Flieg, so hoch du kannst - Barry Jonsberg - E-Book

Flieg, so hoch du kannst E-Book

Barry Jonsberg

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Beschreibung

Und dann kam Cassie …

Als ob Holly nicht schon genug Probleme hätte … Jetzt zieht auch noch Tante Fern mit ihrer Tochter Cassie bei ihnen ein. Cassie leidet an Zerebralparese, sie kann nicht sprechen und sitzt im Rollstuhl. Holly ist genervt. Doch nach und nach entdeckt Holly, dass hinter Cassies Behinderung ein wunderbarer, kluger und einfühlsamer Mensch steckt, der sie als einziger richtig zu verstehen scheint. Der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft.

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Seitenzahl: 184

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DER AUTOR

Foto: © Jen Dainer

Barry Jonsberg lebt in Australien, genauer in Darwin im Northern Territory. Flieg, so hoch du kannst ist sein fünftes Buch für junge Erwachsene.

Bevor Barry Jonsberg das Schreiben zu seinem Hauptberuf machte, unterrichtete er Englisch an der Highschool. Eine seiner Schülerinnen war Cece Adams. Cece, eine australische Ureinwohnerin, studierte Kunst an der Charles Darwin Universität. Sie schreibt auch Songs – eine von Moondog, einem einheimischen Künstler, aufgenommene CD ist bereits erschienen.

Aber am meisten hat Cece in ihrer Rolle als Erzieherin erreicht.

Cece hat Zerebralparese und ist Quadriplegikerin. Wer sie schon mal getroffen hat, versteht, dass an den Rollstuhl gebunden und nicht in der Lage zu sein, auf die herkömmliche Art und Weise zu kommunizieren, kein Hinderungsgrund für persönliche Weiterentwicklung ist. Am allerwichtigsten ist jedoch das, was sie Kindern und Erwachsenen gleichermaßen beigebracht hat: Dass nämlich der wahre Wert eines Menschen im Innern zu finden ist, und dass es unklug ist, jemanden allein nach der äußeren Erscheinung zu beurteilen.

Barry Jonsberg und Cece hoffen, dass Flieg, so hoch du kannst ein klein wenig dazu beiträgt, diese Botschaft weiterzutragen.

Von dem Autor ist bereits bei cbt erschienen:

Das Blubbern von Glück (16286)

Barry Jonsberg

Flieg, so hoch

du kannst

Aus dem Englischen

von Ursula Höfker

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe April 2015

© Barry Jonsberg, 2008

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Cassie« bei Allen & Unwin, Australien.

© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by

cbt Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Ursula Höfker

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock/ilolab

jb · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-14000-7V002

www.cbt-buecher.de

Für Cece Adams

1

HOLLY

Ich heiße Holly Holley und so sieht meine morgendliche Routine aus:

6:30 Uhr: Tasten nach der Schlummertaste am Wecker; meine Mutter verwünschen, bevor ich wieder ins Koma falle.

6:40 Uhr: Tasten nach der Schlummertaste am Wecker.

6:50 Uhr: Tasten …

7:00 Uhr: Mutter brüllt mir ins Ohr. Ich verwünsche sie (insgeheim), setze mich auf die Bettkante, warte, bis mein Hirn den Betrieb aufnimmt. Stolpere ins Badezimmer, stelle mich auf die Waage, bin deprimiert.

7:05 Uhr: Ich dusche (nach einer Dusche wiegt man mehr wegen der Wassertropfen im Haar), stelle mich vor den Spiegel und suche nach Anzeichen für eine Verwandlung im Stil von hässliches Entlein wird zu Schwan (in den Zeitschriften steht, dass sie oft mit fünfzehn eintritt). Bin noch deprimierter, weil Sommersprossen immer noch wahllos verteilt, Stupsnase immer noch unverändert, kleine Warze am Rand von Augenlid immer noch hexenhaft, stämmige Beine immer noch stämmig sind. Verwünsche Mutter. Denke an Demi Larson, warzenlos, sommersprossenlos, stupsnasenlos, dafür mit tadellosen Beinen bis unter die Achseln. Versuche sie zu hassen, kann aber nicht. Verwünsche Mutter stattdessen.

