Flüchtige Nähe - Peter Kislig - E-Book

Flüchtige Nähe E-Book

Peter Kislig

4,8

Beschreibung

Kurzgeschichten Umschlagtext: Aus dunklen, unbekannten Tiefen kämpfte sich durch dichte Schwaden, zuerst zaghaft sich erhebend, dann alle Fesseln zerreissend, ein jubelndes «Sie kommt, sie kommt» in schwindelerregende Höhen, bis eine verborgene Gegenseite das Hochgefühl mit schweren Seilen wieder in die Tiefe zog... Flüchtige Nähe ist eine der sechs wunderbaren Erzählungen des Schweizer Autors Peter Kislig, die eigentlich viel mehr als nur Geschichten sind. Die flüssige, wunderbare Sprache des Autors lässt den Wunsch, weiter zu lesen, sehr deutlich werden. Man fühlt sich in die Geschichten hineingezogen und vermag es kaum, aus ihrem Bann zu entfliehen. Mit weichen, klugen Worten schreibt der Autor über flüchtige Begegnungen, die Schwäche der Menschen, die Empfindsamkeit der Seele und über die Erkenntnis, dass in jedem Menschen etwas Einzigartiges verborgen ist. Ein Buch, das in die Seele dringt und zum Nachdenken anregt..

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Peter Kislig

Flüchtige Nähe

Die Geschichte einer Nacht und andere Erzählungen

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Impressum:

© 2010 Verlag Kern

© Inhaltliche Rechte bei Peter Kislig (Autor)

2. Auflage Mai 2011

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Verlag und Herstellung: Verlag Kern

www.Verlag-Kern.de, Bayreuth

Lektorat: Sabine Greiner

www.texte-und-co.de

Umschlaggestaltung und Satz: www.winkler-layout.de

ISBN 9783939478638

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Der Barpianist

Mir träumte, ich wär ein Baum

Flüchtige Nähe

Die Unscheinbare

Die Schlangenfrau

Das große Gesetz

Weitere Highlights

Der Barpianist

Ein verhangener Herbsttag lag über Salzburg, als der Zug langsam in den Bahnhof einfuhr. Auf der Taxifahrt ins Hotel zogen hinter den glänzenden Scheiben pastellfarbene Häuserreihen vorbei. Die zielstrebigen Leute, die ihrer Arbeit nachgingen oder mit Einkäufen beschäftigt waren, machten mir bewusst, dass ich für ein paar Tage von diesen Alltagsfesseln befreit sein würde.

Beim Gedanken, keinem Bekannten zu begegnen, von keinem störenden Handy erreicht zu werden, im Müßiggang zwischen unbekannten Menschen durch eine fremde Stadt zu streifen und einladende Kneipen und Restaurants ausfindig zu machen, durchströmte mich ein tiefes Wohlbehagen.

Am Abend besuchte ich ein Dinnerkonzert im Stiftskeller St. Peter. Zwischen den Gängen unterhielten historisch gekleidete Musiker und Sänger das wohlgelaunte Publikum mit Ausschnitten aus Mozartopern.

Zurück im Hotel legte mir mein Verstand nahe, nach Reise, Konzert und üppigem Mahl, schlafenzugehen. Als ich aber die Krawatte nur zögerlich auszog, wurde klar, dass die Vernunft verloren hatte und ich noch die Bar aufsuchen würde.

Gründe gab es genug. Wenn wir mehrere Tage im selben Hotel verbringen, fühlen wir uns ein wenig zu Hause. Der Portier beim Eingang, die Leute an der Réception grüßen uns Gäste nach kurzer Zeit mit einem vertrauten Lächeln wie alte Bekannte. Allein aus diesem Grunde ist es verständlich, dass wir nach und nach die öffentlichen Räume unserer Herberge erkunden wollen. In der Bar, der intimsten Lokalität des Hotels, entscheidet sich oft, ob wir uns wohlfühlen oder Fremde auf der Durchreise bleiben.

Sachte floss das Klavierspiel des Pianisten durch die breiten offenen Doppeltüren in die Empfangshalle. Beim Betreten der Bar blieb ich für einen Moment stehen. Auf der linken Seite stand die langgezogene Bar, davor drei kleine Tische mit behaglich wirkenden Ledersesseln. Rechts saß der Pianist hinter dem Klavier, umrahmt von großzügigen Sofas und Fauteuils.

Ich setzte mich an den ersten Tisch und hatte damit freie Sicht auf das Geschehen an der Bar und auf den Pianisten.

