Flash Boys - Michael Lewis - E-Book

Flash Boys E-Book

Michael Lewis

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Beschreibung

Mit diesem Buch erhalten Sie das E-Book inklusive! Ein Buch, das die Börse zum Beben bringt Michael Lewis, begnadeter Sachbuchautor, lüftet mit seinem neuen Buch "das dunkelste Geheimnis der Börse". Wer an Börse denkt, hat oft ein Bild im Kopf: wild gestikulierende Makler, die unter immensem Zeitdruck Dinge kaufen, um sie gleich wieder zu verkaufen. Doch das ist Geschichte. Die Realität an der Börse sieht anders aus - das Parkett hat längst neue Regeln. Michael Lewis, Wirtschaftsjournalist und begnadeter Sachbuchautor, sorgte mit seinem neuen Buch für ein Erdbeben. Der Erzähler unter den Sachbuchautoren enthüllt die Geschichte einer Gruppe genialer Wall-Street-Außenseiter. Sie haben herausgefunden, wie die Börse zum Vorteil von Insidern manipuliert wird, die ohne Risiko Milliarden absahnen und abends ohne eine einzige Aktie nach Hause gehen. Ein Buch über die neuen "Helden" an der Börse Der Entschluss der "Helden": Sie schaffen ein paralleles System, das sich den raffgierigen "Flash Boys" in den Weg stellt. Lewis bringt Licht in die dunkelste Ecke der Börse. Seine filmreife Geschichte über den Kampf um Geschwindigkeit - auf einem Markt, den zwar keiner sieht, der unsere Wirtschaft aber ernsthaft bedroht - bringt die Wall Street zum Beben. Dieses Buch lässt die Börsenwelt erzittern. Einen Tag nach seinem Erscheinen kündigten FBI und amerikanisches Justizministerium an, sie würden Untersuchungen gegen den von Lewis gegeißelten Hochfrequenzhandel an den Börsen einleiten. Lewis … - "… hat eine neue Ebene der Aufmerksamkeit erreicht". (FAZ) - … lässt den "The Wolf of Wall Street" wie ein Lamm wirken. - … ist der derzeit packendste (Reality-)Thriller über die Finanzwelt gelungen. - … enthüllt, wie Märkte und Privatanleger manipuliert werden. Links: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/rezension-flash-boys-von-michael-lewis-12899266.html http://www.handelsblatt.com/finanzen/fonds/nachrichten/hochfrequenzhandel-staatsfonds-fluechtet-vor-den-flash-boys/10019622.html http://www.manager-magazin.de/finanzen/boerse/hochfrequenzhandel-lewis-gefahr-jedermannn-flashcrash-a-973311.html

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Michael Lewis

Flashboys

Revolte an der Wall Street

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

WIE MAN MILLIARDEN AN DER BÖRSE ABSAHNT!

Die Wall Street ist nicht mehr das, was Sie vermuten. Die Ikone des globalen Kapitalismus ist eine Lüge. Sie hat sich in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft verwandelt, in der es um nichts als Geschwindigkeit geht, und in der Händler für eine Millisekunde ihre Großmutter verkaufen würden. Die einen haben einen umfassenden Überblick über den Markt, die anderen bekommen den Markt nie zu Gesicht. Nicht einmal die Experten, denen Sie Ihr Geld anvertrauen, wissen, was damit passiert. Und die wenigen, die es wissen, verraten es nicht – denn die verdienen zu viel.

In seinem neuen Buch erzählt Michael Lewis die Geschichte einer Gruppe von genialen Wall-Street-Außenseitern, die herausgefunden haben, wie die Börse zum Vorteil von Insidern manipuliert wird. Sie treten an, den Aktienmarkt neu und fair zu gestalten und dabei einigen der mächtigsten und reichsten Männer der Welt den Kampf anzusagen..

Über den Autor

Michael Lewis, geboren 1960, ist Wirtschaftsjournalist und Bestsellerautor. Er hat Abschlüsse von der Princeton University und der London School of Economics. Seine Erfahrungen als Investmentbanker verarbeitete er 1989 in seinem Welterfolgstitel Liar’s Poker, dem weitere Bücher zur Finanzbranche folgten. The Big Short stand monatelang auf Platz eins der Bestsellerliste der New York Times. Lewis lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Berkeley, Kalifornien.

Für Jim Pastoriza,der noch kein Abenteuer ausgelassen hat

Ein Mann braucht einen Ehrenkodex.

Omar Little

INHALT

Prolog: Ein Fenster zur neuen Finanzwelt

1 Unsichtbar vor aller Augen

2 Brads Problem

3 Ronans Problem

4 Den Freibeutern auf der Spur

5 Ein Gesicht des Hochfrequenzhandels

6 Wie man Milliarden von der Wall Street abschöpft

7 Einer gegen alle

8 Die Spinne und die Fliege

Epilog: Der Wall Street auf der Spur

Dank

PrologEin Fenster zur neuen Finanzwelt

Die Idee zu diesem Buch kam mir vermutlich schon, als ich zum ersten Mal von Sergey Aleynikov hörte. Aleynikov war ein russischer Programmierer, der für Goldman Sachs gearbeitet und im Frühjahr 2009 gekündigt hatte, um wenig später verhaftet und angeklagt zu werden, weil er angeblich Computerprogramme von Goldman Sachs gestohlen hatte. Ich wunderte mich ein wenig, dass der einzige Goldman-Mitarbeiter, der nach der Finanzkrise vor Gericht gestellt wurde, ausgerechnet jemand war, der etwas von Goldman Sachs gestohlen haben sollte, und das, obwohl diese Bank in der Finanzkrise eine ganz entscheidende Rolle gespielt hatte. Noch mehr wunderte ich mich, als die Staatsanwaltschaft den russischen Programmierer vor Prozessbeginn nicht gegen eine Kaution auf freien Fuß setzte, weil sie behauptete, die Programme von Goldman Sachs ließen sich zur Manipulation der Märkte missbrauchen, wenn sie in die falschen Hände gerieten. (Und bei Goldman Sachs waren diese Programme in den richtigen Händen? Wenn Goldman Sachs die Märkte manipulieren konnte, dann waren doch sicher auch andere Banken dazu in der Lage.) Am meisten wunderte ich mich jedoch darüber, dass kaum jemand erklären konnte, was der Russe eigentlich getan hatte. Nicht nur, was er verbrochen hatte, sondern was er überhaupt bei Goldman Sachs getan hatte, also worin seine Tätigkeit bestanden hatte. Er wurde meist als »Programmierer für Hochfrequenzhandel« bezeichnet, doch das sagte niemandem etwas. Im Sommer 2009 hatte selbst an der Wall Street kaum jemand von diesen Geschäften gehört. Was bitte schön war Hochfrequenzhandel? Und warum waren die Programme, die Goldman Sachs dazu verwendete, so wichtig, dass ein Mitarbeiter, der sie kopiert hatte, hinter Gitter gebracht werden musste? Warum waren diese Programme derart wertvoll und gefährlich für die Finanzmärkte? Und wie kamen sie überhaupt in die Hände eines Russen, der erst seit zwei Jahren für Goldman Sachs arbeitete?

