Five Minds - Guy Morpuss - E-Book

Five Minds E-Book

Guy Morpuss

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Beschreibung

Auf der Jagd nach dem Mörder im eigenen Körper … Ein spekulativer Thriller über den Wert unserer Lebenszeit In der Zukunft hat man das Problem der explosionsartig angestiegenen Bevölkerung gelöst: Die Lebenszeit wird begrenzt, und die Menschen müssen sich frühzeitig für eine von vier Existenzformen entscheiden – zum Beispiel für einen Gemeinschaftskörper. Einen solchen teilen sich Alex, Kate, Sierra, Ben und Mike schon seit 25 Jahren. In einem virtuellen Death Park spielen sie gegen andere Teilnehmer um Lebenszeit, die wichtigste Währung dieser neuen Welt. Doch dann stellt sich heraus, dass ein Mitglied ihrer Gemeinschaft nach dem Leben der anderen trachtet. Eine nervenaufreibende Jagd beginnt. Es ist schwer genug, einen Mörder zu überführen – aber nahezu unmöglich, wenn man einen Körper mit ihm teilt …

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Seitenzahl: 474

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Ähnliche


Guy Morpuss

FIVE MINDS

Thriller

Aus dem Englischen von Joachim Körber

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2023

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Five Minds bei VIPER, London

© Guy Morpuss, 2021

Aus dem Englischen von Joachim Körber

Covergestaltung: wilhelm typo grafisch, Zollikerberg

Covermotiv: Suphachai Yasattha / Krit Suppaudom / Potapov Alexander / boscorelli / Bonki Studio / VAlex / Shutterstock.com

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-226-2

 

www.atrium-verlag.com

www.facebook.com/atriumverlag

www.instagram.com/atriumverlag

 

 

Für Julie, El und Zog

BIST DU BEREIT ZU STERBEN?

 

 

MUSST DU ZEIT VERDIENEN?

LANGWEILT DICH DIE REALITÄT?

 

DANN KOMM IN DEN TODESPARK OAKBURY FLATS

 

Bestehe den Drahtseilakt zwischen Leben und Tod

Lass deine kühnsten Phantasien wahr werden …

oder deine morbidesten Begierden

 

DREAMS OF REALITY INC® GARANTIERT DIR:

 

- Spielkabinen auf neuestem Stand

 

- Siebenundvierzig Arenen

 

- Über hundertfünfzig einmalige und personalisierte Spiele

 

- Jedes Genre – historische, phantastische, futuristische Rollenspiele und mehr!

 

- Kein Limit auf gewonnene Zeit – geh mit einem kompletten neuen Leben

 

- Sondertarife für Lebensendlinge*

 

IT’S BETTER TO BURN OUT THAN TO FADE AWAY

 

* Es gelten die Allgemeinen Geschäftsbedingungen

 

Allgemeine Geschäftsbedingungen

Spieler müssen 21 (einundzwanzig) Jahre oder älter sein.

WARNUNG: Mögliche Folgen der Teilnahme an Spielen sind u.a. Tod, Verlust von Gliedmaßen, Lähmung, posttraumatisches Stresssyndrom oder Katatonie.

Gebühr für die Körperentsorgung in Höhe von 1 (einem) Monat muss vor Spielbeginn hinterlegt werden. Rückerstattung beim Verlassen, sofern die Summe nicht aufgebraucht wurde. Im Falle des Todes erfolgt eine Erstattung für alle Körperteile in wiederverwertbarem Zustand.

»Lebensendlinge« können den Park für eine verringerte Gebühr von 2 (zwei) Monaten betreten; in diesem Fall findet Paragraf 6 unten keine Anwendung.

In diesen Bedingungen bedeutet »Lebensendlinge« in Bezug auf Paragrafen 4 und 6:

HEDONISTEN in ihrem letzten Lebensjahr (Alter: 41–42 Jahre);

ANDROIDEN in ihrem letzten Lebensjahr (Alter: 79–80 Jahre);

MULTIPLE im letzten Jahr ihres fünften Lebens (Alter: 141–142 Jahre);

ARBEITER (ohne festgelegtes Verfallsdatum) können sich nicht als »Lebensendlinge« qualifizieren.

WICHTIGER HINWEIS: Vor dem Betreten müssen Spieler gemäß den Vorschriften von ZAdmin den psychologischen Nachweis erbringen, dass sie die Bedingungen verstanden haben und umfassend über die Risiken beim Betreten des Parks informiert wurden. Multiple müssen den entsprechenden Nachweis (separat) für mindestens 3 (drei) ihrer 5 (fünf) Persönlichkeiten erbringen.

WARNUNG:

Durch Betreten des Parks bestätigst du, dass du darüber informiert wurdest, dass der Tod in der Spielkabine permanent ist.

Diese Bedingung gilt nicht für Multiple in ihren ersten 4 (vier) Leben, die im Falle des Todes die komplette verbleibende Zeit ihres aktuellen Lebens und jede im Park gewonnene Zeit verlieren. Die Leben der anderen Persönlichkeiten bleiben davon unberührt.

Dreams Of Reality Inc® steht in keinem Zusammenhang mit den Arenen und übernimmt keine Verantwortung für Tod oder körperliche/geistige Schäden an Spielern, gleich welcher Ursache.

ALEX

TAG EINS22:00–2:00

Wie soll man es nennen?

Erwachen. Anziehen. Die Haut überstreifen. Uploaden, downloaden. Körper-Hopping. Geist-Transfer.

Schizos suchen immer noch nach einem Wort, damit es sich besser anfühlt, glamouröser. Oder wenigstens normal. Aber es gibt keines. Ganz gleich, welchen Begriff man benutzt, es ist und bleibt, als würde jemand dein Gehirn vom Rückenmarksansatz in den Schädel reißen – und ihm dann zu guter Letzt noch einen Tritt verpassen.

Wenn der Schock nachgelassen hat, lautet meine erste Frage immer: Wo genau hat Sierra uns hingebracht? Das Gute ist, dass es nur wenige Orte gibt, wo man im Todespark einen Körper abladen kann.

Wir hatten vier gegen eins für diesen Trip gestimmt. Die anderen fanden, dass es eine Chance wäre, Wert anzuhäufen und vor dem ersten Körpertausch noch etwas Spaß zu haben. Ich hatte dagegen gestimmt. Aber einen Aspekt wusste ich immerhin zu schätzen: Die reglementierte Umgebung schränkte Sierras Möglichkeiten ein.

Die Protokolle sind eindeutig: Vor dem Drop-out lässt man den Wirtskörper an einem sicheren Ort liegen, allein. Eine abgeschlossene Tür, Essen und Wasser in der Nähe. In fünfundzwanzig Jahren konnte ich die Zahl der Gelegenheiten, bei denen das alles zusammentraf, an den Fingern einer Hand abzählen. Ich erwachte drinnen, draußen, in Gefängniszellen, in öffentlichen Transportmitteln, halb in einem zugefrorenen See liegend und bei einem denkwürdigen Anlass an Deck eines Frachters, der zu einer zehntägigen Transatlantikfahrt auslief.

Für Sierra hat anscheinend keine noch so große Zeitstrafe Bedeutung. Manchmal glaube ich, sie versucht, uns zu töten.

Meine zweite Frage nach dem Erwachen lautet stets: Welche Menge Ethanol fließt durch meinen Blutkreislauf? Man sollte meinen, dass jemand, der sein Leben in Vier-Stunden-Intervallen lebt, nicht die Hälfte seiner Zeit im Alkoholrausch verbringen möchte. Aber wir alle kämpfen auf unterschiedliche Weise gegen unsere Dämonen. Und Sierras Dämonen unterscheiden sich gravierend vom Rest von uns.

Selbst mit geschlossenen Augen wusste ich die Antwort auf die erste Frage. Ich war am selben Ort wie die letzten drei Tage. Stimmen, Gelächter, Musik, Gläserklirren: der Diamond Room im Excelsior, die einzige gehobene Bar im Todespark. Ich war nicht sicher, warum genau Sierra sie besuchte, aber das hier war eindeutig eine Verbesserung gegenüber ihren sonstigen Lieblingsplätzen.

Die Antwort auf die zweite Frage lautete 2,35 Promille Blutalkohol. Das entspricht einer Flasche Whisky in vier Stunden. Oder drei Flaschen Champagner. Guter Schnitt, selbst nach Sierras Maßstäben. Ordentlich berauscht, aber nicht so sehr, dass ein Alarm ertönte und das autonome Kontrollsystem eingriff. Ich rief Inhibitoren und Entgiftung auf. Vor fünfundzwanzig Jahren hatten sie dem neuesten Stand der Technik entsprochen, aber inzwischen waren sie abgenutzt, und wir hatten uns in den letzten paar Jahren nicht besonders um sie gekümmert. Wenn ich sie heute benutzte, kam es mir vor, als würde jemand meine Adern von innen ausbrennen und mir die Augäpfel mit einem Kartoffelschäler rasieren.

Ich blieb eine Minute still sitzen und ließ sie ihre Arbeit tun. Augen geschlossen. Dachte nach. Das waren zwei Protokollverstöße beim Aufwachen. Sollte ich darüber hinwegsehen? Welchen Sinn hatte es, Sierra etwas von ihrer Zeit zu nehmen? Sie würde sich nie ändern. Andererseits, warum wollte ich sie damit davonkommen lassen? Wenigstens sollten es die anderen wissen.