7:25 Uhr: Wieder in meinem Zimmer. Zerre die Schuluniform aus dem Schrank, ziehe sie über den Kopf an. Betrachte mich im Schrankspiegel. Pygmäe in Sack guckt zurück. Versuche, mir in Sack gekleidete Pygmäe am Arm von Raphael McDonald vorzustellen. Geht nicht. Hole tief Luft, verwünsche Mutter.

Wer würde jemals auf die Idee kommen, seine Tochter Holly zu nennen, wenn der Nachname Holley ist? Wer würde es fünfzehn Jahre später immer noch lustig finden? Wer könnte so grausam sein und ihr nicht mal einen zweiten Vornamen geben – etwas wie Demi zum Ausgleich?

Auf dem Weg nach unten verwünsche ich meine Mutter und bete, dass sie kein warmes Frühstück für mich vorbereitet hat.

HOLLY

»Bitte tu’s nicht, Mum. Bitte.«

Holly blickte stur auf die Windschutzscheibe. Sie wusste, dass ihre Chancen besser stünden, wenn sie ihre Mutter anschauen würde, aber sie brachte es nicht über sich. Irgendwie erschien es ihr sicherer, nicht hinüberzuschauen.

»Du hast keinen Sinn für Humor, Küken«, erwiderte ihre Mum, wechselte auf die äußere Spur und hätte fast einen alten Herrn auf seinem Fahrrad zu Fall gebracht. »Das ist dein Problem.«

Nein, dachte Holly. Das ist NICHT mein Problem. Nicht direkt. Wie kannst du dir deinen Sinn für Humor bewahren, wenn deine Mutter dich in der Öffentlichkeit ständig blamiert? Wie kannst du lachen, wenn dein Magen gegen jedes ihrer Frühstücke rebelliert? Wie kannst du mit jemandem scherzen, der dich »Küken« nennt? Wenn ich keinen Sinn für Humor habe, dachte Holly, ist das die Schuld des EIGENTLICHEN Problems, das mit einer blauen Strähne im Haar, diversen Body-Piercings und einem sichtbaren Tattoo neben mir sitzt.

»Tu’s einfach nicht.«

»Warum nicht?«

»Das weißt du genau. Es ist peinlich.«

»Es ist dir peinlich, wenn deine Mutter dir sagt, dass sie dich liebt? Wie traurig ist das denn?«

»Du brüllst es an der Bushaltestelle aus dem Fenster, nachdem du mich dort abgesetzt hast, Mum. Die ganzen Typen von der Schule hören dich.« Raph McDonald hört dich, dachte sie. »Du musst mich echt hassen, dass du mich so in Verlegenheit bringst.«

»Das ist doch Quatsch.« Ein Hupkonzert ertönte, als ihre Mum erneut die Spur wechselte. »Liebe sollte dir nie peinlich sein. Davon gibt es nicht genug auf der Welt. Aber …«, sie schaute in den Rückspiegel, blinkte und hielt an der Bordsteinkante, »niemand soll mir nachsagen können, ich wäre unsensibel gegenüber den Gefühlen meiner Tochter. Auch wenn es mich schmerzt, werde ich dir nicht sagen, dass ich dich liebe, solange du an der Bushaltestelle stehst.«

»Versprochen?«

»Großes Ehrenwort.«

Holly öffnete die Wagentür. Ihre Mutter beugte sich zu ihr hinüber und hielt ihr die Wange hin. Holly blickte sich um. Niemand schien sie zu beobachten. Sie gab ihrer Mutter einen schnellen Kuss, nahm ihre Schultasche und stieg aus. Mrs Holley kurbelte das Fenster herunter.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie.

Holly senkte den Kopf, damit man ihr Lächeln nicht sah. Ihre Mum legte den Gang ein und schnitt beim Losfahren einen Motorradfahrer, der gefährlich ins Schlingern geriet.

»Hey, Holly Holley, du bist eine Wucht!«, brüllte ihre Mum, als sie an der Schlange bei der Haltestelle entlangfuhr und mit einem Arm aus dem Fahrerfenster winkte.

CASSIE

Sich durch Luft zu bewegen, ist wie durch warmes, zähes Wasser zu schwimmen.

