Fliegenragwurz - Stefan Eikermann - E-Book

Fliegenragwurz E-Book

Stefan Eikermann

4,9

Beschreibung

Vom Gedeihen des Fliegenragwurz unter seltsamen Bedingungen eines in die Jahre gekommenen Experiments. Sozialismus ist die überlegene der Gesellschaftsordnungen, nur die ersten hundert Jahre sind Scheiße, bringt es einer der Protagonisten unmissverständlich auf den Punkt. Ganz alltäglicher Irrsinn durchzieht die Beschreibung einer Zeit des Stillstandes und Aufbruchs wie ein roter Faden. Der Roman erzählt vom schier endlosen Härten des Stahls, Punk, Ruinen, Laubenpieperidyll und Langeweile, schildert Ausbruch und Scheitern, Siege und darin verborgene Niederlagen. Ob Generaldirektor, Schädlingsbekämpfer oder Jungpionier, jeder trägt sein Scherflein zum Gelingen von etwas bei, dessen Scheitern schon im Mangel an Kapital bei Marx zu liegen scheint. Das Buch bietet unerwartete Ansichten eines dahinsiechenden Landes. LESEPROBE: Seit ihrer Kündigung durch den VEB Großküchen und Bevölkerungsversorgung steht Anne Tilbert nicht mehr in einem geregelten Beschäftigungsverhältnis, sondern arbeitet stundenweise im Kombinat Dienstleistungen „Aktivist.“ Als sie sich im vergangenen Winter über die glasigen, weil auf der Verladerampe bei Minustemperaturen erfrorenen Kartoffeln bei der Leitung beschwerte, sah diese sich genötigt, das Beschäftigungsverhältnis zu lösen, und auf Anweisung übergeordneter Stellen die Kaderakte einzubehalten. Trotz mehrmaliger Vorsprache beim Rat des Bezirks wurde ihr keine neue Stelle zugewiesen und die Tilberts vermuteten schon, ihre Ausreise könne bevorstehen. Doch die Wintertage vergingen, es wurden Wochen und nichts geschah. In verschiedensten Betrieben, auch so kleinen privaten, versuchte sie Arbeit zu bekommen und war überall umworben, bis das Gespräch auf die Kaderakte kam. Später hat sie von sich aus andersherum angefangen und nur noch gefragt, ob sie jemanden mit Ausreiseantrag und ohne Akte gebrauchen könnten. Einzig dem Dienstleistungskombinat war der Mangel an beschriebenem Papier egal, statt einer Festanstellung bot man ihr im Bereich Gebäudereinigung Objektverträge. Der Kaderleiter hier, ein kleines zerbrechliches Männlein undefinierten Alters, blickte nicht aus seinen Unterlagen auf, als er Anne Tilbert die Vertragsbedingungen hersagte und schloss auch gleich noch an, dass die Flutaktion bei ihnen groß sei, kaum einer bleibe länger als ein halbes Jahr und da sei ein Ausreiseantrag ja schon fast eine stabile Größe, und das sprach er mit einem kaum deutbaren Lächeln um die schmalen Lippen. Frau Tilbert verdient mehr als ihr Mann.

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Impressum

Stefan Eikermann

Fliegenragwurz

ISBN 978-3-95655-413-1 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-412-4 (Buch)

Titelbild: Katrin Dittrich

© 2015 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Teil

Die Szenerie wirkt beschaulich. Kniehoch stehen von Sommerdürre gelbbraune Gräser und füllen leere Flächen, an denen keine Büsche angepflanzt oder Gestrüpp allein sich Lebensraum erkämpft hat. Pappeln ragen himmelan, kratzen an Betonwänden. Im Sanddorn spielen Kinder, einige. Genaues verdecken Blätter und Gezweig und das Transformatorenhäuschen zur Rechten. Einer der Jungen sitzt in der Spitze der Eberesche und beschießt seine Verfolger mit den unreifen Früchten. Mit vereinten Kräften bringen sie das kümmerliche Gewächs derart aus der Ruhe, dass der Beschuss nachlässt. Der oben verkrallt sich, kommt auch nicht herunter als sie mit grasgrünen Aprikosen nach ihm werfen. Irgendwo von hoch oben, aus dem achten Stock vielleicht, ruft eine erboste Stimme: „Ich komm gleich runter, lasst die Aprikosen, jedes Jahr der gleiche Mist!“, und sehr schnell ist Frieden mit einem Mal. Hastig verschwinden die Kinder, ein paar Mädchen dabei, hinter Häuserecken, drüben im Hausaufgang. Auch der Posten dort in der Vogelbeere ist geräumt. Zurück bleibt staubiger Sand zwischen Büschen und das lädierte Aprikosengewächs, nicht stärker als ein Männerarm.

Der Rufer erweist sich als Unbekannt und heißt ab jetzt der Olle aus dem Achten. Die Kinder finden sich wieder, hören kann man sie, auf die zwei aus dem Hausaufgang warten sie noch. Der ist ungeschützt, und der Olle steht in Pantinen vor dem Müllschlucker, redet mit einer Frau mit Einkaufsnetz und weist immer wieder auf den Baum und in unbestimmte Richtungen. Die Sonne hat ihren höchsten Punkt überschritten und phlegmatisch liegt der Nachmittag über der Stadt. Aus einem Kellerfenster, dem Schulgebäude zugewandt, klettern jetzt die Vermissten, bemerken die Zeichen nicht, einen verstohlenen Ruf und Bewegungen der Arme und hören ein Kommando, keinen Widerspruch duldend: „Kommt mal her ihr beiden!“ Die Anderen beobachten aus ihren Verstecken das Geschehen, sehen die beiden kerzengleich vor Irmtraut Schulz stehen.

„Ausgerechnet die“, mault René Karbstein hinter seinem Müllkasten. Energisch fragt sie: „Klasse? Name?“ Die beiden verpfeifen keinen, das nicht, Sonnabend nach der Dritten sollen sie die Grünanlagen hinter der Schule säubern. „So´n Scheiß“, sagt da einer und gemeinsam sehen sie dem roten Lada der Direktorin hinterher. Es ist Montag und die Versammlung zu Ende und noch drei, vier Lehrer verlassen das Gebäude unter dem Zettel Milchschleuse, was immer das bedeuten mag. Also alles sehr besinnlich, still, auch austauschbar und dennoch.

Diese Ruhe will einer nur stören. Der Klassenfeind, nein nicht der gefürchtete Heiko Maginski aus der Neunten, der die Kleinen verhaut, gemeint ist hier ein anderer, auf der Versammlung erwogen wie montags immer. Dieser Klassenfeind macht es allen hier nicht leicht. Er ist überall, sagt Genossin Schulz. Im Unterricht bleibt sie konkrete Namen schuldig. Er versteckt sich gut. So gut wie René Karbstein hinterm Müllkasten vielleicht?

Das Grünanlagenreinigen in der vierten Stunde am Sonnabend führt zu weiteren Verwicklungen. Sascha Tilberts Eltern werden ihm einen Entschuldigungszettel wegen Bauchschmerzen schreiben, in den Süden zu einem Familientreffen will man und fährt schon Freitags. So bleibt Mattias Manske, mit einem Milchkübel und Zange bewaffnet, unter Irmtraut Schulz´ Augen in der Vierten. Nicht die Schmach, wie ein Depp durch die Büsche zu kriechen, wurmt ihn, zu Hause gab es Anmecker: Eine Laube haben die Manskes und warten nun auf ihren Sohn, während andere einen der vorderen Plätze im Sonnabendstau erhaschen.

Irmtraut Schulz hat Zeit und sieht ab und an aus dem Fenster nach dem Schüler Manske und nimmt sich vor, mit Tilberts Eltern ein Gespräch zu vereinbaren. In einem kleinen roten Diarium vermerkt sie es. Auch nach dem Abklingeln der letzten Stunde sitzt sie an ihrem Schreibtisch und versieht Lernkomplexbögen mit Vermerken. Ihr ist nicht entgangen, dass die 9c zehn Minuten vor Schluss aus dem Gebäude geschlichen ist. Das Zimmer zu verlassen und die Kollegin davoneilen zu sehen erspart sie sich. Seit dreiundfünfzig ist sie Lehrer, Deutsch, Staatsbürgerkunde und genauso lange in der Partei. Gesehen hat sie, wie das Land wankte und im Juli an die Tür der Parteileitung im Bezirk geklopft. Sie lehnt sich zurück bei den Gedanken an damals. Soviel ist erreicht. Dennoch: Täglich sieht sie, wie die Leistungen geschmälert werden von ewigen Nörglern, ja Schwarzsehern selbst in den eigenen Reihen. Sie hat Zeit und wird sie nutzen, hier, heute und an ihrem Platz. Sie ist es gewohnt Entscheidungen zu treffen, sie durchzusetzen, auch alleine. So gestimmt, verlässt sie um dreivierteleins die Schule.

Es ist still, nicht zu glauben, dass so viele Leute hier wohnen. Niemand ist im gleißenden Licht der Straße zu sehen, und das Schurren der Aluminiumtür über den Steinboden beim Schließen, das einzige Geräusch zwischen Tausenden Fenstern. Lautstark hallt es von der gegenüberliegenden Hauswand zurück. Mit dem Wagen fährt sie nach Hause. Ihr Mann hat Dienst an diesem Wochenende.

Die eingetretene Ruhe hält rein äußerlich betrachtet bis Sonntagabend. Äußerlich nur, denn während das gemeine Volk sich amüsiert, in privateste Nischen verkriecht, bleibt die Anspannung hinter Kasernentoren, bewaffneten Einheiten aller Art und auch bei Irmtraut Schulz. In ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Vollkomfortwohnung sitzt sie noch bis in den Abend und bereitet am Wohnzimmertisch das Parteilehrjahr für die Grundorganisation vor. Sie weiß: Der Klassenfeind schläft nie. Das macht die Sache nicht einfacher. Nur größte Wachsamkeit sichert den Erfolg. Später liest sie noch im Forum der Parteiarbeit und schläft auf dem Sofa ein.

Dem untätigen Wochenende folgt der Montag. Leben zieht ein in das Viertel, eine Stadt in der Stadt, ganz weiß strahlend in der frühen Sonne. Dem kniehohen Rasen rückt eine Maschine der Wohnungsverwaltung unter Staubentwicklung und beachtlichem Geräusch zu Leibe. Was bleibt, ist eine braungraue Fläche mit zerfetzten Müllschnipseln und geschreddertem Hundekot. Die Jungen werfen noch faustgroße Steinbrocken in das hohe Gras, bevor das Klingeln unerbittlich die Freiheit der letzten anderthalb Tage erstickt. Sascha Tilbert reicht seinen Entschuldigungszettel der Klassenlehrerin Frau Voss. Die legt ihn zu den übrigen und vermerkt E in der Anwesenheitsliste vom Sonnabend. Keiner weiß es, auch Sascha nicht: Die Familie Tilbert hat sich getroffen, einen Entschluss gefasst, man hat sich verabschiedet. Später, nicht alles lässt sich verheimlichen, sagt man: Die Tilberts haben einen Antrag gestellt.

