt sehen konnte.«

Als er die Lippen aufeinanderpresste, kräuselte sich die Narbe an seiner Oberlippe. »Ich wünschte, das wäre alles nicht so kompliziert. Wollen wir uns morgen zur Abenddämmerung wieder treffen?«

»Gern, wenn du es einrichten kannst.«

»Auf jeden Fall.« Er betrachtete mich eingehend. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Natürlich. Keine Visionen mehr.«

Er erwiderte mein Lächeln, aber seine Augen wirkten ernst. Ein letztes Mal drückte er meine Hand, dann machte er sich auf den Weg zum Schloss. Fürst Usthatius wollte ihm folgen, blieb jedoch stehen und drehte sich zu mir um.

»Was ist?«, fragte ich. Immer noch fühlte ich mich verletzlich und ungeschützt – sowohl vor der lebhaften Erinnerung an die Flucht des Minax aus dem Thron als auch vor Arcus’ Küssen. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, um meine Hitze unter Kontrolle zu halten, die angestiegen war, wie immer wenn starke Gefühle mich erfassten.

Trotz seines Argwohns mir gegenüber klang Fürst Usthatius’ Stimme ganz ruhig. »Ihr tut ihm keinen Gefallen, indem Ihr ihn von seinen Pflichten als König ablenkt.«

»Ich zwinge ihn nicht, Zeit mit mir zu verbringen.«

»Aber Ihr ermutigt ihn dazu. Vielleicht solltet Ihr bedenken, welches Ziel er zu erreichen sucht. Für ihn und das Königreich wäre es besser und unkomplizierter, wenn Ihr nicht hier wärt.«

Seine schonungslose Offenheit ließ mich überrascht verstummen. Doch dann fand ich meine Stimme wieder. »Ihr findet also, ich sollte den Hof verlassen? Um Tempesiens willen?«

»Und um des Königs willen. Er führt hier jetzt ein neues Leben, und seine Zuneigung zu Euch bringt ihm beim Hofstaat keine Wertschätzung ein, im Gegenteil.«

Es war, als hielte er mein wundes Herz in seiner Hand und richtete einen Pfeil darauf. »Dass der Hofstaat dem König zu wenig Wertschätzung entgegenbringt, ist mir durchaus bewusst.«

Fürst Usthatius’ Ausdruck wurde weicher, fast als würde er mich bemitleiden, was sich noch schlimmer anfühlte als sein Tadel. »Lasst ihn in die Zukunft blicken. Lasst ihn selbst wählen, was für ihn das Beste ist, dann kann er in die Rolle des Königs hineinwachsen, der er sein sollte.«

»Und mit ›das Beste‹ meint Ihr Eure Tochter, nehme ich an?«

Er schob kaum merklich das Kinn vor. »Lady Marellas Tugenden und Fähigkeiten werden Euch sicher nicht entgangen sein. Jeder Mann, der ihre Hand bekäme, könnte sich glücklich schätzen, ganz besonders ein König, der darauf angewiesen ist, am Hof starke Verbündete zu haben.«

Ich senkte den Blick und versuchte die Eifersucht abzuschütteln, die mir die Kehle zuschnürte. Das Schlimmste war: Fürst Usthatius hatte recht. Marella war eine Frostblood von edlem Geblüt, selbstsicher, klug und bezaubernd, die perfekte Gefährtin, die Arcus den Weg als König auf die unterschiedlichste Weise ebnen konnte. Ich hingegen war eine dahergelaufene schlichte Fireblood, das Herz voller Flammen und das perfekte Ziel für das Misstrauen des gesamten tempesischen Volkes. Ich hätte nicht einmal dann eine schlechtere Partie für den Frostkönig abgeben können, wenn mich ein übel gesinnter Gott als sein komplettes Gegenteil erschaffen hätte.

»Ich sage dies alles nicht, um Euch zu kränken«, fuhr Fürst Usthatius fort. »Ich weiß, dass Ihr es versteht. Es ist nicht gut, die Wahrheit zu leugnen.«

»Die Wahrheit ist«, konterte ich, »dass ich meine Entscheidungen nicht davon abhängig mache, was der Hofstaat wünscht. Ich werde hier bleiben, solange König Arkanus mich hier haben möchte.« Ich hob das Kinn und zwang mich, seinem kalten, brennenden Blick standzuhalten.

»Dann möge das Glück Euch hold sein, Miss Otrera«, sagte er schließlich, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er mich für ein dummes Kind hielt. »Ich fürchte nur, Ihr klettert viel höher, als Euch zugedacht gewesen wäre. Genau wie Pragera, der einst versuchte, Mount Tempus zu besteigen, um den Hort der Götter zu erreichen, und als Strafe für diese Anmaßung dazu verdammt wurde, bis in alle Ewigkeit ins Bodenlose zu stürzen.«

»In der Fireblood-Version der Legende«, wandte ich ein, »erbarmt sich Cirrus seiner und schenkt ihm Flügel, während er fällt.«

»Dann wollen wir hoffen, dass Eure Version die richtige ist. Ihr wandelt näher am Abgrund, als Ihr wohl denkt.«

*

»Wieder ein Festmahl am Hof, Mylady?«, fragte Doreena, während sie mir das Kleid – ein überladenes, hochtailliertes Ding aus ockerfarbener Seide – im Rücken zuknöpfte.

»Ja, ich freue mich auch schon sehr«, erwiderte ich und gab mir Mühe, nicht zu viel herumzuzappeln. »Arcus ist offenbar der Ansicht, je öfter er mich dem Hofstaat vor die Nase setzt, desto eher schließt man mich ins Herz. Klar, je öfter man in Pferdeäpfel tritt, desto mehr liebt man Pferde, nicht wahr?«

Doreena lachte auf ihre leise, verhaltene Art. »Habt Ihr bei Lady Marella Unterricht in Sarkasmus genommen?«

»Ich denke, das ist das einzige Fach, in dem ich keine Nachhilfe von ihr brauche.«

Doreena lächelte mich an. »Also, Ihr seid eindeutig weder ein Pferd noch seine …« Sie räusperte sich, um den Rest des Satzes nicht aussprechen zu müssen, was mich einmal mehr daran erinnerte, dass sie wesentlich kultivierter war, als ich es je sein würde. »Ihr seid so bezaubernd, dass man Euch sehr schnell ins Herz schließt, Mylady. Und bevor Ihr protestiert – ja, Ihr seid eine Lady. Schon allein, weil der König Euch so nennt. Ihr tragt teure Kleider und habt ein wunderschönes Gemach. Erst wenn Ihr Euren Platz akzeptiert, wird der Hofstaat Euch akzeptieren.«

Als wäre das so einfach … Aber in Bezug auf mein Zimmer hatte sie durchaus recht. Rote Brokatvorhänge machten aus meinem Himmelbett einen gemütlichen Kokon. Durch ein Bogenfenster mit Fensterkreuz, vor dem eine einladende Bank stand, konnte ich in den Garten mit seinen üppig wuchernden und in Form geschnittenen Hecken hinaussehen. Ein dick gepolsterter Ohrensessel schmiegte sich zwischen den Kamin und ein mit Büchern beladenes Mahagoniregal. Der Raum lag in dem Flügel, der von der königlichen Familie bewohnt wurde, und Arcus hatte ihn für mich ausgesucht. Er tat sein Bestes, es mir hier, an einem Ort weit weg von meinem Zuhause, so bequem wie möglich zu machen.

