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Köln, Mai 1910: Als der Halleysche Komet zum ersten Mal über der Stadt gesichtet wird, macht sich Panik in der Bevölkerung breit. Zur gleichen Zeit sterben in einem einsamen Haus im Ursulaviertel ein reicher Immobilienhändler und eine junge Fernsprechgehilfin. Ein erweiterter Suizid aufgrund der herrschenden Kometenfurcht? Kriminalkommissar Martin Ehrmanns nimmt die Ermittlungen auf. Rätselhafte Spuren führen ihn durch die rasant wachsende Metropole am Rhein. Da taucht eine weitere Leiche auf …
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Seitenzahl: 364
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Gabriele Goslich
Flammender Himmel über Köln
Historischer Kriminalroman
Panik am Rhein Köln, Mai 1910: Während die Menschen den gefürchteten Halleyschen Kometen beobachten, macht Anna Ostheim eine grausige Entdeckung: Ihr Geliebter, der Immobilienhändler Robert Fischer, und die Fernsprechgehilfin Brunhild Stolte liegen erstochen in einem einsamen Haus im Ursulaviertel. Ein Abschiedsbrief weist auf einen Doppelselbstmord hin, aber fremde Fußspuren und ein Fingerabdruck in Kerzenwachs lassen ein Verbrechen vermuten. Kriminalkommissar Martin Ehrmanns nimmt die Ermittlungen auf, unterstützt von Kriminalschutzmann Franz Lindau und Revierschreiberin Gerda von Bienemann. Was bedeuten die rätselhaften Pflanzenreste in der Hand der toten Fernsprechgehilfin und im Koffer ihrer verschwundenen Kollegin? Eine weitere Leiche wirft neue Fragen auf. Als Ehrmanns schließlich die entscheidende Spur entdeckt, gerät er in einen tödlichen Hinterhalt.
Gabriele Goslich wurde 1954 in Düren bei Köln geboren. Sie promovierte an der RWTH Aachen mit einer Arbeit über Karl Jaspers. Nach ihrem Dienst als Lehrerin und Rektorin an verschiedenen Grundschulen in Nordrhein-Westfalen und als Fachleiterin für das Fach Deutsch im Rahmen der zweiten Lehrerausbildung widmet sie sich nun als freie Autorin dem Schreiben von historischen Geschichten und Kriminalromanen. Seit 2001 erscheinen alljährlich Erzählungen der Autorin im Jahrbuch des Eifelvereins. Gabriele Goslich ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern«, einer Vereinigung deutschsprachiger Krimiautorinnen. »Flammender Himmel über Köln« ist ihr erster Roman.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:General_view,_by_moonlight,_Cologne,_the_Rhine,_Germany-LCCN2002714083.jpg. Stadtplan auf Innenklappen: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Signatur: RHEKT71
ISBN 978-3-8392-7928-1
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Da stand er zum ersten Mal deutlich sichtbar über dem Rhein: der Komet, der Unglücksbote. In wenigen Tagen würde sein riesiger Schweif den Erdball durchkreuzen und alles Leben auslöschen. Jetzt beleuchtete die kosmische Fackel am Nachthimmel die dunklen Gassen der alten Stadt.
Trotz der späten Stunde drängten sich Einheimische und Touristen in den Straßen, standen in Trauben vor überfüllten Kneipen und Lokalen. Anna ließ sich schieben und stoßen. Eine Wolke aus Schweiß, Tabak, Alkohol und Kölnisch Wasser lag in der Luft.
Am Dom teilte sich die Menge, flutete nach rechts und links, blieb hinter ihr zurück. Das Stimmengewirr wurde leiser und verebbte langsam, ihr Herzklopfen nahm zu. Bald würde sie in Roberts Arme sinken, endlich glücklich sein.
Nach einer Ewigkeit kam das Haus in Sicht. Doch wo steckte er? Warum lief er ihr nicht entgegen? Wartete er im Gebäude auf sie? Die Fensterläden waren zurückgeklappt, die Haustür angelehnt. Sie zögerte. Diese unheimliche Stille dadrinnen! Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten.
Anna verstand selbst nicht, warum sie die Tür weiter aufzog und eintrat. Sofort nahm ihr ein unangenehmer Geruch den Atem, süßlich mit einem Hauch von Metall. Sie blieb wie angewurzelt stehen, starr vor Schreck.
Langsam weiteten sich ihre Pupillen, gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Bis sie sah, was hier geschehen war. Ihre Lippen öffneten sich zu einem stummen Schrei.
Da durchbrach ein Geräusch die Totenstille. Schritte, die sich näherten. Endlich löste sich ihre Erstarrung. Sie schlich zu dem Tisch hinter den reglosen Körpern, bückte sich, verbarg sich. Eine dunkle Gestalt füllte den Türspalt, kam auf sie zu, ohne sie zu bemerken.
Der Eindringling hockte sich vor die Toten. Jetzt! Anna schnellte hoch, stieß den Tisch um, der krachend auf den Unbekannten fiel. Mit sechs Schritten sprintete sie zur Tür, riss sie auf, hechtete ins Freie.
Sie hetzte durch die verwinkelten Straßen, beschleunigte, rang keuchend nach Luft, wurde immer schneller. Die Gegend um den Dom kam näher, aber auch das Stampfen schwerer Stiefel hinter ihr auf dem Kopfsteinpflaster.
Endlich hatte sie die belebte Marzellenstraße erreicht. Auf Höhe des Gymnasiums musste sie die Fahrbahn überqueren, um schnell in die Bahnhofstraße und weiter am Dom vorbei zum Rheinufer zu gelangen. Im Laufen versuchte sie, einen günstigen Zeitpunkt zu erwischen. Da, zwischen der Pferdedroschke und dem Automobil konnte sie wechseln!
Ein plötzliches ohrenbetäubendes Hupkonzert und gleich darauf das schrille Quietschen von Bremsen ließ sie zusammenzucken, bevor sie das Trottoir erreichte. Trotzdem wagte sie es nicht, ihren Lauf zu stoppen und einen Blick auf die Straße schräg hinter ihr zu werfen. Die panische Furcht vor dem Verfolger trieb sie weiter. Der hatte die Morde begangen, das spürte sie.
Sie war fast zu Hause. Vor dem alten Fachwerkhaus auf dem Buttermarkt schaute sie sich unauffällig um. Die Wolken hatten sich wieder vor die Himmelskörper geschoben. Auf der anderen Straßenseite zogen ein paar grölende Nachtschwärmer vorbei. Langsam rumpelte eine Kutsche über das Pflaster. Einen Augenblick lang sah sie ihr nach. Dann hob sie die rechte Hand, um den Hausschlüssel ins Türschloss zu stecken.
In diesem Moment packte jemand von hinten ihr Handgelenk. Eine Klaue drückte zu, der Schlüssel fiel klirrend zu Boden. Der Mund an ihrem Ohr stieß bei jedem Atemzug eine Dunstwolke aus Nikotin, Bier und Bratenfett aus.
»Na, Fräuleinchen, so allein in der Nacht?«, flüsterte eine heisere Stimme. »Kommen wir zwei zusammen?«
Blitzschnell fuhr ihre freie Hand in die Tasche ihrer Bloomers, umschloss den Griff des Messers, zog es aus der Hülle und stach rückwärts zu. Die Klinge drang in den linken Arm des Angreifers ein. Sofort zog Anna die Stichwaffe wieder heraus. Der Mann gab sie augenblicklich frei, schreiend vor Schmerz und Wut.
»Su e Horeminsch!«, keuchte er.