In der Hofpause bewerfen sich Schüler aus den oberen Klassen mit der bei dieser Sommerhitze schon am Morgen sauren Milch. Herr Roloff geht dazwischen, besser: Er kommandiert Namen, und zurück bleibt nur der süßsaure Duft zerplatzter Picassoeuter.

Herr Roloff hat andere Probleme. Nach der ersten Stunde hat Karsten Bollstädt ihm erklärt, den Sonntag im Gewahrsam der Volkspolizei verbracht zu haben. Nein, nichts war vorgefallen, rein äußerlich fiel der Schüler Bollstädt aus dem Rahmen, bei der Ausweiskontrolle vor einem Kirchenrockkonzert. „Total im Arsch“ aus Westberlin und „Wartburgs für Walter“ von hier sollten spielen, doch das will Roloff nicht genauer wissen, er nimmt den Vertrauensbeweis des Jungen zur Kenntnis. „Falls da noch was kommt“, sagt der Schüler und: „Rasier dich mal“, der Lehrer, „siehst aus wie´n Bär um die Eier“ schon etwas leiser. Herr Roloff ahnt Schlimmes, auf den Jungen einwirken und solcherlei, und dabei ist der, wie man ihn sich wünscht. Noch grün hinter den Ohren und weiß doch wie´s langgeht. Meldung an die Schule, sprich Direktorin, Unterrichtung des Klassenleiters mit Auftrag, dem Schüler auf den Zahn zu fühlen, warum genau wird er nicht erfahren, nicht auf diesem Wege. Irgendwie ist er auch stolz, schon jetzt mehr als die Alte zu wissen. Die Alte, so nennt ein Teil des Lehrkörpers Irmtraut Schulz.

Zur gleichen Zeit werden die Tilberts von den Kaderleitern ihrer Betriebe zu einem Gespräch geladen. Der Ritus dieser Aussprachen in Anwesenheit des Parteisekretärs folgt festgelegten Bahnen, sowohl im VEB SGH Spritzgusshalbzeuge Betriebsteil Mechanisierung als auch in der Kinderkombinationseinrichtung Hans Beimler. Das Vertrauen der Partei sei begrenzt und in einem solchen Falle verbraucht, Änderungsverträge werden ausgereicht, Dreher steht in einem und meint das Entgraten diverser Halbzeuge, im anderen Küchenhilfskraft. Beide werden unterschrieben. Vom erschöpften Vertrauen der Tilberts ist nicht die Rede.

Keiner von den Frauen und Männern in der von fahlem Sonnenlicht gesprenkelten Werkhalle fragt, allen ist klar: Wer von da oben hierher kommt, hat sich unbeliebt gemacht. Hier reicht das für ein freundschaftliches: „Na wird schon“ vom Brigadier an den Ingenieur. Irgendwann reden alle, das kann dauern, aber Zeit haben sie ja miteinander und: „Unsere Brigadefeiern sind die schönsten im Betrieb.“ Mit der Mütze und dem Blaumann sieht der neue Kollege gar nicht mehr so fremd aus.

In der Küche der Kindereinrichtung scheint es Frau Tilbert, nicken ihr die Küchenfrauen anerkennend zu. „Siehst die Kleinen ja noch bei der Essenausgabe“, sagt eine. Anne Tilbert laufen Tränen. Als sie nach Hause geht, rufen Kinder aus dem Garten: „Tante Tilbert“, sie winkt zurück.

In der Mittagspause kommen zwei junge Männer in die Schule und verschwinden im Sekretariat. Herr Roloff denkt sich seinen Teil bei Linseneintopf mit Brot. Die Kleinen verfüttern ihre Scheiben auf dem Rückweg an Spatzen und dickfellige Tauben. Für heute hat er genug, sagt nichts. Ein ungutes Gefühl beschleicht ihn, lässt ihn nicht los, und allein die Sache mit Bollstädt ist es nicht. Diskussionen wird es morgen in der Zehnten keine geben, die Klasse kennt er, die FDJ-Sekretärin Simone Maerten geht zur Fahne, zehn Jahre, die Schüler sind auf Linie, Eltern hohe Tiere in der Partei, allein zwölf rote Punkte im Klassenbuch hinter den dreiundzwanzig Namen. Geschichte der SU bis neununddreißig ist Prüfungsvorbereitung, und die Unterrichtshilfen kann er vergessen, da wissen einige Schüler in der Achten mehr. Besser andere Prüfungsthemen wählen, Genossen. Im nächsten Jahr ist die 9c an dieser Stelle. Da geht es nicht ohne Nachfragen ab, und wie weit kann er Antworten geben? So denkt er, und in der wöchentlichen Dienstbesprechung ist Bollstädt kein Thema und von Tilbert die Rede nicht. Irmtraut Schulz erwähnt einzig die Patenschaft Roloffs für den Schüler Maginski, kein anderes Mitglied des Lehrkörpers war sonst dazu bereit, und zustimmendes Nicken geht durch die Runde.

Herr Roloff geht also zur U-Bahn und beschließt, den Unterricht nach Lehrplan anzugehen, vielleicht beruhigt sich ja die Situation, und wer weiß, was Bollstädt den Polizisten an den Kopf geworfen hat, manchmal ist der arg vornweg mit seinem Mundwerk. Bei der nächsten Elternversammlung wird er ein paar Minuten mit den Eltern reden, schließlich ist der Junge ein potenzieller Kandidat für die EOS, mit seinen Leistungen.

Das sonore Dröhnen der Bahn bringt ihn auf andere Gedanken, er hätte in der Halle noch nach Tomaten gucken sollen, ist egal, also steigt er mittendrin noch einmal aus und geht in die Markthalle, doch fehlt hier das begehrte Gemüse. Im IFA-Laden bekommt er jedoch den Kolben für die AWO im Keller. Zu Hause küsst er seine Frau in den Nacken und überredet sie, baden zu fahren. Nur den Elektrozähler soll er noch ablesen, morgen kommt einer von der Energie und da liest er unter den Zahlen EAW J.W.Stalin Treptow.

Doch kein Unterricht nach Lehrplan? Eine Dreiviertelstunde später liegen die Roloffs nackt neben der aufgebockten Zweihundertfünfziger im Gras. Fliegenragwurz blüht aus Leibeskräften, will die Kartäusernelke übertrumpfen, streckt seine einfältigen Blüten in den Himmel und betörender Duft schwebt über dem Waldboden. Es lässt sich träumen so.

An die Dienstbesprechung schließt sich die Versammlung der Grundorganisation an. Besprochen wird die Einstufung der Genossen in Schulungszirkel, die Genossin Gräser aufgrund ihrer von allen zugebilligten Befähigung zum Propagandisten gewählt. Sie ist vor einem Jahr von einem Auslandeinsatz ihres Mannes im NSW an ihren Arbeitsplatz als Unterstufenlehrer zurückgekehrt und „genießt das besondere Vertrauen der Grundorganisation“, sagt Genossin Schulz. Aufgrund des bestehenden Vertrages mit dem Volksbuchhandel zum direkten Bezug von Parteiliteratur ist der einzelne Bezug der Dokumente nicht erforderlich. Gemeint sind die Dokumente des letzten Parteitages.

Im Protokoll steht später nicht, dass Genossin Schulz die Brille abnimmt, bevor sie das ihr erteilte Wort ergreift. Es findet sich der Eintrag: „Eindringlich warnt die Genossin vor einer neuen Kampagne des Gegners, zur Schwächung unserer Kampfkraft.“ Namentlich die Eltern des Schülers Tilbert seien ihr zum Opfer gefallen und hätten gegenüber staatlichen Stellen ihre feindliche Einstellung zum Ausdruck gebracht. Alle Mittel zur Erhöhung der Wachsamkeit sind zu ergreifen, was insbesondere den Schüler Sascha Tilbert angeht.

Beschlossen wird, die Agitation in der Klasse durch einen Genossen Patenlehrer an Gruppennachmittagen zu verstärken. Die Klassenleiterin allein scheint dieser Aufgabe nicht zu genügen. Ebenfalls nicht vermerkt ist die Diskussion über das nervenraubende Fußballspiel gegen die Giebelwand des Gebäudes. Pädagogisch empfindet man es als unklug, die spielenden Kinder vom Schulgelände zu verweisen und erträgt jeden weiteren Aufprall des Karl Heinz Rummenigge gezeichneten Leders.

Als Genossin Schulz das Gebäude verlässt, grüßen arglos Mattias Manske und Sascha Tilbert: „Auf Wiedersehen Frau Schulz“, und in Erwägung gefasster Beschlüsse setzt Irmtraut Schulz ein Lächeln auf und ruft den Jungen freundlich zu: „Bis morgen, ihr zwei“.

Nach einiger Zeit vergeht den beiden die Lust zum Ballspiel und sie stromern durch die nahen Barackenruinen. Sie entdecken eine fast volle Packung Mentholzigaretten, und da sie keinen Geschmack daran finden, stecken sie die entzündeten Glimmstängel in die Löcher der Wellblechhaut ihrer Turnhalle. Um sieben muss Sascha nach Hause.

Die Stimmung ist merkwürdig gedrückt, und ins Bett soll er noch vor der Tagesschau. Im Bett überlegt er, ob jemand sie beim Kokeln gesehen haben könnte, der Tabakgeruch ihn verraten habe, doch nichts fällt ihm ein. Auch Frau Schulz war nett, hat nichts wegen Sonnabend gesagt.

Die Tilberts sitzen lange vor dem Fernseher, tuscheln leise miteinander, trinken ein, zwei Gläser Wermut, fassen sich fest bei den Händen.

Frau Roloff erzählt schon im Nachthemd von dem Buch eines Kollegen, das zum dritten Mal wegen Papierknappheit nicht erscheinen wird. Sie ist Lektorin in einem großen Verlag. Er fragt: „Hat der Autor nicht einen Antrag,“ und weiter nichts, und sie zuckt mit den Schultern im Dunkel. Das Baden hat sie ermüdet, sie schlafen bald. Doch im Traum erscheint ihm das Porträt eines Mannes auf einem Heißluftballon. Es verfolgt ihn, zieht ihn in die Höhe, dieser Luftballon, den er, der kleine Junge, plötzlich alleine hält. Er wird wach, und da sind sie wieder: die Gedanken an Morgen, den Unterricht und Bollstädt. Wie ein Sohn, denkt er jetzt, und schläft kaum noch in dieser drückenden Sommernacht. Ein Gewitter müsste es geben, kreist es in ihm, doch Träume bleiben aus.

