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Wenn du niemandem mehr vertraust, kannst du auch einem sprechenden Fisch folgen Die sechzehnjährige Ella lebt in Dortmund und hat beschlossen, keine Freundschaften mehr zu führen. Zu groß ist die Angst, dass sie andere Menschen durch ihre Wutanfälle vergrault. Die Ehe ihrer Eltern ist am Boden, und auch zu ihren zwei Geschwistern findet Ella keinen Zugang. Ihr einziger Vertrauter war stets der alte Eckard, ein Nachbar der Familie, der Ella kurz vor seinem Tod einen singenden Plastikfisch vermacht. Als ihr jüngerer Bruder Luis verschwindet, macht sich Ella mit dem Fisch auf die Suche und begibt sich in große Gefahr – ausgestattet mit einer Aldi-Tüte, zu viel Mut und zu wenig Angst. »So viel Wut und Zartheit in einem Roman, der von der ersten Seite an berührt und einen bis zum Ende nicht loslässt.« Jan Weiler »Charlotte Brandi macht die deutsche Literatur endlich wieder bockig.« Ilona Hartmann »Dass Charlottes Talent, sich in den unterschiedlichsten Lebenswelten zu bewegen, endlich zu einem Roman geworden ist, ist eine glückliche Fügung für uns alle.« Danger Dan
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Fischtage
Charlotte Brandi (geboren in Herdecke, aufgewachsen in Dortmund) arbeitete in ihren Anfängen vor allem als Theatermusikerin und wurde der breiten Öffentlichkeit als Teil des Duos Me And My Drummer bekannt, das sich 2018 auflöste. Seitdem macht sie als Solokünstlerin Furore. Ihr Album »An den Alptraum« (2023) wurde als reine FLINTA-Produktion von Presse und Publikum gefeiert. Fischtage ist Brandis literarisches Debüt.
Meine Mutter hatte in letzter Zeit häufiger so ein Eliteinternat am Bodensee erwähnt. Ich hab das mal im Internet nachgeguckt. Auf den paar Fotos, die ich fand, war ausschließlich der Teil der Menschheit zu sehen, den Kotsche »Perlen-Paulas« nennt. Das sind halt so Mädels, die in wenigen Jahren zu Frauen werden, die Perlen um die Hälse und an den Ohren tragen. So reiche Girls mit elvitalgespültem Haar im fusselfreien Harry-Potter-Look. Passend dazu waren die an viele Gruppentische in einem Speisesaal gepfercht, jede ihren hübschen Kopf anmutig gesenkt über einen Teller Salat. Vor meinem inneren Auge stiegen Bilder eines zittrigen Lebens auf der Basis von Rohkost auf. Wie sollte ich mit so einer Ernährung genügend Widerstände gegen meine Umwelt entwickeln? Angenommen, die Mitschülerinnen verhielten sich genauso, wie man es aus diesen College-Filmen kennt, stünden tuschelnd in Gruppen auf den Gängen und würden Vorbeigehenden abschätzige Blicke zuwerfen - hätte ich nach fünf Stunden Unterricht und zwei Tellern Salat die Kraft, einer von ihnen im Vorbeigehen lässig in die Kniekehle zu treten?
Charlotte Brandi
Roman
Ullstein
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Das Zitat »Don’t Worry Be Happy ... « stammt aus dem gleichnamigen Song von Bobby McFerrin.
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Wut
Bob Dylan
Der alte Eckard
Party-Eltern
Gartenwald
Luis
Guido
Nerds
Merle
Kotsche
Agnes
Feinde
Verschwunden
Giddy Giggig
Das Orakel
Basisstation
Don’t Worry Be Happy
DM
KICKER-KIDDOS
Gesamtschule Gartenstadt
Paul
Oksana
Stillgelegt
Der Nachbar
Affen
Halfpipe
Boxenstopp
Dascha
Angeln
Oberbonze
Hilmar
Bowstring Lake
Amelie
Werner
Linien
Präsidium
Gabi
Affogato Pistazie
Han
Nordstadt-O-Saft
Das Haus
Die Nacht
Niemand hat mir gesagt
Diesmal fahren wir
Johannes-Hospital
Zoo
Georgschule
Blumen
Ewald
Laube
Vollmondspaghetti
A2
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Wut
Dieses Buch ist meiner Schwester gewidmet.
Ich bin der Geist, der stets verneint.
Goethe
Was ist Liebe? Nichts für morgen. Wer heut lacht, braucht sich nicht sorgen. Was mal wird, geht schnell vorbei. Warten, das ist ungesund Küß mich, Liebste, auf den Mund – Jugend, ach, goodbye, goodbye.
Shakespeare
Die Tobsuchtsanfälle kamen das erste Mal mit dreizehn. Die anderen aus meiner Klasse sind in die Pubertät gekommen, bei mir hat jemand stattdessen bloß eine Schraube gelockert.