Also machte ich mich auf die Suche nach Leuten, die mir diese Fragen beantworten konnten. Meine Suche endete in einem Raum mit Blick auf die Baustelle des World Trade Center, im Hochhaus One Liberty Plaza. In diesem Raum fand sich eine kleine Armee erschreckend gut informierter Leute aus allen Winkeln der Wall Street ein – von Banken, Börsen und Hochfrequenzhandelsfirmen. Viele dieser Leute hatten ihre hoch dotierten Jobs gekündigt, um der Wall Street den Krieg zu erklären, und das bedeutete für sie vor allem, genau das Problem zu bekämpfen, das der russische Programmierer im Auftrag von Goldman Sachs in die Welt gebracht hatte. Und ganz nebenbei waren sie Experten in genau den Fragen, auf die ich Antworten suchte – ganz zu schweigen von zahllosen anderen Fragen, an die ich gar nicht hatte denken können. Und diese Fragen erwiesen sich als weit spannender, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte.

Zu Beginn meiner Laufbahn hatte ich mich kaum für die Börse interessiert, auch wenn ich wie die meisten anderen Menschen gern dabei zusah, wie sie boomte und wieder abstürzte. Als sie am 19. Oktober 1987, dem Schwarzen Montag, ins Bodenlose fiel, hielt ich mich zufällig im 40. Stock von One New York Plaza auf, der Aktienabteilung meines damaligen Arbeitgebers Salomon Brothers. Das war hochinteressant. Wenn Sie jemals einen Beweis dafür haben wollten, dass auch die Insider der Wall Street keine Ahnung haben, was an der Börse vor sich geht, dann hätten Sie ihn an diesem Tag bekommen können. Eben herrschte noch eitel Sonnenschein, im nächsten Moment war der Dow Jones um 22,61 Prozent abgestürzt, und keiner wusste, warum. Während die Kurse fielen, gingen einige Händler einfach nicht mehr ans Telefon, um zu verhindern, dass ihre Kunden noch mehr Aktien auf den Markt warfen. Es war nicht das erste Mal, dass sich die Wall Street in Misskredit brachte, doch diesmal reagierten die Behörden und änderten die Spielregeln: Von nun an sollten Computer die unzuverlässigen Mitarbeiter ersetzen können. Mit dem Börsencrash des Jahres 1987 begann eine Entwicklung, die ganz allmählich Fahrt aufnahm und an deren Ende der Computer den Menschen vollständig ersetzt hatte.

Im Laufe der vergangenen zehn Jahre haben sich die Finanzmärkte rasant verändert, doch unsere Vorstellung hat nicht mit dieser Revolution Schritt gehalten. Die meisten Menschen denken beim Stichwort »Börse« nach wie vor an Bildschirme mit Kurstickern und an das Börsenparkett mit fuchtelnden und schreienden Alphamännchen. Dieses Bild ist veraltet, diese Welt gibt es längst nicht mehr. Seit 2007 schreit niemand mehr auf dem Parkett herum. An den Börsen arbeiten zwar noch Menschen, aber sie sind weder die Herren des Finanzmarkts, noch haben sie einen privilegierten Einblick in die Märkte. Heute findet der Aktienhandel in einer Black Box statt, genauer gesagt in Hochsicherheitsgebäuden in New Jersey und Chicago. Was in dieser Black Box vor sich geht, ist schwer zu sagen – der Ticker, der am unteren Rand des Bildschirms entlangläuft, erfasst jedenfalls nur einen winzigen Bruchteil des Börsengeschehens. Über das, was in der Black Box passiert, dringen nur sehr unzuverlässige Berichte an die Öffentlichkeit – selbst Experten haben kaum eine Vorstellung vom Was, Wie und Warum. Und der durchschnittliche Anleger ist vollkommen ahnungslos. Er loggt sich einfach in sein Konto bei TD Ameritrade, E*trade oder Schwab ein, gibt die Abkürzung einer Aktie ein und klickt auf »Kaufen«. Und dann? Vielleicht meint er ja zu wissen, was dann passiert, doch vermutlich täuscht er sich gründlich. Denn wenn er es wüsste, würde er es sich zweimal überlegen, ehe er auf »Kaufen« klickt.

Wir halten uns gern an das alte Bild des Aktienmarkts, weil es so tröstlich ist, weil wir uns kein konkretes Bild von dem neuen Aktienmarkt machen können und weil die wenigen Menschen, die uns verraten könnten, was dort vor sich geht, kein Interesse an unserer Aufklärung haben. Dieses Buch ist ein Versuch, dieses Bild zu zeichnen. Das Bild setzt sich aus einer Reihe von Puzzleteilen zusammen: von der Wall Street nach der Krise, von neuen Finanztricksereien, von unpersönlichen Computern, die zu Dingen verwendet werden, von denen selbst die Programmierer keine Ahnung haben, und von Menschen, die mit bestimmten Erwartungen an die Wall Street kamen, nur um festzustellen, dass sie ganz anders tickt, als sie angenommen hatten. Einer dieser Menschen, ausgerechnet ein Kanadier, steht im Mittelpunkt dieses Bildes und fügt die verschiedenen Puzzleteile zusammen. Ich staune noch immer über die Bereitwilligkeit, mit der er mir ein Fenster zur neuen amerikanischen Finanzwelt aufstieß und mir zeigte, wie sie wirklich funktioniert.

Genauso staune ich über den Programmierer, der verhaftet wurde, weil er Programme von Goldman Sachs entwendet haben soll. Bei Goldman Sachs hatte Sergey Aleynikov seinen Arbeitsplatz in der 42. Etage von One New York Plaza, dort, wo einst die Händler von Salomon Brothers saßen, zwei Stockwerke über dem Schreibtisch, von dem aus ich einst den Börsencrash mitverfolgte. Genau wie ich damals verspürte er wenig Lust, in dem Gebäude zu bleiben, und verließ Goldman Sachs im Sommer 2009, um anderswo sein Glück zu suchen. Am 3. Juli 2009 saß er in einem Flugzeug, das ihn von Chicago nach Newark, New Jersey, bringen sollte, und ahnte weder, welche Rolle er in den vergangenen Jahren gespielt hatte, noch, was ihn bei seiner Ankunft am Flughafen erwartete. Genauso wenig wusste er, wie hoch inzwischen in dem Finanzspiel gepokert wurde, das er für Goldman Sachs aufgezogen hatte. So seltsam das klingt – um die Dimensionen zu verstehen, hätte er einfach aus dem Fenster seines Flugzeugs hinunter auf die amerikanische Landschaft blicken müssen.

Kapitel 1Unsichtbar vor aller Augen

Im Sommer 2009 hatte das Kabel bereits ein Eigenleben entwickelt. Knapp 2000 Männer trieben den Bau der seltsamen Behausung voran, in der es untergebracht werden sollte. Insgesamt 205 Teams zu je acht Arbeitern sowie allerlei Aufseher und Inspektoren traten jeden Morgen an, um Tunnels durch Berge zu sprengen, Röhren unter Flüssen zu verlegen oder Gräben neben einsamen Landstraßen auszuheben, ohne dass auch nur einer von ihnen gewusst hätte, wozu das Ganze eigentlich gut sein sollte. Das Kabel selbst war nicht mehr als eine 5 Zentimeter starke Plastikröhre, in der 400 haarfeine Glasfasern nebeneinander lagen, doch es schien ein lebendiges Wesen zu sein, ein unterirdisches Reptil mit seinen ganz speziellen Wünschen und Bedürfnissen. Sein Bau musste schnurgerade verlaufen – es sollte der geradeste Weg werden, der je in die Erde gegraben wurde. Er sollte ein Rechenzentrum im Süden Chicagos mit einem Rechenzentrum einer Börse im Norden von New Jersey verbinden. Vor allem musste er streng geheim bleiben.1