Ich loggte mich ein.

 

GRUPPE

Verstoß gegen Protokoll 2.08: Unsicheres Erwachen. Verstoß gegen Protokoll 3.17: 2,35 Promille Ethanol. [Dateianhang] Antrag: Eine Stunde Zeitstrafe. Abstimmung wird am Ende des Zyklus eingeloggt. Alex.

 

Ich wollte mich ausloggen, fügte dann aber eine persönliche Nachricht hinzu.

 

Sierra, ich habe es satt, hinter dir aufzuräumen. Mach, was du willst, aber zieh den Rest von uns da nicht mit rein. Achte darauf, dass wir vor deinem Drop-out nüchtern und sicher sind. Im nächsten Leben müssen wir ein deutlich besseres Verhalten sehen, sonst beantrage ich eine gravierende Zeitstrafe. A.

 

Jetzt atmete ich ruhiger, und der Alkoholpegel sank rapide.

Ich schlug die Augen auf.

Ich saß zusammengesackt auf einer Eckbank, Menschen wirbelten um mich herum, eine Champagnerflöte hing verkehrt herum in meiner Hand. Ich ließ sie auf den nassen Teppich fallen.

Ein niedriger Tisch trennte mich von einer blonden Frau im grünen Kleid, die mich erwartungsvoll ansah. Sie lächelte. Niedergeschlagenheit überkam mich. Wo hatte Sierra mich jetzt reingeritten?

»Alex Du Bois«, sagte sie. »Du bist wieder da. Ich bin Jessica.«

Eine Nachricht von Sierra wurde eingeblendet.

 

Gern geschehen, Alex. Versau das nicht. Oder sei jetzt gleich versaut, falls du die Zeit dafür hast. Vermutlich weißt du noch, wie das geht. Sie ist reizend, aber wir wissen aus Montreal, dass Blondinen nicht dein Typ sind. Sie ist reich und gierig. Und nicht so gut, wie sie denkt. Wir brauchen das. Sierra. x

 

Ich seufzte und scannte die Frau.

 

JESSICA ENGELS

Hedonistin

Verfallsdatum: 42 Jahre

Alter: 41,98 Jahre

Guthaben: 3,27 Jahre

 

»Ich weiß nicht, was Sierra dir versprochen hat, aber ich bin nicht interessiert«, sagte ich.

Sie schmollte. »Sierra hat gesagt, du wärst witzig. Sie sagte, du würdest gern spielen.«

»Normalerweise schon. Aber ich mag die Einsätze nicht, die im Park angeboten werden.«

»Warum bist du dann gekommen?«

»Ich hatte keine Wahl. Das heißt aber nicht, dass ich ihre kranken Spielchen mitspielen muss.«

»Stimmt nicht ganz.« Sie beugte sich über den Tisch und nahm meine Hand. »Sierra hat dich angemeldet. Schau her.«

 

Herausforderung angenommen. Schatzsuche in New York: Jessica Engels (Hedonistin) vs. Alex Du Bois (Multipler), abzuschließen binnen 24 Std.

 

Was bildete Sierra sich ein? Das gehörte nicht zum Plan.

Ich lehnte mich zurück. »Du bist offensichtlich talentiert, Jessica. Niemand erspielt sich drei Jahre in einem Todespark ohne Fähigkeiten und viel Glück zu haben. Aber dein Glück ist nicht von Dauer. Ich will nicht derjenige sein, der dich tötet. Lass dich auszahlen und geh heim.«

»Sie hat mir nicht gesagt, dass du ängstlich bist.«

»Müde. Nicht ängstlich«, sagte ich. »Dieser Körper ist fast abgelaufen, und bis zum Tausch ist er praktisch nichts wert. Was bekommst du, wenn du uns schlägst? Ein paar Monate. Wenn ich verliere, verbringe ich zwei Wochen in Stasis und kehre in einem nagelneuen Körper zurück. Wenn du verlierst, bist du endgültig hinüber. Du jagst Zeitschnipseln hinterher, und die Chancen sprechen gegen dich. Reine Verschwendung. Mike möchte verbesserte Quadrizeps, damit er schneller laufen kann. Ben will neue Spielimplantate. Alles überflüssiges Zeug. Mehr nicht. Nimm deine Zeit, geh weg und lebe sie.«

Jessica zögerte. Kurz flackerte ein Hauch von Angst in ihren Augen, doch dann lächelte sie wieder. Sie schüttelte den Kopf.

»Gesprochen wie jemand, der weiß, dass er verliert«, sagte sie. »Wir haben eine Abmachung. Du spielst, oder dein Guthaben verfällt. Was soll es sein?« Sie stand auf und streckte eine Hand aus.

Ich schlug ein – nicht aufgrund meiner Vorliebe für menschlichen Kontakt, sondern wegen der Informationen. Wenn ich mich schon auf diese Sache einlassen musste, wollte ich wenigstens so viel wie möglich über Jessica wissen. Ihre Hand war warm und leicht schwitzig. Achtundneunzig Schläge pro Minute – zu hoch für jemand, der die ganze Zeit saß. Sie hatte Angst. Gut so.

Sie runzelte die Stirn. »Du siehst aus wie sie … aber irgendwie anders. Deine Augen gehören jemand anderem. Ihr Schizos mögt daran gewöhnt sein, alle paar Stunden zu tauschen, aber es mitanzusehen, ist gruselig.«

»Nicht so gruselig wie ihr Heds – das halbe Leben für ein paar Jahre Luxus aufzugeben.«

»Du hast deinen eigenen Körper aufgegeben.«

Ich lachte. »Wenn du ihn gesehen hättest, wäre dir klar, dass er nicht viel wert war. Und ich brauche ihn nicht. Was auch immer heute passieren mag, ich bin noch da, wenn du schon lange weg bist.«

Sie wandte sich ab und biss sich auf die Oberlippe. Ihr Griff blieb fest.

Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge wie ein Liebespaar nach einem Streit, das dringend ein Plätzchen zur Wiedergutmachung sucht.

Aber ich hatte nicht vor, Sierras Vorschlag einer romantischen Auszeit vor der Arbeit anzunehmen. Ich wollte Jessica so schnell ich konnte töten.

Die nächste Arena lag zwei Häuserblocks entfernt im Erdgeschoss eines verfallenen Hochhauses. Niemand will in einem Todespark leben, daher sind sie bis auf ein paar Basics schlecht ausgestattet.

Draußen herrschte Dunkelheit, die meisten Straßenlaternen waren kaputt. Eine Drohne heulte dicht über uns hinweg und erfasste uns einen Moment mit dem Scheinwerfer. Sie umkreiste uns einmal und flog weiter.

Wir bahnten uns vorsichtig einen Weg durch den schlaglochübersäten Kadaver der einstigen Hauptstraße, Betonstaub knirschte unter unseren Füßen. Gegenüber der Arena lag ein Klub – Lichtorgelblitze und Musik drangen durch die gesprungenen Fenster. Leute, die Partys feierten, während sie auf den Tod warteten.

Die Türen der Arena glitten auf, als wir uns näherten, der Gestank von Schweiß und Tod schlug uns entgegen. Im Inneren befand sich ein Souvenirshop mit T-Shirts und Hoodies, die Aufschriften trugen wie: GRÜSSEAUSDEMTODESPARK und ICHKAM, ICHSAH, ICHTÖTETE. Einen verstand ich nicht: REVILLAGIGEDOISLAND: DERNAMELOCKTDICH, DASSPIELSCHOCKTDICH. Was sollte das bedeuten?

Am Tresen im Eingangsbereich wartete eine junge Frau mit rosa Haaren und einem T-Shirt, auf dem stand: ARENAX: KOMMUNDSTIRBMITUNS! Sie sah auf und scannte uns.

»Ms. Engels, Mr. Du Bois. Willkommen in Arena X.« Vor ihr im Tresen ging eine Klappe auf. »Die brauchen Sie.«

Sie griff hinein und gab jedem von uns ein Paar Turnschuhe.

»Ms. Engels, Zimmer D, Mr. Du Bois, Zimmer L. Die Jagd beginnt fünf Minuten nach Betreten. Unsere Gebühr für den Sieger beträgt zehn Prozent. Darüber hinaus können Sie sich für ein T-Shirt oder eine Markenflasche Wasser entscheiden. Für den Verlierer«, sie verzog das Gesicht, »ist die Körperentsorgung gratis.« Es schien eine gut einstudierte Ansage zu sein.

Ich folgte Jessica am Tresen vorbei zu einem Flur mit Türen auf beiden Seiten. Als wir zur Tür mit der Aufschrift D kamen, glitt sie auf. Jessica zögerte, als wollte sie etwas von sich geben, trat dann jedoch wortlos ein. Ich ging weiter. Was soll man auch zu jemandem sagen, den man gleich töten wird?

Zimmer L war eine Standardspielkabine. Etwa drei Meter im Durchmesser, Wände, Boden und Decke komplett schwarz. Ein kleiner Sitz ragte neben einer offenen Schublade aus der Wand. Ich setzte mich, wechselte die Schuhe und stellte meine eigenen in die Schublade. Als ich aufstand, glitt der Sitz in die Wand zurück.