Anna hatte unterdessen den Schlüssel aufgehoben. Ungehindert öffnete sie die Haustür, stürzte hinein, schlug die Tür zu und sperrte zur Sicherheit von innen ab. Schwer atmend lehnte sie sich gegen das Holz und horchte, zur Salzsäule erstarrt und doch bis in die Haarspitzen angespannt. Hatte er sie vorhin eine Hure genannt? Was wusste er über sie?
Die Flüche und Verwünschungen des Mannes wurden leiser, verstummten. Dann erst bemerkte sie die blutige Waffe in ihrer Faust.
»Danke, Nora«, flüsterte sie aus tiefstem Herzen. Ihre Freundin war die zweite Vorsitzende des Kölner »Vereins zur Verbesserung der Frauenkleidung«. Die weiblichen Mitglieder trafen sich regelmäßig, um neue Schnittmuster für gesunde Reformkleidung auszutauschen. So vermied man enge Korsettschnürungen, die die Atmung einschränkten und die inneren Organe schädigten. Auch modische schmale »Humpelröcke«, die nur Trippelschritte erlaubten, wollte man nicht länger tragen.
Mehr Wert legte Anna aber auf das wöchentliche Training mit dem Messer, um zudringliche und gewalttätige Männer abzuwehren. Denn die Richter gaben stets den Frauen die Schuld für Belästigungen oder Missbrauchshandlungen, indem sie ihnen Unsittlichkeit vorwarfen.
Anna stand jetzt im Vorhaus, wo ihr Mann, ein Immobilienmakler, tagsüber seine Kunden empfing. Im fahlen Licht der Straßenlaterne, das durch die Fensterfront drang, entzündete sie eine bereitgestellte Petroleumlampe. Blut war auf die Kacheln getropft, Spuren ihres nächtlichen Ausflugs. Ein Blick zur Wanduhr bestätigte die vorgerückte Zeit. Sie musste handeln!
Schnell legte sie das Messer ab. Am Spülstein gegenüber dem Aufgang zum Kontor fand sie ein frisches Tuch, mit dem sie die verräterischen Blutspuren gründlich entfernte. Als sie wenig später erneut Richtung Treppe eilte, blieb sie abrupt stehen.
Sie hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Ihr Blick wanderte nach links zu dem wuchtigen Schreibtisch, fixierte den Schrank dahinter. Die mittlere Schublade stand halb offen.
Atemlos schlich sie näher. Das Fach war immer verschlossen, solange sie hier im Haus wohnte. Ihr Mann Wilhelm hielt penibel Ordnung. Nie würde er vergessen, seine wichtigen Unterlagen zu sichern.
Sie trat hinter den Schreibtisch. Vorsichtig zog sie die Lade weiter auf. Zuoberst lag ein nachlässig aufgerissener Briefumschlag, aus dem teures Büttenpapier hervorlugte. Ungläubig starrte sie auf den Absender, las zweimal den Aufdruck. Er stammte von dem Immobilien- und Hypothekengeschäft Robert Medard Hai.
Sofort kamen die verdrängten Bilder wieder. Ihr Geliebter Robert, der auf dem Boden lag, starr und still neben der Frau in der Blutlache. Wilhelm hatte einen Brief von ihm erhalten und diesen achtlos in die Schublade geworfen. Aus Wut? Hatte Robert sie verraten? Sie waren glücklich gewesen, hatten Pläne für die Zukunft geschmiedet. Hatte sie sich denn so geirrt? Wilhelm konnte jeden Moment zurückkehren. Aber etwas zwang Anna, nach dem Brief zu greifen, ihn mit flinken Fingern aus dem Umschlag zu ziehen. Vorsichtig hielt sie ihn fest, zog die Petroleumlampe näher zu sich heran und überflog den Inhalt.
Annas Verstand weigerte sich zu begreifen, was sie las: Wilhelm schuldete ihrem toten Liebhaber 30.000 Reichsmark! Eine Hypothek auf ihr Haus, die Robert jetzt zurückforderte. Sie sank auf einen Stuhl, fassungslos.
Da, Geräusche an der Tür! Jemand fummelte umständlich am Schloss herum. Wilhelm!
Zum Glück hatte sie die Haustür abgeschlossen. So blieb ihr genügend Zeit, den Brief zurückzulegen und die Treppe hinaufzuhasten.
Wenig später torkelte ihr Ehemann polternd nach oben in die Küche, um sich wie üblich einen Nachttrunk einzuschenken. Anna zog in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer in Windeseile die wadenlange Schoßjacke und die Hosenkombination für Radlerinnen aus. Sie befreite sich von ihrem Mieder, schlüpfte aus ihren Turnschuhen und verstaute alles in einem begehbaren Wandschrank. Dann löste sie ihr Haarband und nahm sämtliche Spangen und Klammern aus ihrer Frisur. Ihre entfesselten rostbraunen Locken fielen bis zur Taille herab, umrahmten ihr fein geschnittenes Gesicht mit der zarten Haut. Ihre Schönheit war das einzige Kapital, das sie in die Ehe mit Wilhelm eingebracht hatte. Anna streifte das durchsichtige lange Nachtgewand aus Seide über, das ihrem Mann so gefiel, bürstete ihr Haar, verkroch sich bis zur Nasenspitze in die weichen Daunen und wartete. Nach dem Tod der ersten Frau Ostheim hatte Anna zunächst im Haushalt ausgeholfen, aber schnell Wilhelms Herz erobert. Nach dem Trauerjahr hatten sie geheiratet. Sein Sohn Siegfried brauche wieder eine Mutter, hieß es offiziell, wenig glaubhaft bei einem so geringen Altersunterschied zwischen Stiefsohn und Stiefmutter. Nur sechs Jahre trennten die beiden.
Seitdem war Anna an einen alternden Mann mit Bauchansatz und schütterem Haar gebunden, der vertrank und verspielte, was sie zu besitzen vermeinte: ein Heim, eine Familie und ihr Vertrauen in den Menschen, der ihr ein anderes Leben versprochen hatte.
Die Treppenstufen knarrten unter schweren Schritten. Jetzt kam er gleich.
»Guten Abend, Schönheit!« Wilhelm Ostheim hielt seine Petroleumlampe hoch, sodass sie hin und her schwankte.
»Haast schon auf mich gewartet … Waarum iist denn die Haaustüür abgeschlossen?«, lallte er.
»Wegen Siegfried!«, log Anna. »Der Junge hat zu lernen, nicht zu feiern.«
Vor ihrem unerlaubten Ausflug in das Kölner Nachtleben hatte sie oben in der Dachkammer aus dem offen stehenden Fenster geschaut und dabei den Fluchtweg ihres Stiefsohns entdeckt. Er war an einem dicken Seil in den Hof hinuntergeklettert, das er an dem Kranbalken unter dem rückwärtigen Dach befestigt hatte. Von dort konnte er bis zu dem angrenzenden Grundstück auf dem Rothenberg gelangen. Dort hatte sein Freund Johann Konrady ihm vermutlich wie immer geholfen, über die Straße zu entweichen. Später würde er auf dem gleichen Weg zurückkehren.
»Braver Junge«, murmelte Wilhelm. Dann zog er sie an sich.
Sie ließ es über sich ergehen.
In der Nacht raubten ihr die grausigen Bilder den Schlaf: Robert, der sie blickleer anstarrte, und Brunhild, ihre beste Trainingspartnerin. Mit dem Messer konnte die keiner schlagen. »Zauberkämpferin« hatte Nora sie genannt. Sie schauderte. Was war da nur geschehen?