Die Arbeiter wussten nicht mehr, als sie unbedingt wissen mussten. Sie arbeiteten in kleinen Teams, die keinerlei Kontakt zueinander hatten. Über ihren kurzen Teilabschnitt hinaus hatten sie keine Ahnung, woher das Kabel kam und wohin es gehen sollte. Sie waren nicht über den Zweck des Kabels informiert worden, um das Geheimnis nicht ausplaudern zu können. »Die Leute haben uns dauernd gefragt, ist das was Geheimes? Ist das vom Staat? Und ich habe zu allem Ja gesagt«, erinnert sich einer der Arbeiter. Er und seine Kollegen wussten zwar nicht, wofür das Kabel gut war, doch sie wussten, dass es Feinde hatte, denn sie waren vor potenziellen Bedrohungen gewarnt worden. Wenn sie mitbekamen, dass jemand in der Nähe des Kabels grub oder allzu viele Fragen stellte, sollten sie dies sofort der Bauleitung melden. Vor allem sollten sie den Mund halten. Wenn jemand wissen wollte, was sie taten, sollten sie antworten: »Wir verlegen Glasfaserkabel.« Damit war das Gespräch in der Regel zu Ende, und wenn nicht, dann spielte es auch keine Rolle. Die Arbeiter waren genauso perplex wie die möglichen Fragesteller. Für gewöhnlich verlegten sie Kabel, die Städte und Menschen miteinander verbanden. Dieses Kabel schien nichts und niemanden zu verbinden. Sie wussten nur, dass es so gerade wie möglich verlaufen sollte, selbst wenn das bedeutete, einen Berg zu untertunneln, statt den offensichtlichen Weg zu nehmen und das Kabel außen herum zu verlegen. Aber wozu das Ganze?

Die wenigsten Arbeiter interessierten sich für diese Frage. Das Land kämpfte mit einer Wirtschaftskrise, und sie waren froh, überhaupt einen Job zu haben. Dan Spivey erinnert sich: »Niemand hat etwas gewusst. Die Leute haben sich einfach ihren eigenen Reim darauf gemacht.«

Spivey selbst war einer der wenigen, die den Männern eine ungefähre Erklärung für das Kabel und dessen schnurgerades Bett hätten geben können. Doch Spivey war ein schweigsamer Mann, ein misstrauischer Südstaatler, der viel im Kopf hat und wenig davon ausspricht. Er war in Jackson im Bundesstaat Mississippi aufgewachsen, und wenn er denn einmal den Mund aufmachte, klang es so, als wäre er nie von dort fortgegangen. Er war gerade vierzig geworden, war schlaksig wie ein Teenager und sah aus wie einer der hageren Bauern, die Walker Evans während der Weltwirtschaftskrise fotografiert hatte. Nach einigen eher mäßig erfolgreichen Jahren als Aktienhändler in Jackson hatte er das Handtuch geworfen, »um etwas Sportlicheres zu machen«, wie er es ausdrückte. Also ging er an die Terminbörse von Chicago und arbeitete dort auf eigene Rechnung. Wie viele seiner Kollegen in Chicago sah er, dass sich eine Menge Geld verdienen ließ, wenn man in Chicago mit Optionen auf Aktien spekulierte, die an den Börsen von New York und New Jersey gehandelt wurden. Jeden Tag ergaben sich tausendfach Kursdifferenzen, die sich bei Termingeschäften zu Geld machen ließen. Dazu brauchte man allerdings einen schnellen Zugang zu beiden Märkten. Wobei sich die Bedeutung des Wortes »schnell« rasch veränderte. Früher – vor 2007 – war der Handel nicht schneller als die Menschen, die ihn betrieben: Auf dem Parkett arbeiteten Händler, und wer kaufen oder verkaufen wollte, musste mit ihnen kommunizieren. Doch seit 2007 sind die Börsen nichts als Reihen von Computern in Rechenzentren. Die Geschwindigkeit des Handels wird nicht mehr durch die menschlichen Akteure begrenzt. Heute ist die Obergrenze die Geschwindigkeit, mit der ein elektronisches Signal von Chicago nach New York kommt, oder genauer gesagt vom Rechenzentrum der Chicago Mercantile Exchange zu einem Rechenzentrum der elektronischen Börse NASDAQ in Carteret, New Jersey.

Spätestens im Jahr 2008 war Spivey klar, dass die real verfügbare Kommunikationsgeschwindigkeit zwischen beiden Börsen weit hinter den theoretischen Möglichkeiten zurückblieb. Wenn man von der Geschwindigkeit ausging, mit der sich Licht durch Glasfaserkabel bewegt, dann sollte eine Order von Chicago nach New York und zurück nicht länger als 12 Millisekunden unterwegs sein – zwölf Tausendstel einer Sekunde. Das ist ungefähr ein Zehntel der Zeit, die Sie brauchen, um schnell mit den Augen zu blinzeln. Die Verbindungen von Telefonanbietern wie Verizon, AT&T, Level 3 und so weiter waren deutlich langsamer, und vor allem konnte man sich nicht auf sie verlassen: An manchen Tagen brauchten sie 17 Millisekunden, an anderen waren es 16. Zufällig stolperten die Händler über eine Verbindung von Verizon, die nur 14,65 Tausendstel benötigte. Die Händler nannten sie »die goldene Straße«, denn wenn sie mal diese Verbindung bekamen, konnten sie die Preisunterschiede in New York und Chicago als Erste nutzen. Spivey konnte nicht verstehen, dass die Telefonanbieter die neue Nachfrage nach schnelleren Verbindungen nicht erkannten. Bei Verizon hatte man keine Ahnung, dass man den Händlern die schnellere Verbindung für ein Vermögen vermieten konnte – man schien nicht einmal zu wissen, dass man über eine besonders wertvolle Dienstleistung verfügte. »Man musste mehrere Verbindungen mieten und hoffen, dass die goldene Straße irgendwie dabei war«, erinnert sich Spivey. »Die hatten keinen Schimmer, was sie da besaßen.« In den Telefongesellschaften hatte man 2008 noch nicht mitbekommen, dass die Millisekunde an den Finanzmärkten ein Vermögen wert war.

Als Spivey nachhakte, stellte er fest, warum das so war. Er flog nach Washington, DC, und konnte Karten einsehen, in denen der Verlauf der Glasfaserkabel zwischen New York und Chicago eingezeichnet war. Die meisten folgten den Eisenbahnschienen von einer Großstadt zur nächsten. Aus New York und Chicago heraus verliefen sie mehr oder weniger geradlinig, doch sobald sie Pennsylvania erreichten, begannen sie, Haken zu schlagen. Auf der Karte von Pennsylvania erkannte Spivey das Problem: die Allegheny Mountains. Die einzige gerade Linie durch die Berge war eine Autobahn, doch leider war es gesetzlich verboten, Glasfaserkabel entlang einer Autobahn zu verlegen. Die anderen Landstraßen und Eisenbahnlinien folgten den Launen der Landschaft und wanden sich kreuz und quer durch den Bundesstaat. In eine Karte von Pennsylvania mit einem größeren Maßstab zeichnete Spivey eine Linie ein. »Die geradeste Linie, die das Gesetz erlaubt«, nannte er sie. Wenn man Landsträßchen und Feldwegen, Brücken und Eisenbahnen folgte und hin und wieder durch einen Parkplatz, einen Garten oder einen Acker pflügte, konnte man eine Leitung verlegen, die mehr als 150 Kilometer kürzer war als die der Telefonanbieter. Spiveys Plan, den er später besessen verfolgte, begann mit einem unschuldigen Gedankenspiel: Es wäre doch mal interessant zu sehen, wie viel schneller man sein könnte, wenn man ein Kabel auf dem direktesten Weg verlegt…