In dieser Nacht bleibt die Wachsamkeit der Schulzens auf der Strecke. Über seine Diensteinheit hat er Karten für ein Revue-Unterhaltungsprogramm bekommen, und in der Kabaretteinlage nach Mitternacht erklärt man ihnen, wie der Klassenfeind ausfindig gemacht werde. Ganz einfach, Herr Schulz in der dritten Reihe ist es nicht, denn: Der Klassenfeind schläft nie, und Genossin Schulz boxt ihrem Mann freundschaftlich in die Seite.

In der S-Bahn reden sie über das kommende Wochenende, ihr Sohn Georg hat Urlaub und kommt drei Tage nach Hause. Herr Schulz verspricht, alles zu versuchen, frei zu bekommen. Georg ist Unteroffizier bei den Fliegern und selten bei ihnen. Schulz gähnt, morgen muss er wieder früh raus.

In einem Hochhaus leuchtet kaltes Licht. Das Büro liegt zum Innenhof eines von außen abgeschirmten Komplexes. Hier heftet der diensthabende Genosse Meinig das Telex einer Dienststelle im Süden des Landes in die seit vorheriger Woche Donnerstag existierende OPK Pusteblume. Nichts liegt gegen die alten Tilberts vor, Arbeiter, beide in einer Textilfabrik beschäftigt, zu fünfundneunzig Prozent Gestattungsproduktion allerdings. Parteilos. Schwester, Bruder, das Übliche eben. Die Befragung der Schulleiterin des einzigen Sohnes des Ehepaares hat auch zu keinen stichhaltigen Informationen geführt. In den Hefter fügt der Diensthabende die Seiten 01 bis 06 und ergänzt das Inhaltsverzeichnis der Akte.

Das ersehnte Gewitter kommt in den frühen Morgenstunden, mit taghellen Entladungen zuerst und später regnet es Strippen. Pfützen und kleinere Überschwemmungen bremsen den aufkommenden Berufsverkehr. Abgekühlt ist der Beton der Häuser und die Luft klar und frisch. Sportlehrer Dörges muss vom Zigarettenqualm blaustichige Turnhallenluft atmen. Die Herkunft bleibt im Dunkel wie auch der Täter. Kopfschüttelnd entnimmt er dem Regal notwendige Materialien für den Unterricht im Freien. In der ersten Schulstunde ist die Klassenstufe Sechs vor ihm angetreten. Die Sonne lässt die nach Größe aufgestellten Kinder blinzeln. Mattias Manske ist der Größte und meldet die Unterrichtsbereitschaft. Selbst hier rauchen schon welche, denkt Dörges, das Hüsteln in der Reihe deutend. Bei den Heimkindern fängt es immer früher an. Manchmal erwischt er welche aus der Vierten, mal den Hintern richtig ...

Er schiebt den Gedanken beiseite. Mattias wirft, springt am weitesten, läuft allen davon. Nach dem Unterricht gibt er ihm einen Zettel, ein Gespräch mit den Eltern möchte er führen. Mattias blickt skeptisch auf das Papier, und Dörges deutet einen freundlichen Klaps auf den Hinterkopf an. Manske könnte an der Sportschule besser gefördert werden, den Eltern will er diesen Vorschlag unterbreiten, er sieht das Potenzial bei dem Jungen.

In der nächsten Stunde sitzt er im Trainingsanzug im Zeichenraum, die Kollegin ist ausgefallen, längere Sache mit Kur, und Dörges schüttelt ein wenig, mehr für sich nur, den Kopf. Die letzte Kunstlehrerin war Quartalstrinkerin und hat sich in einem Anflug von Säuferwahn vom Balkon gestürzt, und er sieht den Kindern wieder beim Zeichnen zu.

Vor der Essenpause ist zur Freude der Kinder chemischer Alarm, die Art des Klingelns soll Auskunft darüber geben. Die meisten Lehrer blicken ratlos, tuscheln unter Kollegen, ein missglücktes Buttersäureexperiment im Chemieraum stellt sich heraus. Die Schulleitung hat vorsorglich die Feuerwehr alarmiert, und so gibt es auch für die zahlreichen Schichtarbeiter und Rentner im Viertel eine Abwechslung.

Gegen Eins ist von der anfänglichen Frische des Tages nichts mehr zu spüren und Frau Schulz beschließt, in der sechsten und siebenten Stunde verkürzten Unterricht durchführen zu lassen, die Kollegen sind erleichtert. Der zusätzlich gewonnenen Freiheit streben Schüler aller Klassen froh gestimmt entgegen. In den höheren Klassen verabredet man sich zum Baden im Kiessee. Die Jüngeren gehen Fußball spielen. René Karbstein und Sascha Tilbert verabreden sich zum Rauchbombenbasteln.

Die Wohnungstür ist nur eingeschnappt, als Sascha den Schlüssel dreht. Seine Mutter kommt ihm im Flur entgegen und versucht, ihren Sohn so fröhlich wie es ihre Verfassung nur erlaubt zu begrüßen. Sie ist heute in eine andere Betreuungseinrichtung versetzt worden und dort ist mittags schon Schluss. „Die Leitung hat dich raushaben wollen“, flüstert ihr Erika beim Packen zu. Sie verdient sich in der Küche etwas dazu mit ihren Zweiundsiebzig und: „Schade“, sagt sie später, „deine Hilfe hätte ich gebrauchen können“, und schält wieder allein Kartoffeln. „Ja, wirklich schade“, sagt Anne Tilbert, als sie geht.

Alles andere als froh ist auch Sascha, sieht er doch deutlich seine Pläne gefährdet. Allein das Einpacken der zum Bombenbau notwendigen Utensilien wird unmöglich sein. Frau Tilbert ist enttäuscht von der verhaltenen, ja fast abweisenden Reaktion ihres Kindes. „Der wird langsam auch ein eigener Mensch“, denkt sie und löffelt mit dem mürrischen Jüngling das mitgebrachte Vanilleeis aus den Pappbechern. Sascha greift sein Hausaufgabenheft und sagt: „René muss da noch was abschreiben“, als er schon im Fahrstuhl verschwindet und durch das schmale Glas seiner Mutter winkt. Streichhölzer hat er vorsorglich in einem unbeobachteten Moment in der Hosentasche verschwinden lassen.

Eine einzelne Wunderkerze, mit dem Umschlag des Hausaufgabenheftes umwickelt und eine Rolle Leukoplast müssen heute ausreichen. In eine Bohrung im Klettergerüst werfen sie den entzündeten Eigenbau und verstecken sich in einem Hausaufgang. Weißer Rauch quillt aus allen Öffnungen der Kletteranlage, da brüllt ein Knirps nach seiner Mutter und an einigen Fenstern zeigen sich Gesichter. Als Erwachsene das Versuchsfeld erreichen, ist der Spuk schon vorüber. René und Sascha fahren noch ein paarmal mit dem Fahrstuhl hoch und runter und gehen dann zu den andern Fußball spielen.

Sie sind spät dran und müssen am Rand warten, in eine Mannschaft gewählt zu werden, und da schießt einer aus der siebenten den Ball hoch über den doppelten Zaun hinaus. Der Aufprall klingt blechern und bevor die zwei am Rande ihre kleine Kokelei löschen können, sind die restlichen Jungen in alle Himmelsrichtungen verschwunden und ein junger Mann, finster ist der Blick, steht vor ihnen. Brille und Frisur weisen auf Organe hin, wie Saschas Vater öfter sagt, lässt es doch alles offen. „Wart ihr das?“ „Nö“, sagt René als erster und lässt die restlichen Streichhölzer hinter sich ins Gebüsch fallen. „Wer waren die anderen?“ „Kennen wir nicht, machen Hausaufgaben“, Sascha jetzt mutiger das Heft hochhaltend. Und „Na kommt mal mit“, einen Ausweis zeigt der Besitzer des Wagens. Die zwei trotten, von einem Dutzend Kinderaugen verfolgt, auch eine drohende Faust ist aus dem Augenwinkel zu sehen, hinter dem Mann her und müssen sich einen deutlichen Einschlag im Dach des dunkelblauen Lada ansehen. Ein zweiter Mann sitzt im Wagen und hält den Rummenigge-Ball auf seinem Schoß. Namen, Schule und Adressen müssen sie angeben und nur René traut sich nach dem Ball zu fragen, doch der ist jetzt Tatgegenstand, und Sascha zieht ihn lieber weg, bevor die beiden, wie angedroht, sie mitnehmen. Über Sprechfunk reden die Männer jetzt, und die Schule und Eltern sollen informiert werden. Das reicht für heute.

Mattias fragt noch wegen seines Balls, doch Sascha winkt ab: „Kannste vergessen“, und damit ist auch für Mattias Schluss. Mit hängenden Köpfen bewegen sie sich nach Hause, vergeuden Gedanken an ausweichende Beichten.

Sascha kommt unerwartet glimpflich davon, als er vom Treffer der anderen Kinder erzählt. Sein Vater muss lachen, als feststeht, welcher Wagen dem Ball zum Opfer fiel, und so kann Sascha recht bald einschlafen.

Bei den Drehern in der Werkhalle hat es heute früh durchgeregnet und sie haben bis Mittag das Wasser abgepumpt, die Norm hat man ihnen erlassen. Die Halle ist neunzehnhundertzwei erbaut. „Scheiß Kaiser“, sagt Herr Tilbert grinsend und legt den Arm um seine Frau.

Spät am Abend, die Neonbeleuchtung ist seit langem schon eingeschaltet, beantwortet Leutnant Meinig eine Anfrage auf Erfassung der Familie Tilbert. Ein operativ abgestelltes Dienstfahrzeug ist offensichtlich von deren Sohn beschädigt worden, „So schnell geht das manchmal“, denkt Meinig und schlägt den Vorgang Pusteblume auf. Er hofft jetzt auf einen ruhigen Dienst und beginnt, den Maßnahmeplan in akkurater Schönschrift zu entwerfen. Der Anlass zur Eröffnung der OPK, Durchführung und Zielstellung, so einfach. Morgen beginnt die Befragung des persönlichen Umfeldes. Gegen dreiundzwanzig Uhr verlässt Meinig das Objekt, lediglich in Bereitschaft muss er sich bis zum Morgen halten. Seine Wohnung liegt nur zwei Minuten entfernt auf der anderen Straßenseite. Vor der Haustür des Achtzehngeschossers liegen zerplatzte Apfelsinen und einen Moment zögert er darüber hinwegzusteigen, doch es ist spät, und im Fahrstuhl erst fragt er sich, woher die Früchte stammen. In der Sonderverkaufsstelle gab es seit dem Winter keine mehr, und da fällt ihm auf, dass es im Sommer nie derlei Südfrüchte gibt. Die Sache ist wohl komplizierter als gedacht. Leutnant Meinig schleicht auf Socken in die Wohnung, seine Frau nicht zu wecken. Morgen wird er sich umhören und gegebenenfalls Meldung machen, da schläft er schon fast, sein Dienst beginnt um sieben.