Polizeiwachtmeister Gustav Schänzler vom sechsten Polizeirevier saß in seiner Zweizimmerwohnung in der Johannisstraße. Vor ihm auf dem Küchentisch lag der Brief, den am Nachmittag jemand unter seiner Wohnungstür hindurchgeschoben hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er in der Eckkneipe seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert, mit Ähzezupp und ein paar Lokalrunden. Er grinste. Bald würde er hier ausziehen und in den Süden reisen. Er Glückspilz!
Den Brief hinter dem Türschlitz hatte er sofort gefunden. Er steckte wie verabredet in einem Umschlag ohne Absender. Schänzler las den Text beim Schein seiner Petroleumlampe:
Schlag elf Uhr am Sonntagabend verlässt du die Wohnung und marschierst schnurstracks zur Hohenzollernbrücke. Du betrittst sie über die Treppe, gehst auf dem Fußgängerweg bis zur Mitte. Dort erhältst du dein Geld. Nach dem Lesen verbrennst du diese Botschaft im Ofen.
Sein Auftraggeber hatte vorgesorgt, damit sein kleiner Nebenverdienst unentdeckt blieb. Deshalb trafen sie sich nachts auf der neuen menschenleeren Brücke, die noch nicht fertig gebaut war.
Die Glocke am Dom schlug halb elf Uhr. Zunächst verbrannte er die letzte Anweisung samt Briefumschlag im Ofen. Er trank heiße Milch und aß einen Kanten Brot mit Rübenkraut, bevor er zur Tarnung seine Wachtmeisteruniform anzog.
Punkt elf Uhr schnappte er sich seine Sturmlaterne und verließ sein Quartier im vierten Stock. Im ganzen Haus herrschte Totenstille. Auf der zweiten Etage angelangt hörte er, wie sich oben eine Tür öffnete. Vermutlich der Nachtportier aus der Wohnung neben ihm, der zum Dienst ins Domhotel aufbrach. Zügig weiter, ehe ihn jemand entdeckte!
Am Ende der Johannisstraße bog er in die Kostgasse ab – und zuckte zusammen. Eine Gestalt lief auf der gegenüberliegenden Seite vom alten Ufer aus mit schnellen Schritten an dem Verwaltungsgebäude der Eisenbahn entlang. Kommissar Ehrmanns!
Schänzler hatte sich in den Nebentrakt eines großen Wohnhauses gedrückt. Einen Moment lang überlegte er. Jetzt wäre die Gelegenheit, dem Kriminalbeamten von seinen Beobachtungen gestern Abend zu berichten. Aber er entschied sich dagegen. Weil er seine Dienstuniform trug. Ehrmanns würde ihn fragen, was er hier zu suchen hätte, so weit außerhalb seines Bezirks. Fiel ihm dazu eine Ausrede ein?
Dann war die Gelegenheit vorbei. Wenigstens hatte der Kommissar ihn nicht gesehen.
Die Kostgasse lag wieder verlassen im spätabendlichen Schlummer. Die Himmelslichter verbargen sich unter einer dicken Wolkendecke. In der kleinen Gasse hatte die Stadtverwaltung die Straßenbeleuchtung auf das Allernötigste beschränkt. Schänzler musste seine Sturmlaterne anzünden.
Am Ende der Gasse drehte er sich um. Täuschte er sich oder wich ein Schatten in die Johannisstraße zurück? Hatte Ehrmanns ihn etwa doch entdeckt? Unsinn! Der würde sich nicht anschleichen. Der Kommissar wäre zu ihm herübergekommen und hätte ihn ausgefragt.
Schänzler löschte sicherheitshalber seine Laterne und wartete. Hin und wieder lugte er in die Gasse. Keine Menschenseele zu sehen! Nachdem es halb zwölf Uhr nachts geschlagen hatte, wagte er, seinen Weg fortzusetzen.
Diesmal blieb er unbehelligt. Er hastete an der Breitseite eines weiteren, neu gebauten Bürokomplexes für den Eisenbahnfiskus vorbei zum Kaiser-Friedrich-Ufer. Die neue Brücke lag vor ihm. Der Ort ihres Treffens war passend gewählt. Nach dem schweren Unglück beim Bau der Eisenbahnbrücke zwischen Poll und Bayenthal hatte man hier auf Nachtarbeiten verzichtet. Er befand sich auf einem völlig verlassenen Gelände.
Zurzeit wurden Eisenbahnschienen und Telephonkabel auf der Brücke verlegt. Der Treppenaufgang für die Fußgänger konnte schon betreten werden. Oben angekommen gelangte Schänzler auf der Straße für Fahrzeuge und Fußgänger ungehindert bis zur Mitte der unfertigen Brücke. Niemand da! Hatte sich sein Auftraggeber zu dieser späten Stunde wieder davongemacht?
Er stellte seine Sturmlaterne ab. Sein Blick wanderte über den Rhein zum Ufer zurück.
Der aufkommende Wind wühlte das Wasser auf. An den Landungsplätzen der Köln-Düsseldorfer Dampfbootgesellschaft am Ley-Stapel schaukelten ein paar vertäute Ruderboote.
Der Wind wurde stärker, wurde zum Sturm. Er peitschte das Wasser auf, ließ es gegen den mittleren Brückenpfeiler klatschen. Der Polizeiwachtmeister sah den schäumenden, tanzenden Wellen zu, dem ungezügelten Element, das sich mit aller Kraft seinen Weg durch das Flussbett bahnte. Er stellte sich auf die Fußspitzen, um besser sehen zu können.
Der plötzliche Angriff ließ ihm keine Möglichkeit zur Abwehr. Jemand packte seine Beine von hinten, hob ihn hoch und hievte ihn mit Schwung über die Brüstung.
»Wer … wer«, japste er. Es gelang ihm, sich von außen am Geländer festzukrallen. Ein Gesicht beugte sich zu ihm hinab, sah zu, wie er immer schwächer wurde, heftig um Atem ringend in seiner schweren Uniform, hochrot, am ganzen Körper zitternd. Eine Eisenstange schob sich durch die Streben des Brückengeländers, schlug gegen seine Arme, traf seinen Kopf.
»Du?«, keuchte er fassungslos. »Was … tust du da? Ich … kann doch … nicht schwimmen!«
»Weiß ich!«, zischte die Gestalt über ihm. »Fahr zur Hölle!«
In diesem Moment ließ Schänzler los. Er plumpste in die Tiefe wie Fallobst. Die Fontäne beim Aufprall war das Letzte, was er hinterließ. Die reißende Flut nahm ihn in sich auf und gab ihn nicht mehr frei. Er trieb fort wie ein Stück Totholz, weg von seinen Freunden und seiner Heimatstadt, die er lebend nie verlassen hatte.
Die Gestalt auf der Brücke ergriff die abgestellte Sturmlaterne und verschwand. Jetzt erinnerte nichts mehr an Polizeiwachtmeister Gustav Schänzler.
Schwere Wolken hatten sich vor die Himmelskörper geschoben. Dunkle Wellen klatschten gegen die Kaimauer, unaufhörlich, ein ewiger Rhythmus von Auf und Ab. Lief da nicht eine Gestalt über das unebene Pflaster der Hafengasse mit gerafftem Rock, hüpfend, singend, völlig schwerelos trotz der roten Absätze, die immer wieder in die schmalen Rillen und Untiefen der grob behauenen Steine gerieten? Gleich würde sie stürzen, hinschlagen, ihre zarten Knie und Hände ein einziger blutiger Matsch! Hatte er sie im Stich gelassen?