Ein Bildschirm leuchtete auf, der Countdown stand bei 4:28. Ich ging hin und spürte, wie der Boden unter meinen Füßen federte.

 

Willkommen, Mr. Du Bois

 

Spiel: Die Schatzsuche

Sieger: Erster beim Preis oder Letzter, der stirbt.

Level: Drei

Ort: New York

Transportmittel: Nicht gestattet

 

Um die Integrität des Spiels zu gewährleisten, führt jeder Versuch, Ereignisse aufzuzeichnen, zur sofortigen Disqualifikation.

 

Ein neuer Bildschirm erschien:

 

In diesem Spiel stehen folgende Wahlmöglichkeiten in puncto Aussehen und Ausstattung zur Verfügung:

 

1. a. Männlich; b. Weiblich.

2. a. Sportausrüstung; b. Anzug.

3. a. Fünf Einheiten lokale Währung; b. Eine Minute Einfrieren.

 

Bei der ersten Option zögerte ich. Finte oder doppelte Finte? Die Spielkabine las meine Persönlichkeit, nicht meinen Körper. Ich würde also im Spiel als Alex erscheinen, nicht als Mike. Daher konnte Jessica mich unmöglich erkennen. Ich würde bei männlich bleiben.

Die zweite Auswahl fiel mir leichter. Wenn ich nicht gerade mitten auf einem Sportplatz startete, wäre ein Anzug unauffälliger.

Was die dritte Option anging, würde ein mit allen Wassern gewaschener Gegner mich niemals das Einfrieren benutzen lassen. Etwas Geld bedeutete dagegen Flexibilität.

Also a, b, a. Ich wich zurück. Der Bildschirm erlosch, es blieb nur der Countdown.

 

2:48

 

Ich stand mitten in dem Zimmer, schloss die Augen und fand mein Gleichgewicht. Mein Mund wurde trocken, Adrenalin ausgeschüttet. Ich fuhr es ein wenig herunter. Aber wenn man nicht nervös ist, sollte man keinen Wettkampf führen.

Bis jetzt hatten wir ein paar Spiele gewonnen und besaßen knapp ein Jahr an Guthaben. In den Todesparks lässt man es langsam angehen und kämpft um Krümel, bis man einen anständigen Zeitvorrat erspielt hat. Wir waren mit zwei Wochen angekommen; es gab nicht viele, die für so wenig spielen wollten. Um Sierra gegenüber fair zu sein: Jessica war unsere erste Chance auf einen wirklich großen Gewinn.

Wie ich zu Jessica sagte, haben Schizos einen Vorteil in einem Todespark. Wenn jemand von uns in einer Arena stirbt, sterben wir alle. Aber es ist kein echter Tod. Wir wechseln mit intakter Persönlichkeit in unseren nächsten Körper. Heds wie Jessica – die haben nur ein Leben. Für sie ist der Tod in der Arena endgültig. Was aber nicht bedeutete, dass ich verlieren wollte. Wir waren schließlich in dem Park, um Zeit zu erspielen.

Ich schlug die Augen auf.

 

1:32

 

Ich wartete, dass es in dem Zimmer schwarz werden würde.

Grelles Sonnenlicht blitzt über mir zwischen Metallkabeln hindurch. Holzbohlen unter meinen Füßen, der Ausblick auf Wasser unter mir. Verkehrslärm um mich herum. Der beißende Geruch von Abgasen.

Voraus die Silhouette von New York.

Ich laufe bergauf, schlängle mich zwischen Fußgängern hindurch. Vor mir ragt ein kleiner Turm aus Stein auf. Ein Fahrrad rast an mir vorbei, die Klingel ertönt. »Bleib auf deiner Seite!«

Ich bin auf der Brooklyn Bridge und laufe auf das Zentrum von Manhattan zu.

Keine Spur von Jessica, aber sie lassen die Spieler selten am selben Ort starten. Eine halbe Meile rechts von mir erblicke ich das Blau und Weiß der Manhattan Bridge. Ich sehe eine U-Bahn Richtung Osten fahren und einen Jogger, der nach Westen läuft. Ich kneife die Augen zusammen, aber die Linsen sind nicht gut genug. Vielleicht ist es Jessica – vielleicht auch nur irgendein trainierender Städter. Ich kann natürlich nicht steuern, was Jessica macht, aber es wäre gut, wenn ich wenigstens wüsste, wo sie ist.

Dank Mike und seiner an Wahnsinn grenzenden Fitnessbesessenheit kann ich ewig laufen. Doch hier geht es nicht nur ums Laufen. In dem Fall wäre Mike besser geeignet gewesen.

Ich mache etwas langsamer und warte auf den ersten Hinweis. Er leuchtet in meiner rechten Linse auf.

 

Level eins: Eine Persönlichkeit aus dem Fernen Osten mit zwitschernden Sperlingen; finde den blinden Spieler.

 

Ich befinde mich etwas südlich von Chinatown. Da werden keine Persönlichkeiten aus dem Fernen Osten herumlaufen, also suche ich wohl nach einer Statue. Ich rufe die Karte in meiner Linse auf – die Confucius Plaza nebst Statue des bedeutenden Mannes liegt fünf Minuten entfernt. Klingt vielversprechend.

Damit ich auf der sicheren Seite bin, lasse ich eine Suchanfrage nach Statuen in der Umgebung laufen und wende mich dem zweiten Teil des Hinweises zu.

 

Suche »zwitschernde sperlinge«

 

Nach einer kurzen Pause erscheint das Ergebnis auf meiner Linse.

 

Der erste Zug von Spielsteinen beim Mah-Jongg-Spiel.

 

Ich gehe durch den linken Turmbogen zu dem langen Betonbürgersteig, der zum Rathaus führt. Ich steigere das Tempo und weiche einer Gruppe Touristen aus.

Durch eine weitere Suchanfrage erfahre ich, dass das Spiel Mah-Jongg eine Erfindung ist, die man Konfuzius zuschreibt. Passt alles. Suche ich einen blinden Mah-Jongg-Spieler bei der Statue?

Am Ende der Brücke biege ich rechts ab, laufe am Gericht vorbei und trete in eine Nebenstraße.

Bis zur Plaza ist es nicht weit, aber das kommt mir zu einfach vor.

Ich mache langsamer und denke noch mal über die Hinweise nach. Sollte Jessica in der Nähe sein, wäre es mir lieber, wenn sie mich nicht erkennt. Hoffentlich sehe ich wie jeder andere nichtssagende Anwalt im dunklen Anzug aus, der das sonnige Wetter für einen Spaziergang nutzt. Ein leicht verschwitzter Anwalt. Vielleicht habe ich eine harte Verhandlung hinter mir. Ich sehe keine Spur von Jessica. Die meisten Leute auf der Straße sind Chinesen, also müsste sie auffallen. Ich als Alex andererseits auch. Mike wiederum hätte überhaupt nicht aus der Menge herausgestochen.

Ich finde fünf Dollar in meiner Jackentasche. Als Tarnung kaufe ich eine Flasche Wasser und ein kleines Brötchen bei einem Straßenhändler. Jetzt bin ich wirklich ein nichtssagender Anwalt in seiner Mittagspause.

Während ich das eklige Brötchen kaue, werden die Ergebnisse meiner Suchanfrage zu Statuen eingeblendet. Im Columbus Park etwas nördlich von mir steht eine Statue von Sun Yat-sen, dem ersten Präsidenten von China. Eine Persönlichkeit des Fernen Ostens. Ich mag noch nie von ihm gehört haben, aber meine Suche ergibt, dass der Park ein Treffpunkt für Einheimische ist, die Mah-Jongg, Karten und Schach spielen.

Also, welches von beiden ist es? Ich rufe ein Bild der Confucius Plaza auf. Ein freier Platz, eine Statue von Konfuzius, aber sonst nicht viel. Sieht mehr nach einer Durchfahrt aus als nach einer Oase, wo man sitzt und spielt. Und es ist laut. Ein blinder Spieler würde so eine Stelle sicher nicht wählen.

Meine Entscheidung ist gefallen. Ich werfe das Brötchen weg, gehe nordwärts in den Columbus Park und hoffe, dass ich richtigliege. Ich versuche, entspannt auszusehen, als ich den Rasen betrete.

Wo ist der blinde Spieler? Eine Gruppe Jungs spielt Basketball auf einem Betonplatz. Von denen dürfte es keiner sein. Ein Mann und eine Frau praktizieren etwas, das wie Tai-Chi mit Schwertern aussieht. Die auch nicht. Vielversprechender erscheint mir eine Gruppe Leute, die in einer Ecke im Schatten eines Baumes Karten und Schach spielen.

Ich schlendere zu ihnen und trinke mein Wasser.

An einem Schachtisch aus Stein sitzen sich zwei Kontrahenten gegenüber. Einer beugt sich nach vorn, der andere hat die Augen geschlossen und sieht aus wie im Halbschlaf. Der blinde Spieler? Er sagt etwas, und sein Gegner bewegt die Figur für ihn.

Ja.