Ich meine zu beobachten, dass andere Leute in Sachen Wut, Zorn, Aggression ein paar Graustufen haben – ich nicht. Bei mir wird sofort eine Art Rattenfalle in meinem Innern gespannt. Starrer Blick, und alles wird Bedrohung. Dann werde ich zum Handschuh von etwas krass Starkem, Heißem, was in mich reinfährt und dem kurz danach der Deckel abgesprengt wird.
Mit dreizehn hat Mama mich noch jedes Mal festgehalten, mit vierzehn hat sie versucht, mit mir darüber zu reden, mit fünfzehn hat sie mich aufgegeben.
Früher, wenn ich vor lauter Wut keine Luft mehr gekriegt habe, bin ich immer gerannt. Das klingt jetzt bescheuert, aber so war’s. Durch das Rennen ist die ganze giftige Wut in meinem Blut nach und nach verdampft. So zumindest hab ich mir das immer vorgestellt. Weil, wenn ich die Wut kriege, also die große, grobe Wut, die alles versengt, dann verwandelt sich das Blut in meinen Adern in Benzin. In einen explosiven Antriebsstoff, auf dem ich früher einfach wegfliegen konnte.
Rennen ist das Beste. Der Körper schreit: »Fick dich, Schwerkraft!« Die Welt um einen herum wird von einem großen, nassen Pinsel verwischt, alle harten Konturen werden weich. Man saust grundlos in dieser Pastellkulisse immer nur in die einzig logische Richtung: vorwärts.
Irgendwann fällt es der Schwerkraft aber doch jedes Mal auf, und die dann so: »Äh, Moment mal, Freundchen, ich bin immer noch der Boss«, und dann, ganz plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, hatte ich anstelle von Benzin nassen Sand in den Hosenbeinen und außerdem lauter Heftzwecken in der Lunge. Abrupt stehen bleiben ging aber auch nicht, sonst wär ich umgefallen.
Wenn ich also spürte, dass meine Lunge sich wund gekeucht hatte und meine Beine nur noch wabblige Gummistengel waren, wurde ich allmählich langsamer, bis ich bei einem seltsam wackligen Stechschritt ankam. Ein bisschen so, als hätte ich es zwar im Prinzip eilig, wäre aber leider grade frisch aus einer Narkose aufgewacht. Das weiß ich, weil ich mich einmal zufällig beim Runterfahren von einem Wut-Sprint in einem kaputten Spiegel gesehen hab, der traurig an einer Hauswand stand. Ich sah mega behämmert aus und musste lachen. So ein Mann mit grauem Rauchergesicht und Borussiaschal hat mich im Vorbeigehen angeguckt, als wär jemand wie ich einfach alles, was in dieser Welt schiefläuft. Weil ich öffentlich gelacht habe. War mir am Ende egal, wie immer. Lieber mach ich mich zum Kasper, als das aus mir rauszulassen, was wirklich in mir ist, wenn ein Wutanfall kommt, nämlich Menschen Ziegelsteine ins Gesicht zu werfen, zu treten, zu beißen – fill in the blank. Dass ich all das mache, verhindere ich an jedem einzelnen Tag.
Nur die Art, wie ich das verhindere, die hat sich notgedrungen geändert.
Letztes Jahr hab ich mir das Bein zerlegt, und seitdem ist es aus mit dem Gerenne. Sind nachts in den Westfalenpark eingebrochen und besoffen auf einem Spielplatz Karussell gefahren, da hat’s mich aus der Kurve gehauen, und zack, mehrfacher Beinbruch. Als mir dann auffiel, dass ich meinen besten Regulationsmove nicht mehr bringen kann, nachdem ich bei der Unfallchirurgin mehrfach nachgefragt hatte, wie das denn ab jetzt mit dem Rennen aussehe, und die nur mit den Achseln zuckte und meinte: »Ja, Scheiße weil: geht nich mehr«, bin ich zu Hause mal kurz zusammengebrochen. Und meine reizenden Eltern meinten dazu nur: »Ja nun, shit happens, so ist das Leben, Ella …« und diese ganze Phrasenscheiße.
Dass ich nicht mehr rennen kann, ist echt fatal, weil ich jetzt stattdessen immer irgendwelche Leute anschreie. Völlig egal, wen, Voraussetzung ist nur: Die Person steht direkt vor mir.
Obwohl, manchmal rufe ich auch Leute aus meinen Kontakten an und schreie dann ins Handy. Immer unter so einem Vorwand wie »Heyyy, ich wollte nur mal hören, wie’s dir so geeeeht«, so viel kann ich mir durch den Wutschleier grade noch abmelken. Eiskalte Falle, geb ich zu.
