Flammende Scherben - Maya Shepherd - E-Book

Flammende Scherben E-Book

Maya Shepherd

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zoe und Clyde sind der Sicherheitszone entkommen. Ein Leben ohne die Legion bringt ihnen jedoch nicht die gewünschte Freiheit, sondern birgt viele ungeahnte Gefahren. Sie sind gezwungen, in der roten Wüste um ihr Überleben zu kämpfen. Dabei sehen sie sich mit einem Feind konfrontiert, der nicht nur für die Rebellen, sondern auch für die Zentrallegion eine Bedrohung darstellen könnte. Die größte Herausforderung trägt Zoe jedoch unter ihrem Herzen, denn sie erwartet ein Kind der Legion. Ein Kind, das sie nicht will und das sie für seine Existenz verachtet. Sie ahnt nicht, dass dieses Kind den Lauf des Schicksals ändern wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

ZOE & CLYDE

Triggerwarnung

Impressum

MAYA SHEPHERD

ZOE & CLYDE

FLAMMENDE SCHERBEN

EINE RADIOACTIVE-GESCHICHTE

Copyright © 2021 Maya Shepherd

Marion Schäfer, c/o SP-Day.de Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Hauptstraße 8, 83395 Freilassing

[email protected]

Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns; www.jaqueline-kropmanns.de

Covermodel: Miranda Hedman; https://mirish.deviantart.com

Korrektorat: Martina König

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

www.mayashepherd.de

Triggerwarnung

Die Dystopie Zoe & Clyde sollte nicht von Personen unter 14 Jahren gelesen werden.

In einigen Kapiteln sind Szenen mit folgenden Inhalten enthalten:

Erwähnung körperlicher, seelischer oder sexualisierter Gewalt

Selbstverletzung

Mobbing

Blut

Tod

Personen, die solche Themen beunruhigend finden könnten, lesen Zoe & Clyde auf eigene Verantwortung.

Für alle Rebellen,

die sich nach MEHR sehnen

Klassifizierung innerhalb der Legion

A (Weiß) – Legionsführer

B (Grün) – Ärzte, Lehrer, Forscher

C (Blau) – Kampfeinheit

D (Braun) – Helfertätigkeiten

E (Rot) – Heranwachsende

F (Gelb) – Kinder

G – Verstoßene

100 – 199 Erste Generation (ca. 80 Jahre alt, feierten bereits ihren Abschied)

200 – 299 Zweite Generation (ca. 60 Jahre alt)

300 – 399 Dritte Generation (ca. 40 Jahre alt)

400 – 499 Vierte Generation (ca. 30 Jahre alt)

500 – 599 Fünfte Generation (ca. 20 Jahre alt)

600 – 699 Sechste Generation (ca. 15 Jahre alt)

700 – 799 Siebte Generation (ca. 10 Jahre alt)

800 – 899 Achte Generation (ca. 5 Jahre alt)

900 – 999 Neunte Generation (entsteht durch die nächsten Paarungskämpfe)

Das Chaos verschluckt uns. Ganz gleich, wohin ich mich auch drehe, mir schlagen aus jeder Richtung Panik, Verzweiflung und Angst entgegen. Die Luft ist erfüllt von Schreien, gebrüllten Befehlen, zischenden Lasern und, ganz leise, kaum wahrnehmbar, dem hoffnungslosen Wimmern der Menschen, die aus der Legion in diese ihnen unbekannte Welt stolpern. Jeder Atemzug könnte ihr letzter sein. Sie glauben, zu wissen, dass der Tod unsichtbar ist: die Radioaktivität.

Sie ist überall – unmöglich, ihr zu entkommen.

Diese armen, hilflosen Menschen wissen nicht, dass sie ihr Leben lang belogen wurden. Sie verstehen nicht, warum jene, die sie beschützen sollten, ohne sie gegangen sind. Sie sind verloren.

Der Wüstensand wirbelt auf und legt sich auf unsere Kleidung, färbt alles rostrot. Winzige Körnchen brennen in unseren Augen. Vielleicht sind es auch ungeweinte Tränen, die von der Furcht in Schach gehalten werden. Noch werde ich unser Ende nicht akzeptieren. Noch bin ich bereit, zu kämpfen. Noch habe ich Hoffnung.

Meine Hoffnung trägt einen Namen – Zoe.

Ich kann sie nicht verlieren. Nicht jetzt, wo wir gerade erst zueinandergefunden haben. Es ist uns gelungen, einen Weg aus der Sicherheitszone zu finden. Dann müssen wir es auch schaffen, zu überleben.

Sie drückt meine Hand und in ihrem Blick flackert der Wunsch nach Leben. Nach allem, was die Legion ihr angetan hat, ist es ihnen nicht gelungen, sie zu brechen. Die Kämpferin in ihr ist immer noch da, wenn auch in ihrem Innersten verborgen. Für den Augenblick gelingt es ihr, all den Schmerz in den hintersten Winkel ihres Selbst zu verschieben.

»Da ist Finn«, ruft sie mir über den Lärm entgegen und deutet in das Getümmel.

Ich kann ihren Bruder unter den vielen Menschen nicht erkennen. Die Bewohner der Legion sehen mit ihren kahlen Köpfen und der identischen Körpergröße alle gleich aus. Sie sehen aus wie ich. Ich sehe aus wie sie.

Es wimmelt vor braunen Anzügen, dazwischen leuchten ein paar blaue, rote, gelbe und einzelne grüne auf. Das Weiß der Legionsführer ist verschwunden. Sie haben sich in Sicherheit gebracht und uns im Stich gelassen – ihr Leben über unseres gestellt.

Zoe zieht mich mit sich, dabei schaut sie sich suchend um. Wir betraten den Fahrstuhl, der unseren Weg in die Freiheit bedeuten sollte, gemeinsam mit ihrer Mutter Maggie. Doch sobald wir von der Masse aus der Kabine geschoben wurden, verloren wir sie aus den Augen. Sie muss hier irgendwo sein und ist dennoch unerreichbar für uns. Jeder ist auf sich selbst gestellt, denn jede Minute könnte unsere letzte sein. Die Selbstzerstörung der Legion wurde eingeleitet. Die komplette gläserne Kuppel wird explodieren und alle, die sich in ihrer Nähe befinden, mit in den Tod reißen.

Zielstrebig bahnt Zoe sich einen Weg durch die Menge, dabei hält sie meine Hand ganz fest. Wenn wir sterben, sterben wir zusammen. Ein letzter gemeinsamer Atemzug. Zwei Hände, die sich halten, bis zum letzten Herzschlag. Aber so weit ist es noch nicht.

Als wir näher kommen, kann ich Finn in seinem braunen Anzug in der Masse ausmachen. Rein äußerlich gleicht er zwar den Bewohnern der Sicherheitszone, aber er bewegt sich anders, gestikuliert wild und schreit den vielen Menschen etwas entgegen. Seine Stimme geht in dem Chaos jedoch verloren.

Auch der Grund für die Ansammlung wird mir nun ersichtlich: Etwa ein Dutzend Kämpfer bewachen unter Einsatz ihrer Laserwaffen den Zugang zu den Fahrzeugen der Legion. Sie sind nicht bereit, den Weg freizugeben, solange sie keinen Befehl dazu erhalten. So ist es immer gewesen. Wir tun, was die Legionsführer oder ein höher gestellter Einsatzleiter uns befehlen. Das Fällen eigener Entscheidungen gehört nicht zu unserem Aufgabengebiet. Aber nichts ist mehr, wie es einmal war.

Diese Fahrzeuge sind unsere einzige Überlebenschance – unser Mittel zur Flucht.

»Nehmt die Waffen runter«, fleht Finn die Kämpfer mit erhobenen Händen an. »Wenn wir nichts unternehmen, werden wir alle in wenigen Minuten sterben.«

Das Chaos verunsichert meine ehemaligen Klassifizierungskameraden, dennoch sind sie nicht bereit, dem Wort eines D-lers Glauben zu schenken. Die Helfergruppe steht unter uns.

»Er hat recht«, beteuert eine weibliche Stimme. Im Gegensatz zu Finn trägt sie den blauen Anzug der Kämpfer und sichert sich somit ihren Respekt. Sie ist eine von ihnen. Es ist Ruby, die langjährige Spionin der Rebellen. »Die Legionsführer sind alle geflüchtet. Sie haben uns hier zurückgelassen. Bald wird die gesamte Legion explodieren. Wir müssen fliehen.«

Die Kämpfer wirken nach wie vor unschlüssig, doch sie senken einer nach dem anderen ihre Waffen als Zeichen ihres Einverständnisses. Es mag wie ein winziger Schritt erscheinen, doch ich weiß, wie viel sie dieser kleine Ausbruch aus allem, was sie seit ihrer Kindheit gelernt haben, kostet. Alles, worauf sie sich bisher verlassen haben, bricht vor ihren Augen zusammen.