Ich sehe mich um. Ich will nicht, dass Jessica meinem Beispiel folgt. Aber scheinbar interessiert sich sonst niemand für die Spieler.

Ich zögere einen Moment. Wenn ich mich irre, gibt es eine Zeitstrafe. Dann gehe ich hin und berühre den Mann sanft an der Schulter. Die Szene friert ein.

 

Level eins abgeschlossen.

 

Ich stoße einen leisen Seufzer der Erleichterung aus und sehe mich erneut um. Immer noch keine Spur von Jessica. Ist sie vor oder hinter mir? Der zweite Hinweis leuchtet auf.

 

Level zwei. Pier 54, ein großes Schiff sinkt, berühre den richtigen Anker.

 

Meine Karte zeigt mir, dass Pier 54 an der Westseite von Manhattan liegt, am Hudson, gut zwei Meilen entfernt. Das ist ein langer Weg, zumal uns keine Transportmittel erlaubt sind. Dass ich zum Pier gehen und einen Anker finden soll, wäre vermutlich zu einfach. Und was ist das große Schiff?

 

Suche »pier 54 new york« + »sinkendes schiff«

 

Einen Augenblick später werden die Ergebnisse eingeblendet:

 

Zwei Treffer:

 

1. RMSLusitania, am 1. Mai 1915 von Pier 54 New York ausgelaufen, am 7. Mai 1915 von deutschem U-Boot versenkt; 1198 Tote.

 

2. RMSCarpathia, angedockt am 18. April 1912 an Pier 54 New York mit 712 Überlebenden der RMSTitanic.

 

Könnte beides sein. Den Anker berühren deutet auf eine Art Denkmal hin. Vermutlich liegen die Anker beider Schiffe auf dem Grund des Atlantiks. Ich suche, finde in New York aber keine Denkmäler für die Lusitania. Für die Titanic dagegen mehrere. Keine halbe Meile entfernt liegt das Titanic Memorial Lighthouse, ein Leuchtturm. Gehe ich nach Norden zum Pier 54 und suche einen Anker? Oder nach Süden zum Leuchtturm?

Es muss der Leuchtturm sein. Pier 54 selbst wäre zu offensichtlich.

Ich werfe einen Blick hinter mich. Immer noch niemand zu sehen, der sich für die Schachspieler interessiert. Ich stecke die leere Wasserflasche in die Tasche und laufe los. Erst links, dann rechts und unter die Brooklyn Bridge.

Ich ducke mich in eine Nebenstraße und sehe den Leuchtturm. Er steht in einem Park, ein schmales, dreieckiges Stück Land zwischen zwei Straßen, mit ein paar Bäumen und Bänken. Ein enttäuschendes Denkmal für den Tod von 1600 Menschen.

Wichtiger ist aber, dass es in dem Park keinen Anker gibt. Ich gehe zum Leuchtturm, umkreise ihn und suche nach der Gravur eines Ankers. Nichts.

Eine Kopfsteinpflasterstraße grenzt an den Park, dahinter ein Wegweiser zum Seaport Museum. Zwischen den Bäumen sehe ich rostiges Metall. Ein Anker? Ich nähere mich. Zwei Anker rechts und links der Treppe, die ins Museum führt.

Geschafft.

Ich gehe hin.

Eine junge Frau mit buntem Yogakleid und einer Yankees-Baseballmütze bugsiert einen Kinderwagen die Stufen vor dem Museum hinab. »Könnten Sie mir helfen?«, fragt sie.

Ungewollt bezwingt Höflichkeit meine Wachsamkeit. Ich bücke mich, um eine Sprosse des Kinderwagens zu packen, und weiche eine Sekunde zu spät zurück. Als sie mir in die Augen sieht, wird mir klar, dass sie eine deutlich jüngere Version von Jessica ist. Sie lässt den Kinderwagen los, und während ich mich damit abmühe, legt sie mir eine Hand auf die Schulter. »Einfrieren«, flüstert sie.

Ich fluche. Wie konnte ich so dumm sein? Ich kann mich nicht bewegen, eine Uhr in meiner Linse zählt von sechzig Sekunden abwärts.

Jessica lächelt. »Danke, Süßer.« Sie verschwindet aus meinem Gesichtsfeld, ich höre sie auf dem Kopfsteinpflaster davonlaufen. Vielleicht nach Westen.

Es vergeht die längste Minute meines Lebens. Die Zeit nutze ich, mich zu fragen, wie Jessica zu dem Kinderwagen gekommen ist. Hat sie einfach ein Kind aus dem Seaport Museum entführt?

Jetzt weiß ich, dass sie mir voraus ist, ein gutes Stück voraus.

Null.

Ruckartig kehre ich ins Leben zurück. Ich weiß, es ist eine Simulation, und ich weiß, ich sollte mich sputen, kann aber nicht anders, als nachzusehen, ob ein Kind in dem Wagen ist. Er ist leer. Ich berühre den Anker auf der rechten Seite. Wieder friert die Szene ein.

 

Level zwei abgeschlossen.

 

Jetzt weiß ich, wie Jessica aussieht, aber sie ist längst fort. Der dritte Hinweis erscheint.

 

Level drei: 77, ein Flug nach Nirgendwo, gehe durch das Wasser hindurch.

 

Ein Flug nach Nirgendwo deutet auf die Angriffe auf das World Trade Center vom 11. September 2001 hin. Zwei Flugzeuge, die in die Twin Towers rasten. Die dortigen Bassins sind allgemein bekannt: enorme Wasserfälle, wo einst der Nord- und Südturm standen. Das könnte mit »gehe durch das Wasser hindurch« gemeint sein.

Aber ganz sicher würde niemand einen Preis in einem Nationaldenkmal platzieren, nicht einmal in einer Simulation. Und was soll »77« bedeuten? Außerdem, wenn es eines der beiden Becken ist, welches?

Ich starte eine Suchanfrage nach Zusammenhängen zwischen 77 und 9/11; dann, falls ich mit 9/11 falschliege, eine umfangreichere Anfrage mit dem kompletten Hinweis.

Da ich sonst nichts weiter habe, laufe ich nach Westen, Richtung Gedenkstätte.

Auf dem Broadway herrscht ein Verkehrsstau. Ich schlängle mich durch und versuche aufzuholen. Versuche, nicht alles zu beenden, indem ich mich überfahren lasse. Links von mir liegt ein Gebäude, das wie ein riesiger weißer Igel aussieht. Ich laufe daran vorbei. Köpfe wirbeln herum, ein Wachmann kommt auf mich zu. Dies ist eine Stätte des Gedenkens, nicht des Rennens. Jemand ruft.

Ich achte nicht darauf.

Aber ich weiß immer noch nicht, welches Becken. Als die Ergebnisse meiner ersten Suche eingeblendet werden, verlangsame ich das Tempo.

 

Suche »77« + »9/11« + »world trade center wasserbecken«

 

American Airlines Flug 77, entführt am 11. September 2001, raste in das Pentagon; 64 Menschen an Bord und 125 am Boden starben. Die Namen der Toten finden sich am südlichen Becken der Nationalen Gedenkstätte für den 11. September, Manhattan.

 

Das muss es sein. Das Südbecken. Aber es kommt mir immer noch nicht richtig vor.

Ich wende mich nach links und gehe am unterirdischen Museum vorbei zum Südbecken. In einer Ecke gibt es einen Menschenauflauf.

»Sie ist reingesprungen!«, ruft jemand. »Wo ist sie hin?« Ein Polizist richtet die gezückte Waffe auf das Becken. Aber es ist niemand zu sehen.

Im Ernst? Der Preis ist da unten? Die Hinweise passen. Trotzdem sagt mein Bauchgefühl immer noch Nein.

Wie auch immer, Jessica ist mir voraus. Ich muss mich entscheiden.

Sieht aus, als ginge es tief runter, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Mit einer stummen Entschuldigung steige ich auf die umliegenden Namenstafeln, hänge nur noch an den Fingerspitzen und lasse los. Der Wasserfall stürzt an der schwarzen Schieferseite des Beckens hinab. Ich bin tropfnass, kann nichts sehen und finde keinen Halt. Unsanft lande ich auf dem Boden des Beckens und knie in dreißig Zentimeter tiefem Wasser, wo mich eine starke Strömung zum Brunnen in der Mitte zieht. Leute brüllen von oben zu mir herunter, aber das Wasser rauscht so laut, dass ich ihre Worte nicht verstehe.

Ich rapple mich auf. Der Polizist fuchtelt mit der Waffe in meine Richtung. Er will mich doch sicher nicht erschießen? Vielleicht denken sie, ich bin reingesprungen, um Jessica zu retten. Dann wäre ich ein Held. Ich drehe ihm den Rücken zu. Es gibt nur einen Weg. Jessica muss den Brunnen in der Mitte runtergesprungen sein.

Ich rutsche aus und schwimme dorthin. Am Brunnenrand suche ich Halt, um abzuschätzen, wie tief es ist, verschätze mich aber, und die Strömung wirbelt mich über den Abgrund. Ich stürze in ein tieferes Becken, hole Luft und werde wieder nach unten gezogen. Es ist dunkel hier. Ich kann nichts sehen oder spüren. Immer tiefer werde ich hinabgezogen.

Das kann nicht stimmen.