Das Klatschen wurde lauter, dröhnte in seinen Ohren. Er wurde gepackt, geschüttelt. Der Arm ließ ihn nicht los …
»Aufwachen, Herr Kommissar!«, rief eine weibliche Stimme, die ihn schlagartig weckte.
»Greta«, murmelte er. Er blinzelte.
»Ich bin nicht Ihre Greta oder Luisa oder wie sie sonst alle heißen. Mein Name ist Fräulein von Bienemann. Wachen Sie endlich auf! Es ist etwas geschehen!«
Kriminalpolizeikommissar Martin Ehrmanns fuhr hoch.
»Fräulein Bienemanns! Was haben Sie hier in meinem Schlafzimmer zu schaffen?«
Jetzt hatte er die Augen weit aufgerissen. Die Morgensonne fiel durch die offenen Fenster ein, tauchte das Zimmer in taghelles Licht.
Mit einem theatralischen Schwung beförderte seine Zugehfrau ihre Linke in die Untiefen ihrer Schürze und zog eine uralte Taschenuhr heraus, die schon weitaus bessere Tage gesehen hatte. »Gleich sechs Uhr!«, verkündete sie tadelnd. »Ihre Dienstzeit beginnt in fünf Minuten!«
»Ich hatte Sie etwas gefragt«, wiederholte Ehrmanns mit gefährlichem Unterton.
»Ein Notfall! Kriminalschutzmann Lindau hat sich ja nicht getraut, zu Ihnen hochzukommen. Da hat er lieber mich geschickt, der Feigling.«
Sie balancierte einen Stapel blütenweißer Hemden auf dem rechten angewinkelten Arm. Ihre Last kam ins Trudeln und drohte, in den Staub der Holzdielen neben seinem Bett zu fallen.
»Aufpassen!«, schrie der Kommissar entsetzt.
»Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?« Sie legte den Stapel auf der Kommode neben Ehrmanns Bett ab. »Ein Notfall, habe ich gesagt. Es geht um Leben und Tod, nein, gar nicht wahr, nur um Tod! Zwei Leichen!«
»Was reden Sie denn da?« Der Kommissar war plötzlich hellwach.
»Zwei Tote! Das hat Kriminalschutzmann Lindau gesagt, unten im Kommissariat, am Fernsprecher. Mehr weiß ich auch nicht. Nur, dass ich Sie holen soll. Es sei dringend.«
»Danke, Fräulein Bienemanns! Wenn Sie sich nun bitte entfernen würden.«
»Bienemann!«, rief die kleine Frau empört und fuhr sich durch ihr kurzgeschnittenes Haar. »Wie oft muss ich denn noch wiederholen, dass ich Bienemann heiße, Mann, ohne s!«
»In Ordnung. Aber gehen Sie jetzt bitte, Fräulein Bienemann!«
»Von Bienemann! Schon gut. Wird gemacht. Es ist ja nicht so, als ob ich nichts zu tun hätte. Übrigens, Ihr Frühstück steht in der Küche. Zwei-Minuten-Tee, Rührei, gute Butter und knusprige Brötchen …«
»Sofort!«, donnerte Ehrmanns aus Richtung seiner Bettstatt.
»Ich bin ja schon weg!«, rief Gerda von Bienemann. »Bis morgen dann, Herr Kommissar.«
Wenigstens hat sie die Tür nicht zugeknallt, murmelte er, entsetzt über seinen eigenen Gedanken. Was bildete sich das Frauenzimmer ein? Nahm sich heraus, hier einzudringen und sich ihm in seiner intimen, schutzlosen Position zu nähern! Ihm, Kriminalpolizeikommissar Ehrmanns, ihrem Arbeitgeber!
Er stöhnte. Seine alte Zugehfrau, Fräulein Hammerfeld, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte, hieß eines Tages Frau Richterich. Nach einem halben Jahr kündigte sie unerwartet. Ihr Mann hatte etwas dagegen, dass sie bei fremden Leuten putzte und wusch. Wenigstens hatte sie ihm auf seine inständige Bitte hin Ersatz geschickt, eine Nachbarin, die dringend eine neue Arbeitsstelle suchte.
Gleich am nächsten Tag war Gerda von Bienemann bei ihm erschienen, verarmter Adel, mit frischen Brötchen zum Einstand, diese winzige Person mit dem ständig verwuschelten Blondschopf.
Seitdem schwirrte sie um ihn herum, zupfte ihm Flusen vom Anzug, zeigte mit dem Finger auf alles, was nicht ihren Vorstellungen entsprach, von verschrumpelten Äpfeln in der Vorratskammer bis zu achtlos entsorgtem Papier und fleckigen Türklinken … Warum hatte er sich nicht schon längst jemand anders ausgesucht? Ein Fräulein Hammerfeld Nummer zwei, die unauffällig ihre Arbeit verrichtete ohne störende, ja, bissige Bemerkungen, ungebetene Kommentare, das ganze Gewusel drum herum? Er wusste es nicht.
Ein Blick auf seine goldene Savonette-Taschenuhr neben seinem Bett ließ ihn hochschrecken. Taghell! Er hatte verschlafen und unten im Kommissariat wartete sein Revierschreiber auf ihn.
Nachdem er sich gewaschen und rasiert hatte, wählte Ehrmanns eins der zahlreichen blütenweißen Hemden mit extravagant hohem Kragen, den er umgeschlagen mit einer schmalen, farblich dazu passenden Seidenkrawatte zu tragen pflegte. Sein dreiteiliger Anzug bestand aus dunkelblauem Wollmusselin. Ergänzt wurde die sachliche Eleganz seiner Garderobe durch tadellos gewienerte schwarze Halbschuhe Marke »Herz« aus der Schildergasse. Ein letzter Blick auf seine Savonette, bevor er sich eine Etage tiefer ins Kommissariat begab.
Nach dem Abitur an einem Gymnasium seiner Heimatstadt Düren, seinem Militärdienst und einem zweijährigen Lehrgang als Kommissaranwärter in Berlin bei Kriminalkommissar Ernst Gennat hatte man Ehrmanns vor drei Jahren zum Kriminalpolizeikommissar des zweiten Bezirks in der Altenberger Straße 5 ernannt. Hier wohnte er im ersten Stock über den Diensträumen, wo er im Bedarfsfall jederzeit zur Stelle war.
»Guten Morgen«, begrüßte er Franz Lindau zehn Minuten später. »Ist sie weg?«
Der Revierschreiber wurde rot. »Es ist etwas geschehen und ich dachte …«
»Ist Fräulein von Bienemann gegangen?«, wiederholte der Kommissar geduldig seine Frage.
»Jawohl, Chef, eben ist sie zur Tür hinaus.«
»Dann kann ich ja offen mit Ihnen reden«, stellte Ehrmanns fest. »Wenn es in unserem Beruf um Notfälle geht, um Leben und Tod, wünsche ich, sofort informiert zu werden. Ich betone: sofort! Ganz gleich, ob am Tag oder mitten in der Nacht. Von Ihnen, nicht von meiner Zugehfrau! Es spielt auch keine Rolle, wo ich gerade bin. Wenn Sie mich nicht schnell genug ausfindig machen können, rufen Sie Inspektor Frauenburg im Präsidium an. Haben Sie das verstanden?«
»Jawohl, Herr Kommissar«, bestätigte Lindau. »Was ich sagen wollte …«
»… das teilen Sie mir oben in meiner Dienstwohnung mit«, ergänzte Ehrmanns. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist, aber Sie sind zu dünn! Wenn Sie nicht ausreichend essen, können Sie in unserem Beruf nicht bestehen. Oder wollen Sie hierbleiben, Berichte schreiben, aus dem Fenster gucken und sich langweilen?«
»Ich hoffe doch, dass Sie mich mitnehmen …«
»Dann kommen Sie, Fräulein von Bienemann hat oben ein nahrhaftes Frühstück angerichtet.«
»Aber die Leichen …«
»Tote haben Zeit, eine ganze Ewigkeit lang.« Ehrmanns hatte schon die Verbindungstür geöffnet und winkte Lindau, ihm zu folgen. »Um die kümmert sich der zuständige Kreisarzt oder der Gerichtsarzt. Wir sind für die Lebenden da. Damit diese Aufgabe erfolgreich bewältigt werden kann, müssen wir bei Kräften sein.«
Mittlerweile waren sie in Ehrmanns Küche angelangt.