Finn klettert auf einen der Panzer und formt seine Hände zu einem Trichter. »Wir müssen uns auf die verfügbaren Transportfahrzeuge verteilen«, brüllt er, so laut er kann, aber niemand hört ihm zu. Ein Mann in einem braunen Anzug hat in der Welt der Legion nichts zu sagen. Die Menschen rennen von Panik getrieben an ihm vorbei. Sie bringen ihm nicht mehr als einen gehetzten Blick entgegen.

Zusammen mit Zoe schiebe ich mich bis zu dem Panzer vor und öffne eine der Seitenklappen, in der sich ein Megafon für den Außeneinsatz befindet. Dieses strecke ich Finn entgegen. »Damit geht es besser«, erkläre ich ihm, als er zu uns herabblickt.

Seine Augen leuchten beim Anblick seiner Schwester auf. Ihre bloße Anwesenheit verleiht ihm neuen Mut. Erst jetzt bemerke ich, dass Cleo nicht bei ihm ist. Ich kann sie nirgendwo entdecken. Haben sie sich in dem Tumult aus den Augen verloren oder ist sie gar tot?

Er schließt seine Hand fest um den Griff des Megafons, strafft seine Schultern und versucht es erneut. »Bitte verteilt euch auf die vorhandenen Transportfahrzeuge«, fordert er die Menschen auf.

Die erhöhte Lautstärke erregt zumindest Aufsehen, doch seine Worte reichen nicht aus, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Diesen Menschen wurde in den letzten Minuten alles entrissen, woran sie ihr Leben lang geglaubt haben. Sie haben den Boden unter ihren Füßen verloren und wissen nun nicht mehr, wo oben oder unten ist, geschweige denn, was sie glauben können. Oder wem. Die Panik lähmt nicht nur ihre Beine, sondern auch ihre Gedanken.

»Wir müssen hier weg, sonst werden wir alle sterben«, schreit Finn ihnen verzweifelt entgegen, wobei Zoes Handdruck noch etwas fester wird. Sie hat Angst. Finn und sie sind Rebellen und trotzdem versuchen sie, das Leben der ehemaligen Bewohner der Sicherheitszone zu retten, anstatt sich selbst in Sicherheit zu bringen. Sie könnten mit den übrigen Rebellen einfach in die Fahrzeuge steigen und fliehen, ungeachtet dessen, was aus den anderen wird. Aber sie tun es nicht und das ist der Unterschied zwischen ihnen und den Legionsführern.

Sosehr Finn sich auch bemüht, er versteht nicht, wie die Menschen der Sicherheitszone ticken. Er war nie einer von ihnen, auch wenn er nun einen Anzug trägt.

Ruby klettert neben ihm auf das Dach des Panzers und nimmt ihm das Megafon aus der Hand. »Alle herhören, das ist ein Befehl«, brüllt sie selbstbewusst und sogleich verharren sämtliche Personen in unserer Umgebung. Aufmerksam blicken sie in ihre Richtung. »Jeder Bewohner der Legion hat sich sofort in eines der Transportfahrzeuge zu begeben. Eine Weigerung wird nicht geduldet!«

Ihre Stimme ist kalt und autoritär. Sie gibt sich keine Mühe, etwas zu erklären oder zu bitten – sie befiehlt. Das ist die einzige Art von Sprache, welche die ehemaligen Bewohner der Sicherheitszone verstehen. Befehle verleihen ihnen ein Gefühl von Sicherheit.

Augenblicklich kommt Bewegung in die Menge. Alle, die sie hören können, begeben sich nun zu den Fahrzeugen. Die verbliebenen Kämpfer kümmern sich um die Verteilung auf die vorhandenen Gefährte. Sie folgen Ruby und erkennen sie als vorübergehende Einsatzleitung an.

Zoe und ich klettern an einer Leiter auf das Dach des Panzers und von dort in das Innere. Die vorhandenen Fahrzeuge werden keinesfalls für alle reichen. Nur wer schnell ist, kann sich einen Platz in einem davon sichern und hat somit eine Chance, zu überleben. Die Mehrheit wird sterben. Als Erstes die Schwachen, denen es nicht gelingt, sich vorwärts zu kämpfen. Kinder …

Mein Herz fühlt sich bei dem Gedanken ganz schwer an, aber ich kann nichts daran ändern. Vielleicht kann ich nicht einmal mich selbst retten.

Zoe scheint es ähnlich zu gehen, denn im schwachen Licht des Panzers erkenne ich, dass Tränen in ihren Augen stehen und ihre Unterlippe leicht bebt.

Es dauert nicht lange, da steigen Ruby und Finn ebenfalls zu uns in das Innere, so wie vier Kämpfer der Legion. Ruby setzt sich hinter das Steuer und startet den Motor. Durch winzige Schlitze in den Außenwänden können wir hinausschauen. Bewohner, die keinen Platz in den Fahrzeugen bekommen haben, versuchen, auf die fahrenden Panzer aufzuspringen. Sie klammern sich an das Metall und werden von anderen, die ebenfalls aufsteigen wollen, wieder hinabgerissen. Ihre Körper landen unter den gewaltigen Rädern und werden zermalmt. Knochen brechen und Blut tränkt den Wüstensand.

Andere versuchen nicht einmal, zu fliehen. Sie starren apathisch vor sich hin und sind völlig verloren in dieser fremden Welt. So viele bleiben zurück. Es ist ein entsetzlicher Anblick, der etwas in mir zerbricht, aber ich zwinge mich dennoch, weiter hinzusehen. Das ist der Preis für unser Überleben. Wir opfern das Leben anderer, um selbst weiter atmen zu können.

Haben die Legionsführer nicht letztendlich das Gleiche getan, als sie in ihre Flugmaschinen stiegen, sich in Sicherheit brachten und uns zurückließen?

Mit Vollgas bewegen wir uns über die Hügel der roten Wüste. Die Richtung ist völlig unbedeutend, solange wir nur so viel Entfernung wie möglich zwischen uns und die Legion bringen. Sand wirbelt in dichten Wolken um uns herum und nimmt uns die Sicht. Ruby steuert das mächtige Gefährt blind.

Mein rasender Herzschlag poltert synchron mit dem Holpern des Panzers. Sekunden zerrinnen. Jeder Atemzug ist gezählt. Wir warten auf den großen Knall, und als er dann kommt, trifft er uns dennoch völlig unvorbereitet. Für einen Moment bleibt die Zeit stehen und die Erde hört auf, sich zu drehen. Ein gewaltiges Beben erschüttert den Boden, begleitet von einem ohrenbetäubenden Krachen. Selbst der schwere Panzer kann dem nicht standhalten und wird ein Stück durch die Luft katapultiert. Ein grelles Licht dringt durch die Schlitze und flutet das Innere. Ich kneife die Augen zusammen und reagiere nur noch instinktiv.

Das ist das Ende, schießt es mir durch den Kopf. Nicht einmal jetzt, als alles sich um uns dreht, lasse ich Zoe los. Meine Arme schlingen sich um ihren zerbrechlichen Körper und schirmen sie vor jeder Verletzung ab. Sie klammert sich an mich und ich höre ihren Schrei in meinen Ohren. Oder ist es mein eigener?

Wir schlagen hart auf den Boden auf. Die Luft wird aus meinen Lungen gepresst, aber der Schmerz ist nichts gegen die Erkenntnis, noch am Leben zu sein. Die Realität holt mich ein und bricht wie eine Welle über mir zusammen.

Mein Herz schlägt, kräftig und laut.

Rund um uns tobt ein Flammenmeer, das Glas- und Stahlsplitter wie Meteoriten auf uns hinabregnen lässt. Brocken krachen auf das Dach des Panzers und direkt neben uns schlägt ein gewaltiger Stahlmast in den Boden ein.

»Gib Gas«, höre ich Finn gegen den Lärm anschreien.

Seine Worte reißen Ruby aus ihrer Benommenheit. Mit laut aufheulendem Motor jagt sie den Panzer durch das Feuer, während wir im Inneren hin und her geschleudert werden. Minuten verstreichen, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen. Wir sind umhüllt von einer dichten Rauchwolke, die es uns unmöglich macht, irgendetwas zu erkennen. Wir wissen nicht, was aus den anderen geworden ist. Jene, die es in Fahrzeuge geschafft haben, könnten überlebt haben. Aber selbst dann ist es möglich, dass sie von herabstürzenden Gebäudesplittern getroffen wurden. Für alle anderen ist die Hoffnung ausgeschlossen.

Zoes und Finns Mutter Maggie könnte tot sein, obwohl wir unser Leben riskiert haben, um sie aus der Sicherheitszone zu retten. Dieses Risiko erscheint mir nun beinahe umsonst, wie verschwendete Zeit. Aber die Erinnerung daran, wie Zoe, sobald sie den Aufzug verlassen hatte, trotz des Chaos um sie herum die Augen schloss und durchatmete, lässt mich erkennen, dass sich jede Sekunde gelohnt hat. Selbst wenn Maggie jetzt tot sein sollte, so starb sie in Freiheit und nicht als eine Gefangene der Legion.