Ich glaube den Boden unter mir zu spüren. Ich taste mich voran, folge der Strömung. Noch immer kann ich nichts sehen; ich scheine mich aber in einer Art Tunnel zu befinden.

Meine Lungen brennen, doch ich kämpfe mich weiter voran. Wenn das hier richtig sein soll, muss es bald einen Weg hinaus geben. In dem Hinweis hieß es, ich solle durch das Wasser hindurchgehen.

Irrwitzigerweise leuchten die Ergebnisse meiner zweiten Suche vor meinen Augen auf.

 

Suche »77« + »flugzeug« + »manhattan« + »wasser«

 

1969 stellte man einen Nachbau des Kampfflugzeugs Sopwith Camel aus dem Ersten Weltkrieg auf dem Dach des Bürogebäudes in der Water Street 77 auf.

 

Das Foto zeigt ein Kleinflugzeug am Ende einer unmöglich kurzen grünen Startbahn auf dem Dach eines Hochhauses; »77« steht in großen weißen Ziffern auf der Startbahn. Ein Flug, der niemals unternommen wird.

Idiot. Ich hätte auf meine Instinkte hören müssen. Niemand platziert einen Preis auf dem Grund eines Nationaldenkmals. Und alles passt zu dem Hinweis. Es war ein Flug nach Nirgendwo – Einzahl –, nicht mehrere Flüge.

Hat Jessica das richtig erkannt? War das mit dem angeblichen Sprung eine Art Finte? Ist sie zur Water Street 77 gegangen?

Ich drehe mich um und versuche, gegen die Strömung zu schwimmen, aber sie ist viel zu stark. Selbst wenn ich es zum Becken zurückschaffe, habe ich keine Ahnung, wie ich rauskommen soll. Die Wände sind aus glattem Granit. Und wenn Jessica die Lösung gefunden hat, bin ich ohnehin viel zu weit hinter ihr.

Mein Kopf knallt gegen das Dach, ich gerate in Panik. Ich werde zurückgespült, bis ich mit den Füßen gegen etwas stoße. Etwas Weiches. Und es packt meine Beine.

Einen Augenblick stelle ich mir ein Meeresungeheuer mit vielen Tentakeln vor. Dann wird mir klar, dass Jessica denselben Fehler gemacht hat wie ich. Sie zieht sich an meinen Beinen hoch, oder mich zu sich, warum auch immer. Vielleicht nur aus dem verzweifelten Wunsch heraus, sich noch einen Moment an das Leben zu klammern, an irgendein Leben.

Jetzt gibt es nur noch einen Ausweg. Ich trete mit dem letzten bisschen Kraft nach ihr, das ich noch habe, und ihr Klammergriff lässt nach. Wir werden beide sterben, aber ich habe noch einen kleinen Vorteil. Ich greife in die Tasche und taste nach der leeren Wasserflasche, die ich vorhin eingesteckt habe. Ich mühe mich mit dem Verschluss ab.

Der Atem entweicht explosionsartig aus meinen Lungen, hastig führe ich die Flasche zum Mund, verschlucke Wasser, inhaliere die Luft und versuche, nicht dabei zu ersticken.

Es reicht gerade aus.

Jessica verliert den Halt und wird in die Dunkelheit gerissen. Trotz allem tut sie mir leid. Niemand verdient es, so zu sterben, und es kommt mir krank vor, in einem Mahnmal für all die Toten zu sterben. Wir wurden vorsätzlich in die Irre geführt.

Aber Jessicas Tod bedeutet, dass ich lebe.

Meine Lungen drohen zu kollabieren. Als ich gerade aufgeben und das eiskalte Wasser einatmen will, blendet mich Licht.

Spiel beendet.

 

Keuchend lag ich auf dem Boden der Spielkabine. Wasser floss rasch unter mir ab.

Ich zitterte, war aber nicht sicher, ob vor Kälte oder vor Schock. Ich drehte den Kopf und übergab mich.

Ich hatte gewonnen, wir waren noch am Leben.

Im Gegensatz zu Jessica. Sie trieb in dem Wasser in Zimmer D, wo sie ertrunken war. Aber immerhin kostete die Entsorgung des Körpers nichts. Glückliche Jessica.

Ich drehte mich auf den Rücken. Als sich meine Augen an das Licht angepasst hatten, bemerkte ich die Nachricht auf dem Bildschirm.

 

Sieg durch Tod

 

Glückwunsch, Mr. Du Bois.

Ihnen wurden 2,69 Jahre gutgeschrieben.

Sie haben zehn Minuten, die Kabine zu verlassen.

 

Oder was? Würden sie das Wasser wieder aufdrehen? Ich wollte es nicht herausfinden.

Eine Tür ging auf, dahinter warteten eine Dusche und neue Kleidung.

Bis ich gewaschen und angezogen war, hatte ich mich noch zweimal übergeben. Wenigstens das Zittern hatte aufgehört.

Die nasse Kleidung warf ich weg und ging auf den Flur hinaus.

Ich gab der jungen Frau am Eingang die Turnschuhe zurück. Das Sterben um sie herum schien sie nicht weiter zu stören.

Sie lächelte mich an. »Gut gemacht, Mr. Du Bois. Ms. Engels hatte 3,29 Jahre Guthaben. Wir haben unsere zehn Prozent Gebühren abgezogen. Darüber hinaus gibt es eine Strafe von einhundert Tagen für eine kulturell unsensible Übertretung. Ihr Endguthaben beträgt 2,69 Jahre.«

Das kam mir wie ein mieser Schwindel vor. Eine Strafe wegen Verstoßes gegen lokale Gesetze in einer Simulation ergab keinen Sinn.

»Einhundert Tage?«, fragte ich. »Kommt mir heftig vor. Ich weiß, es ist falsch, in ein Nationaldenkmal zu springen, aber das war nur eine Simulation. Und der Hinweis war bewusst doppeldeutig. Wir haben ihn beide falsch interpretiert. Das muss doch andauernd passieren – damit stiehlt die Arena nur Guthaben.«

Sie lächelte. »Es tut mir leid. Ich schreibe die Spiele nicht und mache nicht die Regeln.« Sie beugte sich über den Tresen. »Ich sage Ihnen was«, sagte sie leise. »Sie können ein T-Shirt und eine Wasserflasche haben.«

Widerworte waren zwecklos. Ich nahm meine Geschenke und ging hinaus.

Es war die 2,69 Jahre nicht wert gewesen. An Jessica würde ich mich deutlich länger erinnern. Ich hörte noch immer das Wasser in meinen Ohren rauschen und spürte ihren panischen Klammergriff um meine Beine. Normalerweise kommt man dem Tod in diesen Spielen nicht so nahe. Weder dem eigenen noch dem von anderen. Das war viel zu persönlich gewesen. Zu viele Menschen, die es nicht verdient hatten, starben in diesen Todesparks.

Ich prüfte die Zeit. Mir blieb noch etwas über eine Stunde. Ausnahmsweise brauchte ich selbst etwas zu trinken, und mir war egal, was es kostete. Ich ging zum Excelsior zurück.

Im Diamond Room herrschte noch reichlich Trubel. Wenn überhaupt, schien sogar mehr los zu sein als vorhin. Ich fand einen ruhigen Platz und bestellte einen Whisky. Als ich das Glas zum Mund führte, zitterte meine Hand.

Vergiss Jessica. Sie hätte mich getötet, wäre sie dazu in der Lage gewesen. Jessica musste wegen Sierra sterben – die hatte mich schließlich für das Spiel angemeldet. Mir war keine Wahl geblieben.

Das halbe Glas schüttete ich mir über das Hemd, aber nachdem ich den Rest getrunken hatte, fühlte ich mich etwas besser und bestellte noch eines. Das war der letzte Drink. Ich musste vor dem Drop-out noch einen sicheren Ort für Kate finden.

Das zweite Glas hatte ich fast ausgetrunken, als jemand auf dem Sessel gegenüber Platz nahm. Eine schlanke, blonde Frau in schwarzem Kleid, das sich eng an jede Rundung ihres Körpers schmiegte. Im ersten Moment hielt ich sie für Jessica, fuhr hoch und verschüttete meinen Drink.

Sie sah mich an und ließ makellos weiße Zähne aufblitzen. Ihr leerer Blick streifte meinen, dann schlug sie kokett die Augen nieder. »Möchtest du etwas Spaß haben?«, fragte sie.

Ganz bestimmt nicht. Ich würde diesem durch und durch schrecklichen Tag ganz sicher nicht die Krone aufsetzen, indem ich seelenlos mit einer Sex-Dandi kopulierte. Nimm eine Andi, verzichte auf den Verstand, damit sie schön blöd bleibt, füge eine nicht allzu helle KI hinzu, und schon hast du ein lebensechtes Sexspielzeug, das dir jeden Wunsch erfüllt. Oder du vermietest sie, damit du einen Teil deiner Investition wieder reinholst. Ich seufzte. Man konnte sich darauf verlassen, dass die Menschheit einfach alles pervertierte.

Ich schüttelte den Kopf und stand auf. »Nein, danke.«

Sie reagierte nicht. Anscheinend war sie nicht darauf programmiert, sich Enttäuschung anmerken zu lassen.