An der Theke saß eine attraktive, junge blonde Frau in einem smaragdgrünen, tief ausgeschnittenen Kleid und schäkerte mit dem südländisch aussehenden Barmann. Sie beugte sich vor, sodass sich ihre Köpfe beinahe berührten. Aus Wortfetzen konnte ich entnehmen, dass sie sich ärgerlich und abschätzig über eine Person äußerte. Als sie während des Gesprächs zuerst mit einer schnellen Kopfbewegung, dann mit der Hand fast verächtlich zur linken Seite wies, fiel mir erst auf, dass vor dem freien Stuhl neben ihr, ein volles Weinglas stand. Nun war ich neugierig, wer da kommen würde ...

An einem Tisch vergnügten sich drei Italiener, die laut parlierten und viel lachten. Links von mir, in der Ecke saß ein verliebtes junges Paar, das nur Augen für sich selbst hatte, Händchen hielt und in einen tiefen Dialog verstrickt war.

Der Barpianist, der sehr gut spielte und mich beim Eintreten routinemäßig mit einem auf das Nötigste beschränkten Nicken begrüßt hatte, legte eine Pause ein und holte sich an der Bar ein kleines Bier, ohne nach links oder rechts zu schauen. Seine Kleider waren etwas zu groß geschnitten für den hageren Körper. Er mochte um die Sechzig sein. Die wildwüchsigen dichten Haare und die buschigen Brauen hätten eigentlich auf einen aktiven, willensstarken Menschen schließen lassen, wäre da nicht dieser seltsam resignierte Blick gewesen, der gar nicht zu seinem Äusseren passen wollte. Aber auch der leicht gebeugte Körper und der schleppende Gang deuteten darauf hin, dass er vom Schicksal nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst worden war. Seine Erscheinung wirkte mit Ausnahme der schwarz glänzenden Schuhe fremd in dem spiegelbesetzten Raum.

Als er sich wieder ans Klavier setzte und abwesend zu spielen begann, wurde mir plötzlich klar, was der üblichen Barharmonie widersprach. Durch die Verschlossenheit des Pianisten fehlte das Lockere, die Zwanglosigkeit. Er spielte, als wäre er allein im Raum, als würde er nur für sich selbst spielen. Barpianisten aber brauchen den Blickkontakt mit den Gästen, wie Pflanzen das Wasser. Sein erloschener Blick schaute niemanden an. Die müden Augen schweiften ohne Pause vom Klavier über altrosafarbene Tapeten und Vorhänge hin und her, wie Zierfische, die im Aquarium auf engem Raum ruhig hin- und herschwimmen, ohne jemals den Eindruck zu erwecken, aus dieser kleinen Welt ausbrechen zu wollen.

Eine leise Wehmut überkam mich, als mir bewusst wurde, dass die Zeiten endgültig vorbei sind, als die Barpianisten jedem Eintretenden in die Augen schauten, als alle Stammgäste mit ihnen befreundet sein wollten und ihnen mehr offeriert wurde, als sie trinken konnten.

Ich erinnerte mich an ein dunkles Lokal in Bern. Der Pianist war der Mittelpunkt einer immer vollbesetzten Bar. Es gab noch keine Handys, durch die ihre Träger bis in die intimsten Winkel verfolgt und erreicht werden konnten. So verlief jeder Abend, ohne dass jemand von außen gestört wurde, wie ein kleines Fest, an dem man nur allzu gerne die Zeit vergaß. Der Pianist spielte die Lieblingslieder der Stammgäste, erfüllte die Wünsche der Zwischenrufer, erhöhte den Rhythmus bei Neueintretenden, nickte ihnen wohlwollend zu und machte seine Faxen, damit die Spender nicht sahen, wie die offerierten, aber nur halbleer getrunkenen Gläser vom Kellner diskret hinter das Buffet getragen wurden.

Ich glaube, dass damals ein Barpianist, der während des Spiels alles übersah, über das Privatleben und die Affären der Stammgäste bestens Bescheid wusste.

Ich winkte dem Barmann, als er sich von der Frau in Grün löste, um den Italienern eine neue Runde zu bringen.

«Ja, bitte?», fragte er.

«Noch ein Glas Wein und fragen Sie bitte den Pianisten, was er trinken möchte.»

«Er nimmt ein Bier», sagte er selbstsicher und überzeugend.