Weil Leute in meinem Alter schwer darauf zucken, über sich selbst zu reden, nölen die dann sofort rum über irgendeine Klassenarbeit oder einen Ex-Freund, der sie ghostet, oder sonst irgendeinen Pimmelkram. Ich schaff’s, ein paar Minuten zuzuhören, bis mein Bauch so heiße Wellen nach oben in mein Hirn schickt und dann anschließend grobe Sätze wie Bauklötze auf meine Zunge legt, Sätze wie »Was musst du auch mit so einer Arschgeige Sex haben, noch dazu wenn er ’ne Freundin hat, du dummes Stück SCHEISSE!«. Anschließend lege ich auf.
Auf diese Weise habe ich alle meine Freundinnen verloren.
Aber es hilft nichts, die Wut will schließlich irgendwohin, und das mit dem Rennen ist nicht mehr, also wird früher oder später geschrien. Bitte nicht falsch verstehen, ich finde Leute anschreien nicht geil oder so. Ich hasse mich richtig dafür. Also nicht in dem Moment, wo ich schreie, weil, da bin ich ja beschäftigt. Entweder man zweifelt an sich, oder man zerlegt eine andere Person, beides auf einmal geht halt nicht.
Ich hab das mal aus Spaß mit meinem Wecker gestoppt: Das Schuldgefühl kommt bei mir ziemlich genau einundzwanzig Minuten nach dem Schreien. Dann fühle ich mich von jetzt auf gleich wie etwas, das sich nette Leute angewidert von der Schuhsohle kratzen. Ich sehe auf einmal wieder klar und habe so was wie Mitleid mit meinem Opfer. Einer hohen Trefferquote nach gehört das nämlich zu meiner Familie und ist deshalb quasi gezwungen, mir wieder zu verzeihen.
Und trotzdem kann ich um nichts in der Welt verhindern, dass ich regelmäßig auf irgendwem explodiere.
Ich konnte, als es noch ging, natürlich nicht immer und überall einfach loslaufen, wenn mich die Wut gepackt hatte, klar. In der Schule zum Beispiel. Wenn ich da jedes einzelne Mal losgerannt wäre, wenn ich mich über irgendwas aufgeregt habe, wäre in der Summe aller restlichen Minuten keine ganze Schulstunde mehr zusammengekommen. Ich mache also immer so schnelle Trippelschritte unterm Tisch, wenn eine Wutwelle angerauscht kommt, und simuliere meinem kochenden Gehirn das Rennen wenigstens. Danach kleben mir oft paar nasse Kaugummis am Knie.
Mein Klassenlehrer Herr Hornbeck rief schon vor Jahren (ich glaube, da war ich noch in der Sechsten) meine Eltern zu sich und meinte etwas unsicher, er wär zwar kein Arzt, aber nach allem, was er darüber wüsste, hätte ihre Tochter Ella aller Wahrscheinlichkeit nach das »Restless-Legs-Syndrom«.
Meine Eltern bedankten sich für die Einschätzung und versicherten Herrn Hornbeck, dass sie mal mit mir zu einem Arzt gehen würden, was sie schon im Auto auf dem Weg nach Hause wieder vergaßen.
Als ich dann aber letztes Jahr meinen kleinen Bruder einmal vollkommen aus dem Nichts mit den Worten »Du widerwärtiges STÜCK, ich wünschte, du wärst TOT« angebrüllt habe, wurde es meinen Eltern doch zu bunt. Sie erinnerten sich auf einmal wieder an das, was mein Lehrer ihnen damals geraten hatte, und dachten sich, dass man so ein »Restless-Legs-Syndrom« und eine Aggressionsstörung eventuell in einem Aufwasch loswerden könnte. Kurzum, sie steckten mich in Therapie.
Ich sag’s noch mal: Ich bin sechzehn und schon in Therapie.
Seit einem Jahr gehe ich also jeden Dienstag und jeden Donnerstag zu Dr. Stanislaus Kilian, und leider verachte ich ihn. Aber irgendwie ist auch genau das der Grund, warum ich hingehen kann. Er kann mir nichts sagen, was mich auch nur im Geringsten beeindruckt. Wahrscheinlich sind die Sitzungen bei Dr. Kilian eine Art Alibi für uns alle: Meine Eltern schicken mich hin, und ich gehe hin. Und damit sind alle Maßnahmen im Kampf gegen meine Bescheuertheit abgedeckt. Am Ende sind wir Dortmunder: Niemand erwartet hier ernsthaft eine Verbesserung von irgendwas durch irgendwas.