Und was genau war eigentlich mein Zuhause? Auch wenn die Menschen jetzt, wo die Jagd auf die Firebloods zu Ende war, inzwischen in mein Dorf zurückgekehrt waren – ohne meine Mutter würde es dennoch nie wieder dasselbe sein.

Wie ein Messer durchbohrte mich die Trauer. Meine Mutter war bei dem Versuch gestorben, mich vor den Soldaten des Frostkönigs zu beschützen, vor dem Hauptmann, der sie getötet und danach unser Dorf niedergebrannt hatte. Wäre sie jetzt hier, hätte sie mir sicherlich geraten, zu versuchen mich anzupassen, den Menschen ihre Vorurteile nachzusehen, die Hitze zu verbergen, die ihnen allen solch eine Angst einjagte. Aber genau das hatte ich während der letzten Wochen versucht.

Ich zupfte an der duftigen Spitze, die über meine Handgelenke herabhing, verbarg meinen Schmerz hinter kleinkarierten Nörgeleien. »Könntest du bitte der Schneiderin sagen, dass ich an Ärmeln und Kragen weniger Spitze möchte? Marellas Kleider werden immer schlicht geschneidert, aber bei mir scheint die Frau zu glauben, ich sollte in den Dingern aussehen, als wäre ich zu jung, um mir mein Essen selbst zu schneiden.«

Doreena ließ den Blick über mich wandern. »Ihr seht wunderhübsch aus, Mylady. Ihr seid vielleicht nur aufgeregt.«

Ich unterdrückte den Drang, mit ihr zu streiten. Jetzt wo sie ganz offiziell meine Kammerzofe war, war ich froh, dass sie mir vertraute und endlich freier sagte, was sie dachte. Außerdem hatte sie recht. Ich war wirklich aufgeregt.

»Ich hasse es, diesen versnobten Adeligen begegnen zu müssen. Sie starren mich an, als könnte ich jede Sekunde in Flammen aufgehen. Gestern Abend hat Lady Blanding mir Wein übers Kleid geschüttet und mir dabei geradewegs in die Augen gesehen! Am liebsten hätte ich ihre Haare in Brand gesteckt.«

Doreena stellte sich vor mich und musterte mich ernsthaft aus ihren braunen Eulenaugen. Immer noch wirkte sie wie ein Lebewesen aus dem Wald, schreckhaft und bereit, bei der geringsten Bewegung davonzuhuschen. Aber sie war die Erste gewesen, die sich mir gegenüber hier freundlich verhalten hatte, was angesichts der Tatsache, dass damals noch König Rasmus regierte, durchaus als sehr mutig gelten konnte.

»Ihr dürft nicht zulassen, dass Euer Temperament mit Euch durchgeht«, riet sie mir, und das nicht zum ersten Mal. »Denn dann lauft Ihr Gefahr, die Kontrolle über Eure Gabe zu verlieren. Und genau darauf lauern sie, um zu beweisen, dass Firebloods gefährlich und für den Hof untragbar sind. Sie wollen, dass der König Euch so sieht, wie sie Euch sehen: als Bedrohung.«

Bis zu einem gewissen Grad verstand ich sogar, warum sie mir gegenüber so feindselig waren. Nach mehreren Jahrhunderten der Kriege und gebrochenen Abkommen hatten Firebloods und Frostbloods nichts als tiefes Misstrauen füreinander übrig. Ich betrachtete meine Hände, klein und sonnengegerbt und harmlos wirkend, aber mit der Fähigkeit ausgestattet, ein ganzes Bataillon auszumerzen, wenn ich es wollte. Kein Wunder, dass ich am Hof gefürchtet war. Manchmal hatte ich sogar Angst vor mir selbst.

Ich sah in Doreenas bittendes Gesicht. »Es ist schwer, zu lächeln und so zu tun, als würde ich ihre Beleidigungen nicht hören.«

»Ihr müsst auch nicht lächeln. Sie einfach nur nicht in Brand stecken, das reicht.«

Ich brummte wenig überzeugt. »Das kann ich nicht garantieren.«

*

Auf dem Weg zum Speisesaal streifte mich eisige Zugluft, die aus der offenen Tür des ehemaligen Thronsaals strömte, und sofort bekam ich eine Gänsehaut. In den Wochen, seit ich den Thron geschmolzen hatte, hatte ich diesen Raum nicht mehr betreten, aber heute zog seine beklemmende Leere mich an, die gespenstische Stille, in der die Staubflocken im Zwielicht träge umherwirbelten. Bei Sonnenaufgang erstrahlten die Mosaikfliesen in grellen Farben, jetzt hingegen sah alles wie zu Grau verwaschen aus, muffig und verlassen.

Arcus benutzte diesen Raum nicht mehr als Thronsaal – er beherbergte das Echo von zu vielen entsetzlichen Erinnerungen. Stattdessen hatte er seinen schlichten, bescheidenen kantigen Eisthron in einem Empfangszimmer im Erdgeschoss platziert.

Meine weich besohlten Schuhe machten kein Geräusch, als ich mich der Stelle näherte, wo jahrhundertelang der massige Frostthron gestanden hatte.

Der Legende zufolge – oder der Geschichte, wenn man daran glaubte, dass die Überlieferungen wahr waren – war der Thron von Fors, dem Gott des Nordwinds, höchstselbst in Eis gehauen worden. Die Frostbloods einfach nur zu erschaffen hatte ihm nicht gereicht, er hatte ihnen auch einen riesigen Eisthron beschert, der die Macht ihrer Herrscher stärken sollte. Ein ausgesprochen hilfreiches Geschenk, wenn man bedachte, wie häufig zwischen den Frostbloods und den Firebloods Kriege aufflammten.

Um Fors nicht nachzustehen, hatte seine Zwillingsschwester Sud, Göttin des Südwinds, einen Thron aus Lava geformt, um ihren Fireblood-Herrschern mehr Macht zu verleihen.

Und auch ihr Bruder Eurus, Gott des Ostwinds, hatte versucht, seine eigene Menschenrasse zu erschaffen, doch er war gescheitert und hatte stattdessen nur gefräßige Schattenwesen zustande gebracht, die Frostbloods und Firebloods gleichermaßen töteten. Also hatte sich auch die weise und friedliebende Cirrus, Göttin des Westwinds, schließlich eingemischt und die Tausende von schattenartigen Minaxe an einen unterirdischen Ort namens Obscurum verbannt, eingekerkert hinter einem Tor des Lichts, das kein Sterblicher aufbrechen konnte. Und Neb, die Mutter der vier Geschwister, hatte verfügt, dass keins ihrer Kinder sich je wieder um die Belange der Sterblichen kümmern sollte, was bedeutete, dass das Tor des Lichts für alle Zeit verschlossen bleiben würde.

Doch Eurus, verschlagen, wie er war, hatte zwei seiner Minaxe vor der Verbannung gerettet und jeweils einen im Thron der Firebloods und der Frostbloods versteckt. Jeder Minax verfügte über die Macht, sich der Menschen zu bemächtigen, Könige und Königinnen zu Hass und Feindseligkeit aufzustacheln. Sie provozierten damit Kriege und Aufruhr und schickte unzählige Firebloods und Frostbloods in den Tod.