Als er ihm das Glas aufs Klavier stellte und mit einer leichten Kopfbewegung auf mich zeigte, schaute der Pianist überrascht auf; er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ihm einer der Gäste Beachtung schenken würde. Die Frau an der Bar interessierte sich nur für den Barmann. Die Italiener diskutierten laut lachend und das Liebespaar befand sich in einer anderen Welt.

Er hob das Glas, bedankte sich mit einem ernsthaften Nicken und nach einem tiefen Schluck flatterten die weiten Ärmel zu einer beschwingten Straussmelodie.

Der Barmann sagte leise etwas zu der Frau und lehnte sich zurück. Sie setzte sich jählings auf, ohne sich umzudrehen, warf den Kopf zurück und musterte interessiert die Decke.

Ein gut gekleideter Herr betrat sicheren Schrittes den Raum, schaute prüfend über die anwesenden Gäste und steuerte auf die Bar zu. Als er an meinem Tisch vorbeikam, grüßte er freundlich.

Die Brauen über den zurückliegenden Augen bildeten zwei wie von einem Zirkel gezogene Halbkreise, die, zusammen mit der zu lang geratenen Nase, seinem Gesichtsausdruck etwas Eulenartiges verliehen.

Als er auf die Frau zuging, kam ein Zögern in seinen sicheren Schritt. Die Hand, die er ihr auf die Schulter legen wollte, zuckte im letzten Moment zurück.

«Hallo, mein Liebes», sagte er und strich ihr unnatürlich steif und fast ängstlich mit der Hand über das blonde Haar. Sie war sichtlich nicht erfreut und drehte sich unwirsch zu ihm.

«Musst du mich so erschrecken, ich dachte, du schaust dir das Fussballspiel an», sagte sie und blickte auf die Uhr.

«Das Spiel ist praktisch entschieden, die Spanier führen 2: 0», sagte er und setzte sich umständlich vor das verwaiste Glas. Er trank den Wein in kleinen Schlucken und sprach mit dem Barmann über das Spiel. Nun schaute sich die Frau erstmals im Raume um.

Ihr Blick blieb nachdenklich auf dem Pianisten hängen, wahrscheinlich ohne ihn wirklich zu sehen, wandte sich für einen Augenblick den Italienern zu, um müde über mich hinweg noch kurz das Liebespaar zu streifen. Sie interessierte sich nicht für das Sportgespräch ihres Mannes und tat mit einem künstlichen Gähnen hinter vorgehaltener Hand kund, wie langweilig für sie hier an der Bar alles war ...

Mir war nicht entgangen, dass sich mit dem Auftauchen des Mannes der Blick des Pianisten ab und zu von der kleingemusterten Tapete löste und vorsichtig über die Bar schweifte. Langsam entstieg aus dem Dunkel seiner trägen Gleichgültigkeit ein Funken Leben. Ich beobachtete diskret, dass ihm das Geschehen an der Bar nicht gleichgültig war. Da er den Kopf stets vorsichtig und langsam wendete, hatte ich immer genügend Zeit, die Italiener zu fixieren, wenn sich sein Blick über mich der Bar zuwandte.

«Trinkst du noch was?», fragte der Mann an der Bar seine Frau und ließ «mein Liebes» diesmal weg.

«Nein, ich gehe zu Bett. Aber du kannst ruhig noch bleiben.»

«Auf Wiedersehen», sagte sie zum Barmann, ohne die Antwort ihres Mannes abzuwarten, und presste, für ihren Mann nicht sichtbar, die Lippen aufeinander, um ihren Unmut anzuzeigen. Stolz und hoch aufgerichtet verließ sie die Bar, ohne sich umzudrehen. Aus dem leichten Zusammensacken seines Oberkörpers und den entmutigten Augen war erkennbar, dass er ihr am liebsten gefolgt wäre. Die Distanz war aber schon zu groß; wäre er ihr mit einigen Metern Entfernung nachgegangen, hätten sogar die mit sich selbst beschäftigten Italiener und das Liebespaar die Unstimmigkeit mitbekommen. So bestellte er noch ein Bier und gab nur kurz und abwesend Antworten auf die Fragen des Barmanns.

Nach kurzer angemessener Zeit stand er auf, wünschte Gute Nacht und verließ die Bar. Auch ich hob nun die Hand, um die Rechnung zu verlangen und nahm die Eindrücke des Abends mit nach oben.

