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Der Mordermittler Tim Beck jagt einen Mörder, der ihm immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Viel zu lange treten Tim Beck und seine Kollegen bei der Mordermittlung auf der Stelle. Als er dem Mörder immer näher zu kommen scheint, muss Tim Beck erkennen, dass der Mörder für seine Tochter Lea eine spezielle Rolle in dem letzten Akt vorgesehen hat.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2020
Der Autor
Manuel Lippert, Jahrgang 1975, lebt mit seiner Lebensgefährtin, zwei Töchtern und Familienhund in Köln. Der „Fluch der verbotenen Stadt“ ist sein erster Krimi. Obwohl Manuel Lippert bereits als Jugendlicher gerne Kurzgeschichten schrieb, entschied er sich, Wirtschaftsingenieurwesen in Hamburg und später Industrial Engineering in Berlin zu studieren. Nach mehreren beruflichen Stationen arbeitet er als Führungskraft bei einem Dienstleister in der Automotive Branche. Im Jahr 2019 hat Manuel Lippert sich seinen großen Traum verwirklicht und während eines sechsmonatigen Sabbaticals seinen ersten Krimi geschrieben. Die Idee dazu kam ihm schon vor fünf Jahren als er einen Artikel über das verlassene Militärareal der sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf gelesen hatte. Bei einem Besuch vor Ort inspirierte ihn die außergewöhnliche Atmosphäre zur Geschichte für seinen Krimi.
Manuel Lippert
Fluch der verbotenen Stadt
Kriminalroman
© 2019 Manuel Lippert
Umschlag, Illustration: Jessica Kreuzer
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-347-02671-1
Hardcover
978-3-347-02672-8
e-Book
978-3-347-02673-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für Mama, die immer an mich geglaubt hat und viel zu früh von uns gehen musste
Prolog
1
Die strahlende Junisonne war gerade dabei, hinter dem Wald unterzugehen und somit das Tagesende einzuläuten, als Günther Ludwig mit seinem Hollandrad am vereinbarten Treffpunkt ankam. Von ihm Zuhause aus war es nur knapp eine Viertelstunde mit dem Fahrrad bis hierher, aber die Fahrt kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Sein schwarzes Hollandrad hatte ihm schon viele Jahre treue Dienste geleistet. Er konnte sich noch genau an den Kauf erinnern. Obwohl es damals gebraucht war, überzeugte es ihn durch seine Schlichtheit und den hohen Fahrkomfort. Gerade in seiner Heimat Wünsdorf war Fahrkomfort bei den doch sehr unterschiedlichen Straßenverhältnissen nicht zu unterschätzen. Der frische Wind und die Ruhe beim Radfahren hatten für ihn etwas Meditatives, dabei konnte er seinen Gedanken in Ruhe nachgehen und dem Alltag entfliehen. Aber deshalb hatte er das Hollandrad heute nicht ausgewählt.
Günther Ludwig lehnte sein Fahrrad an die Schranke neben der Straße und schaute in beide Richtungen. Er schien zu früh am Treffpunkt zu sein, von seinem Gesprächspartner war noch nichts zu sehen. Am Straßenrand lagen ordentlich gestapelte schwarze, lange Kunststoffrohre. Nervös stand er zwischen der Schranke und den Rohren und dachte nach. Günther Ludwig hatte um das Treffen heute kurzfristig gebeten, um endlich das zu klären, was ihn schon seit Langem beschäftigte. Den Treffpunkt hatte sein Gesprächspartner vorgeschlagen. Für ihn war der Ort des Treffens passend zum Thema ihres Telefonats gewesen.
Er musste jetzt versuchen, konzentriert und besonnen zu bleiben, obwohl ihm selbst nicht ganz klar war, was er mit dem Treffen bezweckte. Aber irgendwas musste er doch tun, denn nur tatenlos zuzusehen, war für ihn keine Option mehr.
Während Günther Ludwig seinen Gedanken nachhing und ausdruckslos dem roten Feuerkäfer mit der schwarzen Zeichnung auf seinem Rücken, der flink aber irgendwie ziellos über den Asphalt lief, nachschaute, hörte er plötzlich seitlich neben sich ein Geräusch. 'Wie konnte ich ihn nur nicht kommen gehört haben und vor allem, wo kam er so plötzlich her?', fragte er sich.
Jetzt stand seine Verabredung fordernd vor ihm und musterte ihn von oben bis unten. Bei Günther Ludwig stellten sich alle Nackenhaare auf. Ihm war die Situation unheimlich, obwohl er ihn doch flüchtig kannte. Sein Gegenüber strahlte mit seinem Körper und dem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck etwas Gefährliches aus, das er nicht beschreiben konnte. Vielleicht war es der kalte und durchdringende Blick seiner Augen. Auch dass er bei diesen Temperaturen schwarze Lederhandschuhe trug, war beunruhigend. Ohne eine Begrüßung kam der Mann direkt zur Sache. „Hier bin ich! Verstehen kann ich aber nicht, was das hier soll!“ Jetzt hatte Günther Ludwig nichts mehr zu verlieren. Er zog die gefalteten Kopien aus seiner inneren Jackentasche, strich sie glatt und konfrontierte ihn mit seinem Wissen, den Vermutungen und konkreten Fragen. Günther Ludwig wollte jetzt Antworten haben, vorher würde er nicht gehen. Völlig überraschend reagierte sein Gegenüber zunächst nicht, er ignorierte sowohl die Kopien als auch die Fragen. Vielmehr starrte er ihn weiterhin, aus seinen jetzt noch kälteren grünen Augen durchdringend an, als ob er ihn zu taxieren schien. Günther Ludwig fröstelte es am ganzen Körper, er fühlte sich wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Er war wie gelähmt. Am liebsten hätte er das Gespräch abrupt beendet und wäre mit seinem Fahrrad zurückgefahren. Aber er konnte nicht. Er wollte die Sache jetzt klären. Für einen Rückzug war es zu spät.
Unvermittelt sprach ihn der Mann an. Günther Ludwig musste sich jetzt zusammenreißen und wieder auf das Gespräch konzentrieren. „Das sind ja interessante Vermutungen. Aber mich interessiert erst einmal, wer alles von unserem Treffen heute weiß? Ist noch jemand eingeweiht oder auf dem Weg hierher?“ Günther Ludwig hatte mit niemanden über das Treffen gesprochen, dafür war es zu spontan entstanden. „Mit niemanden! Warum denn diese Frage?“ Sein Gegenüber schien mit seiner Antwort zufrieden zu sein. Jedenfalls hatte Günther Ludwig das Gefühl, dass er ein kurzes Zucken der Mundwinkel wahrgenommen hatte.