Nun war der Thron von Fors vernichtet, nachdem er jahrhundertelang die Vorherrschaft der Frostbloods gesichert hatte. An der Stelle, wo er gestanden hatte, erinnerte nur noch ein dunkler, nie wieder zu entfernender Fleck an ihn, ein rundes, schwarz glänzendes Mal. Darüber hinaus gab es noch die Narbe an meinem linken Ohr, die von der Wunde herrührte, die der Minax mir in ebendiesem Raum zugefügt hatte, gleich nachdem er aus dem geschmolzenen Thron entkommen war.

Ich strich mit den Fingern über die herzförmige Narbe.

Und sofort tauchte ich wieder tief in eine finstere Vision ein.

Ich stehe in einem höhlenartigen Raum mit schwarzen Steinsäulen, die sich hoch in die Finsternis recken. Ich bewege mich über den Boden, nicht gehend, sondern gleitend, es ist wie ein heiseres Verströmen, als bestünde ich aus Luft. Mit quälender Langsamkeit zeichnet sich ein schwerer schwarzer Umriss ab, schält sich als zerzaustes asymmetrisches Viereck aus der Nacht heraus.

Es ist ein Thron – groß genug, um zehn Männern Platz zu bieten, und doch sitzt nur eine einzige schmale Gestalt darauf, deren Füße weit über dem Boden baumeln. Grünliches Licht bricht sich in der Onyxkrone, deren Zacken spitz und knorrig sind wie ein verdrilltes, verwobenes Geweih, das sich zwei Handbreit hoch in die Luft streckt. Die Gestalt hält den Kopf leicht gebeugt, als wäre die Krone zu schwer für ihren zarten Hals. Als sie die Lider hebt, leuchten gelbe Augen auf, die mich dort festhalten, wo ich mich befinde, mehrere Meter von ihr entfernt. Ich kippe im undeutlichen Versuch einer Verbeugung nach vorn, dann richte ich mich wieder auf.

»Komm näher«, sagt die Gestalt. Die sanfte Stimme einer Frau.

Nur zu willfährig gehorche ich ihr und sehne mich danach, unter ihre Haut zu kriechen, um ihre Macht zu spüren.

»Hast du den Stein?«, fragt sie.

Ich reiche ihn ihr. Als sie ihn empfängt, erglüht ein Feuerschein um ihn herum und erleuchtet den Raum. Ein triumphierendes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, und der Anblick spült Glückseligkeit in mein Herz.

»Gut gemacht«, sagt sie. »Dafür sollst du entlohnt werden.«

Sie winkt mich näher heran, und Freude erfüllt jeden meiner Gedanken.

Während ich in ihre Finger hineinsickere, sehe ich zu ihrem Gesicht hoch. Tintendunkle Haarsträhnen kleben ihr an Wangen und Kinn.

Plötzlich war ich wieder zurück im Thronsaal und rang um den nächsten Atemzug. Schmerz pochte in meinen Handflächen. Ich bog die Fäuste auf – meine Fingernägel hatten mir zornige rote Halbmonde in die Haut gestanzt.

Ich rieb mir mit den Händen übers Gesicht, versuchte das Entsetzen über das Wiedererkennen wegzuwischen.

Denn als ich mich auf die Königin mit der knorrigen schwarzen Krone zubewegt hatte, war ihr Gesicht mein eigenes gewesen.

Zu gern wäre ich aus dem Thronsaal geflohen, so schnell und so weit ich konnte, aber ich war mir der Wachen draußen auf dem Flur nur allzu bewusst. Also kniff ich mir nur in die Ohrläppchen und rief mich selbst zur Ordnung. Reiß dich zusammen, Ruby. Du kannst hier nicht wie ein wilder Stier durch den Palast wüten.

Ich brauchte Bruder Thistle. Er kannte sich so gut mit Geschichte und Legenden aus, vielleicht konnte er sich einen Reim darauf machen, was meine Vision zu bedeuten hatte. Als Arcus’ engster Vertrauter seit der Zeit, in der sie beide in der Forwind-Abtei gelebt hatten, leistete er dem König und dem Hofstaat häufig bei Abendessen Gesellschaft. Ich streckte den Rücken durch und machte mich auf wackligen Beinen auf den Weg zum Speisesaal. An der Tür angekommen, hielt ich inne, um meine Gefühle unter einer glatten Maske zu verbergen. Dann trat ich ein.

Eine lange Reihe brennender Fackeln in schwarzen Metallständern säumte die Wände, unzählige Kerzen flirrten wie Leuchtkäfer über den Eiszapfen, die von einem riesigen Kandelaber herabhingen. Der Geruch nach geröstetem Fleisch vermischte sich mit den blumigen Parfümdüften der anwesenden Damen.

Arcus saß am Kopfende der Tafel, ungezwungen mit einem mitternachtsblauen Wams bekleidet, das mahagonifarbene Haar mit dem schlichten Silberband verziert, das er zu feierlichen Anlässen statt seiner Krone trug. Ich suchte am Tisch nach Bruder Thistle, konnte ihn zu meiner Enttäuschung aber nicht unter den Gästen entdecken. Bestimmt hatte er eine Ausrede erfunden, um in der Schlossbibliothek bleiben zu können, wo er über seinen Büchern kauerte wie eine Glucke, die über ihren Eiern brütet. Ich wandte mich wieder zur Tür, aber da hatte Arcus mich schon bemerkt und stand auf.

Ich saß in der Falle. Jetzt konnte ich nicht mehr verschwinden, ohne unhöflich zu sein.

Alle anderen Männer erhoben sich ebenfalls, manche bereitwillig, wie Fürst Manus und Fürst Pell, die neu am Hof waren. Doch sie besaßen nicht so viele Ländereien und Mittel wie die anderen, wie Fürst Blanding und Fürst Regier etwa, zwei Bollwerke aus der alten Garde von König Rasmus, die Arcus aber an seiner Seite brauchte, um die Macht und Einigkeit des Reichs zu erhalten.

Diese Fürsten erhoben sich bei meinem Eintreffen schon sehr viel langsamer und widerstrebend.

Arcus deutete auf einen Stuhl zu seiner Rechten, der aus Eis geschnitzt und mit einem weißen Fuchspelz bedeckt war. Ein Schauer rieselte mir über den Rücken, während ich auf ihn zuging und mich auf den vertrauten Stuhl setzte. Der Platz zur Rechten des Königs war ein Ehrenplatz, aber genau hier hatte ich auch sitzen müssen, wenn König Rasmus mich gezwungen hatte, mit ihm zu speisen – eine Tradition zu Ehren der Meister, die in der Arena siegreich gewesen waren. Ich hatte die zweifelhafte Ehre besessen, als erste Fireblood gegen seine Frostblood-Meister zu siegen, und das hatte seine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt, auf vielfache Weise, die ich nur zu gern vergessen hätte. Wie Rauch in einem fensterlosen Zimmer hing die Erinnerung an den früheren König im Speisesaal.

Mit raschelnden Kleidern nahmen die Edelleute wieder Platz. Der dickliche Fürst Blanding seufzte wohlig, seine Gemahlin berührte ihre kunstvolle graue Hochsteckfrisur und schnaubte hörbar, bevor sie sich zu Lady Regier umwandte. »Ich habe immer das Gefühl, versengtes Fleisch zu riechen, sobald das Fireblood-Mädchen sich nähert«, raunte sie in gespieltem, doch nur allzu gut vernehmbarem Flüsterton.