Wir lassen den Feuersturm hinter uns zurück und Ruby verlangsamt das Tempo, bis der Panzer schließlich ganz zum Stehen kommt. Ein grauer, beinahe pechschwarzer Nebel umhüllt uns. Asche fällt wie Regen vom Himmel und zwingt uns, im Inneren zu verharren. Die erste Gefahr ist gebannt. Wir haben überlebt. Die Frage ist nur, für wie lange. Was ist von der Welt um uns herum übrig geblieben?

Eine große Stille senkt sich auf uns herab. Die Last der Leben, die in den letzten Minuten ausgelöscht wurden, ist erdrückend. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Meine Ohren klingeln und meine Sicht verschwimmt. Tränen fließen geräuschlos über meine Wangen.

Erst als Zoe ihren Kopf an meine Schulter lehnt, bekomme ich wieder Luft. Ihr Körper zittert in ihrem dünnen Nachthemd. Es lässt sich nicht sagen, ob vor Angst oder vor Kälte. Vermutlich ist es beides. Ich drücke sie an mich und nach kurzer Zeit schlagen unsere Herzen im selben Takt.

Ihre Anwesenheit ist mein Licht in der Dunkelheit. Sie gibt dem Chaos einen Sinn. Denn erst jetzt, wo es die Legion nicht mehr gibt, haben wir vielleicht eine Chance.

Ich kann nichts weiter tun, als zu atmen. Eine winzige Selbstverständlichkeit, die mich dennoch Überwindung kostet. Ich kann nicht schreien, kann mich nicht bewegen und weiß nicht, ob ich es über mich bringen kann, jemals wieder auch nur ein Wort zu sagen. Worte werden das Geschehene in Realität verwandeln. Dazu bin ich noch nicht bereit.

Die Luft stinkt nach verbranntem Plastik und nach geschmolzenem Eisen. Es ist ein giftiger Rauch, der sich mit jedem Atemzug auf unsere Lungen legt. Es riecht nach Tod.

Wir haben die Nacht überlebt und sind in einer Welt ohne Sonne erwacht. Der Morgen ist grau und trist. Es fällt schwer, Hoffnung zu hegen, wenn alles um einen herum von einer dicken Ascheschicht bedeckt ist – selbst die Leichen derer, die es nicht geschafft haben. In ihrer Verzweiflung sind sie zu Fuß geflohen und wurden von der Feuersbrunst verschluckt. Es gab zu wenig Platz, um alle zu retten.

Insgesamt fünf Panzer, sechs Lkw und zwölf Jeeps haben die berstende Legion verlassen. Sie transportierten keine Waren, sondern Menschenleben. Jedes für sich wertvoll, einzigartig und unersetzbar. Etwa zweihundert Menschen haben überlebt.

Zweihundert Menschen, die nun vollkommen hilflos in dem Aschemeer stehen und in den Himmel blicken, als würden sie auf ein Wunder warten. Es spielt keine Rolle mehr, ob sie braune, grüne oder blaue Anzüge tragen. Ihre Welt mit ihren Regeln existiert nicht mehr. Ihre Anführer ließen sie zum Sterben zurück.

Als ich mich zur Seite drehe, erkenne ich erst auf den zweiten Blick die Hügel und Erhebungen wieder, welchen die Höhlen entspringen. Ein künstlicher Wald, der einst von der Legion erschaffen wurde, schließt sich an diese an.

Ruby hat den Panzer blind an den Ort gesteuert, der einmal unser Zuhause war. Davon ist jedoch nicht mehr übrig geblieben als von der Sicherheitszone. Die Legion hat bei ihrem letzten Einsatz ganze Arbeit geleistet und alles verwüstet, was dieses Fleckchen mitten in der Wüste einst bewohnbar gemacht hat. Die Möbel wurden zerschlagen, die Felder niedergetrampelt und vor dem Eingang liegen die Kadaver der Ziegen und Hühner. Auch sie sind von Asche bestäubt, aber nicht das Feuer brachte sie um, sondern jene Menschen, die sie einst in Reagenzgläsern erschufen. Sie waren der Beginn des großen Experiments, das uns nun an diesen Punkt geführt hat.

Gustav und Marie gehörten der ersten Generation an. Sie glaubten an eine bessere Zukunft und steckten ihre gesamte Energie in dieses Projekt. Nun sind sie vermutlich beide tot. Wie viele der Menschen, die diesen Felsformationen einst Leben eingehaucht haben, sind ihnen in der letzten Nacht gefolgt?

Ich habe mich im vergangenen Jahr nach nichts mehr gesehnt als danach, wieder an diesem Ort zu stehen, den Boden unter meinen Füßen zu spüren und in den Himmel blicken zu können. Doch nun fühlt sich alles falsch an. Der Preis für meine Freiheit ist zu hoch.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter und lenkt meine Aufmerksamkeit von dem Leid in ein Gesicht. Seine Augen sind so blau, wie sie es immer waren. Lichtblau – die Farbe der Legion. Es wird eine Weile dauern, bis sich die natürliche Färbung der Iris durchsetzt. Seine Miene ist mitfühlend und seine Geste tröstend, aber seine Hand fühlt sich tonnenschwer auf meiner Haut an. Sie drückt mich nieder, da Erwartungen an sie geknüpft sind. Ich kann es in seinem Blick sehen. Er hat immer noch Hoffnung. Selbst jetzt, nach allem, was passiert ist, gibt Clyde nicht auf. Er gibt mich nicht auf.

Ich weiß nicht, ob ich dem gerecht werden kann, denn mein Inneres fühlt sich wie dieses Stück Land an: verbrannt und zerstört.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung in der Menschenmasse wahr. Es ist wie ein Lichtblick in all dem Grau, als sich die Umrisse mir bekannter Personen darin abzeichnen. Ich erkenne Florance mit ihren blonden Engelslocken, die von der herabrieselnden Asche ganz grau wirken. Ihr bloßer Anblick flutet mein Herz mit Wärme und Zuneigung. Neben ihr erhebt sich die große und massige Gestalt von Paul, ihrem treuen Begleiter.

Auch Grace ist bei ihnen, deren kleine Tochter Emily sich ängstlich an den Hals ihrer Mutter klammert. So klein, wie ich sie in Erinnerung hatte, ist sie jedoch nicht mehr. Sie ist im letzten Jahr gewachsen. Als die Kämpfer der Legion mich gefangen nahmen, war Emily sieben Jahre alt – die Jüngste in unserem Lager. Wir haben sie alle verwöhnt, weshalb sie zu einem ziemlichen Dickschädel wurde. Sobald es einmal nicht nach ihrem Willen ging, konnte sie richtig ausrasten, samt Füßestampfen, Sich-auf-den-Boden-Werfen und dem lautesten Geheule. Mit ihren roten Locken sah sie dann richtig teuflisch aus.

Ihr Haar ist zwar noch so rot wie das ihrer Mutter, aber der Trotz ist aus ihrer Miene gewichen, ersetzt von grenzenloser Furcht.

Emily, Grace, Paul und Florance sind meine Familie. Nach ihnen habe ich mich so lange gesehnt.

Mein Herz stolpert, als ich unter ihnen eine weitere Frau entdecke. Sie trägt das Nachthemd der Legion, aber könnte nicht mehr Rebellin sein. Ich starre sie an. Schluchzer steigen in meiner Brust auf und lassen meinen Körper erbeben. Ich kann mich nicht rühren. Meine Glieder sind wie gelähmt. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Erst als ihr Blick meinem begegnet, gibt es für mich kein Halten mehr. Ich renne meiner Vergangenheit entgegen, die nun wieder ein Teil meiner Zukunft werden kann.

In den letzten Stunden breitete sich in meinem Herzen ein finsterer Gedanke aus, den ich mir nicht erlauben konnte, zuzulassen: die Angst, dass ich meine Mutter ein zweites Mal verloren haben könnte. Aber dort steht sie, zwischen all unseren Freunden. Sie atmet, ist unverletzt und hier – bei mir.

Sie macht einen Schritt in meine Richtung, dann rennt sie los und reißt mich an sich, presst ihre Stirn an meine und umklammert mich so fest, dass es wehtut. Aber es ist ein angenehmer Schmerz. Ich bekomme kaum Luft und kann nicht sprechen, nur ein lautes Stöhnen kommt über meine Lippen.

Auch meine Mutter zittert. Zusammen holen wir Luft und halten uns aneinander fest. Nur einen kleinen Schritt weicht sie zurück, gerade genug, um mir ins Gesicht blicken zu können. Sie streicht mir über den kahlen Kopf und küsst meine Stirn.

Ihr Haar ist verfilzt und aschebestäubt. Die Legion hatte keine Verwendung für sie. Mir hingegen haben sie Tabletten verpasst, die mich nicht einmal mehr wie die Tochter meiner Mutter aussehen lassen, und trotzdem hatte sie nie den geringsten Zweifel, wer ich bin. Ihr reichte ein Blick auf mich. Meine Haare werden wieder wachsen. Vielleicht wird jeder Zentimeter mir ein Stück meiner selbst zurückgeben.

Ein einzelnes Wort schafft es in einem erstickten Schluchzen über meine Lippen: »Danke.«

Ich kann nicht sagen, an wen sich dieses Wort richtet. An meine Mutter, weil sie stark genug war, zu überleben? An das Schicksal? Das Universum?