Plötzlich blickte sein Gegenüber über Günther Ludwigs linke Schulter in Richtung des Waldes. Seine Augen weiteten sich. „Was war das für ein komisches Geräusch im Wald da hinten?“ Er war völlig überrascht von dieser Frage und dass er nicht auf den Inhalt der Papiere einging. Denn schließlich blieb er ihm ein paar äußerst wichtige Erklärungen schuldig. 'Aber hatte er eben ein Geräusch gehört?', fragte sich Günther Ludwig.
Er drehte sich von dem Mann weg und blickte zum Wald hinter sich, aus dem das Geräusch gekommen sein sollte. Doch Günther Ludwig konnte nichts entdecken, was ein Geräusch verursacht haben könnte. Ohne eine Vorwarnung spürte er plötzlich einen gigantischen Schmerz am Hinterkopf. Vor seinen Augen zuckten grelle Blitze. Ehe ihm klar war, dass er am Kopf getroffen worden war, verlor er das Gleichgewicht, stürzte nach vorne und prallte mit dem Gesicht auf den Asphalt. Er spürte den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund. Instinktiv robbte er auf allen vieren in Richtung Wald. Panik überkam ihm. Jetzt hatte sein Körper die Kontrolle übernommen, schüttete Adrenalin aus und versuchte zwanghaft aus der Gefahrensituation zu entkommen. Plötzlich traf ihn ein weiterer harter Schlag auf dem Rücken. Günther Ludwig drehte sich intuitiv um, um den nächsten Schlag abzuwehren. Aber er war zu langsam. Kaum lag er auf dem Rücken, hagelten weitere Schläge auf seinen Oberkörper ein. Die Schmerzen waren unerträglich. Auf einmal wurde es alles dunkel.
Als er die Augen wieder öffnete, war von seinem Angreifer nichts mehr zu sehen. Trotzdem versuchte er die Umgebung nach ihm abzusuchen. Aber die Schmerzen waren so fürchterlich, dass er sich kaum bewegen konnte. Neben den wahnsinnig stechenden Kopfschmerzen fühlte sich sein Brustkorb so eng an, dass er nicht genug Luft bekam. Seine Atmung ging immer schneller. Er versuchte krampfhaft mehr Luft zubekommen. Er musste sich schnellstmöglich aufrichten, um besser atmen zu bekommen. Aber wie sollte er das bei diesen Schmerzen anstellen? Da sah er nur wenige Meter vor sich einen Baumstamm aus dem Gras herausragen. Er bot die Chance sich anzulehnen. Trotz der stechenden Schmerzen gelang es Günther Ludwig auf allen vieren zu ihm zu robben. Auf dem Weg dorthin wurde er mehrmals vor Schmerzen ohnmächtig, aber er gab nicht auf. Endlich hatte er es geschafft. Er saß im Gras und lehnte mit dem Rücken an dem Stamm. Aber das Aufrichten hatte nicht geholfen. Er konnte noch immer kaum atmen. Er hatte das Gefühl, dass bei jedem hart erkämpften Atemzug kaum noch Sauerstoff in die Lunge gelang. Er tastete nach dem Handy in seiner Jackentasche, konnte es aber nicht finden. Er musste es bei dem Angriff verloren haben. Damit gab es für ihn keine Möglichkeit Hilfe zu rufen, denn hier würde ihn niemand schreien hören, nicht um diese Uhrzeit. Und die Kraft das Handy am Boden zu suchen, brachte er nicht mehr auf. Günther Ludwig ahnte, dass seine Zeit langsam ablief und es für ihn keinen Ausweg mehr gab. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Weniger aus Gewissheit, dass er sterben würde. Vielmehr aus einer Mischung aus körperlichem Schmerz und den Gedanken an seine jüngere Schwester Beate.
Beate! Nach all den Jahren nach ihrem Tod musste er immer noch so oft an sie denken. Mittlerweile waren dreißig Jahre vergangen. Sie war ein so fröhlicher und beliebter Mensch gewesen. Bis zu dem Abend, der nicht nur das Leben von Beate komplett verändert hatte, sondern auch sein eigenes und das ihrer Eltern. 'Warum konnte ich ihr damals nicht helfen? Warum konnte ich ihren Tod nicht verhindern? Wenigstens für Gerechtigkeit wollte ich sorgen. Dafür habe ich die letzten Jahre doch gekämpft!', litt Günther Ludwig voller Wehmut. 'Auch das werde ich nicht schaffen. Ich habe mal wieder versagt'.
Das waren seine letzten Gedanken, bevor er für immer in die Dunkelheit eintauchte.
2
'Dafür, dass ich eben improvisieren musste, ist es doch echt gut gelaufen', dachte er auf dem Weg zurück zu seinem dunkelgrauen BMW und zog die Lederhandschuhe aus.
Nachdem ihn dieser Günther Ludwig mit seinen Fragen geradezu bombardiert hatte, war ihm klar, dass dieses Gespräch nur durch eine Art zu beenden war: Mit seinem Tod.
Sicherheitshalber hatte er ihm genau diesen Treffpunkt vorgeschlagen, abgeschieden, aber trotzdem gut erreichbar. Und vor allem ohne sein Misstrauen zu erwecken. Seinen BMW hatte er vor neugierigen Blicken geschützt in einem abgelegenen Waldweg in der Nähe geparkt. Das war nicht verdächtig. Vielmehr sah es so aus, als ob jemand seinen Abendspaziergang nach einem anstrengenden Arbeitstag in Ruhe genießen wollte und dazu direkt in den Wald gefahren wäre. Günther Ludwig hatte keine Ahnung, wem er da gegenüberstand und zu was er in der Lage war. Nicht ohne Grund war er so erfolgreich in dem was er tat. Es war geradezu einfach, ihn bei seiner Ankunft auf seinem lächerlichen Fahrrad zu beobachten und sich ihm lautlos zu nähern. Das war sozusagen die Generalprobe für das, was noch kommen sollte. Ziel des Gesprächs war für ihn gewesen zu erfahren, was Günther Ludwig wusste und wen er noch eingeweiht hatte. Dass der Trottel so naiv war und niemandem von den Problemen erzählt und über das Treffen informiert hatte, war schon bemerkenswert. Es passte sehr gut, dass Günther Ludwig das Treffen so kurzfristig vorgeschlagen hatte. Dadurch hatte dieser wenig Zeit zum Nachdenken und zur Vorbereitung. Der Rest war ein Kinderspiel und er mitten in seinem Element. Der erste Schlag war für ihn wie eine Befreiung, das Geräusch beim Auftreffen auf den Schädel ein Genuss. Dieses Gefühl der Macht über Leben und Tod hatte er schon einmal erlebt und es ließ sich einfach nicht in Worte fassen. Günther Ludwig hatte keine Chance zur Gegenwehr, dazu schlug er zu schnell und gezielt zu. Aber wenigstens etwas Gegenwehr wäre doch wünschenswert gewesen. Ein leichtes Schmunzeln durchzuckte sein Gesicht bei diesem Gedanken, aber jetzt musste er sich wieder auf seinen nächsten Schritt konzentrieren, denn jeder Fehler konnte sich bitter rächen. Aber Fehler machte er nie. Dafür war er einfach zu gut.