Für Mattias Manske wiegt der Verlust des Lederballs zu schwer, um schlafen zu können, zumal er den Eltern die Einladung zu einem persönlichen Gespräch mit Herrn Dörges nicht erklären kann. Unruhig wälzt er sich in seinem Bett und durch das geöffnete Fenster hört er auf die leiser werdenden Geräusche der Stadt. Eine Propellermaschine dröhnt noch einmal, bevor auch das regelmäßige Quietschen der Straßenbahn beim Abbiegen verstummt. Das nölende Fahrgeräusch einer S-Bahn, von im Takt schlagendenden Schienenstößen unterbrochen, ist das Letzte, was er noch wahrnimmt. Später, als Frau Manske in sein Zimmer schleicht und ihm einen Kuss auf die Stirn drückt, schläft er fest.

In dieser Nacht bleibt die Hitze bleiern zwischen den Wänden der Häuser stehen. Das Zirpen hunderter Grillen ist das einzige Geräusch, bis ein Streif sich vom Osten her hebt. Die ersten Wagentüren klappen und das Starten zweitaktgetriebener Mobile mischt sich unter regelmäßige Zischlaute der Bahnen.

Frau Tilbert ist unter den wenigen Menschen auf der Straße, ihre Schicht im neuen Betrieb beginnt um vier. In der Bahn lässt sie sich auf eine freie Holzbank sinken. Es riecht nach Erbrochenem und im nächsten Bahnhof wechselt sie den Wagen. In Gedanken träumt sie von einem anderen Leben: „Wie lange wird das noch gehen?“

Vor der Schule, außer Sichtweite herannahender Lehrer, treffen sich die Jungen der Sechsten. Die Stimmung ist gedrückt, zumal Kati Grell ganz nebenbei fragt, ob sie verhaftet worden seien. „Blöde Kuh, hat alles gesehen,“ denkt Manske. „Nee, die haben den Ball mitgenommen,“ sagt René laut. Alle lachen, nur Mattias verdreht der Gedanke die Därme.

In der ersten Stunde gibt Frau Voss eine Russischarbeit zurück, das geht noch. Zwar nur eine Drei für Mattias, aber Frau Voss ist sonst ganz in Ordnung. Einen organisatorischen Teil fügt sie jetzt an und lässt alle Schüler die Einladung zur Elternversammlung in der nächsten Woche in die Hausaufgabenhefte abschreiben. Sascha erhält einen Strich in Ordnung, er hat sein Heft vergessen. Für die erste Pause kündigt sie einen Ordnungsappell auf dem Hof an, und das ist dann doch zuviel für so ein Jungenherz.

Mattias Manske läuft grün an und Frau Voss lässt ihn von zwei Freiwilligen nach Hause bringen. Ja, einen Wohnungsschlüssel hat er, und Frau Voss will in der Pause versuchen, seine Mutter zu erreichen.

Nach dem Anspielen des Solidaritätsliedes verkündet die Genossin Schulz unter dem permanent drohenden Pfeifen der Verstärkeranlage für das gesamte Wohngebiet recht deutlich Ihre, wobei den Terminus Wir gebrauchend, Unterstützung für die neue Friedensinitiative der Sowjetunion. Worin diese besteht, erfahren die Zuhörer nicht. Eine Rückkopplung führt zu Ohrensausen bei Schülern und Lehrkörper. Im dritten Stockwerk schließt jemand recht betont ein offenes Fenster. Viel Zeit ist nicht, und auf Wiederholungen wird verzichtet.

Der Schüler Heiko Maginski muss nach vorne treten und erhält für sein Verhalten, zahlreiche Adjektive untermauern es, mit sofortiger Wirkung einen Schulverweis. Keiner ahnt: schon seit Montag steht für Heiko eine Jugendstrafe auf dem Programm, die Klauerei hat überhand genommen. Zum Schluss waren es eintausendvierhundert Zigaretten aus einem Kiosk, und heute ist sein letzter Schultag hier. Seinen weiteren Werdegang bestimmt von nun an der Jugendwerkhof.

Die Freiwilligen René und Sascha haben vorsichtshalber getrödelt und kommen erst nach dem Appell zurück. Frau Voss erreicht unter der im Klassenbuch angegebenen Telefonnummer Mattias Mutter im Betrieb. Sie will versuchen, früher Feierabend zu machen, kann nichts versprechen, „eine Magenverstimmung vielleicht“, sagt Frau Voss.

Im EAW Treptow, schon lange nach Friedrich Ebert umbenannt, arbeitet sie in der Schaltelektronik, und hier im Büro des Ingenieurs, erreicht sie der Anruf. Die Brigade Weinek sitzt um die zweite CAD/CAM Arbeitsstation des Betriebes, einen A 1700, A für Arbeitsplatzcomputer. Schaltelektronik soll hier schneller entwickelt werden, und es sieht eher nach Stehversuchen aus, denn nach Gehen. Auch der Kollege, der sich auskennt, hat einen Amiga von drüben zu Hause, weiß nicht weiter, und der Genosse General, Herr Jacob, trompetet herum: „Einhundert Computer noch in diesem Jahr in der Produktion, sind unsere Antwort im Klassenkampf.“

Carola Manske sagt: „Der Junge ist krank, ich muss gehen“, „Bleib nicht ewig, du weißt ja“, ihr Chef mit einer winkenden Handbewegung. Ja, Frau Manske weiß, es fehlen an hundert Leute im Betrieb, und vier allein in ihrer Abteilung. Sie läuft über den Flur zum Aufzug. Dort, in Blockschrift unter Schichten grauer Ölfarbe hebt sich J.W.Stalin aus dem Gewirr eines übertünchten Zitates. Oft hat Frau Manske versucht, den Ausspruch zu ergründen, in endlosen Minuten auf den von anderen Kollegen im Hause blockierten Fahrstuhl wartend, und manchmal sogar mit dem Schlüssel an den hervorstehenden Rändern der einstigen Schrift entlang gekratzt. Dennoch, ihr war der Zusammenhang stets verborgen geblieben. Heute, liegt es nun an der gleißend in den Lichthof fallenden Sonne oder warum fliegen ihr die Worte mit einem Male zu?

„Kein Gebirge setzt ihm eine Schranke,

Kein Feind ist stark genug, zu widerstehn

Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke

Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.“

„Ist das nicht Becher?“,denkt sie, für sich allein jetzt und geht hinaus in die bleierne Hitze.

Die Bahn ist gerade weg und eine Zeit wartet sie im Schatten der wegen Baufälligkeit gesperrten Überführung. In einer durch Ansagen auf dem Nachbargleis unverständlichen Lautsprecherdurchsage ist von Schienenersatzverkehr die Rede. Die wenigen Fahrgäste auf den Bahnsteigen werfen sich fragende Blicke zu, Schulterzucken und so wartet auch Frau Manske. Der nächste Zug kommt und fährt auch weiter. Der Wagen ist zu dieser Zeit leer und Frau Manske bleibt an der Tür stehen. Als die Druckluft entweicht, öffnet sie die Tür. Nach glühenden Lauben-Teerdächern riechende Bahndammhitze schlägt ihr ins Gesicht.

Eine Station, bevor sie aussteigen muss, sieht sie auf dem Bahnhofvorplatz einen LKW, von dessen Pritsche Erdbeeren verkauft werden. Mit sicherem Sprung verlässt sie den anfahrenden Zug und als sie an der Reihe ist, kauft sie zwei Körbe. Einer hätte ausgereicht, aber fast eine halbe Stunde hat sie angestanden. Die letzte Station geht sie zu Fuß. Erst spricht sie ein Mann und später eine ältere, gebeugt gehende Frau wegen der Erdbeeren an.

Mattias geht es inzwischen viel besser und er verdrückt eine ganze Kompottschale voll. Mit der flachen Hand streicht sie ihm über den Kopf. „Ist Herr Dörges heute noch in der Schule?“ „Hhm, bis zur sechsten“, antwortet Mattias.

Vor der zehnten Klasse steht Herr Roloff und ist nicht recht bei der Sache. Es kommen keine unvorhergesehenen Fragen, nein, ihm drängen sie sich auf. Selten kommt es vor, dass Herr Roloff unkonzentriert wirkt, doch wieder greift ihn das Erinnern.

Leise, nur seine Lippen bewegen sich, sacht spricht er die eingebrannten Verse: „Am Fundament der neuen Städte, das aus der Steppe brach, hörten sie, im Frost, umsungen von den Kantilenen des Sturms, Stalin, den Lenin dieser neuen Tage“, und mit einem Male steht er sehr klein vor Fräulein Klotzsche, Lehrerin für Deutsch und spricht in Worten von Hermlin.

Vor dem weit geöffneten Fenster sitzt Frau Schulz in ihrem Büro. Sie schreibt eine Beurteilung des Schülers Tilbert. In der Schule ist es still, nur die höheren Klassen sind noch im Haus und sie tritt an das Fenster. Alles liegt in friedlicher Ordnung, kein Müll, gepflegte Büsche um den Gedenkstein für den Namensgeber, hingerichtet vierundvierzig in Plötzensee. Seine Witwe hat demnächst Geburtstag, die Pioniere werden hingehen, ein Lied singen und Blumen überreichen. Die Blumen holt Irmtraut Schulz von ihrer Mutter, sie hat eine Parzelle in der Laubenkolonie am Heizkraftwerk, woher soll man sonst schöne Schnittblumen bekommen. Sie wendet sich ab und sieht im Tresor nach dem Klassenbuch der Sechsten, doch es ist nicht da, wahrscheinlich ist die Kollegin Voss beim Schreiben der Beurteilungen für das Endjahr. In ihrem Diarium macht sie den Eintrag: „Leistungen Tilbert, mit Kolln. Voss absprechen“.

In der Sonderverkaufsstelle seiner Dienststelle erkundigt sich Leutnant Meinig nach den Lieferzeiten für Apfelsinen. „Ditt sind Wintafrüchte, die sind denn erst jut“, muss er erfahren, man lernt nie aus.

Vor der Turnhalle steht Frau Manske und wartet auf das Klingelzeichen. Bald kommen die ersten Schüler mit Stangen und Bällen vom Sportplatz. Sie stellt sich Herrn Dörges vor, und er bittet sie um fünf Minuten Geduld und lässt sie im Vorbereitungszimmer der Halle warten. Es riecht nach Schweiß und unterschwellig nach Zigaretten. Vielleicht raucht Dörges hier drinnen ab und an, denkt sie.