Es ist nicht von Bedeutung, solange wir zusammen sind.

Sie hält mich, bis ich bereit bin, mich von ihr zu lösen, um mich den anderen zuzuwenden. Sie haben einen Kreis um uns gebildet und warten darauf, mich wieder in ihrer Mitte aufzunehmen. Grace tritt als Erste auf mich zu und küsst mich auf jede Wange. Ihr folgt Florance, die mich erst strahlend anlächelt, nur um dann in Tränen auszubrechen. Sie schlingt ihre Arme um mich, sodass ihre Lockenmähne mich an der Nase kitzelt. Ich weiche dennoch nicht zurück, sondern atme tief ihren Veilchenduft ein, der mich so sehr an Zuhause erinnert, dass ich sie am liebsten nicht mehr loslassen würde.

Emily blinzelt mir verborgen hinter den Beinen ihrer Mutter entgegen. Sie ist Fremden gegenüber scheu.

Der Schock trifft mich in mein Herz: Sie erkennt mich nicht mehr. Für sie bin ich nicht Zoe, sondern ein Geschöpf der Legion. Ich sehe aus wie der Feind. Alles an mir, selbst meine Gesichtszüge, die sich nur nach und nach wieder in ihre eigentliche Form zurückbilden werden. Mein ganzer Körper ist wie eine Hülle.

Ich knie mich vor sie auf den Boden und schenke ihr das herzlichste Lächeln, das ich mir abringen kann. »Bist du etwa meine Freundin Emily? Ich hätte dich kaum wiedererkannt, so groß bist du geworden.«

Sie lächelt schüchtern und ihre Wangen färben sich rosig, was mir zeigt, dass meine Worte ihr schmeicheln.

Ehe Emily etwas erwidern kann, ergreift Paul das Wort. »Das musst du gerade sagen, Zoe«, meint er grinsend, als ich zu ihm aufblicke. Er reicht mir seine Hand und zieht mich auf die Beine. »Du bist ja eine richtige Dame geworden.«

Das erzwungene Lächeln gefriert in meinem Gesicht. Trotz der Hitze wird mir plötzlich eiskalt. Geistesabwesend gleitet meine linke Hand auf meinen Bauch, dorthin, wo sich der Parasit befindet, den die Legion mir eingepflanzt hat. Als ich entführt wurde, war ich beinahe noch ein Kind, obwohl seitdem nur ein Jahr vergangen ist. Ich kam mir damals so erwachsen vor. Jetzt weiß ich, dass ich keine Ahnung hatte.

Kinder bekommen keine Kinder. Ich werde nie wieder ein Kind sein.

Die Operation war erfolgreich, teilte einer der Ärzte mir mit, bevor sie mich verlegten, was nichts anderes bedeutete, als dass sie meine Schwangerschaft festgestellt hatten. Aber ich kann dieses Etwas in mir einfach nicht als Lebewesen ansehen, noch weniger als mein Baby. Ich will es nicht. Ich wünsche mir, dass es verschwindet. Vielleicht hat ihm der Stress der letzten Stunden zugesetzt und mein Problem löst sich von allein.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, erkundigt Paul sich besorgt, als er sieht, wie schockiert ich auf seinen unbedachten Ausspruch reagiere.

Stumm schüttle ich den Kopf, da legt sich ein Arm um meine Schultern und zieht mich sanft an sich. Im ersten Moment glaube ich, dass es Clyde ist, doch dann blicke ich in das Gesicht meines Bruders, das dem von Clyde noch gleicht. Er will für mich da sein, da er weiß, was mir widerfahren ist, aber ich ertrage seine Nähe nicht. Bestimmt löse ich mich von ihm.

Ich kann nicht vergessen, dass er es hätte verhindern können. Er hätte sich von mir in den Paarungskämpfen besiegen lassen können. Aber er hat sich gegen mich und für Cleo entschieden, die jetzt offenbar nicht hier ist. Zumindest kann ich sie nirgends entdecken.

Meine Zurückweisung ist wie eine Ohrfeige für ihn. Schuldgefühle verzerren seine Miene.

»Wo ist Cleo?«, frage ich ihn geradeheraus und seine Schultern sacken noch etwas mehr herab. Er kann mir nicht in die Augen sehen.

»Sie ist in einem Hubschrauber auf dem Weg zur Zentrallegion«, gibt er kleinlaut zu. »Asha ist bei ihr.«

»Sie haben uns im Stich gelassen?«, entfährt es mir fassungslos.

Cleo ist wie alle anderen Legionsführer einfach geflohen und hat Asha mitgenommen? Wir anderen waren ihr egal? Das kann ich nicht glauben – nicht nach allem, was wir zusammen durchgestanden und riskiert haben. Wir waren ein Team!

Er schüttelt hastig den Kopf. »Nein!«, beteuert er und schafft es, mich anzuschauen. »Es war ein Trick. Ich habe sie getäuscht, um sie zu retten. Cleo wollte nicht gehen, aber ich wusste, dass sie in der Zentrallegion sicherer wäre. Sie wird dort gebraucht. Wenn es jemand schafft, die Legion zu verändern, dann sie.«

Mir entfährt ein vorwurfsvolles Schnauben. Wieder einmal hat er sie allen anderen vorgezogen. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich deshalb wirklich sauer auf ihn bin. Vielleicht hätte ich an seiner Stelle sogar ganz genauso gehandelt. Aber ich bin nicht an seiner Stelle. Ich trage die Legion in mir und bin deshalb wütend auf alles und jeden. Der Hass in mir ist so stark, dass er jeden Funken Liebe verdrängt.

»Asha begleitet sie, um sie bei ihrer Aufgabe zu unterstützen. Cleo wird sich in der Zentrallegion für uns einsetzen«, versucht Finn, mir seine Entscheidung zu erklären. Vielleicht muss er sich auch vor sich selbst rechtfertigen.

In dem Moment ertönt eine männliche Stimme, verstärkt durch ein Megafon.

»Wir haben es geschafft«, ruft er über die Menschen hinweg, die sich alle nach ihm umdrehen.

Es ist Raymond, der Anführer der Rebellen aus dem Norden. Ihre Legion fiel als erste. Er ist auf eine kleine Erhebung geklettert und blickt von dort auf uns herab. Quer über sein Gesicht verläuft eine gezackte Narbe, die oberhalb seines rechten Auges beginnt und in der linken Hälfte seines Mundes endet. Sein langes weißes Haar trägt er in einem Zopf, der ihm auf den Rücken fällt.

»Wir haben überlebt«, setzt er hinterher, da niemand auf seine Worte reagiert. Zwar starren ihn alle an, doch es gibt keinen Jubel und keinen Applaus. Es gibt keinen Grund zur Freude. »Aber viele von uns sind in den Flammen gestorben«, lenkt er ein und zeigt Verständnis für die gedrückte Stimmung. Vielleicht wurde auch ihm jemand entrissen, den er geliebt hat.

Betretenes Schweigen legt sich über die gemischte Gruppe. Nicht nur die Rebellen, sondern auch die ehemaligen Bewohner der Legion hören Raymond zu. Sie haben genauso Menschen verloren wie die Rebellen, wenn nicht sogar noch mehr. Sie haben alles verloren, was ihr Leben ausgemacht hat.

»Wir sind als Gegner aufeinandergetroffen, doch nun vereint uns dasselbe Schicksal«, fährt Raymond fort. »Wir wurden verlassen. Wir wurden dem sicheren Tod überlassen. Niemand hat sich um unser Leben geschert. Aber wir waren stärker. Wir haben gekämpft und gewonnen. Doch das ist erst der Anfang.«

Neben ihm steht Sharon. Sie führt die südlichen Rebellen an. Sie sind alle zusammengekommen und haben sich verbündet, um die Herrschaft der Legion zu zerschlagen. In gewisser Weise ist ihnen das sogar gelungen, aber zwischen all dem Schutt und der Zerstörung fühlt es sich zumindest für mich nicht wie ein Sieg an.

»Es ist an der Zeit, zu kämpfen. Wir alle sind Menschen, nicht besser oder schlechter als die Legionsführer, und trotzdem sind sie geflüchtet, während wir sterben sollten. Sie haben ihr Leben über unseres gestellt. Das haben wir nicht verdient. Keiner von uns!« Sharon blickt nun vor allem in die Gesichter der ehemaligen Legionsbewohner. »Oder seht ihr das anders?«

Niemand rührt sich.

»Die Legionsführer werden nicht zurückkommen, um irgendjemanden zu retten. Auch euch nicht«, versichert sie ihnen energisch. Ihre Stimme hallt von den Felsen wider.

Sharon bräuchte kein Megafon, um gehört zu werden. Ihre Stimme ist laut, stark und voller Zorn. Neben dem großen Raymond wirkt sie geradezu winzig, dennoch könnte niemand sie übersehen. Ihr straffer Körper sprüht vor Energie. Kurzes dunkles Haar bedeckt ihren Kopf, trotzdem ist sie eindeutig als Rebellin zu erkennen. Nicht nur wegen ihrer Kleidung, sondern durch ihre ganze Ausstrahlung. Sie strahlt eine gewisse Aggressivität aus, die andere zur Vorsicht mahnt.