Kapitel 1
3
Kriminaloberkommissar Tim Beck saß an seinem Schreibtisch in dem Dienstzimmer der Mordkommission in Brandenburg an der Havel. Er blickte gedankenverloren aus dem Fenster des zweiten Stocks. Das Dienstzimmer war zweckmäßig eingerichtet. Neben zwei hellbraunen Schreibtischen gab es ein Sideboard und einen Aktenschrank sowie ein großes Whiteboard, das an der Wand befestigt war. Die Wände waren weiß verputzt und der Fußboden mit hellgrauem Linoleum ausgelegt. Durch die beiden großen Fenster wirkte der Raum hell und großzügig geschnitten. Sein Kollege, Kriminaloberkommissar Rainer Sauer, saß ihm gegenüber und war auf seinen Bildschirm konzentriert, um den Abschlussbericht zu ihrem letzten Fall zu schreiben. Dabei hämmerte Rainer so sehr auf die Tastatur ein, dass Tim sich nicht sicher war, ob Rainer gerade wirklich den Computer oder eher eine alte Schreibmaschine nutzte.
Rainer war jetzt schon seit zwölf Jahren sein Kollege und seit fünf Jahren arbeiteten sie beide als Ermittler bei der Mordkommission der Polizeidirektion West in Brandenburg zusammen. In den gemeinsamen Jahren war eine Art Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Aufgrund ihres unterschiedlichen Körperbaus wurden Tim und Rainer von den Kollegen gerne „Pat und Patachon“ genannt. Tim war sich nicht sicher, ob Rainer dies wirklich witzig fand, auch wenn er es immer betonte und mit den Kollegen darüber lachte. Seine Vorliebe für karierte Hemden, kombiniert mit Jeans und Lederjacke, dazu seine dunklen Naturlocken, die sein rundes Gesicht umgaben, betonten sein Übergewicht und sein markantes Doppelkinn. Doch in der Mordkommission wusste jeder Kollege, dass man Rainers Fähigkeiten als Ermittler keinesfalls von seinem Äußeren ableiten sollte. Tim dagegen wirkte durch seine schlanke, sportliche Figur und seiner Körpergröße äußerlich wie eine Art Gegenpol zu Rainer. Mit seinen 1,90m überragte er viele seiner Kollegen deutlich. Während Tim eher ein ernster Gesichtsausdruck und eine sachliche Art ausmachten, fiel Rainer durch seine stets gute Laune und seine lockeren Sprüche auf.
Tim hatte in diesem Augenblick Mühe, sich auf den Abschluss ihres letzten Falles zu konzentrieren. Die Körperverletzung mit Todesfolge hatten sie schnell aufgeklärt. Jetzt lag es an der Staatsanwältin und dem zuständigen Gericht, den von ihnen überführten Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Tim und Rainer waren stolz auf ihre sehr hohe Aufklärungsquote bei ihren Fällen. Aber zum Leidwesen von Tim gehörte zu jeder Ermittlung eine lückenlose Dokumentation der Kriminalpolizei, auch wenn er sich lieber auf die eigentlichen Ermittlungen konzentrierte. Zum Glück machte Rainer das Anfertigen des Abschlussberichts zu ihrem letzten Fall nichts aus, so dass Tim sich seinen Gedanken zu seiner beruflichen Zukunft und der Vereinbarkeit mit dem Familienleben widmen konnte. Er liebte seinen Beruf als Ermittler bei der Mordkommission. Er konnte sich keinen erfüllenderen und abwechslungsreicheren Beruf vorstellen. Bis heute trieb ihn sein sehr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und sein sehnlicher Wunsch, die Welt nicht nur für seine Familie etwas sicherer zu machen, an. Genau wie beim letzten Fall, empfand Tim bei jedem abgeschlossene Fall ein geradezu euphorisches Glücksgefühl, insbesondere in dem Augenblick, wenn sie den Täter überführt hatten. Auf dem Weg dahin war er ohne einen Augenblick zu zögern bereit, seine Gesundheit und, im Zweifelsfall, auch sein Leben zu riskieren. Zum Glück war dies bisher immer gut für ihn ausgegangen. Aber Tim wusste, dass seine hohe Risikobereitschaft wie ein Ritt auf der Rasierklinge war.
Das waren genau die Worte, die seine Frau Sarah gerne benutzte, wenn sie wieder über Tims Prioritäten in seinem Leben diskutierten. Er hasste diese Diskussionen mit ihr und war froh, wenn sie endlich vorbei waren. Irgendwie hatte er dabei immer das Gefühl, am kürzeren Hebel zu sitzen. Es fiel ihm schwer, mit ihren Vorwürfen konstruktiv umzugehen. Oft zog er sich noch während der Diskussionen innerlich in eine Art Schneckenhaus zurück und ließ es einfach geschehen. Er liebte seine Frau und ihre gemeinsame Tochter Lea und genoss die Zeit mit beiden. Aber Tim spürte oft eine Art innere Zerrissenheit zwischen der Leidenschaft für seinen Job mit all den zeitlichen Belastungen auf der einen Seite und dem Familienleben auf der anderen Seite. Er würde so viel dafür geben, die Zauberformel für den Einklang beider Welten zu besitzen! Denn das Leben war für die vielen Diskussionen mit Sarah zu kurz.
Plötzlich wurde Tim aus seinen Gedanken gerissen, als Rainer ihm auf die Schulter haute. „Aufwachen du Tagträumer!“ Kriminalkommissar Sven Ziegler stand in der Tür und grinste. Er war als Sachbearbeiter ebenfalls Mitglied im Team der Mordkommission und wiederholte seine Nachricht an Tim und Rainer. „Dann wiederhole ich nochmal, was ich gesagt habe. Gerade hat sich die Schutzpolizei Zossen gemeldet. Ein Toter wurde in der Waldstadt Wünsdorf entdeckt. Die Schutzpolizei hat den Fundort gesichert, hält einen Zeugen fest und wartet auf euch. Ich habe gesagt, dass ihr euch direkt auf den Weg macht. Die Kriminaltechnik habe ich auch bereits informiert. Sie werden gleich losfahren.“ Die Kriminaltechnik war in der Polizeidirektion West für die kriminaltechnische Tatortarbeit verantwortlich und gehörte immer mit zu den ersten am Tatort.
Tim und Rainer sprangen auf, holten ihre Dienstwaffen und den Fahrzeugschlüssel und eilten zu ihrem Dienstfahrzeug im Innenhof der Polizeidirektion. Dort angekommen gab Tim die von Sven Ziegler genannte Adresse ins Navi ein. ‚Das war es wohl mit dem frühen Feierabend und dem netten Familienabend!‘, dachte Tim.