Herr Dörges raucht nicht, nein aufrecht sitzt er, auf einem Hocker ihr gegenüber und redet sofort geradlinig über ihren Sohn Mattias. Er ist einer der Besten sagt Dörges, „sein Potenzial wird an dieser Schule nicht ausgeschöpft“. Bedauern über das hiesige Mittelmaß klingt an. Es scheint keine Probleme mit dem Jungen zu geben, und Frau Manske entspannt sich etwas. Auf die Sportschule könnte Mattias gehen, ein erfolgreicher Leichtathlet werden, die Erweiterte Oberschule verstünde sich von selbst. Die Leistungen sind gegeben. Alles in seiner Macht stehende würde er veranlassen, sagt Dörges, und es klingt, als wüsste er, wo man sich hinwenden muss. Nationalspieler bei den Handballern war er, das ist dreißig Jahre her und die junge Frau hier weiß nichts davon. Frau Manske braucht einen Moment, und entschließt sich zum Geradeheraus: „Mattias - Meine Schwester lebt in Westdeutschland.“ Dörges lässt seine Brille einen Moment zwischen den Fingern baumeln, und sagt: „Schade, der Junge hat das Potenzial, aber so ...“, und schweigt wieder. Es scheint, als hänge er Gedanken nach und Frau Manske erwidert: „Es wird sich ein Weg finden für Mattias, er hat so viele Interessen.“ „Ja sicher, so ist das heute“, Dörges resignierend. Er bedankt sich für das schnelle Wahrnehmen des Gesprächs und Frau Manske verzichtet darauf, die Umstände zu erklären. Zu Mattias sagt sie nichts, erst will sie mit ihrem Mann darüber sprechen.

In der dienstelleneigenen Werkstatt befindet sich der Lada zur Reparatur. Die vom klassenfeindlichen Leder getroffenen konspirativ eingesetzten Mitarbeiter beobachten heute aus einem feuerroten Wartburg Tourist das Umfeld der Wohnung eines ausländischen Handelsvertreters. Der Genosse Zehm sieht es zuerst, Unterleutnant Krause faltet erst das Kreuzworträtsel zusammen, im Hausaufgang verschwinden zwei Angehörige ihres Organs. Krause sieht Zehm fragend an, doch dessen Blick ist ausdruckslos. „Möchte wissen was die hier wollen“, sagt Krause mehr zu sich als den das Protokoll greifenden Zehm. Und: „Lass das mal, Genosse, sicherlich ein Auftrag, von dem wir einfachen Tschekisten nichts wissen sollen.“ „Oder sie kontrollieren uns“, sagt Zehm und lässt den Stift sinken. Krause macht eine abwehrende Handbewegung und eine Weile starren sie noch auf die zugeschlagene Haustür.

An den Briefkästen versucht Leutnant Meinig, die Wohnungsnummer der Tilberts ausfindig zu machen, doch die meisten Zahlen sind durch ausgedrückte Zigaretten unlesbar. „Wer führt denn hier das Hausbuch?“, fragt er den aktenkundigen Genossen Felgentreu. „Ein Genosse Krüger, Rentner, achtes Stockwerk, Wohnung 0803.“

Es braucht eine Zeit, bis der Rentner Krüger an die Wohnungstür geschlurft ist, jedoch nimmt er Haltung an, als er die zwei jungen Männer vor der Türe zielsicher als Angehörige eines Organs erkennt. „Lasst mal stecken Genossen“, sagt er und winkt sie herein, bevor sie ihre Ausweise zeigen können. Aus der Schrankwand holt er mit Geschick die Cognacschwenker und gießt, ohne zu fragen, allen Dreien ein. „Ja, ich weiß, ihr seid im Dienst, aber für ein Gläschen ...“ und er reicht ihnen die Gläser. Meinig und Felgentreu zögern, doch der rüstige Krüger lässt ihnen keine Wahl, sie müssen trinken, und der Cognac ist nicht aus Wilthen. Etwas angegangen nun schon, erfahren die Tschekisten nichts. Eine freundliche, vollkommen unauffällige Familie aus der fünften Etage, sagt Krüger, nur der Sohn war letzte Woche mit dabei die Aprikosen klauen, und gießt noch einmal nach. Aprikosen?

Leutnant Meinig ist hellhörig geworden. „Sind denn die jetzt reif?“ „Noch nicht, ... aber in drei vier Wochen“, sagt Krüger und prostet den Besuchern zu. Eigene Zucht das Bäumchen, und, nein mit Apfelsinen hat er es noch nicht probiert, die brauchen mehr Sonne, meint Krüger. Meinig wechselt mit Felgentreu einen Blick und sie verabschieden sich, jederzeit könnten sie wiederkommen, ruft Krüger durch die Scheibe in den Fahrstuhl.

Etagennachbarn zu befragen kommt nicht mehr infrage, doch kurz entschlossen drückt Meinig die Fünf. Wie in den anderen Etagen auch ist der Flur in einem Grünton gestrichen und es herrscht vollkommene Ruhe. Das Brummen der Fahrstuhlbeleuchtung verstummt, als die Tür vollständig schließt. An Tilberts Wohnungstür ist nichts Auffälliges, auch die Nummer ist lesbar 0501. Die Bauart des Schließzylinders notiert Felgentreu vorsichtshalber. Die Nachbarwohnung hat einen Weitwinkelspion, und eingekratzt in die grüne Farbe neben dem Fahrstuhl liest Meinig: „Nadine ist doof und blöd.“ Mit einem Schnappen in der Verriegelung setzt sich der Aufzug nach oben in Bewegung. Die beiden gehen zu Fuß nach unten. Eine halbe Treppe tiefer, an den Pflanzen vor dem Müllschlucker, steht eine gelbe Plastegießkanne und Meinig gibt dem erbärmlich aussehenden Elefantenohr fast den gesamten Inhalt. Durch das wellige Glas des Fensters sieht er auf den Parkplatz, die Autos lassen sich zu dieser Zeit an beiden Händen abzählen, doch da ist nichts Auffälliges.

Der Genosse Zehm macht sich, als die beiden Kollegen das Haus verlassen haben, eine Eintragung über die Dauer ihres Aufenthaltes in seinem Notizblock, und Krause sagt: „Die Sitze sind Scheiße“, sein Hemd ist am Rücken bis zum Hosenbund durchgeschwitzt.

Frau Manske schließt gerade die Haustür auf, als die Genossen Meinig und Felgentreu in ihren ein paar Aufgänge weiter geparkten Wagen einsteigen. Obwohl zivil, enttarnen der gepflegte Eckschnitt Meinigs, bartfrei versteht sich, und Felgentreus Brille sie. Der dunkelblaue Lada tut ein Übriges. Frau Manske ist in Stimmung. Sie dreht sich auffällig nach den beiden und stiert sie an. „Vier allein in der Abteilung“, denkt sie, „und von Horch und Guck springen überall welche rum.“ Frau Manske also, sie glotzt sehr unfreundlich.

In der kaiserlichen Fabrikhalle des VEB SGH lässt sich die Brigade vom Neuen seine Idee der veränderten Spritzgussformen erläutern. Einen Haken hat die Sache, die entsprechend feinen Tonsande sind nur im Westen zu bekommen. Der Brigadier Heinz Schade will es trotzdem versuchen bei der Betriebsleitung. Wenigstens vier von ihnen hier könnten eingespart werden. „Sag nicht, dass es von mir ist“, meint Tilbert. „Es kommt von der ganzen Brigade“, erwidert Heinz Schade, „Da haben wir alle was von der Neuererprämie“, und die Anderen im Halbkreis nicken stumm. Minuten später stehen sie wieder im ohrenbetäubenden Lärm beim Fräsen und Schleifen kaiserzeitlicher Halbzeugnähte bis halb fünf.

Sascha ist ein paar Minuten vor seiner Mutter zu Hause und packt vorsichtshalber notwendige Materialien für weitere chemische Experimente zusammen und verstaut das Bündel im Keller. Das Eisessen fällt heute harmonischer aus. Der Junge ist guter Laune und Frau Tilbert ist sich über das pubertierende Kind im Klaren. Sie albern herum und Sascha zeigt ihr die Hausaufgaben, als es klingelt. Die Nachbarin steht in der Tür. „Na, wo fehlts denn, Oma Marschollek?“, fragt Anne Tilbert, „Nichts, ach nichts ... nur, kann ich vielleicht ...“ und sie zeigt mit dem spitzen Stockende so in die Wohnung hinein. Sascha nutzt die Gelegenheit, murmelt etwas von Arbeitsgemeinschaft und Wandzeitung, Tag Oma, und stürzt schon die Treppen hinab. „Dreiviertelsieben Abendbrot!“, ruft Frau Tilbert hinterher, bevor sie die Tür kopfschüttelnd schließt. „Mädchen“, stößt Oma Marschollek atemlos aus, „da waren heute Vormittag welche hier, ich hab sie gesehen durch die Türe“ und zeigt in Richtung Flur. Es klärt sich, durch den Spion hat sie die Zwei von der Firma gesehen und: „An eurem Schloss waren die.“ Anne Tilbert muss sich setzen, obwohl nichts unerwartet geschieht. „Mir kannste doch sagen, was is“ bittet die alte Frau, und ihre Hände zittern jetzt obwohl sie den Stock fest umklammern.

Sie schweigen, das Kaffeewasser beginnt zu kochen und auch Geräusche von draußen dringen zu ihnen und Anne Tilbert sagt, was sie lieber verschweigen will: „Wir wollen weg, ... rüber“, mit einem Kopfzeig gen Westen und sieht in das fassungslose Gesicht der Nachbarin. „Kinder! Ihr könnt mich doch nicht allein lassen!“, stöhnt Oma Marschollek, und „Da kommste eben mit, kannste doch“, erwidert Frau Tilbert beiläufig, den Mokkafix in Tassen füllend.

Oma Marschollek will nicht weg. Einmal alles lassen, war genug für sie. „Aber besuchen werd ich euch.“

„Noch sind wir hier“, entgegnet Anne Tilbert.

Karsten Bollstädt verlässt erst jetzt die Schule, nur Frau Voss sitzt noch im Lehrerzimmer über den Beurteilungen zum Endjahr. Er gibt bei ihr den Klassenraumschlüssel ab. Die Wandzeitung hat er mit Texten der am Sonnabend versäumten Rockgruppen gestaltet. Eigene Fotografien von früheren Auftritten und die Termine der nächsten Auftritte in Klubs und auf einer Freilichtbühne runden das Bild ab. Bollstädts Wandzeitungen werden von den Schülern gelesen, er ist Sekretär der FDJ in seiner Klasse und fühlt sich verantwortlich.