Dr. Kilian ist einer von diesen Therapeuten, die auch Psychiater sind, also Medikamente verschreiben dürfen, einen Kittel tragen und die Fingerspitzen beim Zuhören vor dem Gesicht zusammenlegen. Seine Praxis sieht aus wie ein Ramschladen für Menschen mit viel Geld. Überall dicke orientalische Teppiche auf dem Boden und darauf so schwere, dunkle Möbel mit lauter Schnörkeln, die Abdrücke in die Teppiche machen. Die Angeberblumen in der chinesischen Vase neben dem Fenster sind übrigens aus Plastik, hab ich getestet.
Bei so einer Therapiestunde sitzen Dr. Kilian und ich uns gegenüber auf zwei steifen Ledersesseln. Er glotzt mich dann einfach nur an und sagt nichts, also quassele ich einfach irgendeinen Kram drauflos, ganz egal, was. Nach ein paar Sitzungen meinte der doch glatt zu mir, ich hätte eine »stark assoziative Denkstruktur« und das war glaub ich das erste Mal, dass ich seine Stimme gehört habe.
Ich so: »Und was soll das sein?«
Und er: »Das heißt, dass Sie Dinge miteinander in Verbindung bringen, die für viele Menschen keinen erkennbaren Zusammenhang haben, Ella.«
Und ich: »Aha, danke, kann ich dann jetzt bitte gehen, es ist siebzehn Uhr.«
Was mich so richtig sauer machen kann, ist, wenn ich aus Versehen zu lange auf seine Haare gucke. Die sind aschgrau und fusselig, und er denkt offensichtlich, dass er lange Haare hat, weil unten, wo sie noch aus ein paar grauen Strähnen bestehen, trägt er sie schulterlang, aber oben, wo es nur noch ein paar Fussel gibt, kämmt er die so quer über seine Stirn, und das sieht, mit Verlaub, einfach zum Draufspucken scheiße aus.
Nach einem Monat (also insgesamt acht!!! Sitzungen bei Dr. Kilian) fragte mich Mama eines Abends beim Essen: »Glaubst du eigentlich, du kommst mit diesem Therapeuten klar?« Sie betonte Therapeuten, damit klar wurde, dass dies ja auch noch eine wichtige, wenn auch lästige Sache war, die hier seit Wochen unter den Tisch fiel.
So harmlos eine Frage auch klingen mag, man darf nie auf den beiläufigen Plauderton hereinfallen, solange es meine Mutter ist, die fragt.
Mit der Antwort ließ ich mir dementsprechend ein paar Augenblicke Zeit. Ich wusste, dass ich diesen blassen Arzt mit seinem Mundgeruch und seinen Fingerspitzen nie würde ausstehen können. Außerdem vermisste ich die freien Nachmittage am Dienstag und am Donnerstag, die ich früher (wie alle anderen Nachmittage auch) mit meinen zwei Lieblingsbeschäftigungen gefüllt hatte: mit Kotsche rumhängen, was regelmäßig Ärger nach sich zog, oder in ausgedehnten Sessions zeichnen, was zunächst gar nichts nach sich zog.
Ich musste allerdings knallhart abwägen, was hier die Alternative zu Dr. Kilian und seinen Fingerspitzen war. Auch wenn ich nicht so ganz glaubte, dass sie es wahr machen würde, hatte Mama in letzter Zeit häufiger so ein Eliteinternat am Bodensee erwähnt.
Ich hab das mal im Internet nachgeguckt. Diese Schule ist mit dem Auto sechseinhalb Stunden von Dortmund entfernt. Das allein macht doch schon eine starke Aussage. Auf den paar Fotos, die ich fand, war ausschließlich der Teil der Menschheit zu sehen, den Kotsche »Perlen-Paulas« nennt. Das sind halt so Mädels, die in ein paar Jahren zu Frauen werden, die Perlen um die Hälse und an den Ohren tragen. So reiche Girls mit elvital-gespültem Haar im fusselfreien Harry-Potter-Look. Passend dazu waren die an viele Gruppentische in einem Speisesaal gepfercht, jede ihren hübschen Kopf anmutig gesenkt über einen eigenen Teller Salat.
Vor meinem inneren Auge stiegen Bilder eines zittrigen Lebens auf der Basis von Rohkost auf. Wie sollte ich mit so einer Ernährung genügend Widerstände gegen meine Umwelt entwickeln? Angenommen, die Mitschülerinnen verhielten sich genauso, wie man es aus diesen College-Filmen kennt, stünden tuschelnd in Gruppen auf den Gängen und würden Vorbeigehenden abschätzige Blicke zuwerfen – hätte ich nach fünf Stunden Unterricht und zwei Tellern Salat die Kraft, einer von ihnen im Vorbeigehen lässig in die Kniekehle zu treten? Ich würde wohl eher vor Hunger halb ohnmächtig in die Gruppe Mädchen hineinsinken, mich mit Schaum vorm Mund an den Kragen ihrer Blusen festkrallen und um ein Snickers flehen. Weiß nicht, wie viel Respekt man mittelfristig für so ein Verhalten erntet.