4
Normalerweise benötigte man für die Fahrt nach Wünsdorf über eine Stunde. Mit Blaulicht und Sirene ging es etwas schneller. Zumindest solange, bis der Verkehr dicht und zähfließend wurde. Nachdem Rainer sie mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene zügig und geschickt aus der Stadt gebracht hatte, kamen sie auf der Autobahn Richtung Osten schnell voran. Rainer fuhr mit hoher Geschwindigkeit konzentriert auf der linken Spur der Autobahn und kämpfte sich Fahrzeug um Fahrzeug voran. Tim beobachtete die Autos, die sie überholten. Der deutsche Autofahrer beherrschte im Gegensatz zu denen anderer Länder das Bilden der Rettungsgasse im Stau in der Regel ganz gut. Dagegen fiel es aber vielen anscheinend schwer, den mühsam erkämpften Platz auf der linken Spur der Autobahn aufzugeben und sie passieren zu lassen. Sie saßen schweigend nebeneinander. Tim betrachtete den roten Asphalt, den er nur von diesem Autobahnabschnitt kannte, und fragte sich, was Sarah wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass er die nächsten Tage schon wieder bis spät abends an einem Mordfall arbeiten musste. Er wusste, dass die Insassen der Fahrzeuge ihn im Vorbeifahren neugierig musterten. Ein ziviles Polizeifahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht löste bei Schaulustigen Neugier und Sensationslust aus. Nach all den Jahren machten Tim die Blicke der Leute nichts mehr aus, außer sie behinderten die Rettungs- oder Ermittlungsarbeiten. Er konnte einfach nicht verstehen, was den Reiz des Gaffens für diese Leute ausmachte. Aber er wollte es auch nicht verstehen.
Rainer unterbrach seine Gedanken und fing ein unverfängliches Gespräch an. Tim musste grinsen. Rainer war nicht gerade dafür bekannt, Schweigen gut auszuhalten. Reden war genau wie das Rauchen etwas, das er gern und viel tat. Irgendwie war Tim aber auch froh, nicht mehr über das anstehende Gespräch mit Sarah denken zu müssen. „Haben Sarah und du diese Woche schon etwas geplant?“, wollte er wissen. „Außer, dass wir das Open Air Kino besuchen wollten, nichts Konkretes“, antwortete Tim. „Wisst ihr schon, welchen Film ihr euch anschauen wollt?“, fragte Rainer. „Ich glaube, irgendeine romantische Komödie. Ich kann mich aber an den Filmtitel nicht erinnern. Sarah hatte den Vorschlag für das Open Air Kino gemacht.“ Sie plante die meisten ihrer Freizeitaktivitäten. Dies war einer ihrer Kritikpunkte an Tim. „Da kenne ich mich sowieso nicht so gut aus, wie du weißt. Ich stehe mehr auf Action!“, antwortete Rainer. Tim eigentlich auch. Er liebte Actionfilme über alles. Aber da er wusste, dass Sarah romantische Filme mochte, hatte er ihrem Vorschlag direkt zugestimmt. „Was hast du denn die nächsten Abende geplant?“, wollte Tim nun wissen. „Auf jeden Fall werde ich meine Stammkneipe diese Woche wieder mit meinem Besuch beehren“. Tim kannte die Stammkneipe von Rainer. Sie lag nur zwei Straßen von dessen Wohnung entfernt. Neben der gemeinsamen Zeit in der Mordkommission trafen sich beide ab und zu auf ein Bier, meistens in dieser Kneipe. Dabei gesellten sich auch immer wieder andere Kollegen aus der Mordkommission dazu.
Mittlerweile waren sie von der Autobahn abgefahren und mühten sich über die engen Landstraßen, welche links und rechts durch große Laubbäume gesäumt waren. In unregelmäßigen Abständen konnte Tim an den Baumstämmen die von Autounfällen stammenden Narben in der Rinde sehen. Es war allgemein bekannt, dass in dieser Gegend immer wieder nachts Unfälle aufgrund überhöhter Geschwindigkeit passierten. Hier nützte ihnen ihr Blaulicht wenig. Die engen Kurven der schmalen Landstraße gaben die maximale Geschwindigkeit vor. Rainer wusste dies und die Kollegen der Polizei Zossen würden den Fundort nicht verlassen, bevor sie eingetroffen wären.
Rainer las gerne historische Bücher und wollte Tim unbedingt noch einen Überblick über die Waldstadt geben, bevor sie dort eintrafen. „Was weißt du eigentlich über Wünsdorf und insbesondere über die Waldstadt, zu der wir fahren?“, fragte er Tim. Dieser kannte das jetzt begonnene Ritual nur zu gut. Es fing immer mit einer Art Wissensabfrage durch Rainer an, die ihn sehr an seine Schulzeit im Fach Geschichte erinnerte. Tim wusste natürlich die Dinge, die den meisten Bewohnern aus Brandenburg und Berlin bekannt waren. Das große Militärareal in Wünsdorf beherbergte im Dritten Reich das Oberkommando der Wehrmacht und nach dem Zweiten Weltkrieg war es der Sitz des Oberkommandos der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Da der Zutritt streng reglementiert und fast ausnahmslos den sowjetischen Soldaten, Zivilbediensteten und ihren Familien vorbehalten war, wurde sie auch die „Verbotene Stadt“ genannt. Aber Tim wollte ihm nicht vorgreifen, daher tat er so, als ob er nichts zu dem Thema beizutragen hätte.
Jetzt war Rainer in seinem Element und begann seinen Vortrag. Er startete mit dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 und den in dieser Zeit entstandenen Artillerieschießplätzen, berichtete von der Entstehung der Bunkeranlagen der Wehrmacht und widmete sich ausführlich deren Nutzung durch die sowjetische Armee. Gerade als er über den Abzug der Russen 1994 erzählte, erblickten sie die Ansammlung von Streifenwagen, Rettungswagen und Notarzt. Tim war erleichtert, so sehr er auch Rainer mochte, aber auf diesen ausführlichen Geschichtsunterricht konnte er jetzt gut verzichten. Es wartete schließlich Arbeit auf die beiden. Tim merkte, wie seine Anspannung zunahm. Bei jedem neuen Fall spürte er diese Aufregung. Es war wie die Teilnahme an einem Sportwettbewerb, wenn einen ein Kribbeln kurz vor dem Start erfasste und die Spannung sich ins Unermessliche steigerte.
Kapitel 2
5
Seit seinem letzten Besuch vor drei Jahren hatte sich hier in der Waldstadt, wie der ehemals militärisch genutzte Bereich von Wünsdorf mittlerweile heißt, einiges verändert. Damals war Tim mit seiner Frau und seiner Tochter bei einem Familienausflug das erste Mal in der Waldstadt zu Besuch. Besonders spannend fanden sie die Bunkertour mit der Besichtigung der ehemaligen Wehrmachtsbunker. Für Lea schien damals die gemeinsame Zeit als Familie wichtiger zu sein, als der historische Rückblick bei der Führung. Sie hörte ihrem Führer der Tour kaum zu, sondern erzählte Tim und Sarah ohne Unterbrechung von der Schule.