Er hat es eilig, um sechs beginnt der Friedenskreis der jungen Gemeinde. Diskussionen um die Teilnahme an der diesjährigen Friedenswerkstatt füllen den Abend. Die Frage eines Transparentes steht im Raum, provozieren oder schweigen? Endlose Worte, unzählige Gläser grusinischen Tees später, einigt man sich auf die unzweideutig, eindeutige Botschaft: „Frieden ohne Waffen“ sowie das Tragen des pflugscharschmiedenden Heroen. Eine offene Erklärung schließt mit Worten von Marx: „Von allen Dogmen hat keine mehr Unheil angerichtet, als die, daß, um Frieden zu haben, man sich zum Kriege rüsten muß.“

Im Anschluss berichtet Karsten über die Zuführung am letzten Wochenende. Das Unerwähntlassen der Verhaftung gegenüber der Schule sowie den Arbeitsstellen der Eltern führt zu Diskussionen, ob eventueller Übereifrigkeit einzelner Vopos. „Der Ton war rau“, sagt Karsten, „bis zum Morgen mussten wir vor einer Wand im Flur stehen, zu sechst und fürs Anlehnen oder Sprechen gab es einen Schlag gegen die Oberschenkel.“ Nach einer endlosen Befragung am frühen Morgen wurde er gegen Mittag entlassen, mit einem Barkas fuhr man ihn an den östlichen Stadtrand und ließ ihn dort stehen. Von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens war schließlich nicht mehr die Rede. Konkret beschließen die hier Sitzenden, Namen der anderen Zugeführten in Erfahrung zu bringen, um einen gemeinsamen Protest zu formulieren.

Schwül drückt die Schwere der Nacht, als die Jugendlichen die Kühle der Backsteingewölbe verlassen. Sie reden noch ein paar Worte, mancher raucht, und abgewandt sprechen sie leise über die zwei von Horch und Guck, dort drüben im Schatten des Hauseingangs.

Wenige Minuten von hier nur entfernt sitzt Frau Voss in ihrer Küche und überdenkt die Beurteilungen für ihre Klasse. Die Alte hat sie aufgehalten, als sie das Klassenbuch in das Regal legen wollte, hat wohl gewartet, dabei war es schon halb sechs. Die hat auch kein Zuhause. Saschas Leistungen interessieren, und sie hat angedeutet, dass die Klasse eine Patenlehrerin bekommen werde, zur Unterstützung der Gruppennachmittage und auch für sie zu den Elternversammlungen. Frau Voss schwant nichts Gutes. Infrage kommt nur die Neue, die Gräser, eine Hundertfünfzigprozentige. Ihr Lebensgefährte Thomas kommt mit einem Bier in der Hand, sagt: „Nimm das alles nicht so“ und reicht ihr eine Flasche aus dem Kühlschrank. Sie weiß, wie er das meint, er kennt die Produktion aus dem Wälzlagerwerk. „Wenn´s um den Plan geht, kommen die doch immer gekrochen.“ „Wenn unser Plan nur der Lehrplan wäre ...“, denkt Frau Voss, trinkt aus der Flasche und sagt: „Wie Hafenwasser.“ „Export war nich“, antwortet Thomas und küsst sie sacht in den Nacken.

Bei Oma Marschollek brennt noch Licht, sie betrachtet die wenigen Bilder in einem abgewetzten Album. Hört den Vater spielen, im Gedächtnis nur, mächtig und kraftvoll auf der Orgel. Vater vor der Marienkirche in seiner Arbeitskleidung, einem schwarzen Frack. Es sind die einzig ihr gebliebenen Bilder von den Eltern und zwei Brüder waren da noch, in Uniform, da war Krieg und das Haus aus rotem Ziegel, hoch wie sonst nichts, gehört in diese Welt. Tränen stehen ihr in den Augen, auch nach all den Jahren. Die beiden, Tilberts sind gemeint, wissen ja gar nicht, wie das ist, von der Heimat zu gehen, nun ja, sie wollen weg, aber werden sie nicht auch bloß vertrieben?

Der Schultag beginnt wie all die anderen. Die Jungen der Sechsten werten das Fernsehprogramm aus, wie weit der Wagen von Colt Seavers fliegen kann ist auf die Schnelle nicht zu klären, aber hundert Meter sind es bestimmt.

Irmtraut Schulz hat in der Nacht noch die Beurteilung über den Schüler Tilbert geschrieben, seine Leistungen lassen nichts zu wünschen übrig. Gesellschaftlich halte er sich zurück, ist nicht einmal im Gruppenrat, deutlich zeigen sich hier Defizite in der Leitung der Klasse durch Fräulein Voss. Das jedoch schreibt sie so nicht, nur dass die junge Absolventin noch unerfahren in der politischen Bildungsarbeit mit den Schülern ist. Vom Fenster aus sucht sie Saschas Gesicht auf dem Hof und findet es in einer ganzen Gruppe Jungen, die sich gestikulierend unterhalten, unauffällig, im Kollektiv scheint es keine Probleme mit ihm zu geben. Die gefärbten Haare Karsten Bollstädts fallen ihr auf, doch die Eltern sagen nichts, und Drohungen, den Abiturplatz betreffend, hat der Generalsuperintendent der evangelischen Kirche beantwortet. Die Formel von der Kirche im Sozialismus beschworen, dabei die Worte des Generalsekretärs zitierend. Ganz wohl ist der Genossin Schulz nicht bei diesem Kuhhandel.

Vor der Turnhalle stellen sich die Zehnten in Zweierreihen auf. Dörges lässt die Klassen pünktlich mit dem Klingelzeichen ein und verschließt die Turnhallentür hinter sich. Zuspätkommer werden klopfen müssen oder eine Fehlstunde eingetragen bekommen, was kaum besser ist. Im Schulgebäude gelingt Genossin Schulz derlei Zucht nur, wenn sie die Kontrolle übernimmt. Mit den oft allzu spät heraneilenden Kollegen drängen auch die letzten Schüler noch in das Gebäude.

Heute findet sich nach dem Unterrichtsbeginn niemand vor der Sporthallentür und Irmtraut Schulz wendet sich Papieren auf ihrem Schreibtisch zu.

In seinem Klassenraum sitzt Herr Roloff in der hintersten Reihe und liest die Wandzeitung mit dem Kürzel Red. K. Bollstädt. Eine Welt, fremder könnte sie nicht sein, öffnet sich und ist offensichtliche Realität. Er verlässt später ungesehen den Raum und führt seine Unterrichtsvorbereitungen im Lehrerzimmer zu Ende. In einer der zitierten Textpassagen heißt es: Wir woll´n immer artig sein, denn nur so hat man uns gerne ..., sie setzt sich fest, lässt ihn hin und wieder abschweifen.

In der Fertigungsleitung des VEB SGH platzt der Mond, wie der Parteisekretär sich ausdrückt. „Das hat der mit Absicht gemacht, dieser Querulant,“ und noch einige Flüche folgen, den Dreher Tilbert betreffend. Im Raum herrscht betretenes Schweigen, die Parteileitung ist vollzählig, und durch die Pappwand ist jetzt wieder das Schreibmaschinengeklapper aus dem Nebenraum zu hören, es wird geraucht und die Luft ist blau. Das Fenster zu öffnen, sinnlos, mit Schneidbrennern bearbeiten zwei Arbeiter die auf der Betonfläche verstreut liegenden Eisenteile. Er selbst hatte die Demontage des alten Laufkranes vor seinem Fenster gefordert, Schrott ist knapp im Land und der Betrieb liegt im Sekundärrohstoffplan gute einhundert Tonnen zurück, seit die neue Fertigungslinie für Heizrohrrippen die Hälfte weniger Ausschuss produziert.

Die Stimme des Technischen Leiters der Werkhalle IV ist im Flur der Baracke zu vernehmen, da reißt der Parteisekretär die Tür auf, „Na, komm mal rein, Genosse Paul, erklär uns mal, was bei dir los ist.“ „Guten Morgen, Genosse Hensch“, antwortet Pauls Stimme. „Du kannst dir denken, was los ist?“ Denken kann er sich das schon, doch offen in die aufgestellten Messer zu laufen hat der Technische Leiter nicht vor und kontert lapidar: „Die unvorhersehbaren Sommergewitter und nicht behobene Kriegsschäden haben uns leider um vier Tage im Plan zurückgeworfen, aber es gibt einen Vorschlag der Brigade Schade zur Rationalisierung der Innerbetrieblichen Fertigung,“ und mit einem Siegeslächeln setzt er sich in die Runde.

Wer den Genossen Hensch nicht kennt, muss wahrhaftig glauben, der Mond platzt, doch die meisten der Anwesenden unterbrechen nicht einmal das Rauchen während dieses Wutanfalls. So macht der Klassenfeind unsere Republik zunichte, ist der harmloseste Vorwurf gegen die Leitung der Halle IV. Sollte man den Ausführungen Glauben schenken, wäre morgen Sabotage und vielleicht übermorgen schon die Sprengung der Halle durch den Delinquenten geplant.

Nicht dass der Rationalisierungsvorschlag der Brigade schlecht wäre, nicht einmal neu ist er, doch beim Gegner Material für Devisen zu kaufen grenzt an politischen Revisionismus, sagt der Genosse Hensch. Der Direktor erhebt sich von seinem Stuhl und drückt dabei die Cabinett im Ascher aus. Beiläufig sagt er: „Die Höhe der entwickelten sozialistischen Gesellschaft führt gesetzmäßig zu ihrem Abfließen in die Niederungen des Westens. Ich habe noch Termine ... Ihr klärt das ohne mich?“, mit einem fragenden Blick in die Runde. Richtig lachen kann keiner über den eigentümlichen Humor des Chefs.

Genosse Paul als Leiter der Halle sagt: „Tilbert bleibt, uns fehlen schon zu viele.“ „Und was soll ich in den Bericht schreiben?“, fragt Hensch, der um Jahre gealtert auf dem Kunstlederbezug des Stuhls zusammengesunken ist. Wieder schweigen die Genossen und allein der Zigarettendunst zieht Kreise.

Stahlblauer Himmel überspannt den Appellplatz. Von verschorftem Asphalt lösen sich Reste weißer Markierungen. Die kleine Stadt ist von hier nur einen Steinwurf entfernt, man sieht die Türme der Kirchen, zeigen mit Geläut die vollen Stunden und dahinter umranden grün bewaldete Hügel das Bild. Heiko Maginski stehen Schweißperlen auf der Stirn, seit Stunden steht er mit zehn weiteren Neuankömmlingen in der gleißenden Sonne. Jedes Wort zum Nebenmann wird mit Gebrüll und Kniebeugen bestraft, Heiko zieht es vor zu schweigen.