Ende 2008, während das internationale Finanzsystem in Aufruhr war, reiste Spivey nach Pennsylvania und traf sich mit einem Bauingenieur, der mit ihm die ideale Strecke abfuhr. Zwei Tage lang standen sie um 5 Uhr morgens auf und fuhren bis 7 Uhr abends durch die Berge. »Auf der Strecke kommen Sie dauernd durch Dörfchen und fahren auf Feldwegen mit einem Abgrund auf der einen Seite und einer Felswand auf der anderen.« Die Bahnschienen, die in Ost-West-Richtung verlaufen, weichen den Bergen nach Norden und Süden aus und eigneten sich deshalb kaum als Trasse. »Alles, was nicht exakt in Ost-West-Richtung verlief und irgendwelche Kurven hatte, war nicht zu gebrauchen«, erklärte Spivey. Kleine Landstraßen gefielen ihm schon besser, doch die schmiegten sich oft derart eng in das unwegsame Terrain, dass es keine andere Möglichkeit gab, als das Kabel unter der Straße selbst zu verlegen. »Dazu hätte man die Straße sperren und aufgraben müssen.«

Der Ingenieur, mit dem er unterwegs war, hielt ihn für einen Spinner. Doch als Spivey nachhakte, konnte ihm der Fachmann keinen Grund nennen, warum es nicht machbar sein sollte, zumindest theoretisch. Aber genau danach hatte Spivey gesucht: nach einem Grund, warum es dieses Kabel nicht geben konnte. »Eigentlich wollte ich nur herausfinden, warum die Telefonanbieter es nicht verlegt hatten. Ich habe immer gedacht, es wird schon irgendeine unüberwindbare Hürde geben«, erinnert er sich. Der Ingenieur war zwar der Ansicht, dass nur ein Verrückter auf den Gedanken käme, durch die harten Felsen der Allegheny Mountains bohren zu wollen, doch das schien tatsächlich das einzige Hindernis zu sein.

In diesem Moment beschloss Spivey, »die Seite zu wechseln«, wie er es nannte – von der Börse zu den Börsendienstleistern. Zuerst ging er zu den Verkehrsbehörden, bei denen ein Privatmann wie er die Erlaubnis einholen musste, um einen geheimen Tunnel zu graben. Er hatte Fragen: Wie war die Gesetzeslage und wer erteilte die Genehmigungen für das Verlegen von Glasfaserkabeln? Wer verfügte über das Know-how für den Bau der Tunnels und das Verlegen der Kabel? Wie lange würde das dauern? Wie viele Meter Tunnel schaffte ein Team mit den richtigen Geräten pro Tag? Was waren die richtigen Geräte? Und was würde das alles überhaupt kosten?

Wenig später erhielt ein Bauingenieur namens Steve Williams in Austin, Texas, einen unerwarteten Anruf. Williams erinnert sich: »Ein Bekannter hat mich angerufen und gesagt, der Cousin von einem Kumpel von mir hat ein paar technische Fragen an dich.« Dann rief Cousin Spivey selbst an. »Der Junge hat mir ein Loch in den Bauch gefragt zu Kabelquerschnitten, Glasfasertypen und wie man in diesem Untergrund oder unter jenem Fluss bohren würde«, erzählt Williams. Ein paar Monate später rief Spivey wieder an und fragte ihn, ob er das Verlegen eines 75 Kilometer langen Kabels hinter Cleveland, Ohio, übernehmen würde. »Ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da einlasse«, lacht Williams. Spivey verriet ihm nicht mehr über das Projekt, als er für die Kabelverlegung in dem 75 Kilometer langen Abschnitt wissen musste. Zwischen den beiden Anrufen hatte Spivey Jim Barksdale, den früheren CEO von Netscape Communications, der wie er aus Jackson, Mississippi, stammt, überzeugt, den Bau eines Tunnels mit geschätzten Kosten von 300 Millionen Dollar zu finanzieren. Die beiden Männer hatten ein Unternehmen mit dem Namen Spread Networks gegründet, auch wenn sie die Bauarbeiten selbst hinter Briefkastenfirmen mit so langweiligen Namen wie Northeastern ITS oder Job 8 verbargen. Jim Barksdales Sohn David stieg mit in das Projekt ein, um in aller Heimlichkeit die rund 400 Verhandlungen mit Gemeinde- und Bezirksverwaltungen durchzuführen, die notwendig waren, um das Kabel über ihr Gebiet verlegen zu dürfen. Da Williams die Leitung reibungslos unter die Erde brachte, fragten Spivey und Barksdale, ob er nicht das gesamte Projekt übernehmen wolle. »Dann habe ich erst erfahren, dass es bis nach New Jersey gehen soll«, erzählt Williams.

Hinter Chicago waren die Teams durch Indiana und Ohio geprescht. An guten Tagen kamen sie bis zu 5 Kilometer voran. Aber im Westen von Pennsylvania stießen sie auf Fels, und die Arbeiten kamen fast zum Stillstand. Jetzt schafften sie manchmal nur noch 100 oder sogar nur 50 Meter am Tag. »Das Zeug heißt Blaustein. Das ist eisenharter Kalkstein, an dem kann man sich die Zähne ausbeißen«, erklärt Williams. Wieder und wieder führte er dasselbe Gespräch mit den Teams in Pennsylvania. »Ich habe zu denen gesagt, wir müssen hier durch den Berg durch, und die haben zu mir gesagt, das ist doch verrückt. Und dann habe ich gesagt, ja, klar ist das verrückt, aber wir gehen da trotzdem durch. Und wenn sie gefragt haben, warum, habe ich nur gesagt, weil der Kunde es so will. Da haben sie mich dann nur noch mit großen Augen angeschaut.« Sein anderes Problem war Spivey, der sich wegen des kleinsten Umwegs aufregte. Manchmal überquerte zum Beispiel das Wegerecht eine Straße, und das Kabel musste sich daran halten. Dieses dauernde Hin und Her über die Straße brachte Spivey auf die Palme, denn das Kabel schlug Haken. »Das kostet mich Hunderte Nanosekunden!«, rief er. (Eine Nanosekunde ist eine Milliardstel Sekunde.) Oder: »Können wir nicht wenigstens diagonal über die Straße rüber?«

Spivey machte sich ständig über irgendetwas Sorgen. Er war überzeugt, dass bei riskanten Projekten immer genau das schiefgeht, an das niemand gedacht hat. Deshalb versuchte er, an alles zu denken, an das sonst keiner dachte. Die Chicagoer Terminbörse könnte schließen und nach New Jersey umziehen. Der Calumet River könnte unpassierbar sein. Ein Wall-Street-Tycoon oder eine Telefongesellschaft könnte Wind von seinem Projekt bekommen und ein eigenes Kabel verlegen. Die Angst, dass jemand anderes bereits einen anderen Tunnel buddeln könnte, fraß ihn regelrecht auf. Sämtliche Ingenieure, mit denen er sprach, hielten ihn für völlig durchgeknallt, doch er war sich sicher, dass es in den Allegheny Mountains nur so vor Spinnern wimmelte, die genau dieselbe Idee hatten wie er. »Wenn man erst mal etwas als offensichtlich erkannt hat, dann meint man, dass es alle anderen auch sehen müssen«, erklärt er.