Wo sie damals noch verlassene und dem Verfall preisgegebene Militärbaracken gesehen hatten, waren mittlerweile Einfamilienhäuser gebaut worden. Tim hatte gelesen, dass in der Waldstadt gerade in mehrere Neubaugebiete investiert wurde. Ziel war es, dass durch viele neu ansiedelnden Familien hier neues Leben entstehen konnte.
Rainer parkte den Dienstwagen hinter dem Streifenwagen. Nachdem sie ausgestiegen waren, kamen die beiden Kollegen der Schutzpolizei angelaufen, die als erste vor Ort waren. Tim und Rainer begrüßten sie mit Handschlag. Tim fiel sofort auf, dass der Ältere der beiden sehr abgeklärt wirkte, obwohl das Auffinden eines Toten für sie alles andere als alltäglich sein musste. Der Jüngere dagegen sah blass und mitgenommen aus. Er vermied es konsequent, auch nur in die Richtung des Toten zu schauen. Tim konnte ihm das nicht verübeln, denn er erinnerte sich noch gut an den Anblick, als er das erste Mal einen Toten sah. „Gut, dass ihr endlich hier seid!“, meinte der ältere Polizist. Tim war voller Energie und konnte es kaum erwarten loszulegen. Daher übernahm er direkt die Gesprächsführung. „Wir haben uns beeilt, aber ihr kennt sicherlich den Weg von Brandenburg bis hierher. Es war ziemlich voll auf der Autobahn. Was habt ihr denn bisher herausgefunden?“ Der ältere Polizist nahm sein kleines Notizbuch hervor und berichtete, was sie wussten. „Also, heute Morgen gegen halb zehn hat ein Spaziergänger mit seinem Hund die leblose Person entdeckt und den Notruf gewählt. Wir wurden zusammen mit dem Rettungswagen und der Notärztin hergeschickt.“ Tim drehte sich in die Richtung, in die der ältere Polizist gezeigt hatte. Ein älterer Mann mit brauner Cordhose und weißem Hemd stand etwas hilflos wirkend mit seinem Hund am Straßenrand auf der gegenüberliegenden Seite. Er schätzte den Mann auf Mitte sechzig. Neben ihm saß angeleint ein schwarzer Labrador und ließ seinen Besitzer nicht aus den Augen. „Nachdem uns die Notärztin mitgeteilt hatte, dass sie bei der Person nur noch den Tod feststellen konnte, erklärte sie uns, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine unnatürliche Todesursache handelte. Danach haben wir um zehn Uhr zwölf die Zentrale verständigt und den Tatort abgesperrt. Selbstverständlich haben wir den Toten nicht angerührt und darauf geachtet, dass möglichst wenig Spuren verwischt werden.“, fuhr der ältere Kollege der Schutzpolizei fort. Tim nickte. Das war das nach Dienstvorschrift übliche Vorgehen. Auch das Befragen von Zeugen fiel eindeutig in den Aufgabenbereich der Kriminalpolizei. Sobald eine unnatürliche Todesursache festgestellt wurde, schaltete die Schutzpolizei die Kriminalpolizei ein und blieb am Tatort, bis die Kriminalpolizei eintraf und übernahm. „Braucht ihr uns noch oder können wir fahren?“, wollte jetzt der jüngere Polizist ungeduldig wissen. Mittlerweile hatte sein Gesicht wieder eine gesunde Gesichtsfarbe. Allerdings vermied er immer noch jeden Blick zu dem Toten. Tim hatte den Eindruck, als ob er gerne so schnell wie möglich wieder die Streifenfahrt fortsetzen wollte. „Ihr könnt gleich wieder los. Es würde uns jedoch helfen, wenn ihr noch wartet, bis unsere Kollegen der Kriminaltechnik eintreffen und wenn ihr sie kurz einweist.“, erwiderte Tim. Die beiden Polizisten nickten zustimmend.
Die Notärztin, die bisher abseits gestanden hatte, ging auf Tim und Rainer zu. Nach einer kurzen Begrüßung berichtete sie, dass sie nur noch den Tod des Mannes feststellen könne und eine Reanimation zwecklos gewesen sei. „Was ich jedoch schon zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, ist, dass die Verletzungen des Opfers Zeichen äußerer Gewalteinwirkung aufweisen“, ergänzte sie. „Vielen Dank für Ihre Einschätzung. Wir werden uns das gleich näher anschauen.“ Tim blickte Rainer an. „Rufst du erst einmal die Staatsanwältin an? Wir sollten die Leiche erst begutachten, wenn der Rechtsmediziner und die Kollegen von der Kriminaltechnik ihre Arbeit beendet haben. Ich spreche währenddessen mit dem Spaziergänger.“ Rainer nickte.
Rainer rief die zuständige Staatsanwältin an, um sie zu informieren und um den Einsatz des Rechtsmediziner vor Ort zu bitten. Gleichzeitig ging Tim zu dem Spaziergänger, der die Leiche gefunden hatte, um ihn zu befragen.
Tim stellte sich kurz vor, beugte sich dann langsam zu dem Hund und streichelte den Labrador am Kopf. Dieser erwiderte die Streicheleinheiten mit treuem Blick und schnellem Schwanzwedeln. Tim war verrückt nach Hunden und insbesondere Labradore hatten es ihm angetan. Das lag nicht nur an ihrem Aussehen. Sie waren mittelgroß und kräftig gebaut, besaßen einen breiten Schädel und liebten das Apportieren. Tim war besonders von ihrem gutmütigen und gelassenen Wesen fasziniert.
Als er die Personalien des Spaziergängers aufnehmen und mit der Befragung beginnen wollte, stupste ihn der Hund mit seiner Schnauze sanft aber fordernd am Oberschenkel an. Der Spaziergänger zog ihn zurück und entschuldigte sich. Tim lachte: „Machen Sie sich keine Sorgen! Ich habe auch einen Labrador zu Hause. Ich kenne ihre fordernde Art, was Streicheleinheiten betrifft, nur zu gut.“ Der Spaziergänger lächelte und wirkte auf Tim jetzt etwas entspannter. Außer zu dem Zeitpunkt des Auffindens des Toten und dem bereits bekannten Ablauf der Benachrichtigung und des Eintreffens der Schutzpolizei konnte der Spaziergänger keine neuen Hinweise geben. Tim gab ihm den Personalausweis zurück und verabschiedete sich.