Der das Gelände umgebende Zaun trägt eine Stacheldrahtkrone und Jungen mit Armbinden laufen Patrouille. Sie werfen nur kurze Blicke auf die Neuen, da ist kein Zeichen, nichts. Erste Zweifel, ob das so locker wird, wie er den anderen beim Abschied weisgemacht, mischen sich in seine Gedanken. Er hat Durst, traut sich aber nicht recht zu fragen, da scheint es besser, pinkeln zu müssen. Das Gebrüll geht nach innen tief hinein und lässt ihn verstummen, wenn die Aufforderung zum Wasserlassen kommt, hört er, kann er das tun. Die Lage erscheint aussichtslos. Ein Jahr soll er hier bleiben. Ein Vogel kreist über dem Hügel, auf dem sich der Komplex befindet, Heiko beginnt zu träumen vom Fliegen, genauer dem Wegfliegen, und Bilder aus der Zeit, gemeinsam am Abendbrottisch mit dem Vater, mischen sich hinein in diesen Flug. Ohrenbetäubend beendet eine Befehle brüllende Stimme alle Flüge. Seit zehn Jahren ist Heiko im Heim.

Den Weg zur Kantine am Feldherrenhügel vorüber, dem Speisewürfel der oberen Ränge, geht Genosse Zehm. Innendienst hat er heute und begegnet Leutnant Meinig. Mit einer Kopfbewegung deutet er ganz unmilitärisch einen Gruß an. Während der Mahlzeit, gekochte Eier mit Kartoffeln und Rohkost werden gereicht, überlegt Meinig woher er den Genossen kennt. Eine Verwechslung sicher, es arbeiten Tausende hier, und seine Gedanken wenden sich wieder der Arbeit zu. Der Bericht über den gestrigen Einsatz ist fast fertig, nur das ergebnislose Befragen des Hausbuchverantwortlichen muss noch Eingang in das Protokoll finden. Fünfzehnuhrdreißig ist mit der Genossin Schulz ein Termin zur Beurteilung des Sohnes der Familie Tilbert vereinbart. Das ist alles zu schaffen und mit der Gabel kratzt er die Reste der unbekömmlichen Rohkostbeilage in die Speckitonne vor der Geschirrabgabe. In seinen Bericht schreibt er später: „Die Quelle bezeichnet die Familie als unauffällig und konnte keine weiteren Angaben zum Lebenswandel der T. machen.“

In der Hofpause haben sich Schüler der oberen Klassen vor der rot bespannten Wandzeitung eingefunden. Der Zettel mit den Konzertterminen ist abgenommen und wird auf der hinteren Bank mehrfach abgeschrieben. Es hat sich herumgesprochen: in der Achten gibt es was zu lesen.

Irmtraut Schulz geht den Hinweisen in der Essenpause nach. Würde sie es nicht selbst sehen, müsste sie annehmen, es ginge nicht um ihre DDR. Die politische Unreife der zitierten Texte und Bilder von Veranstaltungen des Jugendklubs im Viertel mit angeblich normalen Jugendlichen schocken sie.

Kurzerhand trägt sie das Machwerk in ihr Büro und zeigt es der Genossin Gräser. Eine sofortige Aussprache mit dem Schüler Bollstädt ist unumgänglich und als Herr Roloff von der Essenaufsicht zurück ist, winkt die Alte ihn mit einem Fingerzeig zu sich ins Büro. „Ist die von Bollstädt allein?“, fragt sie, und: „Hast du davon gewusst?“, schiebt sie sofort nach. „Ja“ und „Nein“ antwortet Roloff, er hat es geahnt, doch die Grenzen muss der Junge selbst herausfinden, das ist seine Überzeugung, der Übermut gehört der Jugend, aber das sagt er hier lieber nicht. „Schick mir den Jungen mal gleich runter“, sagt Irmtraut Schulz.

Bollstädt weiß schon, die aus der Achten haben es ihm gesteckt, die Alte ist mit der Wandzeitung in das Sekretariat, einer der Ordnungsschüler im Schulhaus hat es gesehen.

Den feindlichen Charakter seiner Wandzeitung will Karsten nicht einsehen, die zitierten Texte seien veröffentlicht auf Tonträgern, die Bands haben Einstufungen. Die fehlende Lizenz der Punkband Namenlos unterschlägt er vorsichtshalber. Ob die Gestaltung seiner Meinung nach einer FDJ-Wandzeitung entspricht, fragt die Alte, und Bollstädt antwortet, die Bandmitglieder seien alle in der FDJ, und keine Leistung bei zwei Millionen Mitgliedern denkt er, und die Genossin Gräser fragt: „Warum treten sie dann nicht im Blauhemd auf?“ Das offenbart jedweden Realitätssinn in ihrem Denken. Die fehlende Einsicht, ja geradezu starrsinnige Haltung des Schülers führt zu der sonderbaren Vereinbarung, die Wandzeitung bis zur offiziellen Klärung der Richtigkeit der Texte im Büro der Schulleitung zu belassen. Die Genossen glauben, damit Zeit zu gewinnen, den revanchistischen Charakter herauszustellen, und dem Schüler will der Gegenbeweis gelingen.

Halb vier erscheint Meinig in der Schule, da ist Bollstädt schon bei der Verantwortlichen für Kultur im Stadtbezirk und die gesamte Parteileitung hat die Wandzeitung gelesen. Meinig ist mit den gezeigten Bildern nicht zu schocken. „Solange es in den Klubs der Freien Deutschen Jugend geschieht, ist alles unter Kontrolle“, sagt er der Genossin Schulz, und rät ihr, die Sache einvernehmlich in Aussprachen zu klären.

Zum Schüler Tilbert fallen die Informationen der Direktorin auf drei DIN A4-Seiten dürftig aus. Drohanrufe bekäme sie, erzählt Frau Schulz, doch das habe nichts mit Tilbert zu tun. Meinig vermerkt es in seinem Protokoll. Ich hasse Sie und Sumpfkuh schreibt er auf.

Mattias Manske und René Karbstein rennen derweil im Hochhaus gegenüber die dreihundert Stufen hinauf. Neunzehn Etagen in zwei Minuten wollen sie schaffen. Sascha kann heute nicht, er ist einkaufen mit seiner Mutter, die ist jetzt immer schon nach der Schule zu Hause. Vom Balkon in der obersten Etage werfen sie einige Mitbringsel, sie sehen den Ahornnasen bei ihrem Abstieg zu und Mattias opfert ein Polizeimatchbox für den ultimativen Crash. Neben der Tischtennisplatte bleibt das Teil liegen und René holt einen Flummi aus der Tasche. „Den find´n wa nich wida“, warnt Mattias, aber „Och, ick hab noch so ville“, kontert René und schon fliegt der Vollgummiball über die Brüstung. Der erste Aufschlag auf dem Dach eines Trabant beflügelt den Ball zu neuer Höhe und lässt ihn auf dem Blechdach der Turnhalle einschlagen. Das ist genug, ein paar Stockwerke rennen die beiden hinunter und rufen erst hier den Fahrstuhl. Mattias sagt, dass sie lieber im Zweiten aussteigen sollten und dann die Treppe nehmen, für alle Fälle.

Durch das geöffnete Fenster haben Leutnant Meinig und Genossin Schulz den Knall vernommen, doch es bleibt still. Von der Hintertür des Neunzehngeschossers sehen René und Mattias Frau Schulz am Fenster stehen. „Da könn wa heute nich ruff“, sagt René mit einem Blick in Richtung Turnhalle und Mattias sagt: „Am Wochenende is keiner da“. René nickt, und sie suchen den Mätschi. Der sieht voll Scheiße aus, eine Tür fehlt und die Plastescheiben sind rausgeflogen. Da eins der Räder fehlt, geht der nicht mehr, sagt Mattias. Im Gebüsch hinter der Turnhalle drücken sie etwas Duosan in das Fahrzeug und fackeln die Karre ab. Als der Klebstoff abgebrannt ist, sieht der Wagen wie bei Colt Seavers aus, findet René und steckt das noch warme Wrack in seine Hosentasche.

Im Elektroapparatewerk geht ein erfolgreicher Tag für die Projektierer der Brigade Weinek zu Ende. Es ist gelungen, das private Programm des Kollegen auf die CAD/CAM Station zu übertragen. Carola Manskes Chef freut sich wie ein kleines Kind. Die Tatsache, dass Schaltelektronikprogramme sich auf COCOM- Embargolisten der westlichen Welt finden, ist nicht von Interesse hier. Vielmehr steht die Frage im Raum, wann der Kollege die nächste Privatreise beantragen könne, der Siebzigste der Oma war im vorigen Jahr ein ausreichender Grund. „Die Krummen zählen nicht“, sagt der Chef resignierend und mehr für sich „In vier Jahren, da ist es zu spät“. „Ab siebzig geht jeder“, wirft einer der Kollegen ein, doch Skepsis ist in den Gesichtern abzulesen. Carola Manske sagt: „Meine Schwester im Schwarzwald wird Ende des Jahres vierzig.“ „Da musst eben du fahren“ sagt der Kollege, „Was wir brauchen schreib ich dir auf“. „Kinder das wird nicht leicht“, mischt sich der Chef ein, „Carola ist doch noch so jung“. Und in ihren Ohren klingt das so: „Die lassen dich sowieso nicht fahren, deine Schwester ist doch abgehauen“, und sie sagt: „Genosse, da musst du dich eben etwas strecken“ zu ihrem Chef, der nickt. „Versuchen sollten wir es“, und überhört den spöttischen Unterton.

Die Brigade Fritz Weineck ist entschlossen die fehlenden Programmbausteine zu besorgen und sie wissen, Carola hat ihre Schwester seit elf Jahren nicht gesehen, eine Empfehlung des Betriebes bedeutet mehr als eine Geste. Durch die weit offen stehenden Fenster weht eine Böe heiße, staubige Luft in den Raum und das nölende Anfahren einer S-Bahn mischt sich darin mit dem Aufheulen einer Sirene, nur kurz, aber deutlich zu unterscheiden von denen hier. Die Mauer in Sichtweite, lehnen sich Kollegen aus dem Fenster.

Im Kreiskulturhaus spricht Karsten Bollstädt mit der verantwortlichen Genossin über die Einstufungen der von ihm zitierten Gruppen. Wenn ein S-Bahnzug vorbeifährt, müssen sie das Gespräch unterbrechen, der Boden schwankt und aus den Rissen an der Decke rieselt feiner Staub durch das vom Grau der Fenster gedämpfte Sonnenlicht. Vielleicht ist es aber Rauch, ein zerknülltes Päckchen thront auf dem übervollen Ascher. Bollstädt hat es hintenherum begonnen, bestätigt will er haben, welche der genannten Bands er im Klub der Schule ruhigen Gewissens auftreten lassen könne. Eine Liste mit Stempel und Unterschrift ist das Ergebnis seiner Bemühungen und der Sieg ist sein.