Auf den Gedanken, dass die Wall Street gar nicht daran interessiert sein könnte, seine Verbindungen zu mieten, kam er überhaupt nicht. Im Gegenteil, er nahm an, dass er mit seinem Kabel eine Goldgräberstimmung auslösen würde. Vielleicht hatten er und seine Mitstreiter sich deshalb kaum mit der Frage beschäftigt, wie sie ihre Verbindungen verkaufen wollten, wenn es so weit war. Es war kompliziert. Ihre Ware – Geschwindigkeit – war nur so lange wertvoll, wie das Angebot knapp war. Im Grunde wussten sie aber nicht, wie viel ihre Ware genau wert war. Wie viel würde ein einzelner Akteur des Börsenmarktes bezahlen, um der gesamten Konkurrenz ein paar Millisekunden voraus zu sein? Wie viel würden 25 Akteure zahlen, um einen Vorsprung vor den übrigen zu haben? Um diese Fragen beantworten zu können, hätten sie wissen müssen, wie viel Geld die Banken und Makler allein mit der Geschwindigkeit verdienen und wie sie genau davon profitieren. »Der Markt war ein einziges großes Fragezeichen«, gesteht Spivey.

Ursprünglich hatten sie geplant, eine Rückwärtsauktion abzuhalten, das heißt, sie wollten mit einem hohen Einstiegspreis beginnen und diesen schrittweise senken, bis eine einzelne Bank zuschlug, die dann das ausschließliche Nutzungsrecht bekäme. Sie wussten allerdings nicht, ob eine Bank oder ein Hedgefonds bereit wäre, die Milliarden zu zücken, die das Monopol ihrer Ansicht nach wert war, und fürchteten sich vor Schlagzeilen wie »Barksdale verdient sich goldene Nase mit der Abzocke des amerikanischen Kleinanlegers«. Also heuerten sie einen Berater namens Larry Tabb an, der mit einem Artikel über den »Wert der Millisekunde« Barksdales Aufmerksamkeit erregt hatte. Tabb meinte, der Wert der Leitung ließe sich grob schätzen, wenn man die potenziellen Gewinne addiere – die Kursdifferenzen zwischen Chicago und New York, also die Arbitrage zwischen Kurs und Futures. Wenn eine einzige Bank sämtliche der winzigen Kursdifferenzen zwischen Chicago und New York ausnutzen könnte, dann würde sie nach einer groben Schätzung pro Jahr 20 Milliarden Dollar einstreichen. Tabb ging davon aus, dass bis zu 400 Unternehmen um diese 20 Milliarden Dollar konkurrierten. Alle würden die schnellste Verbindung zwischen den beiden Städten nutzen wollen, doch das Kabel bot nur Platz für 200.

Beide Zahlen entsprachen auch Spiveys Einschätzung des Marktes. »Wir haben 200 Schaufeln für 400 Arbeiter«, wie er mit offensichtlicher Genugtuung sagte. Aber was sollte er für jede Schaufel verlangen? »Es war, als würden wir den Finger in den Wind halten«, meint Brennan Carley, der mit zahlreichen Hochfrequenzhändlern zusammengearbeitet hatte und den Verkauf für Spivey übernehmen sollte. Sie kamen auf eine Gebühr von 300000 Dollar pro Monat, etwas das Zehnfache der existierenden Telefonverbindungen. Die ersten 200 Börsenmakler, die bereit waren, einen Fünfjahresvertrag zu unterzeichnen und die Gebühr im Voraus zu zahlen, sollten den Zuschlag bekommen: 10,6 Millionen Dollar für fünf Jahre. Zusätzlich mussten die Händler ihre eigenen Verstärker mieten, die sich in dreizehn Stationen entlang der Strecke befanden. Unterm Strich musste also jeder der 200 Händler rund 14 Millionen Dollar an Spread Networks zahlen – eine Gesamtsumme von 2,8 Milliarden.Anfang 2010 wusste kein einziger der potenziellen Kunden von der Existenz von Spread Networks. So unglaublich dies klingt, doch ein Jahr nach Beginn der Bauarbeiten war das Geheimnis der Leitung noch immer nicht durchgesickert. Um die Schockwirkung zu vergrößern und die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass Konkurrenten ein ähnliches Projekt begannen, warteten sie mit dem Beginn der Verkaufsgespräche bis März 2010, drei Monate vor der geplanten Fertigstellung. Aber wie sollten sie diese reichen und mächtigen Männer angehen, deren Geschäft sie aufmischen wollten? »Zuerst haben wir mit Leuten in diesen Unternehmen gesprochen, die wir gekannt haben«, erläutert Brennan Carley. »Zu denen haben wir gesagt, Sie kennen mich, Sie kennen Jim Barksdale. Wir haben etwas, das wir Ihnen gern vorstellen möchten. Was das ist, können wir Ihnen aber erst sagen, wenn wir uns treffen. Außerdem müssen Sie vorher eine Vertraulichkeitserklärung unterzeichnen.«

Also besuchten sie in streng geheimer Mission die Wall Street. »Bei allen Treffen saßen CEOs mit am Tisch«, berichtet Spivey. Sie trafen sich mit den bestbezahlten Männern der Finanzbranche. Die erste Reaktion waren Zweifel. »Später haben mir die Leute gesagt, sie hätten gedacht, das kann doch gar nicht stimmen, aber sprechen wir trotzdem mal mit ihm.« Doch Spivey war auf die Skepsis vorbereitet und hatte immer eine anderthalb mal drei Meter große Landkarte dabei. Mit dem Finger fuhr er die gesamte Leitung ab. Die Gesprächspartner wollten Beweise sehen. Das Kabel lag unsichtbar einen Meter unter der Erde, aber die Verstärker waren gut sichtbare, knapp 100 Quadratmeter große Betonbunker. In den Kabeln schwächt sich das Signal ab, und je schwächer es wird, umso weniger Daten kann es übermitteln. Auf dem Weg von Chicago nach New York musste das Signal etwa alle 75 bis 100 Kilometer verstärkt werden, weshalb Spread entlang der Route Hochsicherheitsbunker errichtete. Einer der Händler meinte: »Ihr seht aus wie ehrliche Jungs. Aber ich habe noch nie von euch gehört. Ich will ein Bild von diesem Ding.« In den nächsten drei Monaten schickte Spivey dem Mann täglich ein Foto des aktuell im Bau befindlichen Verstärkers, um ihm zu beweisen, dass tatsächlich etwas gebaut wurde.

Nachdem die ersten Zweifel ausgeräumt waren, machte sich unter den Jungs von der Wall Street Staunen breit. Natürlich stellten sie weiter die üblichen Fragen. Was bekomme ich für meine 14 Millionen? (Zwei Glasfaserstränge, einen in jeder Richtung.) Was passiert, wenn ein Bagger das Kabel zerreißt? (Unser Serviceteam repariert den Schaden innerhalb von acht Stunden.) Gibt es ein Back-up, wenn eure Leitung ausfällt? (Nein, tut uns leid.) Wann könnt ihr uns die Geschäftsberichte für fünf Jahre vorlegen, die wir von allen unseren Kooperationspartnern verlangen? (Hm, in fünf Jahren.) Doch während seine Gesprächspartner ihre Fragen stellten und ihre Häkchen machten, spürte Spivey ihre Bewunderung. Besonders gern erinnert er sich an ein Treffen mit einem Händler, der ihm fünfzehn Minuten lang mit versteinertem Gesicht gegenübersaß, um dann plötzlich aufzuspringen und zu schreien: »Scheiße, ist das cool!«