Die bezaubernde Marella, die auf der gegenüberliegenden Tischseite saß, fing meinen Blick auf und neigte den Kopf in ihre Richtung. »Ich habe immer das Gefühl, Mottenkugeln zu riechen, sobald die alte Nebelkrähe mit uns speist.«

Fürst Manus prustete, versuchte sein Lachen aber gleich als Husten zu tarnen.

»Marella«, wisperte ich mit strengem Blick. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war, dass sie die Aufmerksamkeit der anderen auf mich lenkte.

Die aquamarinblaue Feder an ihrem Stirnband bog sich elegant über ihr geflochtenes weizenblondes Haar, als sie sich zu mir herüberbeugte. »Keine Sorge. Sie hört nur etwas, wenn man ihr direkt ins Ohr schreit. Ich könnte ihr raten, von den Klippen im Osten zu springen, und sie würde mir trotzdem nur ein Kompliment zu meinem Kleid machen.«

Ihr alles andere als unschuldiges Grinsen entlockte Lady Blanding ein Lächeln. »Ihr seht heute Abend göttlich aus, Lady Marella. Eure Schneiderin hat sich mal wieder selbst übertroffen. Und diese kecke Feder …«

»Vielen Dank, Lady Blanding«, erwiderte Marella mit einem leichten Kopfnicken. »Euer Haar sieht aus wie ein Wespennest.«

Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht loszulachen. Mit einem glücklichen Lächeln nippte Lady Blanding an ihrem Wein.

Fürst Usthatius, der zur Linken des Königs saß, starrte seine Tochter an. »Du hast ein Mitglied des Hofstaats beleidigt, und damit auch den König selbst.«

»Sie kann mich doch gar nicht hören«, erwiderte Marella leichthin und nickte, als ein Diener ihr mehrere hauchdünne Scheiben Rinderbraten auf den Teller legte.

»Wir anderen dafür umso besser«, sagte Fürst Usthatius. »Du schuldest dem König eine Entschuldigung.«

Sie sah Arcus an und zog die Augenbrauen hoch. »Soll ich auf Knien rutschen, Eure Majestät, oder reicht ein schuldbewusstes Händeringen?«

Arcus presste die Lippen aufeinander, um sein Lächeln zu verbergen. »Um ehrlich zu sein, sehe ich keinen Grund, warum du dich entschuldigen solltest. Du hast nur einen Gast vor einem anderen beschützt. Aber wenn du unbedingt Buße tun willst …«

»Das will ich. Nicht wahr, Vater?«

Fürst Usthatius runzelte finster die Stirn.

»Dann musst du mir einen Gefallen tun«, sagte Arcus. »Ich habe etliche Botschafter und Staatshäupter zu einem Ball eingeladen, um unsere vorläufigen Friedensabkommen endgültig zu besiegeln. Ich bräuchte deine Hilfe, um dieses Ereignis detailliert zu planen.«

Es machte mich neidisch, dass Arcus Marella um Hilfe bat und nicht mich, aber ich versuchte das Gefühl zu unterdrücken. Marella konnte nichts dafür, dass sie zur perfekten Lady erzogen worden war. Es war nur logisch, dass Arcus sich an sie wandte. Aber es schien wieder einmal Fürst Usthatius’ Theorie zu bestätigen: dass seine Tochter viel besser geeignet war, den Platz an Arcus’ Seite einzunehmen.

»Vorläufige Friedensabkommen, soso«, schaltete sich Fürst Regier ein, und wie er dabei das Kinn reckte, bot er einen mehr als unwillkommenen Einblick in seine weiten Nasenlöcher. »Das Königreich Safra hat uns bisher nur eine schwache Andeutung seiner Zustimmung zukommen lassen, auch wenn es vermutlich ohne die Zusammenarbeit mit uns nicht mehr lange durchhalten kann. Es geht das Gerücht, die Wirtschaft im Osten leide sehr unter dem fehlenden Handel mit uns. Und unsere südlichen Provinzen, die dem neuen König doch zu Loyalität verpflichtet sein sollten, beharren immer noch darauf, die Herrschaft der Frostbloods nicht anzuerkennen! Obwohl wir den Verrätern großzügig erlauben, auf tempesischem Land zu leben und es zu bewirtschaften. Und um die Majestätsbeleidigung auf die Spitze zu treiben, haben sie eine Belohnung ausgeschrieben – für denjenigen, der ihnen den Kopf des Königs auf einem Pfahl aufgespießt präsentiert!«

»Sie haben gute Gründe für ihren Ungehorsam«, entgegnete Fürst Pell, und seine blaugrauen Augen blitzten ernst. »Die südlichen Provinzen haben Einwanderer aus Sudesien schon immer mit offenen Armen empfangen. Also haben sich die meisten Firebloods im Süden angesiedelt – und dort haben auch die meisten Übergriffe auf sie stattgefunden. Man kann es den Provinzen nicht verübeln, dass sie König Rasmus gehasst haben. Aber ich bin sicher, dem neuen König gegenüber werden die dortigen Würdenträger ganz anders eingestellt sein.«

»Das ist alles andere als gewiss«, erwiderte Fürst Regier. »Darf ich Euch daran erinnern, dass sie den Fireblood-Rebellen Unterschlupf gewährt haben, die den Tod der Mutter unseres Königs ebenso verschuldet haben wie den Angriff, bei dem Seine Majestät seine Narben davongetragen hat?«

Stille senkte sich über den Saal.

Die unsensible Bemerkung über seine Narben dürfte Arcus nichts ausgemacht haben, aber ich konnte mir denken, was er empfand angesichts der Tatsache, dass der Tod seiner Mutter wie nebenbei zur Sprache gekommen war, und dann auch noch durch einen dummen Possenreißer wie Fürst Regier. Arcus’ Mutter war von Fireblood-Rebellen getötet worden, in einer Zeit, als Arcus’ Vater, König Akur, den südlichen Provinzen Land geraubt hatte. Also hatten sich die Südländer, einschließlich etlicher Firebloods, gegen ihn aufgelehnt. Sie hatten nicht nur Arcus’ Mutter umgebracht, sondern auch ein Attentat auf Arcus verübt.

»Das ist alles Vergangenheit«, sagte Arcus gepresst. »Es wird Zeit, mit den Provinzen in Dialog zu treten. Wir haben einen Botschafter ausgesandt, um ihren höchsten Würdenträger zum Ball einzuladen.«

Lady Regier kicherte. »Ihr wollt einen ungebildeten Bauern hier haben, der Euch den Ballsaal verdreckt?« Sie schüttelte sich theatralisch.

Arcus starrte sie an, bis ihr Lächeln erstarb. »Ich werde einen wichtigen Anführer empfangen, der sich hoffentlich in einen wertvollen Verbündeten verwandelt.« Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Der Königin von Sudesien habe ich ebenfalls eine Einladung geschickt.«

Ich hielt den Atem an, als ein erstauntes Raunen durch die Reihen der Tischgäste ging. Die Fireblood-Königin!