»Wenn überhaupt, kommen sie zurück, um uns alle zu töten. Doch das werden wir uns nicht gefallen lassen. Seid ihr bereit, mit uns zu kämpfen, Seite an Seite für ein besseres Leben? Für ein Leben frei von Unterdrückung und Lügen? Ein Leben in Freiheit?«

Ihre Worte wirken ansteckend, denn plötzlich erheben sich tatsächlich einige Stimmen unter den ehemaligen Legionsbewohnern. »Ein Leben in Freiheit«, wiederholen sie, wenn auch nur leise und verhalten. Als könnten sie die Bedeutung noch nicht ganz begreifen.

Finn und die anderen Rebellen nehmen diesen Kampfruf direkt auf und wiederholen ihn aus vollem Hals: »Ein Leben in Freiheit!«

Selbst die Menschen der ehemaligen D-Klassifizierung passen sich der Menge an und rufen: »Ein Leben in Freiheit!«

Zwar wird es sicher noch etwas dauern, bis sie wirklich verstehen, was sie rufen, aber das Wichtige ist, sie erst einmal auf unserer Seite zu haben. Wenn sie die Freiheit geschmeckt haben, werden sie ihr Leben dafür riskieren, sie nicht mehr zu verlieren.

Meine Lippen bleiben verschlossen. Ich bin noch nicht bereit für einen Kampf, solange ich den Kampf um meinen Körper noch nicht gewonnen habe.

Als ich später in der Höhle bin, kann ich der Versuchung, mich in einem Spiegel zu betrachten, nicht widerstehen. Es ist das erste Mal seit einem Jahr, dass ich mich selbst ansehen kann. Aber die Enttäuschung ist groß, denn ich habe das Gefühl, einer Fremden gegenüberzustehen. Ihr Kopf ist bedeckt mit einem hellen Flaum, kaum sichtbar. In ein paar Monaten werden dort wieder Haare sein. Das reine Lichtblau ihrer Augen ist bereits gesprenkelt von helleren Flecken. Man sieht sie nur, wenn man ganz nah an sie herantritt. Ihr magerer Körper wird unter einer schwarzen Jeans und einem locker sitzenden Tanktop verborgen. Mit den Haaren wird auch ihr Bauch wachsen und das Oberteil wird irgendwann nicht mehr zu weit sein, sondern über ihrer Mitte spannen. Sie hält ein Kleid aus fließendem Chiffon in den Händen. Es hat einmal ihr gehört und erinnert sie an eine lange zurückliegende Zeit.

Ein Jahr.

Jetzt hat sie dafür keine Verwendung mehr.

Ich habe dafür keine Verwendung mehr. Das Mädchen im Spiegel bin ich, aber es erscheint mir wie eine Fremde.

Florance tritt hinter mich und legt ihre Wange an meine. Sanft streichelt sie mir über den kahlen Kopf. »Haare wachsen wieder«, versucht sie, mich zu trösten. »Außerdem wird so dein schönes Gesicht betont.«

Es ist nicht mein Gesicht. In meinem Organismus befinden sich noch immer die Stoffe der Legion, die mein Äußeres ihrem Ideal angepasst haben. Daran erinnert sich nun auch Florance, die betreten die Augen niederschlägt. Es ist etwa zehn Jahre her, dass sie aus der nördlichen Legion geflohen ist. Sie erinnert sich nicht mehr richtig an die Zeit. Sie hat sie verdrängt.

»Das wird wieder«, betont sie nun und löst sich von mir. Sie kennt aber nicht die ganze Wahrheit. Sie weiß nicht, dass der Feind in mir schlummert.

Ich wende meinen Blick von dem Spiegel ab und trete aus dem kleinen Höhlenraum, um Platz für jemand anderen zu machen. Sogleich schiebt sich ein ehemaliger Bewohner der Sicherheitszone an mir vorbei ins Innere. Die Rebellen haben allen angeboten, die Anzüge der Legion gegen Kleidung zu tauschen, solange noch welche da ist. Es machen tatsächlich viele davon Gebrauch, was zeigt, dass sie erkannt haben, dass es nun kein Zurück mehr gibt. Ihr Leben wird nie wieder wie zuvor sein. Sie können einen Neuanfang wagen oder mit den Trümmern der Legion untergehen.

Um mich herum herrscht Chaos. Den Angriff der Legion hat nicht ein Stuhl überstanden. Sie haben alles kurz und klein geschlagen. Selbst den Inhalt der Schränke haben sie ausgeräumt. Die ganze Küche ist von einer weißen Mehlschicht bestäubt. Einige Personen knien am Boden und versuchen, noch irgendetwas zu retten. Einer von ihnen hebt den Kopf, als würde er meine Anwesenheit spüren. Es ist Clyde. Ich hätte ihn kaum wiedererkannt, nachdem er seinen blauen Anzug gegen eine Cargohose und ein T-Shirt getauscht hat. Er rappelt sich auf und kommt mir entgegen. Mehl klebt an seiner Wange. Ein Anblick, der mich seltsam berührt.

Für einen winzigen Augenblick gelingt es mir, alles um mich herum auszublenden und nur ihn zu sehen. Ich stelle mir vor, dass er gerade Brot gebacken hätte. Fast kann ich den Duft des frischen Teiges riechen und im Hintergrund das Lachen meiner Familie hören. Das war mein Traum. Er und ich zusammen. Ein müdes Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, das er erwidert.

Die Realität holt mich ein. Nichts ist so, wie ich es mir vorgestellt habe, mit der Ausnahme, dass wir beide überlebt haben. Als er seine Hände nach meinen ausstreckt, ziehe ich sie nicht weg, sondern lasse zu, dass etwas von seiner Stärke und Zuversicht in mich fließt. Seine Berührung löst selbst jetzt ein angenehmes Kribbeln auf meiner Haut aus, das ich sowohl genieße als auch verfluche. Ich kann meine Gefühle für ihn nicht einordnen. Auf der einen Seite gehört er einer Zeit meines Lebens an, die ich am liebsten vergessen würde. Gleichzeitig könnte ich mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als ihn zu verlieren. Ich habe mich in ihn verliebt, als ich schwächer denn je und er meine einzige Rettung war. Haben diese Gefühle außerhalb der Legion überhaupt Bestand?

Das Knistern von Lagerfeuern erfüllt die Luft in der Abenddämmerung. Alle Überlebenden haben sich um die wärmenden Feuerstellen verteilt. Am Tag ist es in der roten Wüste heiß, aber in der Nacht kühlt es stark ab. Es gibt nicht genug Decken für alle, sodass die Rebellen die wenigen unter den Kindern aufgeteilt haben. Manchen von ihnen ist wie durch ein Wunder die Flucht aus der Legion gelungen und nun sind sie mutterseelenallein auf dieser Welt, obwohl ihr Vater oder ihre Mutter direkt neben ihnen sitzen könnten, ohne es zu wissen.

Auch die Nahrung ist knapp. Beinahe die gesamte Ernte der Rebellen wurde beim Angriff der Legionskämpfer zerstört. Finn, Paul und ein paar andere sind in den künstlich angelegten Wald gegangen, um dort Wild zu jagen, doch sie wurden nicht fündig. Die Tiere müssen die drohende Gefahr gespürt haben und sind geflohen. Sie könnten nun überall in der Wüste sein. Vermutlich werden sie jedoch den Tod finden, da sie ohne Wasser genauso wenig überleben können wie Menschen.

Dementsprechend spärlich fällt unser Abendmahl aus. Es gibt für jeden eine Schale mit eingekochten Bohnen, wobei der Anteil an Flüssigkeit deutlich überwiegt.

Ehrfürchtig halte ich das Gefäß zwischen meinen Fingern, spüre die Wärme an den Händen und schließe meine Augen, um den schwachen Duft tief einzuatmen. Ich weiß noch, wie oft ich in der Legion an richtiges Essen gedacht habe – an Brot, Rührei, Kartoffeln, süße Beeren und so viel mehr. Die Gedanken waren eine Qual und zugleich meine Rettung. Wenn ich mich ganz auf sie konzentrierte, konnte ich beinahe etwas schmecken. Ich klammerte mich an die Vorstellung, dass ich eines Tages all das wieder kosten könnte.

Jetzt erscheint es mir banal – völlig bedeutungslos. So viele Menschen mussten sterben. Und trotzdem finde ich in mir keine Dankbarkeit dafür, überlebt zu haben, sondern nur Wut. So viel Wut.

Aus dem Augenwinkel beobachte ich Clyde, wie er die Schüssel an seine Lippen führt und vorsichtig daran nippt. Er öffnet seinen Mund für eine Bohne und kaut länger als nötig auf ihr herum, dabei macht er ein nachdenkliches Gesicht. Es ist seine erste Mahlzeit.

Auch wenn ich meine Gefühle für ihn nicht mehr einordnen kann, möchte ich diesen besonderen Moment mit ihm teilen. Er soll wissen, dass er nicht allein ist.