Schweiß perlt über meinen Hals. Die Sonne schmiedet Messer aus Licht, die mit scharfer Schneide von jeder Oberfläche aufblitzen. Mum hebt mich auf den Beifahrersitz und schnallt mich an. Dad steht an der Tür, und ich versuche, ihn im Blick zu behalten. Doch mein Kopf bewegt sich und Dad verschwindet immer wieder. Die Klimaanlage nimmt die Hitze weg. Schweiß kräuselt sich, zieht sich auf meiner Haut zusammen. Und die Welt zieht vorbei. Dad ist ein letztes Bild an der Tür, die Hand erhoben. Dann ist er endgültig verschwunden. Geräusche blubbern in meiner Kehle.

»Es ist gut, Liebes«, sagt Mum. Ihre Augen sind feucht, und ich weiß, dass sie lügt.

Wir sind auf dem Weg nach irgendwo und meine Worte gehorchen mir nicht. Als ich aufwache, wischt mir meine Mum mit Papiertaschentüchern das Kinn ab. Mein Kopf ruckt hin und her.

»Zeit, etwas zu essen, Cassie«, sagt sie.

Sie setzt mich in meinen Stuhl. Wir sind an einer Tankstelle, aber ringsherum ist nichts. Ein Baum kratzt den Himmel. Bilder flackern durch meinen Kopf. Ich wähle das von Dad mit erhobener Hand und lasse es vor meinen Augen stehen.

Wir bewegen uns auf etwas zu, aber das ist es nicht.

HOLLY

Raph McDonald ging über den Schulhof, als gehörte er ihm. Er bewegte sich mit der lässigen Eleganz eines Sportlers, locker von oben bis unten, voller potentieller explosiver Energie. Von der Sonne ausgebleichtes Haar reichte bis knapp auf seine Schultern. Olivefarbene Haut und braune, lächelnde Augen. Umgeben von einer fast sichtbaren Aura unerschütterlichen Selbstbewusstseins, schlenderte er dahin, sich seiner eigenen Perfektion bewusst, und der Tatsache, dass andere ihn genauso wahrnahmen. Mädchen schmolzen dahin, als er vorbeiging. Knie wackelten, Schultern strafften sich, Augen folgten ihm und die Luft vibrierte von gemeinschaftlich ausgestoßenen kleinen Seufzern.

Holly Holley saß auf einer Bank am Rand des Basketballfeldes, stimmte in den Seufzerchor ein und drückte ihr Erdnussbutter-Sandwich an die Lippen.

»Er sieht sooo wahnsinnig gut aus«, schwärmte sie. Allerdings klangen ihre Worte durch Vollkornbrot mit niedrigem Glukose-Gehalt ein wenig genuschelt, weshalb sie etwas von dem beabsichtigten verträumten Tonfall einbüßten.

»Er besitzt die Intelligenz einer Amöbe«, bemerkte Amy. Ihr Ton konnte unter gar keinen Umständen als verträumt beschrieben werden.

»Intelligenz ist nicht alles.«

»Aber gutes Aussehen?«

Holly hasste solche Unterhaltungen, da sie dabei fast immer den Kürzeren zog. Amy hatte die ärgerliche Angewohnheit, weder wacklige Knie zu bekommen noch dahinzuschmelzen oder zu seufzen, wenn Raph vorbeiging. Normalerweise schnaubte sie sogar.

»Nein, natürlich nicht. Aber wenn ich nur auf Intelligenz abfahren würde, wäre ich total in Mr Tillyard verknallt.« Mr Tillyard unterrichtete Mathe. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung darüber, dass sein Gehirn die Größe einer Melone hatte. Aufgrund der Tatsache, dass er dieses riesige Organ mit sich herumschleppen musste, war sein Kopf leider völlig verformt. Kahl und knubbelig wie er war, brachte er kleine Kinder dazu, sich weinend hinter ihren Müttern zu verstecken. Beide Mädchen schüttelten sich.

»Ich behaupte nicht, dass das Aussehen keine Rolle spielt«, meinte Amy nach einer längeren Pause. »Aber Raph McDonald kennt nur ein Gesprächsthema. Raph McDonald.«

»Es ist das einzige Thema, das mich interessiert«, erwiderte Holly.