»Greifen Sie zu«, befahl der Kommissar seinem Untergebenen.
Lindau ließ sich nicht länger bitten. Nach dem üppigen Frühstück sagte Ehrmanns:
»Jetzt zu Ihrem Anzug. Zu alt, zu groß, zu verknittert! Die Menschen werden Ihnen den Ermittler nicht abnehmen. Was meinen Sie denn, warum unser Polizeipräsident Carl von Weegmann eine Uniform trägt, die übersät ist von Ehrenabzeichen? Ist er deshalb ein besserer Polizist als wir?«
»Ich weiß nicht …«, murmelte Lindau.
»Er ist überhaupt kein Polizist«, beantwortete Ehrmanns seine eigene Frage. »Der Mann ist von Adel, hat eine höhere Schulbildung genossen und kann standesgemäß repräsentieren. Das alles befähigt ihn, die gesamte Kölner Polizei zu führen. Folgen Sie mir in mein Ankleidezimmer.«
Dort hing ein blauer Anzug an einem stummen Diener, der schon allein wegen seiner Konfektionsgröße nicht zu Ehrmanns Garderobe gehören konnte.
»Aus dem Kleiderfundus. Die kleinste Größe, die sie vorrätig hatten. Probieren Sie ihn einmal an.«
Lindau schaute zu seinem Vorgesetzten hinüber, ungläubig. Die Situation schien ihm immer weniger zu behagen, schließlich hatten sie das Telephonat von vorhin noch nicht besprochen.
»Bitte schön!« Ehrmanns hielt ihm den Bügel mit dem Anzug hin. »Und beeilen Sie sich, wir stehen vor wichtigen Ermittlungen. Unten finden Sie noch einen Staubmantel und einen Homburg. Der Hut wird Ihnen zu groß sein, aber ein verschattetes Gesicht wirkt mysteriös. Bleiben Sie immer einen Schritt hinter mir, dann nimmt man Ihnen den Assistenten ab.«
Zurück im Kommissariat beugte sich Ehrmanns gespannt vor. »Nun, was wollten Sie mir mitteilen?«
»Vorhin hat hier eine unbekannte weibliche Person angerufen. Sie hat in einem leer stehenden Haus in der Ursulagartenstraße zwei Tote entdeckt. Im Ursulaviertel!«
Der Kommissar bedauerte zutiefst, nicht selbst mit der Unbekannten gesprochen zu haben. Lindau hatte nicht nach der Nummer der Anruferin gefragt. Jetzt war es zu spät, um Rückfragen an das Fernsprechamt zu stellen. Dort wurden für statistische Zwecke nur die Anzahl und Länge der Telephonate gespeichert. Ehrmanns vermutete, dass die Frau von einem öffentlichen Münzfernsprecher aus angerufen hatte, um anonym zu bleiben. Neben ihrem Namen hätte er gerne mehr Informationen zu ihrem Fund aus der Unbekannten herausgekitzelt. Er seufzte. Ein fähiger Revierschreiber, dieser Lindau, aber für eine erfolgreiche Ermittlung fehlte ihm noch die Erfahrung.
Nachdem Ehrmanns den zuständigen Kreisarzt informiert hatte, schnappte er sich den Ermittlungskoffer, der immer fertig gepackt neben seinem Schreibtisch stand, und stürmte hinaus, dicht gefolgt von dem neu eingekleideten Lindau. In den frühen Morgenstunden hatte es kräftig geregnet. Die Straßen wirkten wie frisch geputzt. Das Wasser hatte sich zu Pfützen gestaut, aber die Frühlingssonne gewann schon an Kraft. Bald würde alles verdunstet sein.
Die Ursulagartenstraße führte in einem Bogen um den hinteren Teil der Ursulakirche herum, wurde dann breiter und mündete in die Eintrachtstraße. Die unbekannte Anruferin hatte Lindau als Fundort einen einsamen Flachbau neben einer Baulücke ohne direkte Nachbarschaft genannt. Das kleine Haus sah verlassen aus, hatte aber offene Fensterläden. Hausnummer und Namensschilder fehlten.
Kreisarzt Dr. Reuter befand sich schon am Ort des Geschehens. Seine Kutsche stand vor dem Gebäude. Zwei junge uniformierte Polizeischutzmänner vom sechsten Revier näherten sich, um den Straßenabschnitt abzusperren. An den Fenstern des dreistöckigen Hauses schräg gegenüber tauchten die ersten Anwohner auf, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Diese Leute hatten direkte Sicht auf das kleine Anwesen, vor dem die Polizeibeamten stehen blieben. Wenn die Anruferin recht hatte und das Haus vor ihnen zwei Leichen barg, mussten die Menschen von gegenüber als wichtige Zeugen befragt werden.
Beim Eintreten schlug den Kriminalbeamten der Gestank von getrocknetem Blut und beginnender Verwesung entgegen. Der Kreisarzt hatte die Haustür unverschlossen vorgefunden. Die Fensterläden hatte er zurückgeklappt. Er empfing den Kommissar mit Handschlag und schaute dann fragend hinter ihn.
»Mein Kollege Franz Lindau«, stellte Ehrmanns seinen Begleiter vor.
»Sehr erfreut!«, begrüßte ihn Dr. Reuter. »Neu im Dienst?«
»Wie man’s nimmt«, sagte der Schreiber mit gequältem Lächeln.
Gleich kommt ihm das Frühstück hoch, dachte Ehrmanns ärgerlich. Er stöhnte. Laut sagte er:
»Der Inspektor hat mir Verstärkung zugeteilt. Ich musste den vierten Bezirk vertretungsweise mit übernehmen. Doppelte Arbeit!«
»Sieht nicht gut aus für Ihren Kollegen dort«, meinte Dr. Reuter ernst. »Schwerer Fall von Diphtherie. Liegt jetzt schon drei Wochen in der Lindenburg. Keine Besserung in Sicht.«
»Bedauerlich, aber lassen Sie uns zu den Leichenfunden zurückkehren.«
Die bewegungslosen Körper eines Mannes und einer Frau lagen auf dem Rücken vor einem kleinen, mittelhohen Tisch. Über einer Stuhllehne hing eine Anzugjacke, die wohl dem dunkelhaarigen Toten mit den ergrauten Schläfen gehörte, dessen trübe blaue Augen an die Decke starrten. Aus seiner blutbesudelten Weste ragte ein Jagdmesser mit Hirschhorngriff, auf dem der Name »Schäng« eingeritzt war.
Die Frau neben ihm war jung und schlank. Sie hatte aschblondes, schulterlanges Haar. Ehrmanns schätzte ihr Alter auf zwanzig Jahre. Die Tote trug ein blaues Jackenkleid und braune Stiefel. Auf der linken Seite zeichneten sich in Brusthöhe zwei Messerstiche durch den Stoff ihres Kleides ab. Getrocknetes braunes Blut hatte sich um die Toten herum gesammelt. Überall wimmelte es von Larven und Maden.