Vorsichtig sah ich also hoch zu Mama. In ihren Augen lag die gesamte Wucht ihrer Frage, die ehrlich gesagt nicht so gut zu der häuslichen Stimmung am Esstisch passte.
Mama weiß ganz genau, dass ich nicht lügen kann. Und eben deshalb musste ich es jetzt tun.
Ich zuckte also so gleichgültig, wie ich konnte, mit den Schultern. »Der ist okay.«
Und das war alles, was meine Mutter brauchte, um die unterschwellig tobende Schlacht in ihrem Innern zu meinen Gunsten ausfallen zu lassen. Sie nickte, wir aßen weiter, und ich wusste, ich durfte bleiben.
Dafür lohnt sich eine Lüge doch.
Apropos Lügen. Es gibt eine Person auf diesem Planeten, die macht mich fertig, und das ist Bob Dylan. Allein dieser Name.
Entschuldigung, ich bin mir bewusst, dass ich mit dem folgenden Rant vielen Leuten schwer auf den Schlips trete, weil ich weiß, dass für die meisten Bob Dylan so was wie Gott ist. Mindestens Gott, sonst ergibt nämlich das ganze Spektakel um ihn objektiv keinen Sinn.
Womit wir beim eigentlichen Rant wären. Wenn jemand nämlich. Robert Zimmerman heißt. Und daraus. Bob Dylan. Macht. Dann … hat er ganz offensichtlich nicht nur ein Problem mit sich, sondern auch eins mit der Realität.
Gerade weil Bob Dylan einer der ersten richtig großen Songwriter war, sollte man meinen, er hätte ein bisschen auf seinen eigenen Bullshit-Faktor aufgepasst. Unterschätzt man sein Publikum nicht ganz schön, wenn man ihm einen Namen vorsetzt, der dermaßen nach Spielzeug-Cowboy klingt? Just saying!
Mir ist das Konzept des Künstlernamens natürlich geläufig. Aber wenn man zwei gestörte Eltern hat, von denen der eine ein abgehalfterter Schauspieler, Endstation Kindertheater, und die andere eine überkandidelte Galeristin mit einem Drogenproblem ist, wächst man in einem Haushalt auf, in dem, sagen wir mal, »Tatsachenverdrehung« etwas sehr Alltägliches ist. Und diesen Scheiß ist man spätestens mit dem Einsetzen der Pubertät aus orientierungstechnischen Gründen leid.
Ich bin so froh, dass Kotsche mir On Bullshit von Harry G. Frankfurt geschenkt hat! Ohne dieses kleine Büchlein hätte ich kein Wort für das, was mich seit meiner Ankunft auf Erden in ungefähr hundert Millionen Momenten quält.
Lesen fiele mir von mir aus ja nicht ein. Das ist irgendwie nichts für mich. Ich glaube, es gibt Lese-Köpfe und es gibt andere Köpfe, und ich bin definitiv ein anderer Kopf. Bücher machen mir Angst, weil ich dann der Person, die da schreibt, so krass nahe bin. Weil, wenn die Bilder zu der Geschichte nur in deinem Kopf entstehen, hast du vorher besser dafür gesorgt, dass das eine saubere, sichere Gegend ist. Und mein Kopf ist echt einiges, aber weder besonders sauber noch besonders sicher. Meine inneren Bilder zu nur Worten sind meist sehr doll, und deswegen sind Bücher für mich schwierig.
Aber es gibt Ausnahmen. Dieses On Bullshit-Buch ist zum Beispiel eine Ausnahme. Und warum? Weil es die erste philosophische Abhandlung über Bullshit ist, ganz einfach. Man muss schon einmal im Leben vollständig begriffen haben, was das eigentlich ist, finde ich. Angelehnt an Frankfurts Buch ist nach meiner Theorie der »BM«, der »Bullshit Move«, eine Handlung oder ein Ausspruch einer Person, der die Wahrheit komplett wurscht ist. Es ist keine Lüge oder vielmehr: Es ist nicht mal eine Lüge, denn ein Lügner weiß immerhin, was die Wahrheit ist, und dreht sie nur herum, und somit ist die Wahrheit zumindest mal im Game gewesen. Der »Bullshit-Move« hingegen will einfach nur irgendwas rausfurzen, was Bedeutung vortäuscht. Wenn es die Wahrheit und die Lüge gibt, verfolgt der Bullshit ein drittes, meistens eher schlichtes Ziel. Geld, Macht, Sex, vielleicht ein Kinder Bueno, solche Sachen.
To be full of shit ist deshalb eine meiner Lieblingsphrasen, weil es auf so viele Leute zutrifft, jeden Tag, die ganze Zeit.