»Dann bist du ein bemitleidenswerter Loser.«

»Wie wahr, wie wahr. Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass ein Naturwissenschaftsfreak wie du besonders qualifiziert ist, Ratschläge in Sachen Liebe zu erteilen. Quantentheorie: Ja. Herzensangelegenheiten: Eindeutig nein.«

»Deine Fixierung auf Raph hat nichts mit dem Herzen zu tun«, entgegnete Amy.

Holly aß den Rest ihres Brotes und kramte dann in ihrer Tasche nach einem Apfel. Amy beobachtete Raph, der sich hüftschwingend entfernte, und schnaubte.

»Warum beschaffst du dir kein lebensgroßes Foto von ihm und hängst es in deinem Zimmer auf?«, fragte sie. »Dann könntest du ihn anschmachten, ohne tatsächlich mit ihm reden zu müssen. Wenn du mich fragst, ist das die perfekte Lösung.«

»Ich hasse dich, Amy. Das solltest du eigentlich wissen.«

»Du hasst mich, weil ich zwar Hirn, aber kein tolles Äußeres aufzuweisen habe.«

»Ich habe weder noch.«

»Wenn du auf diesen minderbemittelten McDonald abfährst, streite ich mich mit dir nicht über Intelligenz.«

Holly biss in ihren Apfel und blickte sich auf dem Schulhof um. Ihre Augen weiteten sich.

»Oh mein Gott. Er kommt zurück.«

Amy warf in schierem Entsetzen die Arme hoch. »Was sollen wir bloß tun?«

Holly seufzte.

»Er sieht sooo wahnsinnig gut aus«, hauchte sie.

Amy schnaubte.

»Er hat ungefähr die Hirnmasse eines Backsteins.«

Sie saßen schweigend da, während er vorbeischlenderte.

»So, und woher bekomme ich jetzt ein lebensgroßes Foto von ihm? Was schlägst du vor?«, fragte Holly.

FERN

Das Essen in der Raststätte schmeckte sicher entsetzlich, aber sie würden sich damit begnügen müssen.

Wenn man in einem Umkreis von dreihundert Kilometern von rotem Sand, struppigem Buschwerk und einem unmöglichen Himmel umgeben ist, kann man nun mal nicht wählerisch sein, dachte Fern Marshall.

Sie würden hier auch die Nacht verbringen müssen.

Sie rollte Cassie in eine Ecke des Restaurants und stellte die Bremse am Rollstuhl fest. Ohne bewusst darüber nachzudenken, überprüfte sie die unmittelbare Umgebung nach Dingen, mit denen Cassie kollidieren könnte.

»Besonders vielversprechend sieht es nicht aus, Cass«, meinte sie. »Wahrscheinlich Pastete und Pommes, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, was?«

Cassie zappelte in ihrem Stuhl herum und lächelte. Sie gab einen hohen, klagenden Ton von sich. Ihr linker Arm schwang zur Seite, die Finger verkrampft und knotig. Ihr Kopf ruckte hin und her. Das Heulen wurde lauter.

»Ich denk dran, Liebes«, sagte Fern. »Vollmilch. Das dürfte wahrscheinlich das Nahrhafteste sein, das du heute bekommst.« Sie streichelte Cassies Arm, hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und ging zum Tresen. Fern betrachtete die Auswahl auf den Tabletts in der Glasvitrine. Vertrauenerweckend erschien ihr nichts von alldem. Etwas sah aus, als könnte es sich möglicherweise um Lasagne handeln, doch die trockenen, aufgebogenen Ränder ließen darauf schließen, dass es schon Stunden hier stand. Vielleicht auch Tage. Da war es sicherer, sich für etwas Abgepacktes zu entscheiden.

»Was darf’s sein?«, fragte die Frau hinter dem Tresen und wischte sich die Hände an einem schmutzigen Geschirrtuch ab.

»Zwei Wurstpasteten und zwei Portionen Pommes, bitte«, bestellte Fern. »Dazu einen Cappuccino und ein Glas Milch. Vollmilch. Das wär’s dann, danke.«

Während sie auf ihr Essen wartete, blickte sie sich im Restaurant um. Sie konnte sich vorstellen, dass viele Fernfahrer gern hier anhielten. Aber wahrscheinlich hielt jeder, der durch diese einsame Gegend in Australiens roter Mitte fuhr, gern hier an. Im Moment war nur noch ein weiterer Tisch belegt. Eine vierköpfige Familie. Eine Frau, ihr Mann, der sich ständig den Schweiß vom Gesicht wischte, und zwei Kinder von ungefähr zehn oder elf. Touristen wahrscheinlich. Die Frau starrte Cassie an.