Bei näherem Hinsehen entdeckte Ehrmanns etwas, was ihn elektrisierte: Abdrücke von einem rechten und einem linken Vorderfuß unter dem Tisch, die von dort aus, immer schwächer werdend, Richtung Tür führten. Das erforderte gleich eine genaue Untersuchung. Wahrscheinlich stammten sie von der unbekannten Anruferin, die die Leichen gefunden hatte. Oder könnten das etwa die Fußspuren des Mörders …
»Entschuldigung«, murmelte Lindau mit gepresster Stimme. »Ich habe draußen etwas beobachtet. Vielleicht ist es wichtig.«
»Dann gehen Sie nur«, erlaubte ihm Ehrmanns mit einem flüchtigen Lächeln. »Wir kommen hier schon alleine zurecht.«
Mit ein paar Sätzen spurtete Lindau an die frische Luft.
»Was hat er denn?«, fragte Dr. Reuter erstaunt.
»Er ist ein genauer Beobachter«, log Ehrmanns mit gespielt ehrfürchtigem Unterton. »Sobald er in der Umgebung eines Verbrechens etwas bemerkt hat, kann ihn nichts mehr aufhalten. Der Instinkt des Ermittlers, verstehen Sie?«
»Ach ja?«, meinte der Kreisarzt zweifelnd. »Wir wissen doch noch gar nicht, ob das hier überhaupt ein Tatort ist! Auf dem Tisch liegt ein Abschiedsbrief, den ich eben überflogen habe. Klingt nach erweitertem Selbstmord. Der Mann hat zuerst seine Freundin und dann sich selbst erstochen.«
»Keine Beeinflussung«, entgegnete Ehrmanns scharf. »Kehren wir zu den Leichen zurück. Was können Sie dazu sagen?«
»Wie Sie meinen«, bemerkte der Kreisarzt widerwillig. »Aber bitte, Sie sind der Ermittler.«
»Ich höre«, sagte Ehrmanns ungeduldig.
»Ein Mann, um die fünfzig Jahre alt, und eine junge Frau um die zwanzig«, kommentierte der Kreisarzt zögernd. »Beide im gleichen Zustand. Die Leichenstarre hat sich weitgehend gelöst. Demnach sind sie zwischen vierundzwanzig und achtundvierzig Stunden tot. Ganz genau kann ich das nicht sagen. Wie Sie wissen, ist das abhängig von Raumtemperatur und Beschaffenheit der Körper. Außerdem habe ich die Toten nicht obduziert.« Er verzog das Gesicht.
»Natürlich weiß ich das«, versicherte Ehrmanns in einem Ton, der seine Gesprächspartner normalerweise in Habachtstellung versetzte. »Aber kommen wir zur Todesursache. Was können Sie nach dem ersten Augenschein dazu sagen?«
»Tod durch innere und äußere Blutungen. Lunge oder Herz wurden getroffen, vielleicht sogar beide Organe. Die Frau hat zwei Einstiche im linken Brustbereich, der Mann einen, wie Sie sehen. Höchstwahrscheinlich ist die weibliche Person mit dem gleichen Messer erstochen worden wie die männliche. Das kann aber erst durch eine genaue Untersuchung geklärt werden, wenn das überhaupt erforderlich ist.«
Immer dasselbe! Diese Kreisärzte hielten sich für bessere Kriminalisten auf Gebieten, von denen sie nichts verstanden. Wenn das kein erweiterter Selbstmord war, würde er sofort den Gerichtsarzt in der Lindenburg anrufen.
»Hören Sie schwer? Ich habe Sie etwas gefragt!«, rief Dr. Reuter jetzt nah an Ehrmanns Ohr.
»Ob das Messer entfernt werden soll?«, riet der Kommissar, der meinte, Ähnliches gehört zu haben. »Einen Moment noch, ich muss erst Photographien anfertigen.«
Der Kreisarzt verdrehte die Augen und schaute ungeduldig auf seine Taschenuhr. Ehrmanns öffnete seinen Ermittlungskoffer und entnahm ihm seine Handkamera von der Berliner Firma Stegemann. Eine leichte, kompakt konstruierte und unauffällige Plattenkamera, die auch ohne Stativ scharfe Bilder produzierte. Als er näher an die Toten herankam, wich Dr. Reuter zurück.
»Jetzt übertreiben Sie aber, Ehrmanns«, knurrte er.
Der Kommissar blieb unbeeindruckt. Er photographierte die beiden Toten von verschiedenen Seiten, einzeln und zusammen, außerdem die Fußabdrücke unter dem Tisch und im Raum, die er vorhin entdeckt hatte.
»Ich gehe davon aus, dass Sie den Griff des Messers nicht angefasst haben, Dr. Reuter?«, richtete er sich dann erneut an den Kreisarzt.
»Selbstverständlich nicht, Sie kennen mich doch«, versicherte der säuerlich.
Ehrmanns nickte. Er bestäubte den Griff mit hellem Puder und drückte eine dunkle, leicht klebende Folie darüber, presste nach. Dann zog er sie mit äußerster Vorsicht ab und verstaute die einzelnen Streifen in einem dafür vorgesehenen Kasten mit eingebauten Fächern.
»Wiener Folie«, erklärte er dem ungeduldig wartenden Arzt. »Ein neues Verfahren zur Abnahme und Fixierung von Fingerabdruckspuren. Ist zum Patent angemeldet. Auf der Innenseite können sich die hellen Papillarlinien des Spurenverursachers abzeichnen. Die werden später im Labor photographiert und vergrößert. Damit ist es jetzt möglich, die abgenommenen Fingerspuren mitzunehmen.«
»Der Schnickschnack interessiert mich nicht die Bohne. Soll ich die Leichen abtransportieren lassen?«
»Machen Sie nur, ich schaffe das nun allein. Vielen Dank auch für Ihre Expertise«, antwortete der Kommissar ironisch.
Der Kreisarzt beeilte sich, nach draußen zu kommen. Ehrmanns atmete auf. Jetzt hatte er freie Bahn.
Er nahm den Toten die Fingerabdrücke ab. So konnte er später feststellen, ob ein Fremder den Griff des Messers in der Hand gehalten hatte. Die Leichen wiesen keine Schnitte zur Abwehr eines Messerstechers auf. Trotzdem hatte er das dumpfe Gefühl, dass hier ein Gewaltverbrechen geschehen war.
Zum Glück konnte er die kalten, leblosen Gliedmaßen der Toten nach der Lösung der Leichenstarre wieder bewegen. Die rechte Hand der jungen Frau bereitete ihm Schwierigkeiten. Sie umklammerte etwas, das Ehrmanns erst freilegen konnte, nachdem er mühsam jeden einzelnen Finger zurückgebogen hatte. Merkwürdige bräunlich schwarze Krümel und dunkle Stiele kamen zum Vorschein. Trockenobst- oder Pflanzenreste, die er vorsichtshalber in einen Metallbehälter für Fundsachen schüttete.
Dabei hatte er die ekelerregenden Sektionen im Pathologischen Institut der Lindenburg vor Augen. Bei ihrer Arbeit waren die Ärzte dem direkten Hautkontakt mit Organen ausgesetzt, die sie aus den Körperhöhlen entnahmen. Dazu gehörte auch das Öffnen und Säubern des Darms, bevor sie die Leichen wieder vernähten und abschließend reinigten. Bei diesem Gedanken wurde es selbst dem hartgesottenen ehemaligen Feldwebel flau im Magen.