Robert Zimmerman dachte sich bestimmt, dass er noch schneller zum krassen Künstlerguru mutiert, wenn er nicht mehr so doll heißt wie ein deutscher Biologielehrer, sondern ein bisschen mehr wie ein irischer Dichterfürst. Und jetzt kommen wieder seine Sektenmitglieder und sagen: »›Und guck mal, Ella, genauso ist es doch auch gekommen, oder?« »Nö«, sage ich dann, »ist es nicht«, das ist ja der ganze Witz bei meiner Theorie. Für mich ist Bob Dylan nämlich mitnichten ein besserer Künstler als, äh, random pick: Harry Nilsson. Der hat die Menschheit nach ein paar Welthits nicht weiter belästigt, das hatte Stil, finde ich.
Am Ende ist Bob Dylan für mich persönlich halt auch nur irgendein Songwriter, der sein Leben lang vor allem eines tut: einfach nicht damit aufhören, irgendein Songwriter zu sein, auch das »ULP«, das »Udo-Lindenberg-Phänomen«, genannt.
Aber mittlerweile ist Dylan ja so alt wie eine Honigpilzkolonie, und das spricht wiederum dafür, ihn in Ruhe zu lassen.
Kritik ist für alte Leute ja ganz generell ein ziemlicher Angang.
Ein Wort wie Angang kenne ich natürlich nicht aus meiner Familie, so redet bei uns keiner. Das hat der alte Eckard immer gesagt, wenn ich mal bis spätabends bei ihm war, und dann mit ihm noch was einkaufen gehen wollte.
»Nä, datt machen wa nich’, um diese Zeit noch nachen Lidl gehen, da is alles voll mit die Jugendliche und so, datt is immer so ’n Angang.«
Er meinte damit die Punks, die da vor dem Supermarkt saßen. Die haben dem alten Eckard immer ein bisschen Angst gemacht, vor allem abends, weil die sich da wie dunkle Klumpen aus dem Schatten neben dem Eingang gelöst und uns mit kratziger Stimme nach Geld gefragt haben. Mich hat das nie erschreckt, komischerweise. Ich wusste schon mit zwölf, von denen geht keine Gefahr aus.
Jeden Mittwoch besuche ich den alten Eckard. Manche Menschen waren immer schon da, obwohl sie nicht mit einem verwandt sind. Der alte Eckard ist so ein Mensch. Ich hatte nie aktiv einen Opa, weil der Vater meines Vaters schon früh gestorben ist und der Vater meiner Mutter als Vollzeitarschloch in Düsseldorf-Oberkassel sitzt und sich einen Scheiß für mich interessiert.
Wir sagen alle nur »der alte Eckard« oder auch »olle Eckard«. Ich dachte lange, »olle« wär sein Vorname und er käme irgendwie aus Schweden oder so.
Merle und ich saßen mal im Garten. Ich blickte in die blühende Magnolie, dachte an Natur und an Kitsch und dadurch zwangsläufig auch an Schweden und fragte meine Schwester:
»Ob olle Eckard in Schweden wohl glücklicher war als hier in Dortmund?«
Merle sah mich verdutzt an. »Schweden? Wieso Schweden?«
Ich sah zurück.
»Kommt der nicht aus Schweden?«
»Nee, der kommt aus Hörde! Wieso denn Schweden?«
Ich wurde knallrot.
»Na, Olle, das ist doch ein schwedischer Name oder nicht …«
Merle klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und bekam einen Spott-Lachanfall. Ich hasse, hasse, hasse es, wenn sie den kriegt. Eine Wutwelle spritzte in mir hoch wie Lava aus einem Vulkan. Beruhigen konnte ich mich allerdings damit, dass der alte Eckard, wenn ich mit ihm zu zweit war, Merle immer nur »die Laute mit den Locken« genannt hat. Das gleicht so manchen Spott-Lachanfall ganz gut aus.
Der alte Eckard ist ein extrem entspannter alter Mann. Als ich noch ein Kind war, hatte er einen Hund, den Max, und den durfte ich immer in der Gartenanlage ausführen, wo hinter so einem knotigen Kirschbaum auch die Laube vom alten Eckard steht. Max hat immer so gezogen, dass er eher mich ausgeführt hat als ich ihn. Oft ist er mit mir bis rauf zum Stadion gehechelt, weil er die ganzen Bratwürste schon von Weitem gerochen hat.
Die Erwachsenen haben früher immer gedacht, dass der alte Eckard etwas unterbelichtet war, aber das lag nur daran, dass er mit denen nie viel geredet hat. Da war der noch vollkommen gesund. Er hat halt nur mit uns Kindern geredet, vor allem mit mir und Luis.