»Ihr habt unseren größten Feind in unsere Hauptstadt eingeladen?« Fürst Blanding stand auf und schleuderte seine Serviette auf den Tisch. Seine Worte richteten sich an Arcus, sein Blick jedoch durchbohrte mich. »Habt Ihr vergessen, dass Sudesien die Rebellion der Südländer unterstützt hat?«

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, warf Lady Manus ein und sah ihn aus kobaltblauen Augen an. »Und eine richtige Rebellion war es auch nicht – dafür hat König Rasmus gesorgt, indem er die halbe Bevölkerung der Aris-Ebenen auslöschen ließ.«

»Eine maßlose Übertreibung.« Fürst Blanding warf ihr einen angewiderten Blick zu, bevor er sich wieder Arcus zuwandte. »Ihr geht einen Schritt zu weit, Majestät. Ich kann nicht anders als anzunehmen, dass solch eine überstürzte Entscheidung nur einem zu verdanken ist – Eurer Zuneigung zu diesem … diesem Mädchen.« Er kniff seinen kleinen Mund zusammen und presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Hängebacken bebten. Ich starrte ihn an, bis er den Blick senkte.

»Setz dich wieder hin, Blanding«, sagte Fürst Manus kühl. »Glaubst du wirklich, dass die Königin der Einladung folgen wird? Seine Majestät hat die Einladung sicher nur als Zeichen der Beschwichtigung für die südlichen Provinzen ausgesprochen.« Er drehte sich zu Arcus um. »Ich gehe zumindest davon aus, dass das Eure Strategie ist? Der Fireblood-Königin Euren guten Willen zu zeigen in der Hoffnung, dass die Provinzen sich mit uns an den Verhandlungstisch setzen?«

»Ich habe die Königin von Sudesien eingeladen in der Hoffnung, dass sie teilnimmt.« Arcus wandte sich mir zu. »Eure Teilnahme am Ball ist ebenso erwünscht, Lady Ruby. Es wäre gut, wenn die Botschafter sehen, wie sich die Beziehungen zwischen Frostbloods und Firebloods verbessert haben.«

Ich fand die Aussicht auf den Ball und die Aufmerksamkeit, die er auf mich lenken würde, keineswegs reizvoll, aber ich war bereit, als eine Art inoffizieller Botschafter alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Arcus zu helfen. Es stimmte mich froh, dass er die Verbindung zu Sudesien wieder aufnehmen wollte, zur Heimat der Firebloods, dem Land, das in meinem Kopf herumspukte, seit ich denken konnte. Er drückte meine Hand, ließ sie aber wieder los, um die Tischgesellschaft nicht völlig gegen uns aufzubringen. Ich faltete die Hände im Schoß und nickte lächelnd. Ein kleiner Hoffnungsschimmer flackerte in meiner Brust.

Fürst Pell fing an zu lachen. »Ihr seid ein optimistischer Narr, Majestät. Wenn die Feuerkönigin zum Ball kommt, fresse ich einen Besen!«

»Also wirklich!«, sagte Lady Blanding gequält. »Was für eine ekelerregende Vorstellung!«

Ein Lächeln unterdrückend, wandte Arcus sich Marella zu. »Seht Ihr Euch der Aufgabe, den Ball auszurichten, gewachsen, Mylady?«

Mir schnürte es wieder die Kehle zu, aber ich rang mir ein kleines Lächeln ab, als Arcus zu mir hersah. Ich wollte mir keine kleinlichen Eifersüchteleien erlauben. Marella würde die Aufgabe perfekt lösen.

»Es wäre mir Ehre und Vergnügen zugleich«, sagte Marella. »Es ist Ewigkeiten her, dass wir hier einen richtigen Ball abgehalten haben. Ich freue mich darauf, mit der Köchin neue Gerichte auszuprobieren. Aber meine Tanzkünste sind schon viel zu eingerostet, ich werde mir bestimmt die Zehen brechen.«

»Nun, du wirst Zeit genug haben, vorher zu üben. Ich habe für den Ball die Herbst-Tagundnachtgleiche ins Auge gefasst.«

»Wie passend! Ist das nicht auch der Tag, an dem die Bauern um ein Feuer herumtanzen, um den Göttern für die Ernte zu danken?« Sie sah mich erwartungsvoll an, wahrscheinlich weil ich die einzige Anwesende niederer Herkunft war.

Es kam mir vor, als wäre es Jahrhunderte her, dass ich in meinem Dorf zuletzt das Erntedankfest gefeiert hatte, dabei war das vor nicht einmal einem Jahr gewesen. Wehmütig dachte ich daran, dass ich an jenem Abend meinen ersten Kuss bekommen hatte von einem Dorfjungen namens Clay. Erst vor wenigen Wochen war er vor meinen Augen in der Arena des Frostkönigs gestorben. Ich nickte und nippte an meinem Weinglas, um zu verbergen, dass ich nicht in der Lage war zu sprechen.

»Es wäre vielleicht schön, ein paar der bäuerlichen Traditionen in den Ball einzuflechten«, fuhr Marella fort, der mein Unbehagen offenbar entgangen war. »Aber ein Holzfeuer können wir im Großen Saal sicher nicht ermöglichen. Schließlich sind die Kandelaber aus Eis.«

Wäre ich nicht so aufgebracht gewesen, hätte ich vielleicht gesagt, dass sie mich dann wohl lieber auch nicht einladen sollten.

Nach einigen Minuten wandte sich die Unterhaltung wieder der Lage des Königreichs zu.

»Ich wünschte, Cirrus würde uns Regen gönnen«, klagte Lady Regier. »Und wenn diese Tagelöhner dann noch etwas besser arbeiten würden, hätten wir mehr als genug Getreide zur Verfügung.«

»Das Problem liegt nicht darin, dass die Bauern nicht genug arbeiten«, verbesserte sie Fürst Manus. »Wir haben nur einfach nicht genug Frauen und Männer, die säen und ackern und ernten. Meine Gemahlin hatte vollkommen recht, als sie sagte, dass unsere früheren Könige die Aris-Ebenen entvölkert haben.«

Ich wusste, der größte Anteil von Tempesiens Erträgen stammte aus den Aris-Ebenen, dem breiten Landstreifen im Süden. König Akur hatte vielen selbstständigen Bauern das Land genommen und es im Tausch gegen Geld und Soldaten Frostblood-Adeligen zugesprochen. Freiwillig hatten die Menschen aus den südlichen Provinzen ihr Land natürlich nicht hergegeben. Viele Kämpfe waren um die umstrittenen Felder ausgefochten worden, was dazu geführt hatte, dass die Ernte zwei Jahre hintereinander ausgefallen war, was die königlichen Getreidevorräte erheblich schmälerte, wovon sich das Land bis heute nicht erholt hatte. Unter Rasmus’ Regentschaft waren die Firebloods im Süden Tempesiens dann gejagt und ermordet worden. Und so war es kein Wunder, dass die verbleibende Bevölkerung der südlichen Provinzen den Adelsstand der Frostbloods hasste, auch jetzt noch, nachdem ein neuer König den Thron bestiegen hatte.

»Hätten die Südländer ihr Schicksal als Untergebene der Frostbloods angenommen, hätte es weder Kämpfe noch Getreideknappheit gegeben«, sagte Fürst Blanding. Er trank einen Schluck Wein und setzte den Kelch dann geräuschvoll ab, als wäre damit alles beschlossen und besiegelt.