Im Gehen loggte ich mich ein.

 

GRUPPE

Danke, Sierra. Nächstes Mal frag mich, bevor du mich für etwas anmeldest. Wie du an der Tatsache siehst, dass du aufgewacht bist, leben wir noch. Gerade so. Diese recht reizende junge Frau nicht. Sie war gewieft, aber ich konnte sie schlagen. Das deckt Mikes neue Beine ab. Vielleicht bevorzugen wir aber auch neue Lungen (wir wären fast ertrunken). Jemand anderes kann das nächste Mal übernehmen. Alex.

KATE

TAG ZWEI06:00–10:00

Ich erwachte und fühlte mich klasse.

Wie immer. Zwischen Alex und mir lagen fast vier Stunden Ruhepause. Eine echte Ruhepause, in der Nanome durch uns schwärmten, prüften, flickten, ausbesserten, heilten. Und etwas richtiger Schlaf. Nicht der kurze Upload/Download, den die anderen bekamen.

Außerdem folgte ich auf Alex. Es lag ein Vorteil darin, nach dem dicken Kind mit dem Minderwertigkeitskomplex zu kommen. Besser gesagt, dem ehemals dicken Kind, das jetzt im Körper eines Athleten lebte und immer noch fand, dass es nicht gut genug war. Das glaubte, die beste Methode, gemocht zu werden, bestünde darin, in allem der Beste zu sein. Der freundliche, süße, loyale Alex.

Ich sah mich um. Ich lag mitten auf einem großen Bett, wie es aussah, in einer einst teuren Hotelsuite. Jetzt wirkte sie ziemlich heruntergekommen. Abgelöste Tapete, ein Spiegel mit Sprung an der Wand gegenüber, eine Staubschicht auf allem und der Geruch nach Moder.

Auf dem Nachttisch rechts von mir standen eine Wasserflasche und eine Papiertüte. Ich setzte mich auf und trank einen Schluck Wasser. Ich spuckte aus und ließ die Flasche fast fallen, als ihr Mund und Ohren wuchsen und sie etwas über eine Arena X zu singen anfing. Wo immer die sein mochte.

Ich schraubte den Verschluss zu. Der Mund hauchte mir einen Kuss zu und verschwand. Die Ohren klappten danach ein. Ich sah an mir hinunter und stellte fest, dass ich ein T-Shirt mit derselben Aufschrift trug.

Großer Gott, Alex. Wer lässt sich diesen Mist andrehen?

Ich betrachtete die Papiertüte misstrauisch und öffnete sie vorsichtig. Kekse mit Chocolate Chips, meine Lieblingsmarke. Und sie sangen nicht. Viel besser. Alex sorgte immer für mich.

Ich stand vom Bett auf und ging zum Fenster, um zu sehen, wo ich mich befand.

Irgendwo hoch oben. Die Sonne ging zwischen fernen Wolkenkratzern auf, aber keiner war höher als ich. Unten lag der Todespark. Verfallene Gebäude erstreckten sich bis zu dem Stacheldrahtzaun. Das Ganze war wohl eine Vorstadt gewesen, bevor die Menschheit das Problem der Überbevölkerung in den Griff bekam. Jetzt war es nichts weiter als ein Todespark. Verlassen. Nur die Arenas, Bars und Klubs hatten noch geöffnet. Den Rest überließ man dem Verfall.

Überall andernorts wären diese Gebäude längst abgerissen worden. Je mehr die Bevölkerungszahl zurückging, desto weniger Bedarf an Hochhäusern bestand; die Betonwohnblocks mussten nachhaltigen Öko-Häusern weichen. Mit der Zeit würde dieses Schicksal sogar den Todesparks blühen. Das Grün der Außenwelt würde die Betoninseln für immer verschlingen. Im Augenblick jedoch waren sie noch eine vorübergehende Erinnerung an vergangene Zeiten.

Ich loggte mich ein.

 

Morgen, Katie. Ich dachte mir, die Aussicht könnte dir gefallen. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob sich der Aufstieg von zwanzig Stockwerken in meinem Zustand gelohnt hat. Das Türschloss funktioniert nicht, aber die Aufzüge auch nicht, daher solltest du ziemlich sicher sein. Ich habe ein paar Kekse für dich aufgetrieben – guten Appetit.

Gestern Nacht wären wir fast gestorben. Sierras Trinkerei hat mich ausgebremst. Sie hat mich in ein Spiel geschickt, ohne uns auch nur zu fragen. Und konnte nicht widerstehen, mal wieder eine Anspielung auf Montreal zu machen [Anhang]. Kann sie es nicht gut sein lassen?

Alles Liebe, Alex.

 

Der süße, bedürftige, zickige Alex. Er brauchte es, dass Sierras Kapriolen ihm zusetzten. Sie kannte keine Schuldgefühle, und jedes Mal, wenn er auf sie einging, bekam sie, was sie wollte. Wir mussten alle vergessen, was in Montreal passiert war, und nach vorn blicken.

In einer Nachricht an die ganze Gruppe beschwerte Alex sich erneut, dass Sierra sich schon wieder in einer Bar betrunken hatte. Was erwartete er? Ich konnte mich nicht erinnern, warum wir die beiden zusammengebracht hatten. Vermutlich fand er sie aufregend, als er siebzehn war. Aber dass man im Zyklus aufeinanderfolgte, bedeutete nicht, dass man etwas gemeinsam machte. Es bedeutete nur, dass die nachfolgende Person das Schlamassel der vorhergehenden aufräumen musste. Und Sierra hinterließ ein gewaltiges Schlamassel. Er wollte eine Stunde ihrer Zeit. Aber sie würde sich nie ändern, sosehr wir sie auch bestraften. Wenn drei Monate in Stasis nichts verändert hatten, würde eine popelige Stunde schon gar nichts bewirken. Ich zögerte, dann stimmte ich mit Ja. Je weniger Zeit Sierra im Todespark hatte, desto besser standen unsere Siegeschancen.

Es folgte eine zweite Nachricht von Alex, in der er uns auf seine übliche passiv-aggressive Art mitteilte, wie glänzend er sich in dem Spiel geschlagen hatte. Alex, der zögerliche Killer. Sicher war er von sich selbst überrascht.

 

Alex, Süßer. Danke für das Knabberzeug. Du bist so nett. Ich hasse die dumme singende Wasserflasche. Gut gemacht letzte Nacht. Hört sich kniffelig an. Lass dich von S nicht so auf die Palme bringen. Wir können nicht ändern, was in Montreal passiert ist. Ich weiß, du hast es überwunden – lass dich von ihr nicht runterziehen. Genau das will sie. Ich habe dir die Stunde gegeben. Ich hoffe, die anderen machen das auch. K. xxx

 

Ich scrollte durch den Rest meiner Nachrichten. Der Nachteil, die Erste im Zyklus zu sein, war der, dass ich mich um den Großteil der Gruppenangelegenheiten kümmern musste. Nur eine Nachricht schien interessant.

 

HÖCHSTEPRIORITÄT, NICHTIGNORIEREN: ZAdmin an K. Weston Sie wurden mit sofortiger Wirkung auserwählt, einen Monat als Abstimmungsberechtigte zu dienen. Glückwunsch. Das ist Ihre Chance, an der vordersten Front der Demokratie Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Ihre Amtszeit beginnt unmittelbar nach Erhalt.

Sollten Sie Ihrer Bürgerpflicht nicht nachkommen, zieht das Zeitstrafen nach sich.

Sollten Sie Fragen zum Prozedere haben, ziehen Sie den Dateianhang zu Rate.

Alle Zeit, die Sie für Ihre Bürgerpflichten aufwenden, wird Ihnen erstattet.

Gemäß Protokoll 2.1.7384 müssen Sie uns unverzüglich informieren, sollten Sie geistig labil, körperlich beeinträchtigt oder dem Tode nahe sein.

 

Ich lächelte in mich hinein. Normalerweise hätte ich mir so etwas als Allerletztes gewünscht. Ich war schon einmal ausgewählt worden. Es hörte sich aufregender an, als es in Wirklichkeit war. Als Abstimmungsberechtigte ist man eine von Millionen, die jeden Tag Stunden damit vergeuden, dass sie öde Entscheidungen über Ausgaben, Steuern, den Justizapparat und andere sterbenslangweilige Themen treffen. Entscheidungen, die von der Öffentlichkeit getroffen wurden und nicht von gesichtslosen Politikern. Manchen Leuten gefiel das Gefühl der Macht. Mir nicht. Besonders schlimm ist es für Schizos, da die vergoltene Zeit unter der Gruppe aufgeteilt wird. Ich bekäme also faktisch nur ein Fünftel der Zeit wieder, die ich verplempere. Es gibt so wenig Multiple, dass niemand sich bemüßigt fühlt, diese Ungerechtigkeit zu ändern.

Aber diesmal hatte ich eine Antwort parat. Ich feuerte eine Nachricht zurück.

 

ZAdmin: Leider sehe ich mich außerstande, meiner Bürgerpflicht nachzukommen, da ich dem Tode nahe bin. Ich bin Teil einer Gruppe, die noch zehn Tage zu leben hat. Im nächsten Monat erfolgt der Transfer in einen neuen Körper. Darüber hinaus befinde ich mich momentan in einem Todespark – und bin dem Tod somit möglicherweise noch näher. Bitte bestätigen Sie meine Befreiung. Kate Weston.