In seiner jetzigen Situation kam ihm zugute, dass er die Technik der Handreinigung von diesen Totenärzten, wie er sie nannte, genau abgeschaut hatte. Er nahm den Beutel mit den Wasch- und Desinfektionsmitteln aus seinem Koffer und begab sich auf die Suche.
Im angrenzenden Raum fand Ehrmanns ein großes Becken mit fließendem Wasser, was er in dem leer stehenden Haus nicht erwartet hatte. Ein alter Schrank, ein paar Stühle und ein funktionsfähiger Herd wiesen darauf hin, dass er sich im Küchenbereich befand. Er reinigte die Hände mit reichlich Seifenspiritus, rieb sie mit Chlorkalk ein und spülte sie gründlich mit Wasser ab. Jetzt waren hoffentlich alle Krankheitserreger abgetötet.
Anschließend lief Ehrmanns durch die übrigen Räume des Flachbaus. Auf der linken Seite gab es ein englisches Wasserklosett und ein Waschbecken, ebenfalls mit fließendem Wasser. Was für ein Luxus! Dahinter führte eine Tür in ein kleines, leergeräumtes Zimmer. Von den Wänden bröckelte der Putz. In dem größeren Raum auf der gegenüberliegenden Seite stand ein bezogenes Himmelbett, wie geschaffen für ein heimliches Stelldichein. Neben dem Bett lag auf einem Stuhl eine braune Handtasche, die vermutlich der Toten gehörte. Sie enthielt einen Lippenstift, ein Puderdöschen, ein Taschentuch, ein Fläschchen 4711 Parfum und einen Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln. Außerdem fand sich ein Personalausweis auf den Namen Fräulein Brunhild Stolte, wohnhaft in Köln, Kastellsgäßchen 9. Ehrmanns nahm die Handtasche an sich.
Zwischen den beiden bodentiefen Fenstern dieses Raumes war eine Tür eingelassen, durch die der Kommissar in einen verwilderten Garten mit hochgeschossenem Gras und einigen Büschen gelangte. Ein gerader, von Unkraut überwucherter Kiesweg führte zu einem kleinen, kompakten Gartentor in der hohen Mauer mit spitzer Stacheldrahtkrone, die das Haus halb umgab und Sichtschutz nach außen bot. Hier schien in letzter Zeit niemand durchgegangen zu sein.
Ehrmanns rüttelte an dem Törchen. Abgeschlossen! In der Tür steckte ein seltenes Protectorschloss, das er bisher nur von Schließfächern oder Tresoren kannte. Mit einem Dietrich ließ sich so ein Hochsicherheitsschloss nicht knacken.
Von St. Ursula schlug es die halbe Stunde. Höchste Zeit, sich endlich den Abschiedsbrief anzuschauen, der Dr. Reuter zu der Annahme eines erweiterten Selbstmordes bewogen hatte. Er war auf einer Adler-7-Schreibmaschine getippt und von dem Immobilien- und Hypothekenhändler Robert Medard Hai handschriftlich unterschrieben worden. Ehrmanns las das kurze Schreiben:
An die Mitglieder der Familie Robert Medard Hai
Ihr Lieben!
Bald wird der Erdball in den riesigen Schweif des Kometen geraten. Dann ist das Ende der Welt gekommen. Die gesamte Menschheit wird sterben. Meine Liebste, Gefährtin der letzten Tage, wird mich zuvor in den Tod begleiten. Mutig und frei war unser Leben. Dem Ende werden wir selbstbestimmt entgegengehen.
Genießt die restliche Zeit, seid umarmt und geküsst!
Euer Robert
Das Immobiliengeschäft Hai kannte man in Köln. Der Händler besaß ein Dutzend große Zinshäuser und Villen, die er vermietete oder gewinnbringend verkaufte. Seltsam, dass ein knallharter Geschäftsmann wie dieser Robert Hai so hilflos der allgemeinen hirnlosen Furcht vor dem nahenden Weltuntergang verfallen war! Auch der Name »Schäng« auf dem Griff des Jagdmessers gab ihm Rätsel auf. Ehrmanns beschloss, bei der Familie des Toten nachzufragen, ob Robert Hai eine solche Waffe besessen hatte.
Wo befanden sich wohl die persönlichen Gegenstände des Immobilienhändlers? Ob er in der Anzugjacke des Toten etwas finden würde?
Einige Augenblicke später hatte Ehrmanns Gewissheit: Er entdeckte einen Ausweis auf den Namen Robert Medard Hai und ein Portemonnaie mit ein paar Geldscheinen in der Innentasche der Jacke. Schlüssel waren nicht dabei.
Draußen bewegte sich etwas. Die Leichenträger betraten das Haus und fragten nach, wohin sie die beiden Toten bringen sollten.
»Zu Professor Frost ins Pathologische Institut der Lindenburg«, befahl Ehrmanns. »Vielleicht ist eine Sektion erforderlich.«
Dem Leiter der Pathologie würde es nicht gefallen, dass er ihm zusätzliche Arbeit zumutete, aber nur so ließen sich die genauen Todesumstände bestimmen. Ehrmanns gab den Trägern eine entsprechende Notiz mit und entließ sie mit der dringenden Bitte, sich mit dem Transport zu beeilen.
Der Kommissar schaute ihnen hinterher, in Gedanken versunken. Im nächsten Augenblick stutzte er. Da vorne hatte er etwas entdeckt: einen gelblichen Fleck, den er vorhin gar nicht bemerkt hatte! Ein Wachstropfen! Stammte er von einer Kerze, die jemand durch den Raum getragen hatte? In seiner Berliner Zeit bei Kriminalkommissar Ernst Gennat hatte Ehrmanns von einem Einbruch gehört, bei dem der Eindringling jegliche Fingerspuren vermieden hatte – bis ihm beim Verlassen des Hauses geschmolzenes Kerzenwachs von seiner Lichtquelle über einen Finger gelaufen und dann auf den Boden getropft war. Darin hatte ein Abdruck seines Zeigefingers gesichert werden können. Dieses Indiz hatte ausgereicht, um den Täter zu identifizieren und schließlich zu verurteilen.
Vielleicht hatte er es hier mit einem ähnlichen Fall zu tun! Aufgeregt stürmte Ehrmanns zu seinem Ermittlungskoffer, entnahm ihm seine Lupe und einen Beutel für Fundstücke. In der Küchenschublade fand der Kommissar, was er suchte, in Gestalt eines Tortenmessers. Damit ließ sich die Wachsspur vorsichtig vom Boden lösen. Mit Hilfe der Lupe entdeckte er tatsächlich einen verwischten Teilabdruck, aber keine brauchbare Spur. Schade! Der Wachsabdruck wanderte dennoch in seinen Ermittlungskoffer.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass Lindau sich noch immer draußen aufhielt. Der war vor dem Anblick und dem Geruch der Toten geflüchtet! Die offizielle Arbeit seines Revierschreibers sah natürlich Ermittlungen von Verbrechen und damit auch eine Konfrontation mit unappetitlichen Leichen nicht vor. Dennoch hatte Ehrmanns ihn auf seinen eigenen Wunsch hin mitgenommen. Wenn er Lindau an der Aufklärung von Verbrechen beteiligte, musste der sich aber auch an die unangenehmen Bereiche dieser Arbeit gewöhnen. Das sollte sofort geklärt werden!
Auf der Straße kam der Kriminalschutzmann auf ihn zu. »Ich habe die Bewohner des Hauses gegenüber befragt, ob ihnen in den letzten beiden Tagen hier etwas aufgefallen ist«, berichtete er.
Ehrmanns starrte ihn an.