Am nächsten Morgen war es schon spät, als ich erwachte.Ein feuchtgrauer Himmel hing über der Stadt und ich beeilte mich, um noch rechtzeitig in den Frühstücksraum zu kommen. Die wenigen Leute, die noch da waren, saßen – mit einer Ausnahme – an den Fensterplätzen. Die Ausnahme bildete ein Mann, der Licht, Fluss und Stadt den Rücken wandte; der Barpianist. Auch ich setzte mich an die Fensterfront. Hinter der grüngrauen Salzach stand fest und erhaben von Nebelschwaden umflort die Altstadt von Salzburg. Sicher und unerschütterlich wachte die alte Festung über den Türmen des Doms und den nahe zusammenliegenden Kirchen. Mein Blick aber schweifte immer wieder in den hinteren Raum zurück.

Den Kopf schwer auf der offenen Hand über dem angewinkelten Arm aufgestützt, starrte er minutenlang auf einen vergilbten Tapetenfleck, als sei auf diesem schäbigen Punkt etwas nur ihm Zugängliches zu sehen. Obwohl ich später gekommen war, verließ ich den Raum vor ihm und ahnte nicht, dass er mir bereits am Nachmittag wieder begegnen sollte.

Vorerst aber bewog mich das trübe Wetter in der wohligen Wärme des Hotelzimmers zu bleiben. Ich schrieb zwei Briefe, streckte mich dann behaglich unter der warmen Bettdecke und las in einem mitgenommenen Buch.

Das Wetter besserte sich nicht und der Gedanke, dass es vielleicht Jahre dauern könnte, bis ich wieder Gelegenheit haben würde, nach Salzburg zu kommen, nahm mir die Ruhe. Unentschlossen legte ich das Buch beiseite, schlug die warme Decke zurück und stand auf.

Die mir auf der schmalen Fußgängerbrücke entgegenkommenden Leute waren erst auf den letzten Metern zu erkennen. Die Mantelkrägen hochgeschlagen, eilten sie mit gesenkten Köpfen, Wind und Regen trotzend ihrem Zielort zu. Ihre Seelen schienen sich tief ins Innere geflüchtet zu haben.

Ich näherte mich einer langsam vor mir gehenden Gestalt. Je mehr sich die Figur aus dem Trüben schälte, je bekannter kam sie mir vor und plötzlich erkannte ich den schleppenden Gang des Barpianisten. Ich verlangsamte den Schritt und ließ die Distanz wieder größer werden. Sein unzugängliches Wesen, das nicht in das Bild eines Barpianisten passen wollte, und seine trostlosen Augen, die ferne Bilder zu sehen schienen, hatten meine Neugier geweckt.

Nach dem Flusssteg bog er in die belebte Griesgasse ein. Die Hände tief in den Taschen vergraben schaute er kaum in die bunten Schaufensterauslagen. Es war spürbar, dass er trotz des langsamen Gangs ein Ziel vor Augen hatte.

Plötzlich ein lautes Geschrei. Eine Schar Kinder kam uns entgegen. Sie hatten einen Schwachsinnigen passiert, der in einem Torbogen stand, wild mit den Händen fuchtelte und ihnen mit grunzenden Lauten etwas nachrief. Die Kinder waren schon vorbei, gingen aber noch rückwärts, lachten, grölten und versuchten, ihn mit Zurufen herauszufordern. Er aber blieb im Torbogen stehen, erhob die Hände, ballte die Faust, doch anscheinend bereitete ihm das Spiel auch Spass, denn auf seinem Gesicht zeigte sich nichts Böses, sondern eine erregte kindliche Freude.

Der Pianist hatte nur den Gehsteig gewechselt, ohne die Szene weiter zu beachten. Vorsichtig überquerte er den Neumayrplatz und betrat durch eine große Glastür ein breitfrontiges Café.

Eine Weile blieb ich unschlüssig stehen. Ihm sofort zu folgen, schien mir zu aufdringlich; so ging ich langsam weiter, kam schließlich durch die Getreidegasse erneut ans Ufer der Salzach und blieb für einen Moment stehen. Jetzt über die Brücke zurück ins Hotel oder wieder die Griesgasse hinauf ins Café. Bevor ich bewusst zu einer Entscheidung kam, hatten sich meine Beine schon in Bewegung gesetzt.

Das Restaurant war groß und hell. Die wenigen Gäste saßen weit auseinander. Die Wände waren mit Bildern von Musikern und Schauspielern dekoriert, dazwischen hingen Plakate kommender und vergangener Vorstellungen, die sich bis auf die Fensterfront neben dem Eingang zogen. Durch einen großen Durchgang kommt man in einen zweiten Raum, in dem die lange, abgewinkelte Bar eine ganze Wand in Anspruch nimmt. Der Pianist war allein an der Bar. Er saß am hintersten Platz und unterhielt sich mit der Kellnerin. Als ich mich näherte, wurde sie an einen Tisch im Restaurant gerufen.