 

Das würde es ihnen zeigen.

Alex hatte ein Bündel neue Kleidung am Fußende des Bettes zurückgelassen. Als ich das alberne T-Shirt abstreifte und mich anzog, wurde ein Anruf angezeigt.

 

06:17 Identität unterdrückt.

 

Ich zögerte, dann nahm ich an. Sprachanrufe waren ungewöhnlich, das machte mich neugierig.

»Wer ist da?«

»Ms. Weston, mein Name ist Amy Bird. Sie kennen mich nicht, aber ich würde mich gern mit Ihnen treffen.« Ihre Stimme klang weich und sanft. »Ich habe ein Angebot für Sie.«

»Ist das eine Herausforderung? Davon haben wir reichlich. Posten Sie sie, dann melde ich mich bei Ihnen.«

»Das ist keine Herausforderung, die ich posten kann«, sagte sie. »Es gibt … unkonventionelle Elemente.«

»Ich lasse mich auf nichts Illegales ein«, sagte ich. »Versuchen Sie es bei jemand anderem. Es gibt mehr als genug Unterschichtler im Park.«

Ihre Stimme wurde härter. »Ich will Sie, Ms. Weston. Ich biete Ihnen zwanzig Jahre fast ohne Gegenleistung. Der liebe Alex wurde gestern Nacht für einen Bruchteil davon fast getötet.«

»Was? Woher wissen Sie davon?« Eigentlich sollen Spiele privat sein. Aber es gab immer schon Gerüchte über einen Schwarzmarkt von Syndikaten, die Spiele streamen oder Vermögen darauf wetten, wer überlebt und wer stirbt. Oder Voyeure, die zusehen, weil sie einen echten Tod unterhaltsamer finden als einen Fake-Tod.

»Ich weiß eine Menge über Sie, Ms. Weston, und Ihre Gruppe. Ich könnte ein paar Stunden warten und Mike dasselbe Angebot machen. Wir wissen beide, dass er diesen Körper nicht verlieren will. Immerhin war es mal seiner allein. Wenn ich ihm zwanzig Jahre für den nächsten biete, greift er zu. Möchten nicht Sie lieber diejenige sein, die der Gruppe diese Zeit verschafft?«

Sie hatte recht. Mike wäre sofort Feuer und Flamme. Und zwanzig Jahre. Wir kämpften um Brosamen, und diese Frau bot uns fast eine komplette Lebensspanne. Aber niemand gab einfach so zwanzig Jahre weg. Dennoch war es besser, wenn ich mich mit ihr traf und nicht Mike.

»Wo und wann?«, fragte ich. »Ich habe nicht viel Zeit.«

»Das ist das Problem mit euch Schizos«, sagte sie. »Immer in Eile. Sie haben drei Stunden und zweiundvierzig Minuten. Das ist mehr als genug. Wir treffen uns um sieben gegenüber der Borth Street Arena.«

Sie beendete den Anruf, ohne auf meine Antwort zu warten.

Zu der Arena war es ein lockerer Spaziergang durch Straßen, die in dieser frühen Morgenstunde weitgehend menschenleer waren. Ich sah nur eine einzige andere Person, einen dünnen Mann in langem Mantel mit einem Koffer neben sich, der am Ende einer langen Gasse stand. Er lächelte und ließ dabei ordentlich Zähne sehen.

»He«, rief er. »Spielen Sie heute? Ich habe, was Sie zum Gewinnen brauchen. Booster für Gehirn, Muskeln, Ausdauer, Uppers, Downers. Was immer Sie wollen, ich habe es. Alles echt und garantiert wirksam. Meine Preise sind niedrig. Könnte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

»Kommen Sie, machen Sie mir ein Angebot. Es ist guter Stoff. Ich bekomme nie Beschwerden.«

Ich lachte. »Wer sich beschweren könnte, ist tot.«

Darauf kicherte er. »Kommen Sie mir nicht heulend angelaufen, wenn Sie heute sterben.« Er betrachtete mit viel Getue den Inhalt seines Koffers. »Sieht nicht so aus, als hätte ich was, wo ›Auferstehung‹ draufsteht.«

Ich lächelte und ging weiter.

In der Borth Street Arena war ich noch nie gewesen. Sie sah noch heruntergekommener aus als die meisten, ein einstöckiger Fertigbau, schwarz gestrichen und mit Graffiti übersät. Das Grundstück daneben war unbebaut und verwuchert, auf der anderen Seite ragte ein Hochhaus empor. Gegenüber lagen ein verwahrloster Park mit anderthalb Meter hohem Unkraut und ein rostiger Spielplatz.

Allen Beteuerungen zum Trotz hätten wir uns nicht hier getroffen, wenn Ms. Birds Vorhaben sauber gewesen wäre.

Eine Frau saß neben der Ruine einer Schaukel auf einer Bank. Ich scannte sie.

 

AMY BIRD

Androidin

Verfallsdatum: 80 Jahre

Alter: 67 Jahre

Guthaben: 7,5 Jahre

 

Ihr blieben also noch dreizehn Jahre und ein Guthaben von 7,5 – etwas mehr als zwanzig, die sie alle mir anbot. Das ergab keinen Sinn. Name hin oder her, niemand geht in einen Todespark, um sich umzubringen.

Sie war älter, als sie sich bei dem Anruf angehört hatte. Aber das passte, weil sie zumindest nicht aussah wie siebenundsechzig. Das visuelle Alter ihres Körpers hielt sie bei etwa vierzig. Manche Andis sind so eitel. Sie war groß und muskulös, mit kurzem, dunklem Haar und hellblauen Augen. Der knallenge schwarze Hosenanzug mit den roten Knöpfen, den sie trug, betonte ihre Physis zusätzlich. Alex hätte sie gefallen.

Als ich näher kam, stand sie auf und streckte die Hand aus. Sie fühlte sich warm und normal an, aber wie bei jeder Andi waren Bewegung und Mimik etwas zu perfekt. Ihr Lächeln berührte die Augen nicht.

Ich unterdrückte ein Erschauern.

»Schön, dass Sie gekommen sind.«

»Dies ist ein seltsamer Treffpunkt.«

»Bitte. Setzen Sie sich.« Sie wartete, bis ich Folge leistete, dann setzte sie sich ebenfalls wieder.

»Was wollen Sie?«, fragte ich.

»Es geht nicht darum, was ich will, sondern was ich Ihnen geben kann«, antwortete sie. »Ich habe einen ebenso einmaligen wie lukrativen Vorschlag für Sie.«

»Sie sagten, Sie würden mir zwanzig Jahre geben. Alles, was Sie haben. Ich traue Andis schon im Normalfall nicht, aber das hier stinkt zum Himmel. Wenn Sie sich umbringen wollen, hätten Sie es mit siebzehn machen sollen. Der Zug ist abgefahren.«

»Ich will mich nicht umbringen«, sagte sie. »Ich will aus diesem Körper raus. Dafür brauche ich Ihre Hilfe.«

»Warum? Und noch wichtiger: wie? Wir wissen beide, dass es nicht möglich ist, einfach von einem Körper zum anderen zu springen, wenn einem gerade danach ist.«

»Zum Warum: um mich an meinem Arsch von Ehemann zu rächen. Was das Wie angeht, da kommen Sie ins Spiel. Ich brauche einen Schizo, und die gibt es nicht gerade wie Sand am Meer.« Sie machte eine Pause und drehte sich zu mir um. Zum ersten Mal wurde ihr Blick emotional. Flehentlich. »Hören Sie mir nur zwei Minuten zu. Lassen Sie es mich erklären. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, suche ich mir eine andere, die auf leichte Weise zwanzig Jahre verdienen will.«

»Machen Sie schnell«, sagte ich. »Mir gefällt die Sache nach wie vor nicht.« Zwei Minuten für zwanzig Jahre schien mir ein guter Tausch zu sein. Ich konnte immer noch gehen.

»Na gut. Dann die Kurzversion.« Sie nickte, als müsste sie sich sammeln, und fuhr dann fort. »Als Schizo haben Sie vermutlich nicht viele Beziehungen hinter sich, und die waren schätzungsweise eher kurz und belanglos. Wir Andis dagegen verlieben uns für gewöhnlich nicht einfach Knall auf Fall, dafür aber fürs ganze Leben. Man hat achtzig Jahre, das macht es leichter. Wir sind der Beweis dafür, dass man sich mit dem Kopf verliebt, nicht mit dem Herzen. Glaubte ich jedenfalls.« Sie schnaubte. »Ich will Sie nicht mit den Details langweilen, aber ich bin jetzt seit vierundzwanzig Jahren verheiratet. Und ich sehe noch genauso aus wie an meinem Hochzeitstag. An dem Punkt hätte ich stutzig werden müssen.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte ich.