Was in diesen Gesprächen ausgespart wurde, war mindestens genauso interessant wie das, was diskutiert wurde. Die Finanzmärkte befanden sich im Umbruch, und niemand wusste so genau, wohin die Reise gehen würde. Die Geschwindigkeit des Computerhandels hatte eine neue Klasse von Bankern und neue Formen des Handels hervorgebracht. Nobodys wurden über Nacht reich und mussten niemandem erklären, woher ihre Gewinne kamen. Genau diese Leute waren die Zielgruppe von Spread Networks. Spivey interessierte sich nicht für ihre Handelsstrategien. »Wir wollten nie den Eindruck vermitteln, als wüssten wir, wie sie ihr Geld verdienen«, sagt er. Er stellte keine Fragen, und sie erzählten ihm keine Lügen. Doch aus der Reaktion vieler Gesprächspartner konnte er schließen, dass ihre gesamte unternehmerische Existenz davon abhing, schneller zu sein als alle anderen, und dass sie ihr Geld nicht nur mit den guten alten Termingeschäften verdienten. »Einige hätten für eine Millionstelsekunde ihre Großmutter verkauft«, meint Brennan Carley. Es war nicht ganz klar, warum sie so heiß auf Geschwindigkeit waren; es war jedoch nicht zu übersehen, dass sie sich durch die schnellere Verbindung bedroht fühlten. »Wir haben immer wieder gehört: ›Wenn wir im Geschäft bleiben wollen, brauchen wir diese Verbindung. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als euren Preis zu zahlen. Und wenn wir hier fertig sind, geht ihr raus und sprecht mit unserer gesamten Konkurrenz.‹«

Darren Mulholland, einer der Inhaber des Flash-Traders Hudson River Trading, erinnert sich: »Als die reingekommen sind, habe ich zu denen gesagt, sie sollen sich verpissen. Ich habe denen nicht abgenommen, dass die in einem Monat ans Netz gehen. Die haben doch nicht mal gewusst, wer ihre Kunden sind! Uns haben sie zufällig aufgetrieben, weil wir mal einen Brief an die Börsenaufsicht geschrieben haben. Wer bitte geht denn solche unternehmerischen Risiken ein?!«

Für 300000 Dollar im Monat plus Gebühren sollten die Leute, die an der Wall Street vermutlich mehr Geld verdienten als irgendjemand vor ihnen, das Recht kaufen, ihre Geschäfte weiterführen zu können. »Sie waren stinksauer«, erzählt Carley. Nach einem Verkaufsgespräch sagte Barksdale zu Spivey: »Diese Leute haben einen Riesenhass auf uns.« Komischerweise genoss Spivey diese feindselige Atmosphäre: »Es war einfach ein gutes Gefühl, mit zwölf Leuten an einem Tisch zu sitzen, die alle wütend auf uns sind. Ein Dutzend Leute hat zu uns gesagt, wenn ihr Glück habt, findet ihr vielleicht vier Kunden. Am Ende waren alle dabei.« (Natürlich auch Hudson River Trading.) Und Brennan Carley fügt hinzu: »Wir haben immer gesagt, wir dürfen Dan nicht zu den Verhandlungen mitnehmen. Die haben zwar keine andere Wahl, aber wer macht schon gerne Geschäfte mit Leute, die er nicht ausstehen kann?«

Als die Verkäufer von Spread Networks von den kleineren, weniger bekannten Adressen der Wall Street zu den großen Banken kamen, eröffnete sich ein noch faszinierenderer Blick auf die Finanzwelt nach der Krise. Citigroup bestand unverständlicherweise darauf, dass Spread die Leitung von einem Gebäude neben dem NASDAQ-Standort in Carteret in ihre Zentrale in Manhattan umleitete; die Kurven und Umwege hätten die Leitung ein paar Tausendstelsekunden langsamer und das gesamte Projekt hinfällig gemacht. Die anderen Großbanken verstanden jedoch sofort, worum es ging, stutzten aber angesichts des Vertrags, den Spread ihnen vorlegte. Dieser Vertrag verbot den Nutzern des Kabels, Dritten Zugang zu der Verbindung zu gewähren. Eine Bank, die eine Leitung mietete, durfte diese zwar für ihre eigenen Geschäfte nutzen, sie aber nicht mit ihren Kunden teilen. Für Spread Networks lag diese Regelung auf der Hand: Die Leitung war umso wertvoller, je weniger Unternehmen Zugang zu ihr bekamen. Der Zweck des Kabels bestand schließlich darin, im Markt einen Raum zu schaffen, zu dem nur diejenigen Zutritt erhielten, die für die Nutzung Millionen hinblätterten. »Die Leute bei Credit Suisse waren wütend«, erinnert sich ein Spread-Mitarbeiter, der mit den Großbanken der Wall Street verhandelte. »Die haben zu mir gesagt: ›Ihr gebt den Banken die Möglichkeit, ihre Kunden zu melken.‹« Er hielt dagegen, die Sache sei ein wenig komplizierter, doch am Ende weigerte sich Credit Suisse, den Vertrag zu unterschreiben. Morgan Stanley stimmte zwar zu, verlangte aber, dass Spread Networks seine Darstellung änderte. »Mit den Nutzungsbedingungen waren sie völlig einverstanden, aber wir mussten das Angebot so formulieren, dass sie sich aus der Verantwortung ziehen konnten.« Morgan Stanley wollte eine Möglichkeit, für sich selbst andere Geschäfte zu machen als für ihre Kunden, aber es sollte nicht so aussehen, als ob Morgan Stanley genau das wolle. Von allen Großbanken war Goldman Sachs der angenehmste Verhandlungspartner. »Die haben einfach unterschrieben«, sagt der Mann von Spread.

Aber just in dem Moment, in dem die Großbanken der Wall Street anbissen, geriet die Leitung ins Stocken.

Die Bauarbeiten waren unterwegs immer wieder auf Hindernisse gestoßen. Südlich von Chicago hatten die Bauarbeiter sich sechsmal erfolglos an der Untertunnelung des Calumet River versucht. Sie wollten bereits aufgeben und einen langsameren Umweg suchen, als sie einen hundert Jahre alten Tunnel aufspürten, der seit vier Jahrzehnten nicht mehr genutzt worden war. Der erste Verstärker hinter Carteret sollte neben einem kleinen Einkaufszentrum in Alpha, New Jersey, gebaut werden. Doch der Grundstückseigentümer sperrte sich: »Er war der Ansicht, das würde ein willkommenes Ziel für einen Terroranschlag, und so etwas wollte er nicht vor seiner Haustür haben«, berichtet Spivey. »Es hat immer wieder kleine Überraschungen gegeben, auf die man ein Auge haben musste.«

Pennsylvania war noch schwieriger, als Spivey gedacht hatte. Vom Osten her kommend, lief die Leitung in einen kleinen Wald bei Sunbury am Ostufer des Susquehanna River, wo sie auf den Anschluss aus dem Westen wartete. Dieser musste den Susquehanna überqueren. An dieser Stelle war der Fluss beängstigend breit. Auf der ganzen Welt gab es nur einen Bohrer, der in der Lage war, einen Tunnel unter dem Flussbett hindurch zu bohren. Die Miete für diesen Bohrer sollte zwei Millionen Dollar betragen. Doch im Juni 2010 befand sich die Maschine in Brasilien. »Wir waren auf einen Bohrer angewiesen, der gerade in Brasilien im Einsatz war!«, erzählt Spivey. »Das war ein schrecklicher Gedanke. Irgendjemand hat die Maschine dort gebraucht. Wie lange hätten wir warten müssen, bis wir an der Reihe waren?« Mit etwas Glück konnten sie die Bedenken der Straßenbaubehörden von Pennsylvania aus dem Weg räumen und erhielten die Genehmigung, das Kabel über eine bestehende Brücke zu verlegen. Dazu mussten sie Löcher in die Betonträger bohren und das Kabel an der Unterseite der Brücke entlangführen.