In diesem Moment traf die Kriminaltechnik ein. Tim ging ihnen entgegen und begrüßte sie. Er kannte die Kollegen vom Dezernat Ermittlungsunterstützung, nicht nur weil sie im gleichen Gebäude der Polizeidirektion untergebracht waren, sondern auch wegen der Zusammenarbeit in mehreren Fällen. Es waren nicht viele Worte notwendig und die Kollegen fingen sofort mit der Sicherung möglicher Spuren an. Tim nutzte die kurze Pause und sah sich um. Er hatte sich über die Jahre ein einfaches, aber strukturiertes Vorgehen angeeignet. Es half ihm, sich den Fundort beziehungsweise den Tatort sehr genau einzuprägen. Bis jetzt war es noch nicht nachgewiesen, dass der Fundort der Leiche hier auch der Tatort war. Üblicherweise suchte Tim sich einen Platz, vom dem er einen guten Rundumblick hatte und drehte sich langsam im Uhrzeigersinn um die eigene Achse. Dabei betrachtete er die Umgebung und merkte sich gezielt markante Punkte. Genauso ging er jetzt vor.
Tim stand auf der schmalen Straße, die in Richtung der ehemaligen Schießbahnen führten. Dies hatte er aus der damaligen Führung in der Waldstadt von vor drei Jahren noch in Erinnerung behalten. Vor sich sah er in einiger Entfernung das Neubaugebiet mit ersten Einfamilienhäusern, an dem sie vorhin vorbeigefahren waren. Dieses ging in eine Wiese über, aus der einzelne Baumstümpfe herausragten. Ein Bagger und eine Planierraupe standen dort. Anscheinend sollten hier weitere Häuser gebaut werden. Allerdings waren noch keine Zufahrtswege zu erkennen. Zu seiner Rechten ging die Straße nach ungefähr zweihundert Metern in eine Linkskurve über und verschwand in einem Laubwald. Als er sich umdrehte, erkannte er neben der Straße eine Gruppe junger, schmal- und hochgewachsener Laubbäume auf einer Wiese. Als er seinen Blick weiter nach rechts in Richtung des Toten drehte, ging die Wiese abrupt in einen Laubwald über. Der Tote lag direkt am Waldrand angelehnt an einen im Gras befindlichen Baumstamm. Daneben lagen drei weitere Stämme, die vermutlich Waldarbeiter zugesägt hatten. Sie bildeten eine Art Barriere zwischen der Wiese und dem Wald. Vor den Baumstämmen schlängelte sich ein Trampelpfad von der Straße entlang des Waldrandes. Der Spaziergänger hatte Tim berichtet, dass er mit seinem Hund von dort kam, als er die Leiche entdeckte. Der Pfad endete direkt vor Tim an einer rotweißen Schranke, an der ein Schild mit einem Warnhinweis von Munitionsresten im Gelände befestigt war. Ein schwarzes Hollandrad lehnte an der Schranke. ‚Vermutlich gehört es dem Toten‘, dachte Tim.
Er hatte genug gesehen. „Macht bitte ausreichend Fotos von der Umgebung. Untersucht auch beide Seiten des Straßenrandes. Vielleicht war der Täter mit seinem Auto hier und wir können Reifenspuren sichern.“ Allerdings hatte Tim nicht viel Hoffnung, dass sie brauchbare Spuren finden werden. Aber einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Die Kollegen der Kriminaltechnik nickten ihm zu. Als Tim auf Rainer zuging, hörte er hinter sich Schritte. Ein anderer Kollege der Kriminaltechnik trat heran. „Was gibt es?“, fragte Tim. „Die hier hatte der Tote bei sich.“ Der Kriminaltechniker gab ihm die Brieftasche des Toten. Tim durchsuchte sie und zog einen Personalausweis heraus.
6
Ein silberner Sportwagen fuhr am Tatort vor und hielt direkt vor Rainer und Tim. Die Staatsanwältin Dr. Anna Richter stieg aus und begrüßte beide. Tim freute sich sie wiederzusehen. Auch wenn sie aufgrund der Vielzahl parallel zu bearbeitenden Fälle immer in Eile und Zeitdruck war, war die Zusammenarbeit mit ihr bisher immer sehr vertrauensvoll und angenehm gewesen. Mit ihren dreiundfünfzig Jahren war sie immer noch äußerst attraktiv. Ihre großen Ohrringe mit ihren offenen schwarzgrauen, schulterlangen Haaren betonten ihr zierliches Gesicht. Sie lächelte ihn an: „Schön, Sie wiederzusehen, Herr Beck. Leider habe ich nur sehr wenig Zeit und muss gleich zu einer wichtigen Besprechung zurück in die Staatsanwaltschaft. Bitte geben Sie mir einen kurzen Überblick.“ Tim nickte. Es war allgemein bekannt, dass sie äußerst effektiv und effizient arbeitete und daher oft zusätzliche Fälle zur Bearbeitung bekam. Jeder wusste, dass ihr Zeitdruck keinesfalls gespielt sondern ihre tägliche Herausforderung war.
Tim nahm sie mit Rainer zusammen zur Seite und berichtete ihr kurz, was sie bisher an Informationen zusammentragen konnten. „Der männliche Tote heißt Günther Ludwig, war 48 Jahre alt und lebte hier in Wünsdorf. Die Kollegen der Schutzpolizei haben gerade eine Abfrage durchgeführt. Unter der Meldeadresse sind keine weiteren Personen eingetragen. Niemand hatte Günther Ludwig bis zum jetzigen Zeitpunkt als vermisst gemeldet.“ Die Staatsanwältin schaute sich mit Tim und Rainer den Fundort des Toten an. „Meine Herren, ich habe auf der Fahrt hierher bereits mit ihrem Chef telefoniert. Wir werden heute Abend die erste gemeinsame Besprechung bei Ihnen in der Mordkommission durchführen.“ Beide nickten zustimmend. Bei Mordermittlungen war es üblich, dass die Staatsanwaltschaft frühzeitig in die Ermittlungen eingebunden sein wollte. Und Dr. Anna Richter hatte klare Vorstellungen davon, wie dies konkret auszusehen hat.
In diesem Moment fuhr ein weiteres Fahrzeug vor. Der Rechtsmediziner Dr. Ulf Bergmann hielt direkt vor ihnen und stieß zur Gruppe dazu. Nachdem er jedem die Hand gegeben hatte, nahm er seine Brille mit dem dicken, schwarzen Gestell ab und putze sie. Das war ein kleiner, aber wie Tim fand, sympathischer Tick von ihm. Er berichtete ihm kurz von dem Fund des Toten, der Untersuchung durch die Notärztin und dass der Tote bisher nicht bewegt wurde. Dr. Bergmann nickte kurz: „Vielen Dank Herr Beck. Dann mache ich mich mal an meine Arbeit.“ Er ging rüber zur Notärztin um sich von ihr einweisen zu lassen.