»Wie schmeckt es dir?«, frage ich ihn, als ich mich neben ihm niederlasse.

Er schaut mich an, als habe er nur auf mich gewartet. Seine Miene hellt sich auf. »Unbeschreiblich«, meint er überwältigt. »Mir war nicht bewusst, was für ein Gefühl es ist, auf etwas zu beißen und zu schmecken.« Sein Blick lässt mich nicht los, aber seine Freude trübt sich. »Wie unbefriedigend müssen dir unsere Tabletten erschienen sein.«

Er hat recht, und trotzdem scheue ich davor zurück, es zuzugeben. Die Legion war ein grausamer Ort, aber nicht alles dort war schlecht – er nicht.

»Eigentlich ist es ein ziemlich miserables Essen«, entgegne ich stattdessen mit einem Schmunzeln. »Ich wünschte, du könntest einen von Maries Kuchen probieren.«

Marie ist tot. Sie wird nie wieder einen Kuchen backen. Sie ist bei dem letzten Angriff gestorben. Die Legion hat sie ermordet. So wie meinen Vater.

»Vielleicht kannst du mir eines Tages zeigen, wie man einen Kuchen bäckt«, erwidert Clyde zaghaft.

Eines Tages.

Wird unser Leben immer so sein? Werden wir immer nur davon träumen, was in der Zukunft sein könnte? Nie im Hier und Jetzt leben, weil es immer zu schrecklich sein wird?

Ich bin frei – ist es nicht das, was ich wollte? Sollte mir das nicht genug sein? Warum kann ich mich dann nicht darüber freuen?

Ich bleibe ihm eine Antwort schuldig, denn plötzlich entsteht an einem der anderen Lagerfeuer ein Tumult. Panische Schreie werden laut.

»Du widerlicher Mistkerl«, höre ich jemanden brüllen. Es ist Finn. Ich renke meinen Hals nach ihm, aber um ihn herum hat sich eine Menschengruppe gebildet, sodass ich ihn nicht erkennen kann.

»Lass uns nachsehen«, fordert Clyde mich auf und zusammen gehen wir in die Richtung, aus der das Geschrei kommt. Es ist gar nicht so leicht, sich einen Weg durch die ganzen Leute zu bahnen, die mit großen Augen dastehen und das Schauspiel gebannt verfolgen.

Als ich mich bis nach vorn durchgekämpft habe, entdecke ich Paul, der meinen Bruder an den Schultern festhält und auf ihn einredet, während dieser vor Wut schnaubt. Zu seinen Füßen kauert ein ehemaliger Bewohner der Sicherheitszone am Boden. Er scheint der Grund für Finns Ausraster zu sein. Erst verstehe ich nicht, was los ist, doch dann fällt mir auf, dass der Mann keinen braunen Anzug trägt, wie ich erst angenommen habe, sondern dass sich unter dem ganzen Dreck und Staub weißer Stoff verbirgt.

»Dieser Abschaum ist ein Legionsführer, und dazu der schlimmste von allen«, schreit Finn und deutet anklagend auf ihn.

Es ist für mich noch ungewohnt, Finn wieder so lebendig zu erleben, nachdem er in der Legion meist so tat, als würde ihn alles nichts angehen. Seine Erinnerung ist zurück, und mit ihr sein Zorn. Aber deshalb hat er nicht vergessen, was in der Legion geschehen ist. Nun, wo er wieder ganz er selbst ist, ordnet er das Erlebte anders ein als zuvor. Er empfindet nun die Wut, die ihn schon vor Wochen hätte packen sollen.

Ich mustere den Legionsführer und keuche erschrocken auf, als mein Blick seine Kennzeichnung streift: A566.

Er hat überlebt – ausgerechnet er. Wenn ich jemandem den Tod gewünscht hätte, dann ihm.

Mir wird eiskalt, als Erinnerungen mich erfassen. A566, wie er mich ansieht, wie er mich mit seinem Laser bedroht, wie er mich festhält. Sein Atem an meinem Hals. Seine Hände überall auf mir. Seine Stimme in meinem Ohr.

Ich erschaudere und fühle mich wieder so hilflos wie in diesem Moment. Schwach. Klein.

Wenn Clyde nicht gewesen wäre, hätte er mich vergewaltigt und ich hätte nichts dagegen tun können. Genau wie damals ist es auch jetzt Clyde, der mich rettet. Er ergreift meine Hand und holt mich in die Wirklichkeit zurück.

»Der?«, zweifelt Pep, den ich seit der Zerstörung der Legion das erste Mal sehe. Früher waren wir beste Freunde. Er, sein Zwillingsbruder Jep und ich. »Ich glaube nicht, dass von ihm noch irgendeine Gefahr ausgeht.«

Ich sehe, was er meint. A566 liegt keuchend und sabbernd im Dreck. Er scheint sich nicht einmal allein aufrichten zu können. Seine Augen wandern unruhig hin und her. Er wimmert leise, wie ein verletztes Tier. Ich traue seiner Hilflosigkeit nicht.

»Ich dachte, Asha hätte ihn umgebracht«, flüstert Clyde in meine Richtung. »Sie musste in den Paarungskämpfen gegen ihn antreten und hatte ihren Laser scharf gestellt. Es ist mir ein Rätsel, wie er es aus der Legion geschafft hat.«

Zweifelt auch er an A566s Zustand?

Ich denke an Asha, die jetzt mit Cleo in der Zentrallegion ist. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie wüsste, dass sie letztendlich doch versagt hat? Sie hat gegen A566 gekämpft und alles riskiert, um ihn zu besiegen. Aber er ist immer noch da.

»Das ist doch alles nur eine Masche. Er spielt uns etwas vor«, schimpft Finn aufgebracht.

»Was hat er getan?«, fragt Paul.

Finn zögert und entdeckt mich in der Menge. Als seine Augen auf mir verweilen, schauen auch die anderen in meine Richtung. Er wagt nicht, ihnen zu offenbaren, was A566 mir angetan hat. Nicht nur mir. Ich weiß nicht, wie viele Opfer es noch gegeben hat. Nur, dass dort noch mehr gewesen sein müssen. Ich bin es ihnen und auch mir selbst schuldig, sie vor diesem Monster zu warnen.

Tief atme ich durch, bevor ich einen Schritt vortrete. Dabei merke ich, wie zittrig ich mich fühle, und balle meine Hände zu Fäusten. Ich weiß nicht, ob das alles nur eine Masche von A566 ist, aber für den Fall, dass er Herr seiner Sinne ist, will ich ihm keine Schwäche zeigen.

»Er ist ein Vergewaltiger«, stoße ich anklagend aus und sehe, wie schockiert die anderen reagieren. Ich bringe seine Tat in aller Grausamkeit auf den Punkt.

Vergewaltiger. Es ist ein hässliches Wort für ein noch hässlicheres Verbrechen. Es gibt keinen Grund, warum ich es anders benennen sollte, es verharmlosen oder gar beschönigen sollte.

»Fast hätte er es auch bei mir geschafft«, setze ich hinterher, um deutlich zu machen, dass es nicht nur ein Gerücht ist, sondern ich es am eigenen Leib erfahren musste.

Die Unsicherheit und Neugier der anderen wandelt sich in Abscheu, Bestürzung und Zorn. Die Tat von A566 bestätigt ihr Bild über die Legionsführer, die beteuern, dass alle gleich seien, sich aber selbst an keinerlei Regeln halten. A566 hat meine hilflose Lage ausgenutzt. Er dachte, dass niemand sich für mich interessieren oder mir glauben würde.

Niemand bis auf Clyde. Ganz gleich, ob unsere Gefühle in der Realität Bestand haben, dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Ohne ihn wäre ich schon viel früher zerbrochen. Der Gedanke daran, was hätte geschehen können, schnürt mir den Hals zu. Ich drücke Clydes Hand etwas fester – halte mich an ihm fest.

Mein Blick begegnet dem meiner Mutter. Sie starrt mich durch die Menge hinweg an. Sie wusste nicht, was mir widerfahren ist, da ich bisher nicht die Gelegenheit hatte, ihr davon zu erzählen. Der Schock steht ihr ins Gesicht geschrieben, aber auch die unbändige Wut und der Hass auf die Legion, die ihr nicht nur den Mann genommen hat, sondern auch ein Stück ihres Lebens. Wir stehen das zusammen durch, scheinen ihre Augen mir mitteilen zu wollen.

»Wir könnten an ihm ein Exempel statuieren«, schlägt Sharon vor. Ein boshafter Ton schwingt in ihrer Stimme mit, als hätte sie nur darauf gewartet, sich endlich an einem Legionsführer rächen zu können. »Für Diebstahl wurde den Menschen früher die Hand abgeschlagen, vielleicht sollten wir ihm für seine Verbrechen einen anderen Körperteil nehmen.« Ein gehässiges Grinsen bildet sich auf ihren Lippen, während sie den Blick an A566 auf und ab gleiten lässt, als könne sie es kaum erwarten, das Urteil selbst zu vollstrecken.