Fern trug das Essen zu ihrem Tisch. Die Wurstpasteten waren in der Mikrowelle aufgewärmt worden, weshalb der Blätterteig entsprechend matschig war. Selbst die Wurstfüllung sah blass und unappetitlich aus. Seufzend schnitt sie eine Pastete in mundgerechte Stücke. Dem Himmel sei Dank für Tomatensoße.

»Sag’s nicht weiter, Cass«, raunte sie, »aber ich fürchte, hier hat man die Hinterlassenschaften eines Hundes in Blätterteig gewickelt.«

Cassie brüllte vor Lachen. Fern runzelte die Stirn.

»Du solltest es doch nicht weitersagen. Jetzt hast du das Geheimnis verraten. Wir müssen die Beweisstücke loswerden. Mund auf.«

Fern schob Cassie einen Bissen Pastete in den Mund.

»Sag Bescheid, wenn es auch nach Hundekacke schmeckt.«

Cassie musste lachen, und so fiel, was sie im Mund hatte, in ihren Schoß. Fern lachte ebenfalls.

»Geschieht mir recht«, sagte sie. »Ich und mein großes Mundwerk. Okay, Kleine. Meine Schuld. Nächster Versuch. Einen Löffel für dich, einen Löffel für mich.«

Bis Cassie aufgegessen hatte, war Ferns Cappuccino lauwarm und der Schaum zusammengefallen. Er schmeckte schlimmer als die Wurstpastete. Sie nippte vorsichtig daran und ließ Cassie zwischendurch immer wieder von ihrer Milch trinken.

Als eine Frau neben ihr hüstelte, blickte Fern erschrocken auf. Die gesamte Familie von dem anderen Tisch stand verlegen vor ihnen. Die beiden Kinder hatten sich halb hinter ihrem Vater versteckt. Er war blass, kahlköpfig und trug zu kurze Shorts, die er zu weit hochgezogen hatte.

»Hallo«, grüßte Fern.

»Hallo«, erwiderte die Frau. Ihr neugieriges Lächeln schien nicht ganz mittig auf ihrem Gesicht festgekleistert. »Wir wollten nur sagen … Also, ich wollte sagen … einfach nur sagen, wie leid es uns tut. Verstehen Sie?«

Ferns Lächeln erlosch.

»Nein. Ich verstehe leider nicht. Was tut Ihnen leid?«

Die Frau verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere und warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu.

»Na ja …« Ihr Blick ging zu Cassie, deren rechter Arm auf der Lehne des Rollstuhls hin und her zuckte. »Sie wissen schon …« Aus ihrem Tonfall war herauszuhören, wie unhöflich und undankbar sie es fand, dass Fern sie zu einer Erklärung zwang. »Ihre Tochter«, fügte sie dann hinzu.

»Weshalb um alles in der Welt sollte Ihnen denn meine Tochter leidtun?«, fragte Fern.

Die Frau bedauerte eindeutig, an ihren Tisch gekommen zu sein. Sie blickte zum Ausgang, als suchte sie nach einem möglichen Fluchtweg.

»Ihre Behinderung tut mir leid«, antwortete sie mit fester Stimme. »Sie tun mir leid.«

»Oh, verstehe. Allerdings besteht kein Grund, dass Ihnen die Behinderung leidtut. Eine Behinderung kann einem doch gar nicht leidtun. Behinderungen haben keine Gefühle. Und ich für mein Teil kann Ihnen versichern, dass ich Ihr Bedauern oder Ihr Mitleid nicht brauche. Aber vielleicht sollte es Ihnen leidtun, dass Sie reden, als sei Cassie gar nicht da. Das ärgert sie nämlich wirklich. Und in mir weckt es offen gestanden den Wunsch, jemanden umzubringen. Sie würden sich wahrscheinlich auch darüber ärgern, oder? Wenn jemand mit Ihrem Mann über Sie reden würde, als könnten Sie sich nicht selbst äußern, als gäbe es Sie gar nicht?«