Während die Staatsanwältin ein paar Telefongespräche führte, beobachtete Tim den Rechtsmediziner, der sich mittlerweile umgezogen und mit der Untersuchung des Toten begonnen hatte. Im weißen Schutzanzug sah er aus wie einer der Kollegen der Kriminaltechnik. Normalerweise arbeitete Dr. Ulf Bergmann in der Rechtsmedizin am Brandenburgischen Institut, Außeneinsätze waren für einen Rechtsmediziner eher die Ausnahme. Gemeinsam mit der Staatsanwältin hatten Tim und Rainer aber vorhin beschlossen, ihn schon am Fundort mit der Untersuchung des Toten beginnen zu lassen. Denn jede Spur konnte bei den Ermittlungen helfen. Und bisher hatten sie noch keinerlei konkreten Hinweise zur Tat und deren Umständen.
Nachdem der Rechtsmediziner seine Untersuchung abgeschlossen hatte, kam er wieder zu ihnen und gab ihnen einen kurzen Bericht. Natürlich konnte er ohne Obduktion noch nicht viel sagen, aber Tim war immer wieder fasziniert, welche umfassenden Informationen ein Rechtsmediziner bereits durch eine erste oberflächliche Untersuchung geben konnte. „Was ich ihnen aktuell dazu sagen kann ist Folgendes“, begann Dr. Bergmann. „Der Tote hat eine Kopfwunde, die aufgrund seines dichten schwarzen Haares nicht direkt ersichtlich ist. Allerdings konnte ich beim Ertasten des Schädels eine Fraktur feststellen. Weiterhin weist der Oberkörper des Opfers blaue Flecke und Rippenbrüche auf. Vermutlich starb das Opfer aufgrund stumpfer Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf. Das ist selbstverständlich nur eine erste Einschätzung von mir. Die zusätzlich am Oberkörper festgestellten Hautabschürfungen scheinen ebenfalls vom Tatwerkzeug zu stammen.“ Tim fragte den Rechtsmediziner, was er zum Tatwerkzeug und dem Todeszeitpunkt sagen kann. Dr. Bergmann nahm erneut seine Brille ab und begann sie zu putzen. Seine kleinen Augen blickten Tim ernst an. „Wie immer eine gute Frage, Herr Beck. Das Tatwerkzeug scheint ein länglicher Gegenstand gewesen zu sein. Das lässt sich aus dem Verletzungsmuster erkennen. Alles Weitere dazu ist noch Untersuchungsgegenstand der Obduktion. Bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes hilft uns das warme Juniwetter keineswegs. Da der Unterschied zwischen Körperkerntemperatur des Toten und der Umgebungstemperatur nicht groß genug war, kann ich den Zeitraum nur auf gestern Abend bis heute Nacht eingrenzen.“ Zu genaueren Angaben wollte er sich trotz hartnäckiger Nachfrage von Tim nicht festlegen. Allerdings gab Dr. Bergmann der versammelten Gruppe einen wichtigen Hinweis. Da an der Leiche keine Schleifspuren feststellbar waren, schien der Fundort zugleich auch der Tatort zu sein. Die Staatsanwältin hatte genug gehört. Nach einer flüchtigen Verabschiedung stieg sie in ihren Sportwagen ein und fuhr los.
Nachdem der Rechtsmediziner den Toten zum Abtransport freigegeben hatte und die Kriminaltechnik auch noch keine konkreteren Hinweise geben konnten, entschieden Tim und Rainer, zum Haus des Toten zu fahren. Trotz mehrmaligen Durchsuchens der Taschen von Jacke und Hose des Opfers waren keine Haustürschlüssel zu finden. Ebenso wenig hatte die Kriminaltechnik im Umkreis des Fundortes etwas gefunden, was der Tatwaffe hätte entsprechen können, geschweige denn noch einen Schlüsselbund. Rainer rief den örtlichen Schlüsseldienst an und verabredete sich mit ihm am Haus des Toten. Sie stiegen in ihren Dienstwagen und fuhren Richtung Ortsmitte von Wünsdorf.
7
Mittlerweile war es schon Nachmittag. Rainer hielt kurz an einer Bäckerei, um belegte Brötchen und Kaffee zu kaufen. Tim nutzte die Zeit um Sarah anzurufen. Sie kannte die Erfordernisse seines Berufs nur zu gut und hatte sich schon daran gewöhnt, wenn er kurzfristig Verabredungen absagen oder auch nachts arbeiten musste. Er teilte ihr mit, dass er nicht weiß, wann er am Abend nach Hause kommen würde. Auch wenn sie am Telefon Verständnis für die Verschiebung ihres gemeinsamen Abends äußerte, meinte Tim ihre Enttäuschung spüren zu können. So richtig konnte er es nicht nachvollziehen, denn außer einem gemeinsamen Abendessen mit Lea und einem Fernsehabend zu Hause, hatten sie nichts weiter geplant. Traurigkeit und gleichzeitig Wut spürte Tim in sich aufkommen, nachdem er das Telefonat mit Sarah beendet hatte. Auch er hatte sich auf den gemeinsamen Abend mit ihr gefreut. In letzter Zeit hatten sie nicht viel Zeit füreinander aufbringen können, was neben dem Beruf von Tim auch an der Selbstständigkeit von Sarah mit ihrer Konditorei lag. Aber er hasste es, dass sie ihm immer irgendwie unterschwellig die Schuld dafür gab.
Rainer kam zurück zum Dienstfahrzeug und reichte Tim einen Becher Kaffee und ein mit Käse belegtes Brötchen. Da der Schlüsseldienst mitgeteilt hatte, dass er erst in einer viertel Stunde am Haus von Günther Ludwig sein konnte, hatten sie Zeit für eine erste kurze Pause am heutigen Tag. „Lass es dir schmecken“, sagte Rainer und nahm einen großen Bissen von seinem Wurstbrötchen.
Als sie am Haus eintrafen, wartete der Mann vom Schlüsseldienst schon auf sie. Nachdem Rainer ihm die Durchsuchungsanordnung gezeigt hatte, die die Staatsanwältin zuvor ausgestellt hatte, holte er sein Werkzeug und ging zur Haustür. Tim betrachtete das rotbraune Backsteinhaus. Die Rollläden der drei Fenster im Erdgeschoss waren geschlossen. Die Gardinen der beiden Giebelfenster waren vergilbt. Der Innenhof war durch ein hohes Wellblechtor geschützt, das offen stand. Dahinter kam ein gepflasterter Innenhof zum Vorschein, auf dem zwischen den Fugen hohe Gräser wuchsen und den sich die Natur Stück für Stück zurückeroberte. Das Haus machte auf Tim einen einsamen und traurigen Eindruck. Am Fenster des Nachbarhauses bewegte sich die Gardine. „Schau mal dort drüben, mal wieder einer dieser wachsamen Nachbarn.“, entfuhr es Tim. Er beschloss, gleich nach der Hausdurchsuchung dort zu klingeln und ein paar Informationen über Günther Ludwig zu erfragen.