»Sie haben doch gesagt, dass Sie und Dr. Reuter alleine zurechtkommen«, meinte Lindau verunsichert. »Da habe ich mir gedacht, dass wir uns die Arbeit ja auch teilen können.«
»Es geht hier nicht um Dr. Reuter und mich«, entgegnete Ehrmanns ernst. »Sondern um Sie! Wie soll ich Sie demnächst einsetzen? Als Schreiber? Oder wollen Sie langsam die tägliche Ermittlungsarbeit kennenlernen, auch wenn es widerwärtig wird?«
»Ich hoffe doch, dass Sie mich weiterhin zu Außenterminen mitnehmen«, murmelte Lindau kleinlaut.
»Als Ermittler müssen Sie auch Tote begutachten, die schrecklich zugerichtet sind. Da können Sie nicht fortlaufen und sich nachher mit Arbeitsteilung herausreden!«
»Ich musste mich übergeben. Schließlich waren das meine ersten Leichen«, erklärte Lindau. »Außerdem hatte ich den Magen zu voll von dem guten Frühstück …«
»Wer hat Sie eigentlich damit beauftragt, hier alleine eine ausgiebige Befragung zu veranstalten?«, bohrte Ehrmanns mit scharfem Unterton nach. »Ich kann mich nicht daran erinnern, das veranlasst zu haben. Wenn Sie schon eigenmächtig Anwohner befragt haben, berichten Sie mir jetzt das Wichtigste.«
»Jawohl, Herr Kommissar«, sagte Lindau dienstbeflissen. »Die Frau Bunte …«
In diesem Moment läuteten die Glocken von St. Ursula die achte Stunde ein.
»Um Punkt neun Uhr beginnt die Besprechung bei Inspektor Frauenburg in der Krebsgasse«, rief Ehrmanns erschrocken. »Da muss ich pünktlich sein! In der Ursulastraße ist eine Droschkenhaltestelle. Kommen Sie. Während der Fahrt unterhalten wir uns weiter.«
Er schnappte sich seinen Ermittlungskoffer und lief los.
In sportlichem Tempo eilte der Kommissar um die Kirche herum Richtung Ursulastraße. Lindau folgte in gehörigem Abstand.
Schon von Weitem sah Ehrmanns, dass sich eine Droschke vom Stadtzentrum aus näherte, die von einem elegant gekleideten älteren Herrn mit Zylinder erwartet wurde.
»Einsatz!«, schrie Ehrmanns in vollem Lauf. Mit der freien Linken fischte er in den Tiefen seiner Manteltasche nach der Dienstmarke.
Er stoppte jäh, als der Herr sich zu ihm umdrehte und mit dem Kopf schüttelte.
»Du willst mir doch nicht etwa die Droschke vor der Nase wegschnappen, Martin? Wie wäre es, wenn du etwas besser auf die Zeit achten würdest? Besitzt du nicht eine Taschenuhr, die dir genau anzeigt, was die Stunde geschlagen hat?«
»Ich … äh …«, stotterte Ehrmanns verlegen. »Guten Tag, Professor Frost! Was machen Sie denn hier?«
»Das könnte ich dich fragen, Martin«, entgegnete Carl Frost streng. »Bin ich dir neuerdings Rechenschaft schuldig?«
Vor seiner Beförderung zum Kommissar hatte Ehrmanns zunächst ein Praktikum bei Professor Frost im Pathologischen Institut der Lindenburg absolviert. Frost und seine Assistenzärzte übten eine Doppelfunktion aus: Als Pathologen untersuchten sie die Todesursachen von verstorbenen Patienten und als vereidigte Gerichtsärzte obduzierten sie gewaltsam Getötete im Dienste der Aufklärung von Verbrechen. Im Seziersaal trennte sich schnell die Spreu vom Weizen. Wer zweimal wegen Übelkeit den Saal verließ oder sogar in Ohnmacht fiel, wurde in eines der zahlreichen Büros im Polizeipräsidium abgeschoben.
Ehrmanns hatte sich bei der Untersuchung der Toten als überaus gelehrig erwiesen. Der Professor duzte ihn schon nach der zweiten Sektion und wollte ihn am Ende des Praktikums sogar zu einem Medizinstudium überreden. Der ewige Leichengeruch war dem jungen Praktikanten dann doch zuwider gewesen, und so hatte Frost ihn an die Kriminalpolizei verloren. Aber hin und wieder forderten die Toten den Leichenarzt und den Kommissar auf, gemeinsam nach der Wahrheit zu suchen.
»Ich komme gerade von einem Haus in der Ursulagartenstraße, wo zwei Leichen gefunden wurden«, erklärte Ehrmanns. »Inneres und äußeres Verbluten durch Messerstiche. Keine Abwehrverletzungen, dafür ein Abschiedsbrief. Aber mein Gefühl sagt mir, dass wir doch an einem Tatort gewesen sind. Ich habe die beiden Erstochenen mit einem Vermerk zu Ihnen in die Lindenburg geschickt, Professor Frost.«
»Aber Martin, du kannst mir doch nicht den ganzen Keller mit deinen Leichen zustopfen! Du glaubst nicht, was uns jetzt jeden Tag an Toten jeglicher Art wegen der allgemeinen Kometenfurcht geliefert wird. Es ist ja eine regelrechte Massenhysterie ausgebrochen! Wir kommen mit dem Sezieren gar nicht mehr nach.«
»Mit dem Unterschied, dass sich keiner von denen erstochen hat, stimmt’s?«, entgegnete Ehrmanns. »Wer dem Kometen entkommen will, vergiftet sich, vorzugsweise mit Alkohol, erhängt sich oder springt in den Rhein. Harakiri habe ich in dem Zusammenhang noch nie erlebt.«
»Ich auch nicht«, gab Carl Frost zu. »Aber du hattest es doch eilig. Musst du ins Präsidium?«
»Ja, um neun Uhr ist Besprechung beim Inspektor.«
»Dann will ich mal nicht so sein«, sagte der Professor großzügig. »Steig ein!«
In diesem Moment traf Lindau laut keuchend an der Droschkenhaltestelle ein.
»Da sind Sie ja endlich!«, rief Ehrmanns tadelnd. »Wir wären beinahe ohne Sie abgefahren.«
»Wer ist denn der junge Mann, der hinter dir herhetzen muss wie ein Hund?«, fragte Frost.
»Das ist mein Assistent Franz Lindau«, stellte Ehrmanns vor.
»Assistent? Du meinst wohl Revierschreiber«, korrigierte ihn der Professor. »Aber wie auch immer, wir fahren über die Krebsgasse zur Lindenburg«, fuhr er laut in Richtung des Kutschers fort, der die beiden Reiseziele wiederholte.
»Das habe ich Ihnen noch nicht gezeigt«, stellte Ehrmanns unterwegs fest und überreichte dem verdutzten Lindau das Abschiedsschreiben von Robert Hai. »Ich glaube allerdings nicht, dass es sich hier um einen erweiterten Selbstmord handelt.«
»Welcher Kreisarzt hat denn deine Leichen untersucht?«, wollte Frost wissen, als sie rechts in die Marzellenstraße abbogen.
»Dr. Reuter natürlich! Der ist doch für das gesamte Ursulaviertel zuständig, somit auch für die Toten aus der Ursulagartenstraße.«
»Der Reuter also«, murmelte Frost.
»Warum? Kennen Sie ihn?«, fragte Ehrmanns erstaunt.
Der Totenarzt antwortete nicht. Er starrte vor sich hin.
»Herr Professor! Ist Ihnen nicht gut?« Der Kommissar packte den Mediziner besorgt am Arm.