Die Frau presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Es tut mir leid, wenn Sie es so sehen.«

»Ihnen tun eine Menge Dinge leid, wie?«, fragte Fern. »Mir tut es jedenfalls nicht leid, dass ich es so sehe.« Sie wandte sich an den hellhäutigen Mann. »Ich hoffe, Ihre Frau hat einen guten Tag.«

Empört scheuchte die Frau ihre Familie zur Tür. Durchs Fenster sah Fern, wie sie sich wütend unterhielten, als sie in ihren Geländewagen stiegen. Sie wandte sich wieder an Cassie.

»Soll ich dir was sagen, Cass? Die Hundekacke beschränkt sich in diesem Haus nicht aufs Essen.«

Cassie brüllte und kreischte vor Lachen. Ihre Arme und Beine fuchtelten unkontrolliert herum.

HOLLY

Ich heiße Holly Holley, und so sieht meine nachmittägliche Routine aus:

16:00 Uhr: Überlegen, ob ich mich ans Erledigen der Hausaufgaben machen soll.

16:01 Uhr: Überlegungen bezüglich Hausaufgaben einstellen.

16:02 Uhr: Erneutes Lesen meiner Zielsetzungs- und Aktionsplan-Dokumentation und weiteres Brainstorming dazu. Das verlangt nach einer Erklärung …

Im letzten Halbjahr habe ich einen Kurs in »Berufsfindung und Karriere« belegt. Ich bin durchgefallen. Wie kann ich auf eine erfolgreiche Karriere hoffen, wenn ich bei einem solchen Kurs durchfalle? Das ist alles andere als motivierend. Eine Sache aus dem Kurs habe ich allerdings behalten. Nur eine. Und zwar Zielsetzung und Aktionspläne.

Eigentlich sind es zwei Sachen.

In Mathe bin ich auch kein besonderes Genie.

Kurz zusammengefasst handelt es sich um eine Strategie, um herauszufinden und schriftlich festzuhalten, was man im Leben erreichen will. Du bestimmst ein Ziel und schreibst es auf. Nehmen wir zum Beispiel an, dein Ziel ist, Gehirnchirurg zu werden. Jetzt geht es darum herauszufinden, was du tun musst, um dieses Ziel zu erreichen. Das ist der Aktionsplan. Im Fall des Gehirnchirurgen bedeutet es, dich in den Lernstoff sämtlicher Schulfächer hineinzuknien, indem du ausnahmslos jeden Tag alle deine Hausaufgaben machst, einschließlich der Zusatzaufgaben, die du dir in den naturwissenschaftlichen Fächern erbittest, und dann an der Uni für die nächsten hundert Jahre dasselbe zu tun. Da ich keine Ahnung habe, was ich einmal werden will, konnte ich nicht einmal das Ziel bestimmen und den Aktionsplan folglich gleich in die Tonne klopfen. Dann kam mir jedoch der Gedanke, dass dieser Prozess, unnütz, soweit er meinen beruflichen Werdegang betraf, mit wesentlich besseren Ergebnissen auf mein Privatleben ausgeweitet werden könnte.

Was will ich also jetzt und wie kann ich es erreichen?

Ich halte meine drei Ziele fest:

Ziel Nr. 1: Eine Verabredung mit Raph McDonald

Ziel Nr. 2: Zu Demi Larsons Clique gehören

Ziel Nr. 3: Eine Schönheit werden

Und da hatte ich die Erleuchtung. Eine Glühbirne erstrahlte über meinem Kopf: Die ersten beiden Ziele kann ich nicht erreichen, bevor ich nicht das dritte erreicht habe. Wie stehen die Chancen, dass Raph McDonald ein Mädchen einlädt, das aussieht wie einer der unbedeutenderen Zwerge in Schneewittchen? Die Antwort liegt auf der Hand. Und wodurch zeichnet sich die Demi-Larson-Clique aus? Schönheit. Demi hat makellose Haut, ist schlank, immer perfekt geschminkt, hat wunderschönes Haar und einen sicheren Geschmack in Sachen Kleidung. Der Rest der Clique ist ähnlich begnadet. Wie stehen also die Chancen, dass sie die pummelige Holly Holley mit den glanzlosen Haaren, die Klamotten der Marke Heilsarmee trägt, in ihrem Kreis willkommen heißen?