Auf der anderen Seite des Flusses warteten bereits neue Probleme. Hinter der Brücke teilte sich die Straße: Eine führte nach Norden, die andere nach Süden. In Richtung Osten endete die Straße an einem Damm und einem Schild mit der Aufschrift »Willkommen in Sunbury«. Dahinter befanden sich zwei große Parkplätze. Der eine gehörte einem Unternehmen namens Wirerope Works, das Stahlkabel herstellte, wie sie beim Bau von Skiliften verwendet werden, der andere einer hundert Jahre alten Supermarktkette namens Weis Markets. Um die von Osten her kommende Verbindung im Wald von Sunbury zu treffen, musste das Kabel entweder über einen der beiden Parkplätze verlegt werden oder die ganze Stadt umrunden. Die Eigentümer von Weis und Wirerope Works waren misstrauisch, feindselig oder beides. Sie ließen sich am Telefon verleugnen. »Pennsylvania hat ganz schlechte Erfahrungen mit dem Kohlebergbau gemacht. Wenn jemand was von Graben sagt, werden alle hellhörig«, erklärt Steve Williams.

Der Umweg um die Stadt hätte nach Berechnungen von Spivey einige Monate, eine Menge Geld und vier Millionstelsekunden Übertragungszeit gekostet. Außerdem wäre das Kabel nicht zum angekündigten Termin fertig gewesen, obwohl die Banker und Börsianer schon die Füllfederhalter zückten, um ihre Schecks auszustellen. Aus unerfindlichen Gründen war der Eigentümer von Wirerope Works derart wütend auf den Bauunternehmer, der das Projekt vor Ort durchführte, dass er sich weigerte, auch nur mit ihm zu sprechen. Der Inhaber des Weis Markets war noch schwerer zu erreichen. Seine Sekretärin informierte Spivey, er sei im Golf-Urlaub und nicht erreichbar. Er hatte sich bereits entschieden, das sonderbare Angebot einer sechsstelligen Summe plus einer kostenlosen Hochgeschwindigkeitsverbindung zum Internet für ein drei Meter breites Nutzungsrecht seines Parkplatzes auszuschlagen. Die Verbindung kam seiner Eiskremfabrik zu nahe, und er hatte kein Interesse daran, ein dauerhaftes Nutzungsrecht abzutreten, das ihm den Ausbau seiner Anlage erschweren würde.

Im Juli 2010 ging das Kabel hinter der Brücke wieder unter die Erde und wartete. »Auf beiden Seiten hatten wir Hunderte Kilometer Kabel, die nicht miteinander kommunizieren konnten«, so Spivey. Dann lenkte plötzlich aus unerfindlichen Gründen der Chef von Wirerope Works ein. Das Unternehmen verkaufte das dauerhafte Nutzungsrecht für einen drei Meter breiten Streifen über den Parkplatz, und schon am nächsten Tag gab Spread Networks seine erste Pressemitteilung heraus: »Die Distanz zwischen Chicago und New Jersey ist auf 13 Tausendstelsekunden geschrumpft.« Das Ziel war eine Verbindung von weniger als 1350 Kilometern gewesen, und das Kabel war 1331 Kilometer lang. »Es war der größte Knall, den die Branche seit langem erlebt hat«, meint Spivey.

Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte man bei Spread Networks noch keine genaue Vorstellung davon, wie die Kunden das Kabel nutzen würden. Die Antwort auf die große Frage nach dem Wozu war noch völlig unklar. Die Eigentümer wussten nur, dass die Banker heiß auf die Verbindung waren und dass sie alles getan hätten, um andere am Zugang zu hindern. In einem der ersten Treffen mit einer großen Wall-Street-Firma nannte Spivey dem CEO seinen Preis: 10,6 Millionen plus Zusatzkosten bei Sofortzahlung, knapp 20 Millionen bei Ratenzahlung. Der Mann sagte, er wolle darüber schlafen. Bei der nächsten Verhandlungsrunde hatte er nur eine Frage: »Könnten Sie nicht doppelt so viel verlangen?«

Kapitel 2Brads Problem

Bis zu dem Moment, an dem das amerikanische Finanzwesen zusammenbrach, konnte sich Brad Katsuyama einreden, dass er keinerlei Verantwortung für dieses System trug. Er war schließlich ein Angestellter der Royal Bank of Canada. Die RBC ist zwar das neuntgrößte Geldinstitut der Welt, doch mit der Wall Street wurde sie nur selten in Verbindung gebracht. Sie war stabil und für eine Bank vergleichsweise rechtschaffen, und schon bald sollte bekannt werden, dass sie der Versuchung widerstanden hatte, amerikanische Schrottanleihen zu kaufen und an ahnungslose Anleger zu verticken. Doch die Vorstände machten sich keine Vorstellung, wie unbedeutend ihre Bank in den Augen der amerikanischen Banker war, wenn diese überhaupt von ihrer Existenz wussten. Brad war schon 2002 im Alter von 24 Jahren für die RBC nach New York gegangen, als die Bank versuchte, in großem Stil an der Wall Street einzusteigen. Das Traurige war nur, dass kaum jemand etwas von diesem großen Moment mitbekam. Ein Händler, der von Morgan Stanley zur RBC wechselte, brachte es auf den Punkt: »Als ich hierhergekommen bin, habe ich nur gedacht, willkommen bei den Kleinkrämern!« Brad selbst sagt: »In Kanada hieß es immer, wir zahlen zu viel für Leute in den Vereinigten Staaten. Dabei übersehen sie, dass sie auch deshalb so viel zahlen, weil niemand für die RBC arbeiten will. Die RBC ist ein Nobody.« Es war ungefähr so, als hätten die Kanadier endlich den Mut aufgebracht, sich für eine Rolle beim Schultheater zu bewerben, und wären als Karotte verkleidet zum Vorsprechen erschienen.

Bevor Brad in die Vereinigten Staaten geschickt wurde, hatte er weder New York City noch die Wall Street gesehen. Es war seine erste Begegnung mit dem American Way of Life, und er staunte, wie sehr sich dieser vom Leben in Kanada unterschied. »Es war ein einziger Exzess«, erinnert er sich. »Ich habe in einem Jahr mehr widerliche Leute kennengelernt als in meinem ganzen Leben in Kanada. Alle haben über ihre Verhältnisse gelebt und sich auf Pump finanziert. Das hat mich noch am meisten schockiert. In Kanada sind Schulden etwas Fremdes. Schulden sind schlecht. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie Schulden gehabt. Und kurz nachdem ich hierhergekommen bin, hat ein Immobilienhändler zu mir gesagt, bei Ihrem Gehalt können Sie sich eine Wohnung für 2,5 Millionen leisten. Und ich habe nur gedacht, was redet dieser Mann für einen Blödsinn?« In den Vereinigten Staaten waren selbst die Obdachlosen Verschwender. In Toronto hatte es sich Brad angewöhnt, nach einem Buffet seines Arbeitgebers die unberührten Reste in Alufolie zu packen und einem Obdachlosen zu geben, an dem er jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vorüberging. Der Mann war ihm dankbar. Als er nach New York kam, sah er an einem einzigen Tag mehr Obdachlose als in Toronto in einem ganzen Jahr. Wenn ihn niemand beobachtete, packte er die unberührten Reste der königlichen Buffets der New Yorker Banker ein und verteilte sie auf der Straße. »Die haben mich angeschaut, als wäre ich verrückt. Irgendwann habe ich aufgehört, weil ich das Gefühl hatte, dass sie sowieso alles weggeworfen haben«, erzählt Brad.