In meinem Magen grollte der Hass gegen den früheren König und alle, die ihm gefolgt waren, einschließlich des Fürsten Blanding. Auf einmal hatte ich das Gefühl, keine einzige Sekunde mehr hier sitzen zu können.

Ich stand auf. Arcus erhob sich augenblicklich, und wie zuvor folgten alle anderen Männer seinem Beispiel.

»Ich fürchte, ich bin etwas erschöpft. Gute Nacht.« Mit einer kleinen Verbeugung in Arcus’ Richtung wandte ich mich zum Gehen.

»Welch abrupter Abgang«, sagte Lady Blanding, während mir die Saaldiener die Tür aufhielten. »Aber was soll man von einem Bauernmädchen des falschen Geblüts schon erwarten?«

Die Türen schlossen sich hinter mir. Und es waren nicht Lady Blandings Worte, die mein Herz wie mit einem Dolch durchbohrten, sondern das Schweigen, das auf ihre Worte folgte. Arcus hatte kein einziges Wort zu meiner Verteidigung gesagt.

*

»Ihr macht Euch noch die Augen kaputt, wenn Ihr ständig im Dunkeln lest.« Ich war immer noch gereizt, als ich die Schlossbibliothek betrat. Bruder Thistle kauerte über einem vergilbten Folianten, der auf einem runden Marmortisch aufgeschlagen war, den Bart unter den Kragen seiner Mönchsrobe gesteckt, damit er ihm nicht im Weg war.

Die Bibliothek befand sich im neueren, westlichen Flügel. Die Wände waren mit Holz vertäfelt, vier Stockwerke hoch säumten Bücherregale die Wände links und rechts des Mittelgangs. Eine Wendeltreppe schraubte sich wie ein knorriger Baum nach oben, in jedem Stockwerk gekrönt von luftigen, mit kunstvoll gedrechselten Geländern verzierten Emporen. Hier war kein Eis an den Wänden. Der Raum war trocken und gut gelüftet, um die Tausende von Büchern zu schützen. Hätte ich Zeit gehabt, zu meinem Vergnügen zu lesen, hätte ich mich hier nur allzu gern in den schier endlosen Reihen verlockender Schmöker verloren.

Doch stattdessen musste ich Bruder Thistle helfen, nach Informationen über den Minax zu suchen. Außerdem brachte er mir Sudesisch bei, die Sprache der Fireblood-Inseln im Süden. Als ich klein war, hatte meine Großmutter mit mir Sudesisch gesprochen, bis meine Mutter ihr Einhalt geboten hatte, weil sie nicht wollte, dass ich irgendwann unabsichtlich unsere Herkunft und meine Kräfte vor den Dorfbewohnern offenbarte. Als ich Bruder Thistle erstmals gebeten hatte, mir beim Erlernen der Sprache zu helfen, hatte ich noch nicht gewusst, dass Arcus vorhatte, mit den Sudesiern Frieden zu schließen, doch nun schien es mir, als hätte mich eine tief verborgene Ahnung dazu getrieben.

Als ich mich dem Tisch näherte, hob Bruder Thistle die Hand zu einem flüchtigen Gruß, ohne sich die Mühe zu machen aufzublicken. Er war Gelehrter, Historiker und Experte auf dem Gebiet alter Sprachen, aber er war auch ein mächtiger Frostblood. Normalerweise überzog er alles, was er berührte, mit einer dünnen Eisschicht, doch bei den geliebten Büchern schien er seine Gabe zurückhalten zu können. Es überraschte mich immer wieder, dieses Ausmaß seiner Selbstbeherrschung.

»Wie macht Ihr das nur?«, rutschte es mir heraus.

»Wie mache ich was?«, murmelte er, ohne mich anzusehen.

»Euren Frost unterdrücken.« Ich hatte inzwischen gelernt, meine Gabe bis zu einem gewissen Grad unter Kontrolle zu halten, aber das war nichts im Vergleich zu dem eisernen Willen, mit dem dieser Frostblood-Meister die seine beherrschte. Kannst du deine Gabe unterdrücken, Mädchen? Das war eine der ersten Fragen gewesen, die er mir gestellt hatte, bevor er mich aus dem Blackcreek-Gefängnis gerettet hatte, wo ich nach dem Angriff der Soldaten des Frostkönigs auf mein Dorf monatelang eingesperrt gewesen war. Damals hatte ich verneint. Und bis heute wäre die Antwort dieselbe.

Endlich sah er hoch. »Wie bereits mehrfach erwähnt, Ruby, wenn du dich hier anpassen willst, wirst du lernen müssen, deine Hitze zu dämpfen. Machst du regelmäßig deine mentalen Übungen?« Er meinte die Meditationstechnik, die er mir in der Forwind-Abtei beigebracht hatte, wo ich mehrere Monate gelebt und gelernt hatte, mein Feuer zu dosieren, um den Thron zerstören zu können.

»Manchmal.« In Wahrheit bereitete es mir Unbehagen, meine Hitze zu unterdrücken, und dass ich so oft dabei scheiterte, war unendlich frustrierend. »Aber jetzt spielt es doch ohnehin keine Rolle mehr. Arcus sitzt auf dem Thron, da müssen wir Firebloods unsere Herkunft nicht mehr verbergen.«

Nicht dass es in Tempesien außer mir noch andere Firebloods gegeben hätte. Ich hatte lange gehofft, der eine oder andere hätte Rasmus’ Überfälle überlebt, aber trotz Arcus’ Bemühungen, sie aus ihren eventuellen Verstecken hervorzulocken, war bisher noch kein einziger aufgetaucht.

»Du solltest trotzdem weiterüben«, ermahnte mich Bruder Thistle.

Sein Tadel erweckte in mir wie immer das Bedürfnis, mich zu verteidigen. »Tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen – aber ich werde nie eine Frostblood sein. Ich werde es nie schaffen, meine Gefühle in perfekter eisiger Selbstbeherrschung im Zaum zu halten.«

»Du sollst deine Gabe gar nicht verleugnen. Aber du musst den Hofstaat auch nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit daran erinnern, dass dein Wesen das genaue Gegenteil des ihren ist.«

Der Stich saß. Bruder Thistle war immer einer der wenigen gewesen, die mich so akzeptiert hatten, wie ich war. »Ich kann tun, was ich will – sie werden nie vergessen, was ich bin.«

Gedankenverloren ließ ich Zwillingsflämmchen wie Flügel aus meinen offenen Handflächen entspringen, dann schlug ich die Hände zusammen und löschte das Feuer.

Bruder Thistle wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Buch zu. »Was hat dich denn so aufgebracht?«

Komischerweise verstärkte seine Fähigkeit, mich so leicht zu durchschauen, meinen Widerwillen, die Wahrheit zu gestehen. »Vielleicht, dass ich gezwungen bin, in einem Eispalast zu leben, der wärmer ist als seine Bewohner? Und dass meine Anwesenheit nicht gerade dazu beiträgt, dass sein Hofstaat Arcus loyal ergeben ist?«

Bruder Thistle warf mir einen flüchtigen Blick zu. »Du siehst blass aus. Hast du wieder eine Vision gehabt?«

Dem Mann entging einfach nichts. »Ja. Und diesmal war es eine … sehr verstörende.«

Ich zog mir einen Stuhl heran, setzte mich und erzählte ihm alles. Er zog überrascht die Augenbrauen hoch, als ich sagte, dass ich in der Königin auf dem Thron mich selbst erkannt hatte.