»Jetzt aber mal langsam«, ruft Paul erschrocken aus und hebt beschwichtigend seine Hände. »Wir sind doch keine Barbaren!«

Armer Paul, der in allen nur das Gute sehen will. Er verschwendet sein Mitgefühl an den Falschen. Er erweist einem Mann Gnade, dem keine Gnade gebührt. A566 kannte auch keine Gnade.

Ich will ihn leiden sehen. Ich will, dass er genauso viel Angst hat, wie ich sie hatte, als ich erkennen musste, dass ich nichts gegen ihn ausrichten kann. Er soll sich genauso wehrlos und verloren fühlen.

»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, erwidert Sharon schulterzuckend. Die Flammen des Lagerfeuers lodern in ihren Augen. Ihre dunkle Haut, die für die Bewohner des Südens typisch ist, macht sie in der Dunkelheit beinahe unsichtbar – zu einem Schatten.

»Er kann ja nicht einmal sprechen«, wendet Paul ein und blickt besorgt zu dem heulenden A566. »Hast du irgendetwas dazu zu sagen?«

Er soll zugeben, was er getan hat.

Aber das tut er nicht. Ganz im Gegenteil: Er merkt nicht einmal, dass er angesprochen wurde, sondern wiegt sich sabbernd und schluchzend vor und zurück.

Das ist nicht der A566 aus meiner Erinnerung.

Vielleicht ist es nur ein Trick, um seinen Hals zu retten, aber dann wendet er ihn so überzeugend an, dass sogar mir Zweifel kommen. Was, wenn Ashas Angriff ihn so schwer beschädigt hat, dass er nicht einmal mehr weiß, wer er war? Was, wenn sie ihn tatsächlich in dieses hilflose Objekt verwandelt hat, dass er gerade vorgibt, zu sein? Es würde seine Verbrechen der Vergangenheit zwar nicht ungeschehen machen, aber wäre es nicht zumindest ausgleichende Gerechtigkeit?

Paul betrachtet den ehemaligen Legionsführer mit Skepsis. »Er wirkt auf mich nicht so, als ob er irgendetwas von dem, was wir sagen, auch nur ansatzweise verstehen würde«, meint er und blickt in die Runde. »Wollt ihr an so jemandem wirklich eure Wut auslassen?«

»Was denkst du?«, will Sharon von mir wissen, immerhin bin ich die Einzige von seinen ehemaligen Opfern, die anwesend ist. »Du bist diejenige, die er verletzt hat. Du solltest deshalb auch über sein Schicksal entscheiden.«

Ihr Vorschlag überfordert mich. Seitdem A566 seine Hände an mich gelegt hat, wünsche ich ihm den Tod. Ich habe mir mehr als einmal vorgestellt, wie ich ihn foltern und quälen, wie ich sein Leben auslöschen würde, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber jetzt, wo er so wehrlos vor mir liegt, fällt mir die Entscheidung nicht mehr so leicht.

Kurz denke ich an Cleo und frage mich, was sie an meiner Stelle täte. A566 hat auch sie angegriffen. Sie gibt sich zwar immer so großmütig, aber wäre sie wirklich stark genug, um ihren eigenen Schmerz hintenanzustellen? Könnte sie ihm vergeben?

Ich blicke auf A566 hinab, der im Dreck liegt und nicht einmal in der Lage zu sein scheint, seinen Kopf zu heben. Er wird in dieser Welt ohne die Hilfe anderer nicht überleben. Er ist noch wehrloser, als ich es in der Zelle auf der Krankenstation war. Keine Rache könnte ungeschehen machen, was er mir angetan hat. Wenn er leidet, soll er wissen, wofür. Er darf sich nicht als Opfer sehen, sondern muss wissen, dass er den Schmerz, der ihm zugefügt wird, verdient.

Vielleicht spielt er uns allen nur etwas vor, aber solange ich das nicht weiß, kann ich ihn nicht verurteilen.

»Ich denke, er wurde bereits vom Leben bestraft«, bringe ich mühsam hervor. Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung ist, aber sie auszusprechen, fällt mir dennoch schwer. Ein Teil von mir möchte nichts mehr, als ihm wehzutun. Aber es ist der letzte Rest Vernunft in mir, der mich lenkt. Mir bleibt nur zu hoffen übrig, dass ich meine Wahl nicht irgendwann bereuen werde.

In der Legion habe ich mich immer an die Hoffnung geklammert, dass ich alles andere vergessen könnte, wenn es mir gelingen würde, zu fliehen, und ich erst einmal wieder zu Hause bei meiner Familie und meinen Freunden wäre. Ich hatte geglaubt, dass ich mit dem Leben weitermachen könnte, aus dem ich so gewaltsam gerissen worden war. Ich habe mir eingeredet, dass ich wieder die sein könnte, die ich gewesen bin. Dabei habe ich jedoch nicht bedacht, dass nicht nur ich mich verändere, sondern auch die Welt um mich herum sich verändert. Sie ist zerbrochen, genau wie ich.

Der Anblick von Pep, allein an einem der Lagerfeuer, führt mir das vor Augen. Früher traf man ihn meist nur mit seinem Zwilling Jep an. Es kann nur eine Erklärung für sein Fehlen geben: Jep ist tot.

Diese Schlussfolgerung sticht mir ins Herz. Ich will nicht, dass sie wahr ist, zugleich brauche ich Gewissheit.

Schweigend lasse ich mich neben Pep sinken, der sich zu mir dreht und seinen Blick auf meinem Gesicht verweilen lässt. Eine seiner schwarzen Locken fällt ihm vor die Augen und ich widerstehe dem Drang, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen. Früher wäre das eine Selbstverständlichkeit gewesen, etwas, über das ich gar nicht nachgedacht hätte. Aber jetzt ist alles anders. Wir sind anders. Ich weiß nicht einmal, ob wir überhaupt noch Freunde sind.

»Du siehst scheiße aus«, meinte er mit einem schiefen Grinsen und zerstreut meine Zweifel.

Erst starre ich ihn an, dann breche ich in ein Lachen aus, das in Schluchzen übergeht. Die Tränen laufen mir über die Wangen und deuten auf eine Wahrheit hin, die noch zwischen uns steht.

Pep ahnt vermutlich, was ich von ihm wissen möchte. Dabei geht es mir gar nicht nur um Jep, sondern auch um ihn. Es sollte immer um die Lebenden gehen – für sie ist noch nicht alles verloren.

»Danke, du auch«, schniefe ich und zwinge mich, ebenfalls zu grinsen. Meine Mundwinkel schmerzen davon. Aber alles ist besser, als zu weinen. Ganz gleich, wie viele Tränen ich auch vergieße, sie können mir jene, die ich verloren habe, nicht zurückbringen.

Pep streckt seinen Arm aus und legt ihn mir um die Schultern. Es sollte sich vertraut anfühlen, aber das tut es nicht. Nicht mehr.

»Haare wachsen wieder«, sagt er zu mir, so wie vor ihm auch schon Florance. Alle sagen das zu mir, als wäre mein Leben wieder gut, wenn nur meine Haare wieder lang wären. Sie wissen nicht, dass noch so viel mehr in mir wächst. Etwas, das sich nicht so leicht entfernen lässt wie ein paar Haare, die man einfach abschneiden kann.

Für einige Minuten sitzen wir einfach nur nebeneinander und lauschen dem Knistern des Feuers. Pep konnte früher selten still sein, aber ihm sind seine Witze und sein Lachen vergangen. Sie sind mit Jep gestorben.

Ich traue mich nicht, ihn nach ihm zu fragen, aber das brauche ich auch nicht, denn Pep beginnt von allein, zu erzählen.

»Es ist auf dem Schwarzmarkt passiert«, beginnt er. Er braucht mir nicht zu sagen, was er meint – wir wissen es beide. Jeps Abwesenheit ist mit jedem Atemzug zu spüren. »Die Legion muss von dem Treffen mit den anderen Rebellen gewusst haben, denn sie haben die Grenzen der Strommauer versetzt. Einige von uns sind direkt hineingelaufen und wurden auf der Stelle gegrillt. Es brach Panik aus, da kamen von der anderen Seite die Kämpfer der Legion und haben uns eingekesselt. Es ging ihnen nur darum, so viele wie möglich von uns zu töten. Wir haben nicht einmal versucht, uns gegen ihre Laserwaffen zu wehren, sondern sind in alle Richtungen geflohen.«

Er verstummt und seine grünen Augen schwimmen in Tränen.

Ich kann mir kaum vorstellen, wie schrecklich die Bilder jener Nacht sein müssen, die nun unauslöschlich in seinem Kopf gespeichert sind – schlimmer als jeder Albtraum.