In den Vereinigten Staaten erwartete man von ihm, Unterschiede zwischen sich und anderen wahrzunehmen, die er in Kanada ignorieren durfte. Als Kind war er einer der wenigen Asiaten in einem weißen Vorort von Toronto gewesen. Seine japanischen Großeltern waren während des Zweiten Weltkriegs in einem Gefangenenlager im Westen Kanadas interniert gewesen. Brad erwähnte dies nie und sprach mit seinen Freunden nie über das Thema »Rasse«, und diese sahen ihn als Menschen mit mehr oder weniger derselben Herkunft. Erst in New York wurde seine Herkunft zum Thema. Da die Royal Bank of Canada meinte, in den Vereinigten Staaten das Thema »Vielfalt« auf die Tagesordnung setzen zu müssen, wurden Brad und einige seiner »nicht weißen« Kollegen zu einer Gesprächsrunde eingeladen. Reihum sollten die Mitarbeiter ihre Erfahrung als Angehörige einer Minderheit bei der RBC schildern. Als Brad an die Reihe kam, sagte er: »Um ehrlich zu sein, habe ich jetzt, in diesem Moment, zum ersten Mal das Gefühl, einer Minderheit anzugehören. Wenn Sie etwas für die Vielfalt tun wollen, dann sollten Sie Leuten nicht das Gefühl geben, dass sie einer Minderheit angehören.« Damit stand er auf und ging. Die Gruppe setzte ihre Treffen ohne ihn fort.

Dieses Erlebnis sagt genauso viel über ihn aus wie über seine neue Heimat. Als Kind hatte er sich instinktiv gegen alles gewehrt, was ihn von seiner Gruppe abgehoben hätte. Als er sieben Jahre alt war, eröffnete ihm seine Mutter, er sei als hochbegabt eingestuft worden und habe die Möglichkeit, auf eine besondere Schule zu gehen. Er zog es jedoch vor, bei seinen Freunden zu bleiben und eine ganz normale Schule zu besuchen. Sein Sportlehrer erklärte ihm, er könne ein Spitzenläufer werden, weil er die 40 Yards in 4,5 Sekunden lief, doch er antwortete, er spiele lieber Mannschaftssport, und blieb bei Eishockey und American Football. Nachdem er die Schule als Klassenbester abgeschlossen hatte, hätte er ein Stipendium für die besten Universitäten der Welt bekommen können. Er war nicht nur Jahrgangsbester, sondern nebenbei ein ausgezeichneter Footballspieler und begabter Pianist. Stattdessen studierte er lieber mit seiner Freundin und seinen Teamkollegen an der Wilfried Laurier University in der Nähe von Toronto. Nachdem er sein Wirtschaftsstudium ebenfalls als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte, wurde er Aktienhändler bei der Royal Bank of Canada – nicht, weil er sich sonderlich für Aktien interessierte, sondern weil ihm nichts Besseres einfiel. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, was er einmal werden wollte oder dass er in einer vollkommen anderen Position landen könnte als die Freunde seiner Kindheit. Wenn es ihm in der Wertpapierabteilung gefiel, dann nicht nur, weil er hier seine analytischen Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte, sondern auch, weil sie ihn ein bisschen an eine Umkleidekabine erinnerte. Es war eine neue Gruppe, der er sich problemlos zugehörig fühlen konnte.

Von der Börsenabteilung der RBC in One Liberty Plaza hatte man einen guten Ausblick auf den Abgrund, auf dem einst die Zwillingstürme des World Trade Center gestanden hatten. Als Brad in New York ankam, ließ die Bank noch Untersuchungen durchführen, um zu ermitteln, ob die Atemluft der Mitarbeiter belastet war. Irgendwann vergaßen sie, was gegenüber passiert war, und das Loch im Boden wurde zu einem Teil der Landschaft, die man sah, ohne sie bewusst wahrzunehmen.

Während seines ersten Jahres an der Wall Street handelte Brad mit den Aktien amerikanischer Technologie- und Energieunternehmen. Er hatte ein paar abseitige Ideen zur Schaffung eines »perfekten Marktes«, wie er es nannte, und diese funktionierten so gut, dass ihm seine Vorgesetzten schon bald die Leitung über die aus gut zwanzig Händlern bestehende Wertpapierabteilung übertrugen. Die Abteilung funktionierte nach einem Prinzip, das die Mitarbeiter als »Keine Arschlöcher«-Regel bezeichneten: Wenn ein Bewerber zur Tür hereinkam und nach einem typischen Wall-Street-Arschloch klang, dann bekam er keine Anstellung, egal, wie viel Geld er für die Bank verdienen wollte. Die Kultur wurde als »RBC-nett« beschrieben. In Brads Ohren klang diese Bezeichnung zwar peinlich kanadisch, aber er selbst war auch RBC-nett. Seiner Ansicht nach hatte Personalführung vor allem damit zu tun, die Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass sie gefördert wurden. Und die einzige Möglichkeit, die Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass sie gefördert wurden, bestand darin, sie tatsächlich zu fördern. Für ihn lag das auf der Hand.

Wenn es einen Widerspruch zwischen Brad Katsuyamas Überzeugungen und seiner Tätigkeit gab, dann bemerkte er ihn nicht. Er nahm an, er könne an der Wall Street arbeiten, ohne dass sich dies auch nur im Geringsten auf seine Gewohnheiten, Vorlieben, Ansichten und Persönlichkeit auswirken würde. Und während der ersten Jahre an der Wall Street stimmte das auch. Er hatte Erfolg, weil er sich selbst treu blieb. »Seine Rolle bei der RBC in New York war klar«, sagt ein früherer Kollege. »Brad war der Goldjunge. Wir haben alle gedacht, dass er irgendwann mal die Bank leitet.« Sein Leben lang hatte Brad Katsuyama dem System vertraut, und das System hatte im Gegenzug ihm vertraut. Kein Wunder, dass er nicht auf das vorbereitet war, was das System mit ihm anstellen sollte.

*

Die Schwierigkeiten begannen im Jahr 2006, nachdem die Royal Bank of Canada für 100 Millionen Dollar eine Maklerfirma namens Carlin Financial aufgekauft hatte, die auf den elektronischen Börsenhandel spezialisiert war. Brad schien es überhastet, ein Unternehmen zu kaufen, ohne es zu kennen und ohne allzu viel vom elektronischen Börsenhandel zu verstehen. Seiner Ansicht nach hatten seine Vorgesetzten zu lange mit typisch kanadischer Bedächtigkeit auf die gewaltigen Umwälzungen auf den Finanzmärkten reagiert, doch als sie dann endlich tätig wurden, wirkte ihre Entscheidung wie eine Panikreaktion. Wie ein ehemaliger RBC-Direktor sagte: »Die Bank wird von diesen kanadischen Jungs von Kanada aus geleitet. Aber die haben keine Ahnung von der Wall Street.«

Nach dem Kauf von Carlin machten sie einen Crashkurs mit. Plötzlich arbeitete Brad neben amerikanischen Händlern, die er nicht eingestellt hätte, wenn er sich an seine Regeln gehalten hätte. Einen Tag nach dem Zusammenschluss bekam er einen besorgten Anruf von einer Mitarbeiterin, die in den Hörer flüsterte: »Hier ist so ein Typ in Hosenträgern, der mit einem Baseballschläger durchs Büro marschiert und damit um sich schlägt.« Der Typ war Jeremy Frommer, Gründer und CEO von Carlin, und alles andere als RBC-nett. In einer seiner Lieblingsposen legte er die Füße auf den Tisch und schwang den Baseballschläger über dem Kopf, während eine arme Seele von Schuhputzer seine Schuhe wienerte. Genauso