»Und, was haltet Ihr davon?«, fragte ich vermeintlich leichthin. »Prophezeiung oder Wahnsinn?«

Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Ich habe überlegt, ob Sage dir die Visionen schickt, als Warnung oder als Hinweis, wie du dich verhalten sollst – so wie sie es schon mehrmals getan hat: als du dich in der Nähe der Abtei im Schneesturm verlaufen hattest, oder als du Hilfe brauchtest, um dich gegen die Inbesitznahme durch den Fluch zu wehren.«

»Als Warnung?« Meine Stimme klang schrill. »Ich dachte, die Götter hätten es Sage verboten, ihre Prophezeiungen zu teilen.«

Die Frau, die wir unter dem Namen Sage kannten, war eine Heilerin, die Cirrus mit ihrer Pflege zurück ins Leben geholt hatte, nachdem die sich bei der Erschaffung des Tors des Lichts und der zwei dazugehörigen Wachposten vollkommen verausgabt hatte. Als Dank hatte Cirrus Sage den sonnendurchfluteten Kristall geschenkt, den sie verwendet hatte, um das Tor zu erschaffen. Das Licht des Kristalls floss in Sages Adern, verlieh ihr ein langes Leben und die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken – doch Cirrus hatte ihr verboten, jemandem etwas von dieser Gabe zu verraten.

Bruder Thistle legte seine Hand auf meine, eine beruhigende Geste, die mich aber ob seiner eiskalten Haut zusammenzucken ließ. »Und genau deswegen habe ich diese Deutung deiner Visionen auch schon wieder verworfen. Ich glaube inzwischen, sie sind der Tatsache geschuldet, dass du die Einzige bist, die sich jemals erfolgreich dagegen gewehrt hat, vom Minax in Besitz genommen zu werden.«

Ich verzog das Gesicht. Aus seinem Mund klang das, als wäre ich damit vom Glück geküsst. Aber mir war keineswegs zum Feiern zumute, zumal der Minax immer noch irgendwo da draußen herumgeisterte.

»Vielleicht gibt es da irgendwo eine Verbindung zwischen euch«, fuhr Bruder Thistle fort, »sodass der Minax dir nach Belieben solche Bilder senden kann. Oder vielleicht siehst du Dinge, die er dich eigentlich nicht sehen lassen möchte: Erinnerungen oder Träume.«

»Ihr glaubt wirklich, dass ein Minax träumen kann?«

Er hob die Hände. »Möglich ist es.«

Ich rutschte unbehaglich hin und her. Der Gedanke, dass der Minax menschliche Züge tragen sollte, gefiel mir ganz und gar nicht. »Habt Ihr schon irgendetwas gefunden, womit wir den Visionen ein Ende bereiten können?«

Er räusperte sich, und sein Blick verdunkelte sich, wie immer wenn er tief in seine Forschungsarbeit versunken war. »Nun, Vesperillius, ein Gelehrter aus dem Northern Pike Gebirge, behauptet, der Minax habe ihn mit Visionen heimgesucht, seit er einmal den Frostthron berührt hatte. Nach Jahren der erfolglosen Suche nach einem Heilmittel reiste er schließlich nach Safra, wo er auf Geheiß eines dort angesiedelten Schamanen das Gift einer Baumschlange trank. Die Visionen hörten augenblicklich auf.«

»Hervorragend. Ich bin sicher, ich könnte auch ein paar Schlucke Schlangengift herunterwürgen.«

»Allerdings ist Vesperillius drei Tage später gestorben.«

Ich lachte böse. »Oh, dann vielleicht doch kein Schlangengift.« Und nun stellte ich die Frage, die mir seit Wochen unablässig durch den Kopf spukte. »Was, wenn ich besessen bin und wir wissen es nur nicht?«

Bruder Thistle griff nach meiner Hand und drehte sie mit der Handfläche nach oben, sodass die dicke rote Ader an meinem Handgelenk zu sehen war. Die Ader, die an seinem Handgelenk pulsierte, war genauso dick, nur blau. Das sichere Erkennungszeichen eines Firebloods beziehungsweise Frostbloods.

»Du zeigst keinerlei Anzeichen für Besessenheit«, sagte er. »Weder haben sich deine Adern schwarz verfärbt noch kann ich ein Verlangen nach Blut oder Zerstörung bei dir erkennen.«

Er sprach leise, denn meine dunkelste, traumatische Zeit lag noch nicht lange zurück. In der Arena hatten mich die Kampfgesetze des Königs gezwungen, andere zu töten, aber der Einfluss des Minax hatte bewirkt, dass ich das Töten bis zu einem gewissen Grad genossen hatte. Mit berauschender Klarheit konnte ich mich bis heute daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte – die Ekstase, das Fehlen von Angst oder Reue, die Versuchung, dem Minax zu erlauben, sich für alle Zeit meiner zu bemächtigen. Ich hatte mich schwergetan, dieser Versuchung zu widerstehen.

»Zumindest nicht mehr als sonst«, erwiderte ich trocken. »Obwohl ich durchaus immer wieder Tagträume habe, in denen ich Lady Blanding in Brand stecke.«

Bruder Thistle winkte ab. »Davon träumen wir doch alle mal.«

Ich musste unwillkürlich lächeln.

»Allerdings habe ich einen Text gefunden, in dem eine Möglichkeit beschrieben wird …«, er nahm ein Buch zu seiner Linken auf und reichte es mir, »… den Minax zu zerstören.«

Sofort schlug ich das Buch auf und legte es mir zum Lesen auf dem Tisch zurecht, wobei ich vor lauter Hast einen runden gläsernen Briefbeschwerer auf den Teppich warf.

Bruder Thistle sah mich verärgert an, und als er sich bückte, um den Briefbeschwerer aufzuheben, bewirkte ein Sekundenbruchteil des Kontrollverlusts, dass er das Glasding mit einer dünnen Eisschicht überzog. »Eine der Prophezeiungen von Dru lässt sich dahin gehend interpretieren, dass – mit Ausnahme ihres Schöpfers Eurus – nur ein Minax einen anderen Minax zerstören kann.«

Sofort erfasste mich grenzenlose Aufregung. Das war die Erkenntnis, nach der wir so lange gesucht hatten!