Mittlerweile hatte der Fachmann vom Schlüsseldienst die Haustür erfolgreich geöffnet. Tim quittierte ihm den Einsatz und verabschiedete sich von ihm. Dann betraten er und Rainer das Haus. Im Flur roch es abgestanden und muffig, als ob hier nicht oft gelüftet worden war. Sie teilten sich auf. Während Rainer nach links in die Küche abbog, ging Tim in das Wohnzimmer. Ein altes Sofa mit zwei Sesseln und ein dunkler Couchtisch nahmen einen Großteil des Wohnzimmers ein. Tim öffnete den Rollladen, um mehr Licht in den Raum zu lassen. An der gegenüberliegenden Wand war eine deckenhohe Schrankwand aus dunklem Holz angebracht. In den Regalen befanden sich viele Bilderrahmen mit Fotos. Das Wohnzimmer erinnerte Tim an das seiner Großeltern. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Günther Ludwig den Raum selbst so eingerichtet hatte. Er betrachtete die vielen Bilderrahmen. Neben Familienfotos mit zwei Kindern waren einzelne Fotos von einem Jungen und einem Mädchen zu sehen. ‚Der Junge könnte Günther Ludwig sein‘, dachte Tim. ‚Dann müsste er also eine Schwester haben‘. Plötzlich rief Rainer nach ihm. Er hatte mittlerweile die Küche und das Esszimmer durchsucht ohne etwas Auffälliges zu finden. Jetzt stand er in einem Raum, der das Arbeitszimmer sein musste. Als Tim den Raum betrat, versperrte Rainers Körper einen Durchgang zu einem weiteren Zimmer. Dieser schien das Interesse von Rainer geweckt zu haben. Als Tim näher trat, verstand er warum. „Sieh dir das mal an! Da hat wohl einer Privatdetektiv gespielt!“ Und zeigte auf die Wände.
Der Boden war mit einem dunkelbraunen Teppich bedeckt, der von Trittspuren und einzelne Flecken mitgenommen aussah. Außer einem einfachen Tisch mit darauf gestapelten Aktenmappen enthielt der Raum keine weiteren Möbel. Allerdings war die gegenüberliegende Wand von unten nach oben mit einer Vielzahl von Dokumenten, Landkarten, Fotos, Zeitungsausschnitten und handbeschriebenen Postits bedeckt. Einige Dokumente und Fotos waren mit einer roten Schnur verbunden worden. Tim versuchte die Anordnung der Dokumente und Fotos nachzuvollziehen. Zentral in der Mitte der Wand hingen, neben dem Foto eines Mädchens, drei weitere Aufnahmen, die jeweils einen sowjetischen Soldaten in Ausgehuniform zeigten. Rainer stellte sich neben Tim und betrachtete die Wand. „Welchem Hobby ist dieser Günther Ludwig nur nachgegangen?“ Tim reagierte nicht, sondern betrachtete das Foto des Mädchens und die Zeitungsartikel genauer. Es handelte sich um mehrere Berichterstattungen aus dem Jahr 1989, die von der Vergewaltigung und dem Selbstmord eines Mädchens berichteten. Das Foto des Mädchens kam Tim bekannt vor. Er hatte es erst vor kurzem gesehen. Er drehte sich abrupt um und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen. Rainer lief hinter ihm her und wollte wissen, was mit ihm los sei. Doch Tim ging weiter, bis er im Wohnzimmer vor der Schrankwand stand. Er zeigte auf eines der gerahmten Fotos. „Sieh dir das an! Das ist das Mädchen aus dem Zeitungsartikel“. Beide gingen zurück in das Arbeitszimmer. Tim las die Zeitungsartikel über die Vergewaltigung nochmals durch und entdeckte in der Bildunterschrift schließlich den Namen Beate Ludwig. „Dann wird sie seine Schwester gewesen sein?“, meinte Rainer.
Es schien, als ob Günther Ludwigs Schwester 1989 vergewaltigt worden war und sich einige Wochen später das Leben genommen hatte. So viel konnten Tim und Rainer in der kurzen Zeit schon ableiten. Aber was hatte es mit all den anderen Dokumenten und Fotos auf sich? Günther Ludwig schien mit seinen Recherchen viel Zeit verbracht zu haben. Vielleicht ergab sich hieraus eine Spur. Rainer rief die Kollegen der Kriminaltechnik an und bat sie, nach Abschluss der Untersuchungen am Tatort, direkt hierher zum Haus zu kommen.
Zwischen den Aktenmappen auf dem Tisch entdeckte er ein Smartphone. Das erklärte auch, warum sie am Tatort kein Handy finden konnten. Tim nahm es in die Hand. Da es eingeschaltet und der Bildschirm nicht mit einem Passwort geschützt war, konnte er durch die Anrufliste scrollen. „Heutzutage hat doch jeder sein Smartphone mit einem Passwort geschützt. Anscheinend hatte Günther Ludwig keine Sorge, dass jemand sich für sein Telefon interessiert!“ Rainer schaute Tim an. „Ich wusste gar nicht, dass man überhaupt den Sperrbildschirm ohne Passworteingabe deaktivieren kann.“ Tim grinste. „Vielleicht solltest du mal Sven fragen. Unser junger Kollege ist doch so fit in der digitalen Technik. Er kann dir sicherlich noch viel zu deinem Smartphone beibringen.“ Rainer schnaubte: „Als ob du schon in der digitalen Welt angekommen wärst. Ohne deine Tochter wüsstest du noch nicht einmal, wie man ein Smartphone einschaltet.“ Tim musste lachen. Rainer hatte recht. Durch Lea lernte er viel über Smartphones und Social Media. Aber ihm reichte es Nachrichten und Fotos zu versenden. Er konnte nicht nachvollziehen, was seine Tochter an Social Media so spannend fand. Tim ging weiter die Anrufliste durch. „Seinen letzten Anruf hatte der Tote gestern Nachmittag von einer unbekannten Nummer erhalten. Davor hatte er eine Festnetznummer in Berlin angerufen.“ Zwei Nummern, die auch unter Kontakten gespeichert waren, fielen Tim besonders auf. Günther Ludwig schien regelmäßig mit einem Mike Kühn und einer Ute Hoffmann zu telefonieren. Er nahm sich vor, die beiden am nächsten Tag mit Rainer zu befragen.
Anschließend gingen sie ins Dachgeschoss des Hauses. Rainer stieß sich im Schlafzimmer den Kopf an der Dachschräge und fluchte. Tim musste lachen, denn Rainer war mindestens zehn Zentimeter kleiner als er und schaffte es dennoch sich hier den Kopf zu stoßen. „Respekt, das muss man erst einmal hinbekommen. So klein und trotzdem stößt du dir den Kopf. Was würde erst passieren, wenn du so groß wie ich wärst?“ Rainer rieb sich vor Schmerzen den Hinterkopf. „Frag lieber, ob ich mir wehgetan habe. Nicht dass ich eine Beule bekomme und meine Attraktivität darunter leidet.“ Rainer ahmte mit seinen Händen seine Figur nach.