Die Antwort liegt auf der Hand.

Somit schmelzen meine drei Ziele zu einem einzigen großen Ziel zusammen.

Eine Schönheit werden. Der Rest kommt dann von allein.

Das nenne ich einen Fortschritt.

Zeit für die Aktionspläne. Was muss ich tun, um eine Schönheit zu werden? Mir wird klar, dass Schönheit über drei parallel verlaufende Wege zu erreichen ist: Figur, schmückendes Beiwerk (Kleidung und Make-up) sowie Pflege (Frisur, Fingernägel, Augenbrauen). Wenn wir uns die letzten beiden zuerst vornehmen, sind korrektes schmückendes Beiwerk und eine perfekte Pflege leicht zu erreichen. Sie erfordern lediglich Geld und Stil.

Leider besitze ich weder das eine noch das andere. Aber ich kann mir Demi zum Vorbild nehmen.

Deshalb Aktionsplan 1: Finde heraus, zu welchem Friseur Demi geht, wo sie ihre Klamotten kauft und welches Make-up sie bevorzugt. Ich kann mir vorstellen, dass es relativ einfach ist, Demi zu einem Gespräch über sich selbst zu animieren. Ausgezeichnet. Die Stilfrage wäre somit geklärt!

Das nächste Problem – Geld und wie man dazu kommt. Diebstahl ist eine Option, allerdings nicht die einfachste.

Deshalb Aktionsplan 2: Such dir einen Job. Ich weiß, dass ich sonntags im Kino arbeiten könnte – ich lebe praktisch dort. Ich kann Popcorn verkaufen, Kartenabschnitte abreißen und »Saal drei, viel Spaß« sagen. Es geht schließlich nicht um Notfallchirurgie, und der Manager hat verlauten lassen, dass sie noch dringend eine Aushilfe bräuchten. Ich werde ihn heute noch anrufen.

Bleibt noch Aktionsplan 3: Figur verändern.

Jetzt wird’s kompliziert.

Wenden wir uns zunächst dem heiklen Thema Pummeligkeit zu. Die Lösung dieses Problems sollte noch relativ einfach sein. Weniger essen. Mehr Sport. Und für mich sollte sie angesichts der kulinarischen Gewohnheiten meiner Mutter besonders einfach sein. Meine Mutter ist ein Hippie. Okay, sie kleidet sich nicht immer so. Und sie nimmt keine Drogen und hört sich keine peinliche Rockmusik von Sängern an, die ihr Verfallsdatum längst überschritten haben. Aber sie arbeitet in einem Bioladen. Einem dieser Geschäfte, wo man vierhundert verschiedene biologisch angebaute Linsenarten bekommt. Und sie bringt Zeug aus dem Laden heim, das niemand kaufen will und das schon langsam hinübergeht. Was bedeutet, dass wir ständig bizarre Gerichte aus gesunden, aber ungenießbaren Zutaten essen. Das Kochen nach Rezept lehnt Mum ab. Sie erfindet Gerichte während der Zubereitung. Ich erinnere mich, dass sie einmal eine undefinierbare pampige Kreation auf den Tisch brachte. Ich fragte: »Was ist das?«, und sie antwortete: »Armer Ritter.« Darauf ich: »Ich dachte, du bist Vegetarierin.« Ich war ziemlich stolz darauf.

Nur so nebenbei: Mein Dad starb, als ich zwei Jahre alt war. Manchmal, nur manchmal, wenn ich in eine Schüssel mit Mums Kochergebnissen schaue, frage ich mich, ob er einfach seinen Lebenswillen verloren hat …

Aber ich bemühe mich um fantasievolle Wege, Mums Essen nicht essen zu müssen, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Wenn wir einen Hund hätten, wäre es einfacher. Einen mit vegetarischem Einschlag oder ohne Geschmacksnerven. Vorzugsweise beides. Aber Mum will von einem Haustier nichts wissen.

Damit wäre die Pummeligkeit also aus der Welt, richtig?

Falsch.