»Der einzige andere Minax, der nicht jenseits des Tors des Lichts eingekerkert wurde, wohnt dem Feuerthron von Sudesien inne. Also …«, ich hielt inne, während in meinem Kopf bereits ein Plan Gestalt annahm, »… müssen wir nach Sudesien!«

»Das ist nicht so einfach. Sudesien ist ein Labyrinth aus felsigen Inseln und engen Wasserstraßen, durch die sich nur erfahrene Seeleute zu navigieren hoffen können. Nach den vielen Jahren ohne Handel zwischen den beiden Königreichen verfügen wir einfach nicht über die nötigen Kenntnisse. Und die Meerenge von Acodens, die den direktesten und sichersten Weg nach Sudesien darstellt, wird von Fireblood-Meistern bewacht.«

»Gibt es keine Karten? Seekarten, auf denen eine leichter passierbare Route verzeichnet ist?«

»Vielleicht. Falls sie König Rasmus’ Eifer, seine Bibliothek von jeglichen sudesischen Schriften zu säubern, überlebt haben sollten. Wofür ich bisher keinerlei Beweise entdecken konnte.«

Ich war kurz davor, endgültig die Geduld zu verlieren. »Ihr glaubt an irgendwelche alten verschimmelten Prophezeiungen, aber ihr schafft es nicht, einen Weg zu finden, wie wir in ein anderes Königreich segeln können? Wie schwer kann das schon sein?«

»Willst du mich jetzt etwa in der Kunst der Seefahrt unterrichten, Ruby?« Ganz offensichtlich war er mit seiner Geduld auch bald am Ende. »Du hast noch nie einen Fuß an Bord eines Schiffs gesetzt.«

»Aber wir können doch auch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und gar nichts tun. Der Minax hat geschworen wiederzukommen, um mich zu holen, und ich weiß nicht … ich weiß nicht, ob ich ihn ein zweites Mal abwehren kann.«

Gespanntes Schweigen senkte sich über uns. Bruder Thistle wusste, dass wir keine Zeit für oberflächliche Beschwichtigungen hatten. Ich vergewisserte mich, dass meine Stimme fest war, bevor ich fortfuhr: »Arcus hat der Feuerkönigin eine Einladung zukommen lassen. Wir könnten sie um Hilfe bitten.«

Bruder Thistle sah überrascht hoch. »Es verwundert mich, dass er sich daranmacht, die Beziehungen zu Sudesien neu zu knüpfen.« Dann schüttelte er den Kopf. »Sudesier sind nicht gerade für ihre Bereitschaft zu verzeihen bekannt. Das ist jetzt sicher nicht das, was du hören willst, aber ich denke, das Schiff, das er ausgesandt hat, wird mit großer Wahrscheinlichkeit in sein Verderben segeln. Die Feuerkönigin wird niemals zusagen. Was Arcus versucht hat, war eine Geste. Mehr nicht.« Er nestelte an den Gegenständen auf dem Tisch herum – dem Briefbeschwerer, einer Schreibfeder, einem Streifen Leinenstoff, der ihm als Lesezeichen diente. »Selbst wenn es uns gelänge, sicher nach Sudesien zu reisen, was könntest du dort schon ausrichten? Den Thron schmelzen, um den Minax zu befreien? Die Prophezeiung besagt, dass das Kind des Lichts einen verfluchten Thron schmelzen wird, und es erschien mir nur folgerichtig, dass es dafür eines Firebloods bedürfen würde. Aber die Prophezeiung sagt nichts über beide Throne. Wir wissen gar nicht, ob du mächtig genug bist, den Feuerthron zu schmelzen.«

Bruder Thistle glaubte an eine Prophezeiung, die besagte, ein Kind des Lichts würde verhindern, dass die Minaxe ihrem unterirdischen Verlies entkamen. Und er war überzeugt, ich wäre dieses Kind. Ich glaubte nicht daran.

Es sollte außerdem ein Kind der Finsternis geben, das versuchen würde, die Minaxe zu befreien, statt ihre Flucht zu verhindern. Falls Bruder Thistle eine Theorie darüber hegte, wer dieses Kind der Finsternis sein sollte, so hatte er mir diese noch nicht anvertraut.

»Ein weiteres Problem«, konnte ich mich nicht zurückhalten, »besteht darin, dass ich nicht das Kind des Lichts bin.«

Er wischte meinen so oft geäußerten Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Der Feuerthron besteht aus Lavagestein. Die Temperatur, die es bräuchte, um diesen Thron zu schmelzen, wäre … unvorstellbar hoch. Höchstens ein Fireblood-Meister könnte sich daran versuchen, und du bist noch sehr weit von jeglicher Meisterschaft entfernt.«

»Vielen Dank auch«, sagte ich mit einer Stimme so trocken wie die Wüste Safran, um zu überspielen, dass sein Kommentar mich getroffen hatte. Seit Monaten lernte ich immer besser, meine Gabe zu kontrollieren, aber ich war tatsächlich noch weit davon entfernt, diese Kunst wirklich meisterhaft zu beherrschen. Und es gab niemanden außer Bruder Thistle, der mich darin unterrichten konnte. Er hatte seine Frostblood-Techniken zwar meiner Feuergabe angepasst, aber ich hätte nur zu gern gewusst, was ich erreichen könnte, wenn ich den für mich perfekten Unterricht bekommen würde.

»Doch davon ganz abgesehen«, sprach er weiter, »hat es eine gegensätzliche Kraft gebraucht, um den Frostthron zu zerstören. Da liegt es nahe anzunehmen, dass es vielleicht ein Frostblood sein muss, der den Feuerthron vernichtet.«

Das leuchtete mir tatsächlich ein. »Gut, dann schaffen wir Euch und Arcus nach Sudesien.«

»Und was meinst du, wie die Königin uns empfangen würde, nachdem König Rasmus alle Firebloods in Tempesien hingemetzelt hat? Das waren ihresgleichen, und wir sind der Feind. Außerdem, was sollten wir tun, selbst wenn der Thron zerstört wäre? Der Feuer-Minax wäre frei und Sudesien eine Beute zu seinen Gnaden, genau wie Tempesien von dem Frost-Minax bedroht ist.«

»Dann müssen wir es schaffen, uns seiner zu bemächtigen und ihn hierher zu bringen, damit er den Frost-Minax zerstört! Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, ihn unter Kontrolle zu bringen.« Das klang so einfach, doch in Wirklichkeit spann ich nur Ideen aus dünnen Hoffnungsfäden. Ich warf einen Blick auf die Bücherstapel auf dem Tisch und auf dem Boden. »Habt Ihr denn gar nichts gefunden, was uns dabei helfen könnte?«

Er winkte ab. »Nichts außer dem, was ich dir bereits gesagt habe. Aber es gibt da ein Buch, auf das in anderen Texten Bezug genommen wird und das als maßgebliche Instanz für alle Fragen zu den Thronen und ihren Flüchen gilt. Ich war mir so sicher, dass es sich hier in der Bibliothek des Königs befindet. Die Erschaffung der Throne von Pernillius dem Weisen – hast du das zufällig irgendwo gesehen?«

Ich musste unwillkürlich kichern. »Pernillius? An einen so lächerlichen Namen würde ich mich sicher erinnern. Aber fragt doch Marella. Sie teilt Eure Leidenschaft für Geschichte und Geschichten, fürs Werden und Vergehen, oder heißt es Werden und Verwesen? Wie auch immer. Dieses ganze uralte Zeug halt.«

Ich grinste, erntete aber nur einen seiner vernichtenden Blicke. »Ich habe sie natürlich längst gefragt. Sie hat das Buch auch nicht gesehen. Es muss irgendwie verloren gegangen sein. Oder vielleicht hat Rasmus es verbrennen lassen.«

Meine Hoffnung auf eine rasche Antwort erstarb.

»Wenn uns doch Sage erscheinen und helfen würde«, murmelte ich nachdenklich. Ich hatte sie in dem Moment gesehen, als ich den Frostthron zerstört hatte. Seitdem war sie auf entmutigende Weise stumm geblieben. In meinen dunklen Augenblicken befürchtete ich, meine Visionen vom Minax könnten ein Zeichen dafür sein, dass meine Verbindung zu Sage abgerissen war.

»Das wäre in der Tat sehr hilfreich«, gab Bruder Thistle mir recht. »Aber bis dahin müssen wir unsere Nachforschungen weiterführen.«