Hat uns vom Krieg erzählt, von den Bomben, die hier runtergekracht sind, vom Rennen in den Luftschutzbunker, von den Zankereien der Nachbarn, wer mit wem sein kümmerliches bisschen Essen nicht geteilt hat, wer wem seine Ration geklaut hat oder auch ein paar Schuhe oder einen Wintermantel oder sonst was. Von dem alten Trinker aus Hörde, der ein Holzbein hatte und den man immer schon von Weitem an dem Klonk-klonk-Geräusch erkannt hat und der den Kindern eine Heidenangst eingejagt hat.
Bis auf diese Storys hat der alte Eckard immer nur Sachen gesagt, die getan werden mussten, oder er hat dumme Sprüche gerissen. Das war’s, das war sein gesamtes Repertoire. Bei ihm sein hat sich angefühlt wie Ferien haben.
Im Herbst sind wir mit ihm zum Pilzesuchen in den Wald gegangen. Im Sommer durfte ich in seinem Schrebergarten auf der Hollywoodschaukel schaukeln, bis mir schlecht wurde. Was nie lange gedauert hat, weil ich zuvor immer jede Menge Kakao in mich reingeschüttet hatte, der sich mit den Weißbroten mit Butterkäse und Remoulade in meinem Bauch zu einem ekligen Brei vermischt hat.
Als ich noch klein war, gab es den alten Eckard praktisch nur draußen an der frischen Luft. Die meiste Zeit seines Lebens hat er sich in seinem Schrebergarten aufgehalten. Ich hatte da als Kind noch keinen Plan von, aber ich glaube, der hat schon krasse Sachen aus dem minibisschen Erde gemacht. Kartoffeln, Zucchini, Tomaten, Salat, Zwiebeln, Kirschen, Äpfel und Stachelbeeren hat der da hochgezogen. In unserer Speisekammer gab es ein extra Regalbrett, wo nur Einmachgläser mit den Sachen vom alten Eckard draufstanden.
Irgendwann ist Max an einer Portion Rattengift gestorben, und ab da hat der alte Eckard rapide abgebaut.
Nachdem er ein paarmal hingefallen war, hat ihm irgendjemand eine Pflegerin besorgt, die ich meide wie die Pest, weil sie immer genau da die Kissen aufschütteln muss, wo ich mich gerade hingesetzt habe. Also passe ich jeden Mittwoch den Zeitraum am Nachmittag ab, wenn diese Pflegerin gerade nicht da ist, und dann gehe ich ihn erst besuchen.
Ich weiß noch genau, wie falsch es sich angefühlt hat, als ich das erste Mal anstatt in seinen Garten in seine stickige Wohnung gekommen bin. Irgendwer hat dadrin alle verfügbaren Oberflächen mit kitschigen Porzellanfigürchen und angelaufenen Zinnsoldaten vollgestellt. Es gibt sogar einen Setzkasten, das ist so ein dunkelbraunes Miniaturregal, das man an die Wand hängt. In die mini Fächer stellt man dann so daumennagelgroße Wichtel mit Spazierstock und Ringelsöckchen, was einfach nur crazy ist, weil, der alte Eckard ist ja weder ein Kind noch ein Gnom. Ich würde ja die Frau von ihm verdächtigen, aber wir sind uns nicht sicher, ob es die überhaupt gab, denn niemand hat sie je kennengelernt, und es gibt auch in der Wohnung keinen handfesten Beweis für ihre Existenz.
Seitdem der alte Eckard nur noch drinnen hockt, versandet sein Gehirn wie ein toter Albatros am Strand, und da ist er in dieser Gegend nicht der Einzige. Kotsche meinte mal, dass den Deutschen, die den Krieg überlebt haben, einfach irgendwann das Gehirn wegbrutzelt, und das fände er nur fair. Ich finde das nur bedingt fair, denn durch die Demenz ist der alte Eckard vom coolen Opa-Substitut zu einer nervigen, kaputten Schallplatte geworden, die nur noch Dinge auf repeat sagt wie »Ach, ach, ach, datt is schon alle so watt«, »Kleinvieh macht auch nur Mist« oder »Schlecht sehen kann ich gut, aber gut hören kann ich schlecht« oder (mein persönlicher Liebling): »Tja, doof bleibt doof, da helfen keine Pillen«. Das »Tja« am Anfang setzt dabei kurz und trocken an, sodass danach die Os zwei lange Löcher in die Luft stanzen.
Und wenn ich oben an seiner Wohnungstür ankomme, strahlt er wie ein Kindergeburtstag und begrüßt mich zwar mit »Tachchen, Edeltraut« oder »Da kommt ja meine Gisela«, aber immerhin.
Einmal, bei irgendeinem Osterfeuer, saßen wir in unserem Garten, und die Erwachsenen waren noch Freunde. Ich erinnere mich genau, weil da hat’s angefangen. An dem Abend hat der Oberbonze Mama zum ersten Mal angebaggert. Vor versammelter Mannschaft. Vor meinem Vater.