»Jep und ich haben es geschafft, uns von der tödlichen Strommauer zu entfernen. Wir sind gerannt, so schnell wir konnten, und haben einen weiten Bogen um die Kämpfe geschlagen. Der Schutz der Hügel war bereits in Sichtweite, da haben wir das Tempo noch einmal beschleunigt. Erst als ich sie erreicht hatte, habe ich festgestellt, dass Jep nicht mehr neben mir war. Ich habe mich umgedreht und keine fünf Meter hinter mir lag er im Dreck. Mit dem Gesicht voran. Er hatte es fast geschafft, da hat irgendjemand ihm in den Rücken geschossen. Ich bin zu ihm zurückgerannt, aber ich konnte nichts mehr tun. Als ich bei ihm ankam, war er bereits tot.«

Seine Hände sind zu Fäusten geballt und er zittert am ganzen Körper. Der Schmerz und der Hass verzehren ihn von innen heraus. Es gibt nichts, was ich sagen könnte, um ihn zu trösten, deshalb lasse ich es, sondern lege nur meine Hand in stummer Zustimmung auf sein Knie.

»Das ist nun etwa ein halbes Jahr her«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und mit einem Mal weiß ich, in welcher Nacht Jep gestorben ist. Es war die Nacht von Clydes erstem Außeneinsatz. Er wurde verletzt und zufällig auf der Krankenstation in der Zelle neben mir untergebracht. Wir unterhielten uns durch einen Ritz in einem Gitter und er erzählte mir von seinem Auftrag. Ich fragte ihn, ob Menschen dabei gestorben waren, und er bestätigte es mir, aber ich hätte damals nie gedacht, dass es Jep getroffen hat. Vielleicht konnte ich diese Möglichkeit einfach nicht ertragen.

Mein Herz fühlt sich wie ein schwerer Stein in meiner Brust an. Wenn ich die Augen schließe, kann ich Jep genau vor mir sehen, mit seinem dunklen Strubbelhaar und den blitzend blauen Augen. Pep ist sein Ebenbild und doch waren sie immer verschieden. Ich hatte nie Probleme, sie zu unterscheiden. Es war Jep, dem ich einen Kuss versprach, nicht Pep. Ich dachte immer, wir hätten Zeit, obwohl unser Leben stets durch die Legion bedroht wurde.

Niemand sollte ungeküsst sterben.

Für Jep ist es zu spät.

Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was ich empfinde. Ich kann nur daran denken, dass Jep nie wieder sein wird.

Nie wieder wird er mich etwas zu fest umarmen, um nur Freunde zu sein. Nie wieder wird er sich meine Haare um die Finger wickeln und mir etwas zu lange in die Augen schauen. Nie wieder werden wir uns Gustavs Flachmann mit selbst gebrautem Schnaps stibitzen, um ihn heimlich am Seeufer zu trinken. Nie wieder wird er irgendein bescheuertes Lied erfinden, nur um mich damit zu ärgern. Nie wieder wird er mir einen Streich spielen, wenn er sauer auf mich ist.

Er ist nicht mehr.

Jep ist nicht länger ein Teil dieser Welt.

Er ist gestorben, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe. Genau wie Marie.

Wie viele Menschen, die einst meine Familie waren, hat es noch erwischt? Im Geist gehe ich ihre Namen durch und bleibe an einem hängen: Gustav. Ich habe ihn noch nicht unter den Rebellen gesehen. Das ist ungewöhnlich, denn er war so etwas wie unser Anführer. Zusammen mit Marie hat er die Außenstelle der Legion gegründet, die später zu meinem Zuhause wurde. Bevor er zum Rebell wurde, war er ein Legionsführer.

»Was ist mit Gustav?«, bricht es ungehalten aus mir hervor. Meine Stimme zittert vor Angst, dabei ist die Antwort so offensichtlich.

Pep reagiert jedoch anders, als ich es erwartet hätte. Er senkt nicht betreten den Blick oder schüttelt den Kopf, sondern schaut mich nur seltsam an. »Weißt du es nicht?«, meint er schließlich. »Gustav hat die Legion zerstört.«

Ich höre ihn, aber verstehe die Bedeutung nicht. »Nein, die Legionsführer haben die Selbstzerstörung eingeleitet, bevor sie sich feige davongemacht haben. Sie wollten uns alle in den Tod stürzen«, entgegne ich ihm, weil alles andere keinen Sinn ergibt.

»Das war Gustav«, widerspricht Pep mir unbeirrt. »Er konnte nicht ertragen, dass die Legion ihm Marie genommen hat. Nach ihrem Tod war er nicht mehr derselbe. Er fühlte sich schuldig, weil er sie mit aufgebaut hat. Deshalb wollte er allem ein Ende setzen.«

Das kann nicht sein! Das darf nicht sein! Gustav hätte doch niemals so viele Menschenleben geopfert. So groß kann sein Hass nicht gewesen sein.

Oder?

»Aber wie soll er das gemacht haben?«, hake ich zweifelnd nach. »Er hatte doch gar keine Möglichkeit, um in die Legion zu gelangen.«

Nun weicht Pep doch meinem Blick aus, als würde er sich an Gustavs Stelle schämen. »Kurz vor dem allem hier«, er macht eine ausladende Handbewegung, die alles miteinbezieht: die vielen Menschen, die Verletzten, das Chaos, den Schmerz, »kam Cleo zu uns. Sie wollte Schutz für ein Mädchen aus der Sicherheitszone. Gustav wusste, dass sie mittlerweile Legionsführerin war, und hat die Gelegenheit genutzt.«

Ich verstehe immer noch nicht. Das Mädchen, welches bei Cleo war, muss Asha gewesen sein. Nachdem diese bei den Paarungskämpfen A566 tödlich verletzt hatte, musste Cleo mit ihr fliehen, um sie vor der Bestrafung durch die Legionsführer zu beschützen. Sie hätte sich an niemanden außer an die Rebellen wenden können.

»Was soll das heißen? Was hat Gustav getan?«

Pep schaut mir ins Gesicht und seine Worte treffen mich mit voller Härte. »Er hat Cleo den kleinen Finger abgeschnitten, um damit den Sensor der Legion zu bedienen. Er war es, der die Selbstzerstörung eingeleitet hat.«

Nein!

Nein, nein, nein!

NEIN!

Das darf nicht wahr sein. Das ist nicht der Gustav, den ich wie einen Vater geliebt habe. Der Gustav, den ich immer für seine Güte und Weisheit bewundert habe. Er war besonnen, herzlich und fröhlich.

All das muss mit Marie gestorben sein.

Nicht die Legionsführer haben Hunderte Menschen zum Tod verdammt, sondern Gustav. Mein Gustav. Er wusste, dass ich in der Sicherheitszone war, und hätte mich mit ihnen sterben lassen. Kein Opfer war ihm zu groß, um die Legion auszulöschen.

Bisher habe ich geglaubt, zu wissen, wer gut und wer böse ist. Die Legion war mein Feind. Dieses Bild zerbricht gerade. Ich muss mir selbst eingestehen, dass die Rebellen nicht nur Opfer sind. Gustav hat uns zu Tätern gemacht. Er und Marie waren der Anfang von allem. Ihr Mut ermöglichte es uns, außerhalb der Sicherheitszone leben zu können. Dabei ist es ihnen nie um persönlichen Erfolg gegangen, sondern immer nur darum, etwas zu verbessern. Am Ende hat Gustav wohl geglaubt, dass die einzige Rettung für die Legion darin bestand, sie auszulöschen. Ungeachtet, wie viele Leben er dadurch in den Tod schickte.

Pep bemerkt, wie aufgewühlt ich bin, und drückt mich an sich. »Die Umstände, unter denen wir uns wiedersehen, könnten beschissener nicht sein, aber zumindest bist du jetzt frei.«

Bin ich das wirklich?

Frei?

Da sind zwar keine Wände mehr, die mich einengen, aber eine Verantwortung, die ich nicht von mir weisen kann. Nichts ist mehr wie zuvor. Die Erkenntnis über Gustav ist wie ein endgültiger Schlussstrich unter mein altes Leben. Alles, woran ich geglaubt habe und was mich ausgemacht hat, fällt in sich zusammen. Für mich gibt es kein Zurück mehr.

Vielleicht führt mein Weg mich deshalb nicht zu jemandem aus meiner Vergangenheit, sondern zu Clyde. Ich bemerke erst, dass ich ihn gesucht habe, als ich vor ihm stehe. Zuvor bin ich ziellos durch das provisorische Lager gelaufen, aber erst als ich ihn entdecke, verspüre ich nicht mehr den Drang, weiterzugehen. Plötzlich fühle ich mich unendlich müde und erschöpft. Bei dem Anblick seiner starken Arme möchte ich nur noch weinen, mich an ihn sinken und von ihm festhalten lassen. Ich verbiete mir diese Schwäche und lege mich stattdessen wortlos neben ihn auf den abgekühlten Sandboden.

Wir haben weder Matten noch Decken oder Kissen. Dafür erstreckt sich über uns der Sternenhimmel. Er erstrahlt in seiner ganzen Pracht, aber vermag mich nicht zu trösten. Es schmerzt viel mehr, wie gleichgültig unser Schicksal dem Universum ist.

Ich schließe die Augen und nehme mir fest vor, zu schlafen. Mein Körper fühlt sich schwer und kraftlos an, aber das Pochen meines Herzens hält mich wach.

---ENDE DER LESEPROBE---