»Ich wollte es nicht«, sagte sie verbittert. »Es ist dumme Eitelkeit, wenn du deinen Körper jung hältst und dein Verstand altert. Was bringt das, wenn jeder dich scannen kann und dein wahres Alter sieht? Aber mein Mann – Charlie – bestand darauf. Er sagte, er liebe mich so, wie ich bin. Wie sich herausstellte, liebte er die Person, an die er sich erinnerte, und nicht die, zu der ich geworden war. Der Punkt ist erreicht, wo ich ihn verlassen will.«

»Aha.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ihn verlassen. Wo ist das Problem?«

»Wenn ich das mache, sterbe ich«, sagte sie.

»Er droht, Sie zu töten? Das ist illegal. Zeigen Sie ihn an.«

»So einfach ist das nicht«, antwortete sie. »Was er mir angedroht hat, ist unmoralisch, aber nicht illegal. Sie haben bestimmt mein Zeitguthaben gesehen. Das habe ich nicht hier gewonnen. Vor langer Zeit besuchten Charlie und ich einen anderen Todespark. Es war dumm, wenn man bedenkt, wie viel Zeit uns noch blieb und was auf dem Spiel stand. Aber wir waren jung und fühlten uns unbesiegbar. Wie sich zeigte, waren wir unbesiegbar, denn wir gewannen ununterbrochen. Charlie spielte am häufigsten. Er war jünger, stärker, schneller. Wir waren uns einig, dass wir die Gewinne teilen wollten. Um zusammen alt zu werden.« Darüber lachte sie verbittert auf. »Sie wissen ja, dass die Parks zu den wenigen Orten gehören, wo man Zeit verschenken kann. Er gab mir seinen halben Gewinn – zwanzig Jahre. Das erforderte eine gesetzliche Vereinbarung, einschließlich einer Klausel, dass ich die Zeit zurückgeben muss, wenn wir uns trennen. Damals dachte ich mir nichts dabei. Vermutlich habe ich es nicht mal gelesen.«

»Aber Sie haben das meiste verbraucht«, sagte ich. »Sie haben nur noch siebeneinhalb Extrajahre übrig.«

»Und das ist das Problem. Wenn ich zwanzig Jahre zurückzahlen muss, bin ich in sechs Monaten tot. Das ist grausam. Ich bin an ihn gekettet oder tot. Er hätte sich einfach eine Sex-Dandi kaufen sollen.«

»Das kann nicht rechtens sein«, sagte ich.

»Ich habe viel Zeit für die besten Anwälte verplempert, und die sagen mir was anderes.«

»Also gut. Sie tun mir leid. Es ist hart, aber Sie haben anscheinend keine Wahl. Ihn verlassen und sterben oder bei ihm bleiben und leben. Mir ist nicht klar, wie ich Ihnen helfen soll.«

»Es gibt eine dritte Möglichkeit«, sagte sie. »Ich habe …« Sie machte eine Pause. »Freunde. Freunde mit speziellen Fähigkeiten. Und die haben einen anderen Körper organisiert, eine generalüberholte Dandi.« Sie lächelte. »Es ist ein alter Körper, Charlie würde ihn hassen. Sie hat kaum noch Zeitguthaben. Aber genug, dass ich noch ein paar Jahre glücklich leben könnte. Ich kann meine Zeit nicht mitnehmen, aber meine Persönlichkeit übertragen. Dafür brauche ich Sie.«

»Warum mich?«

»Wie gesagt, es muss ein Schizo sein. Sie haben fünf Persönlichkeiten in Mikes schönem Körper. Aber es wäre noch Platz für eine weitere, den Sie nicht nutzen, wie die meisten. Der sechste Platz steuert Ihren Körper, hält ihn am Leben, wartet ihn routinemäßig während der Auszeit am Ende jedes Zyklus. Er bleibt fast immer leer. Ich will diesen Platz vierundzwanzig Stunden leihen. Im Gegenzug bekommen Sie meine zwanzig Jahre. Es wird aussehen, als hätten Sie sie rechtens in einem Spiel gewonnen und ich wäre tot. Charlie dürfte außer sich sein vor Wut, aber er kann nichts machen. Wir spielen, Sie gewinnen, dieser Körper stirbt.«

Mich beunruhigte, dass sie mehr als ich darüber zu wissen schien, wie Schizos tickten. »Selbst wenn ich zustimme, wie würde Ihnen das helfen?«, fragte ich. »Ihre Persönlichkeit stirbt mit dem Körper. Nur Ihre Zeit geht an mich.«

»Keineswegs.« Sie zeigte über die Straße. »Meine Freunde haben in der Arena dort spezielle Vorkehrungen für mich getroffen. Wenn ich sterbe, übernimmt meine Persönlichkeit mit Ihrer Erlaubnis den sechsten Platz. Morgen kontaktiert man Sie, sagt Ihnen, wo Sie meinen neuen Körper finden, und regelt den Transfer in die Dandi. Ich muss Ihnen vertrauen, denn in dem Moment haben Sie meine Zeit schon, gehe aber davon aus, dass Sie mich sowieso schnell wieder loswerden wollen.«

Das hörte sich gefährlich an, und ich war keineswegs überzeugt, dass es legal war. Sie machte einen aufrichtigen Eindruck und tat mir leid. Aber wenn wir erwischt wurden, riskierten wir saftige Zeitstrafen. Andererseits – zwanzig Jahre waren zwanzig Jahre.

Sie drehte sich zu mir und legte mir eine Hand auf den Arm. »Helfen Sie mir? Bitte?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich muss die anderen fragen. Wir brauchen eine Abstimmung, darum müssen Sie einen Zyklus warten. Versprechen kann ich nichts.«

»Nein«, sagte sie und drückte meinen Arm fester. »Dafür haben wir keine Zeit. Charlie weiß, dass ich hier bin, seine Leute verfolgen mich und wollen mich zurückbringen. Am Ende Ihres Zyklus steht das Angebot nicht mehr. So lange kann ich nicht warten, zu riskant. Wenn Sie nicht können, muss ich mir einen anderen Schizo suchen.«

Ich sah in ihre künstlichen, unauslotbaren Augen. Andis habe ich nie getraut. Wer gibt schon freiwillig sein Menschsein auf? Klar, ich hatte meinen Körper aufgegeben, besaß aber immer noch meine Persönlichkeit. Anderes Geschlecht, andere Ethnie, aber lebendiges, atmendes Fleisch. Kein Reagenzglasgezücht mit einem Gehirn drin.

Wurde ich verarscht? Es war eine wichtige Entscheidung, die von der Gruppe getroffen werden sollte. Aber ich wusste, was bei einer Abstimmung passieren würde. Mike und Sierra würden sich von der angebotenen Zeit blenden lassen und Ja sagen. Ben würde vorsichtig reagieren, mehr wissen wollen und zögern, bis uns die Chance durch die Lappen ging. Alex würde allem zustimmen, was ich vorschlug. Also lief es so oder so auf mich hinaus.

Ihren Rat hätte ich dennoch zu schätzen gewusst.

Zwanzig Jahre.

Wenn ich Ja sagte, könnten wir unsere Zelte abbrechen und mit so viel Zeit gehen, dass wir nicht wüssten, wie wir sie verwenden sollten. Und alles hing von mir ab.

Ich zögerte. »Warum ich? Warum warten Sie nicht auf Mike oder Sierra?«

»Ich brauche Sie«, sagte sie. »Sie sind die Erste im Zyklus, Sie haben die Zugangscodes und können mich als Einzige ohne Abstimmung Platz sechs einnehmen lassen. Wir haben keine Zeit für eine Abstimmung.«

Sie hatte recht. Wieder beunruhigte mich, wie viel sie über Schizos wusste.

»Warten Sie einen Moment. Ich muss nachdenken.« Ich schüttelte ihren Arm ab, stand auf und ging durch das hohe Gras des Spielplatzes auf und ab. Ich wollte diese zwanzig Jahre. Ich wollte ihr helfen. Ihr war Unrecht geschehen, Rache hörte sich also gut an.

Warum musste ich die Entscheidung allein treffen? Ich wusste, was Mike, Sierra und Ben gesagt hätten. Das half mir nicht. Wozu hätte mir Alex geraten? Er hätte mir gesagt, dass ich die Rache vergessen und nur an die gewonnene Zeit denken sollte. Schließlich wollte er überhaupt nicht hierherkommen, daher würde er die Gelegenheit, mit einem großen Gewinn zu verschwinden, beim Schopf packen. Alex hätte mir nahegelegt, nicht gefühlsduselig zu sein und den Deal anzunehmen.

Ich ging zu der Bank zurück.

»Na gut. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen trauen kann. Wenn das alles ein abgefeimter Schwindel ist, lassen wir Ihnen keine ruhige Minute mehr. Ziehen wir es durch, ehe ich es mir anders überlege.«

So eine Arena hatte ich noch nie gesehen. Die Tür war rostig und quietschte, als Bird sie öffnete. Drinnen war niemand, es gab nur vier Türen mit den verblassten Ziffern eins bis vier.

»Glauben Sie, dass das klappt?«, fragte ich. »Sieht nicht besonders sicher aus.«

»Alles gut«, sagte sie. »Ich habe spezielle Vorkehrungen getroffen, damit wir die Arena ungestört benutzen dürfen. Ich nehme Zimmer eins, Sie Zimmer zwei. Wenn es vorbei ist, gehen Sie unverzüglich. Mein Körper wird später entsorgt, wenn Sie weg sind.«