Er hielt eins dieser Kristallgläser meiner Großmutter in der Hand, schwenkte darin seinen Whiskey und meinte, seit seiner ersten großen Liebe Tanja hätte ihn keine Frau mehr so scharf gemacht wie Agnes von Troll.
Leider muss mein Vater ja als Bohemian und Freigeist immer cool bleiben und darf sich emotional null Komma null verraten, egal was los ist.
Die ganze Runde warf sich nach diesem schmierigen Kommentar peinlich berührte Blicke zu, nur Papa lächelte noch eine nervtötende Ecke milder, blieb ganz ruhig auf seinem Hauklotz sitzen und drehte sich einen Joint.
Und da lernt man ja dann manchmal doch was fürs Leben von den eigenen Eltern. Nämlich dass ein bisschen Besitzanspruch hier und da dazu beiträgt, dass man seine Beziehung eventuell behält, wer weiß?
Eine halbe Stunde später war das Holz runtergebrannt und der Oberbonze irgendwie verschwunden. Ich schlug vor, ich könnte ja neues aus dem Schuppen holen gehen, weil ich nichts von einem eventuellen Eklat verpassen wollte, auf den ich immer hoffe, sobald es heißt: »Wir schmeißen am Samstag die Feuerschale an!« Also ging ich in den dunklen Teil des Gartens Richtung Schuppen.
Ich finde das übrigens immer seltsam: Sobald man von einer Situation ein paar Schritte weggeht, ist es, als wäre man nie da gewesen. Der räumliche Abstand macht, dass die Sachen, die man eben noch erlebt hat, sofort im Prinzip wie ausgedacht wirken, selbst wenn sie bloß zwanzig Meter weiter links von einem gerade immer noch passieren.
Als ich zur Schuppentür kam und sie aufdrücken wollte, hörte ich von rechts ein Geräusch und sah im Gestrüpp neben mir zwei schwarze Umrisse. Weil ich mich zwang hinzusehen, erkannte ich den Oberbonzen, der hektisch an dieser Sabrina, der hottesten von Mamas Heilpraktikerfreundinnen, herumfummelte.
Angeekelt schüttelte ich mich, wie ein Hund, der gerade aus einem Bach geklettert kommt, und lief umgehend rauf in mein Zimmer. Sollten die ihr dummes Holz mal schön selber holen.
Diesem Typen räume ich hier absichtlich nicht viel Platz ein, das Wichtigste, was man über ihn wissen muss, ist: He rich.
Er ist einfach stinkreich, weil sein Vater so einen Herdplattenhersteller europaweit groß gemacht und damit einen perversen Haufen Kohle verdient hat, den sein Sohn jetzt verwaltet, vermehrt und verprasst. Wohnt in der Dortmunder Gartenstadt und hält sich und sein Familienunternehmen für den Nabel der Welt. Muss ein ziemlich ödes Leben sein, wahrscheinlich viel Koks, viel Après-Ski und »sonstige Faschistenscheiße«, wie Kotsche sagen würde.
Aber am Ende ist reich sein reich sein, und Geld ist neben Kunst zufällig eine von zwei Sachen, von denen meine Mutter auf Touren kommt.
Das war mir und meiner Familie allerdings an besagtem Abend noch nicht in dieser Schärfe klar. Hinweise darauf sollten wir erst einige Zeit später erhalten.
Der Grund, weshalb der Oberbonze sich an diesem und wahrscheinlich noch vielen weiteren Abenden so viel rausgenommen hat und damit durchgekommen ist, ist derselbe Grund, aus dem ich (außer zu saufen, okay) die Finger von Drogen lasse: Meine Eltern sind zwei fucking Junkies, und ich weigere mich, sie anders zu bezeichnen.
Acid, Pilze, Koks, Gras, MDMA, das sind so die Dauerbrenner. Mit Keta und Crack wollen sie (Gott sei Dank) nichts am Hut haben, so viel Verstand ist wohl noch da. Bei uns zu Hause können sich die Leute, die es in den erlauchten Kreis meiner Freakfamilie geschafft haben, halt noch mal krasser zudröhnen als anderswo. Und sie können sich außerdem vormachen, da wäre weiter nichts dabei, weil das Setting so schön bürgerlich daherkommt.
MDMA haben Mama und Papa übrigens über Merle kennengelernt, was eine Menge über deren Eltern-Tochter-Beziehung aussagt.
Die richtig, richtig wilden Partys gab es vor allem früher, als wir Kinder noch klein waren.
Unser Haus ist eine alte Villa, in der es immer nach Steinfußboden und kühler Luft riecht, egal wie heiß es draußen ist. Und weil das Haus frei stehend ist, kann man darin so laut sein, wie man will, es kommen nie Beschwerden von den Nachbarn.