Auf der Kante einer waschbetongefassten Blumenrabatte sitzt Genosse Hensch und raucht. Das braune Jackett seines Anzugs hat er, achtlos will es scheinen, neben sich auf den staubigen Beton geworfen. Die bepflanzte Anlage hat vor Wochen schon der Dürretod ereilt. Reste vertrockneter Pflanzen stehen in grauem Staub, in welchem Hensch, man sieht es jetzt deutlich, die Zigarette ausdrückt. Die Stiefmütterchen sehen aus wie sie heißen, und mit einem Streichholz zündet der Parteisekretär die nächste Kippe an. Hier an der frischen Luft weilt er zum Nachdenken. Gibt er den Bericht zum Sachverhalt weiter, ist Tilberts Ende im Betrieb besiegelt und der Produktionsleiter schlachtet ihn. Nicht einmal welche von den Mosambikanern hat man ihnen bewilligt, was muss da draußen los sein, wenn schon unsere Produktion so unwichtig erscheint, denkt Hensch. Mit dem Finger beginnt er Bewässerungskanäle zu den einzeln stehenden Pflanzen zu ziehen und sie gleichen versandeten Bewässerungsgebieten am Turkmenischen Hauptkanal, zumindest in Gedanken und die entwinden sich dem Heute.

„Kein Feind ist stark genug, zu widerstehn

Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke

Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn“,

so kreisen Verszeilen mit einem Male in ihm, und wir schaffen es nicht einmal, die Blumenkübel zu wässern, denkt er.

Die Nachmittagssonne brennt unnachgiebig auf das staubige Gelände der Gießerei, als die Arbeiter, unter ihnen auch der ehemalige Ingenieur Tilbert, den Betrieb vorbei an der Pförtnerloge verlassen. Jetzt am Tage sitzt hier der einarmige Herrmann, seit dem Krieg mit dabei, dem Ersten vermutlich, hat den Arm bei der Explosion einer Luftmine im Zweiten verloren, eine Art lebendes Inventar, jeder kennt ihn und auch er jeden. In diesem Jahr noch wird er zweiundachtzig, da wird es Zeit, sich Gedanken über die Planstelle zu machen, und so reift beim Genossen Hensch ein Entschluss, der in seiner Tragweite einmalig für ihn ist. Einen Bericht verfasst er nicht, der Brigade wird die Prämie ausgezahlt und wohlwollende Prüfung zugesagt und mit der Kaderleiterin wird er gleich morgen sprechen, die Genossin kennt er seit Jahren, sie werden sich einigen.

Mit der gelb verfärbten Fingerkuppe des Zeigefingers drückt er die Zigarette in den Staub angelegter Kanäle, und trotz der Hitze fröstelt er im aufkommenden Wind. Hilflosigkeit beschleicht Hensch, gegenwärtig die Worte des Direktors, der Zynismus darin ängstigt ihn, den alten Parteihasen, wie sie ihn manchmal nennen.

Als er später am Abend das Fabrikgelände verlässt, sitzt in der Loge jener bebrillte Jüngling, und der sieht nicht einmal auf, als Hensch den Betriebsausweis hochhält. Mit Büchern bewaffnet kommt dieser Nachtwächter und schreibt stundenlang Papiere voll, Hensch traut dem Kerl nicht, Setzer ohne Arbeitsgenehmigung, direkt aus dem Knast haben sie ihn zugewiesen bekommen.

Frau Schulz ist nach dem Treffen mit Leutnant Meinig noch zur Kaufhalle gelaufen, für ihre Männer am Wochenende den Kühlschrank zu füllen. Sie ärgert sich über die angetrunkenen Männer in Arbeitskleidung, die an der Schlange nach Wagen vorbei in die Halle drängeln. Ein älterer Mann im Präsent-Anzug sagt: „Das Ende ist da hinten“. „Ja, und der Kopp imma vorne, Opa“, antwortet einer und gemeinsam tragen sie das Bier in Kisten davon. Die Verkäuferinnen sind machtlos. Das Schild Kein Rundgang ohne Korb schaukelt an Perlonschnüren über den Köpfen der Wartenden.

Frau Schulzens Wagen bleibt leerer als gewollt, in der Fleischtheke liegen Spitzbeine und Schlimmeaugenwurst, und in den Bierkisten stehen nur noch grüne Flaschen. Wieder zu Hause, klebt ein Telegrammzettel am Briefkasten. „komme nicht georg“ steht auf dem Papier, und Wochen später wird Irmtraut Schulz erfahren, dass es Urlaubssperre gab, eine sehr plötzlich aufgetretene Situation sorgte für Anspannung in der Verteidigungsbereitschaft der Republik.

Später fährt sie zu ihrer Mutter in die Laubenkolonie „Frieden“ am Heizkraftwerk. Im Sommer ist die Luft hier frischer als zwischen den Häusern rundum, die Blumen gedeihen prächtig, und sie schneidet einen Strauß für die Frau des Namensgebers der Schule. Ihre Mutter wohnt den ganzen Sommer hier in der Laube, als sie ausgebombt waren sogar im Winter, aber das ist lange her. Da war der frische Schnee nicht gleich schwarz vom Dreck aus den Schornsteinen nebenan.

Mattias und René haben Sascha getroffen. In einem Jauchegraben fängt er Wasserflöhe für seine Fische. Alle drei sind ganz bei der Sache und schnell füllt sich das Marmeladenglas. Danach graben sie mit einer kleinen Schaufel, die Sascha mitgebracht hat, eine Höhle in die sandige Böschung des Wasserlaufs. Als sie zu dritt Platz darin haben, setzen sie sich vor den mit Gestrüpp getarnten Eingang und falten Papiertauben. Renés Falttechnik setzt sich durch, seine Vögel erreichen alle den gegenüberliegenden Hang. Mattias holt jetzt den restlichen Klebstoff aus der Hosentasche, und ein Pups wird jedem startenden Flieger verpasst, nicht ohne ihn vorher zu entzünden. Mit gewaltigen Zischgeräuschen stürzen die brennenden Papierflieger in das Rinnsal und nur ein Jagdflieger, wie René ihn nennt, erreicht das andere Ufer und entzündet dort das verdorrte Gras. „Los weg“, sagt Sascha, zu spät, ein Mann kommt den Weg am Graben entlang. Er schiebt sein Fahrrad, eine schwarze Aktentasche hängt am Lenker. Die Jungen beobachten den Mann und den sich ausbreitenden Brand aus ihrer Höhle. Oberhalb des Buschbrandes bleibt der Beobachtete stehen und blickt sich umständlich nach allen Seiten um, und als er sicher ist, lehnt er sein Rad mit der Stange an die Hüfte und pinkelt von dort oben in die aufzischenden Flammen. Zufrieden betrachtet er sein Werk, während er seine Kleider ordnet, und greift jetzt in die Tasche. Eine Flasche klaren Schnaps holt er hervor. In langen Zügen leert er sie und verwahrt sie dann sicher in der Aktentasche. Als er seinen Weg fortsetzt, kommt eine Frau aus einem der Koloniewege rechterhand und der Mann bleibt stehen und lüftet umständlich, eine Verbeugung andeutend, seinen Hut, den Lenker hält er derweil samt Aktentasche mit der Linken und weiter nichts.

Die Jungs atmen auf in ihrem Versteck. „Das ditt nich explodiert is, so blau wie der war“, sagt Sascha und René: „Is eben noch mal gut gegangen.“ Mit der Hand fühlt er den abgebrannten Mätschi in der Hosentasche. „Nur Wasser bleibt da, der Schnaps geht ins Blut“, sagt Mattias nach einigem Nachdenken. „Und wenna blutet, brennta denn?“, fragt Sascha. „Fragen wir doch morgen Frau Voss“, entgegnet René. Sie greifen alle Utensilien, Sascha trägt die Flöhe im Glas, und laufen nach Hause. Um nicht an dem roten Wartburg vorbei zu müssen, gehen sie einen Umweg und Sascha schleicht an der Hauswand hinter den Büschen zur Eingangstür. Der Olle aus dem Achten bindet gerade die Zweige der Aprikose hoch und da geht er lieber zurück zum letzten Aufgang und läuft durch den Keller. Es soll hier einen geheimen Gang geben, erzählen die Großen, doch außer den schweren Stahltüren mit den aufgeklebten Schildern mit Signalen bei Feuer, Luft, Chemie, Katastrophen und Atomalarm findet sich hier unten nichts, Rattengift in Ecken allenthalben, doch das ist normal. Bevor Sascha raufgeht, überprüft er das Versteck mit den Wunderkerzen. In kleinen Gefäßen bewahrt er außerdem Schwefel, Holzkohle und Kaliumpermanganat in Döschen zu je fünf Gramm auf. Alles ist am Ort, zufrieden schleicht er die erste Treppe vorbei an dem aus dem Achten, zum Fahrstuhl.

Oben ist die Stimmung schlecht, den bestätigten Ferienplatz an der Ostsee hat der FDGB mit dem Verweis auf technische Schwierigkeiten storniert. Das Schreiben kam vom Ferienheim direkt, also liegt es vielleicht wirklich daran. Die Tilberts sind unschlüssig, können die Situation nicht einschätzen.

Anne Tilbert will die Hausaufgaben sehen, doch da ist nichts zu zeigen. Das Aufgabenheft ist leer, wie es nur Regale in der Kaufhalle sein können. Weder die Wochen noch die Stunden sind eingetragen. Morgen haben wir zwei Stunden Stillbeschäftigung, sagt Sascha, eine Schülerin aus der Zehnten wird für die nötige Disziplin sorgen, eine Stunde Geografie und danach Geschichte, Herr Roloff hat Haushaltstag und die Aufgaben verteilt.

Herr und Frau Roloff sind schon hinter dem Hermsdorfer Kreuz. Die Chromblenden am Tank der Maschine spiegeln die vorüberziehende Landschaft und der Motor läuft sonor. Er hat versprochen zu kommen, nicht allein seinen Eltern. Die haben einen Hof im Weinbaugebiet. Die Arbeit wird längst vom VEG verteilt, Hühner, sechs Schweine und ein paar individuelle Bullen, leben im Geviert mit den Alten. Seit Weihnachten war er nicht hier, genauer: am ersten Feiertag kam er. Bollstädt hatte ihn eingeladen zum Weihnachtsgottesdienst in seine Gemeinde. Schon die Predigt unterschied sich von denen seiner Kindheit hier im Tal. Die Kirche war zum Bersten gefüllt mit Menschen, jung und alt, vielleicht zweitausend schätzte er. Es gab reichlich Gelächter, Fürbitten für Inhaftierte und Konzerteinlagen. In zwei Kollekten, zuerst wurden für einen Sanibarkas für Namibia dreiundzwanzigtausendvierhundertzwölf Mark gespendet, und anschließend noch einmal tausendeinhundert Mark für die Bezahlung diverser Ordnungsstrafen von Mitgliedern der jungen Gemeinde. Diese Kollekte führten Bollstädt und andere Punks selbst durch.