«Guten Tag», sagte ich, «Sie sind auch ein wenig unterwegs?»

Mürrisch drehte er den Kopf. Er erkannte mich und ich war froh zu sehen, dass sich seine Miene aufhellte.

«Ist es erlaubt?», fragte ich.

«Bitte», er wies mit der Hand auf den Barhocker neben sich. Ich setzte mich aber auf den nächst weiteren, um nicht zu stören, wenn sich zeigen würde, dass er allein sein wollte. Die Kellnerin kam mit einem Tablett schmutzigen Geschirrs hinter die Bar zurück.

«Was darf’s denn sein?», fragte sie mit sanfter, einladender Stimme.

Sie war dunkelhaarig, von durchschnittlicher Statur und hatte sich auf Distanz nicht von den paar farblosen Gästen abgehoben. Als sie aber direkt vor mir stand und mich ihre warm leuchtenden, fast sprechenden Augen ruhig ansahen und die weiche dunkle Stimme nach meinen Wünschen fragte, fühlte ich mich vertraut und willkommen an der Bar.

Ich schaute auf das fast leere Glas des Pianisten.

«Nehmen Sie noch ein Gläschen?», fragte ich ihn.

«Gerne», sagte er und schaute flüchtig auf die Uhr. Als das Mädchen eingeschenkt hatte, erhoben wir kurz die Gläser und prosteten uns flüchtig zu.

«Sie sind Schweizer, nicht wahr?»

Er hatte eine ruhige, angenehme Stimme. Wieder dachte ich, dass der gedämpfte Ton besser zu seinen melancholischen Augen passe, als zu den dunklen wilden Brauen. Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort.

«Die Schweizer erkennt man immer – ich habe mich nur einmal täuschen lassen. Der Mann war Schauspieler und sprach von berufswegen akzentfreies Deutsch.»

«Sie haben sehr gut gespielt, gestern Abend», sagte ich.

«Ach was, das hört doch niemand.»

«Ich habe es gehört und es machte mich traurig, dass Ihr Spiel kaum wahrgenommen wurde, früher war der Pianist die Seele der Bar.»

Scheinbar hatte ich damit ungewollt eine verborgene Saite berührt, deren Klang eine verschlossene Tür öffnete. Ich fühlte, wie das Eis schmolz. Das erstarrte Gesicht fing zu leben an, die Augen wurden wacher, leuchteten auf und die wilden Brauen schienen weicher zu werden.

«Erinnern Sie sich an diese Zeit?», fragte er und schaute mir erstmals eindringlich in die Augen.

«Ich erinnere mich gut daran und habe gerade gestern Abend in der Hotelbar darüber nachgedacht. In meiner Jugendzeit war ich aber immer in Geldnöten und konnte deshalb die Pianobars nur gelegentlich besuchen, Grandhotels kannte ich nur vom Hörensagen. Dort war vielleicht alles anders.»

«Nein», sagte er nachdenklich. «Ich habe immer in beiden gespielt, in kleinen Bars und in Grandhotels. Eigentlich besteht der Unterschied nur darin, dass sich in den Grandhotels alles diskreter, vorsichtiger und dadurch auch unehrlicher abspielt.»

«Denken Sie an die Szene gestern Abend an der Bar?», fragte ich.

Er nickte.

«Er ist ein reicher Industrieller aus Essen und hat sie in zweiter Ehe geheiratet; nun fühlt sie sich gefangen im goldenen Käfig; sie kann haben, was sie sich wünscht, ist aber nicht bereit, den Tribut dafür zu bezahlen. So wie er im Geschäft mit emotionslosem Überblick wahrscheinlich alles richtig macht, tut er sich mit seiner neuen Beziehung schwer wie ein unerfahrener Jüngling. Die beiden sind heute Morgen abgereist, sonst hätte ich gar nicht davon erzählt.»

Mit dem letzten Satz kehrte etwas Verschlossenes auf sein Gesicht zurück. Er runzelte die Stirn und schien nicht zu bemerken, dass er mit den Zähnen knirschte. Ich nahm einen Schluck und sah im Spiegel, dass seine Augen wieder nachdenklicher wurden.

Ich suchte nach einem Wort oder einem Satz, der nicht zu banal klang, um den Dialog nicht zu unterbrechen oder in oberflächliche Bahnen abgleiten zu lassen. Zu meiner Überraschung war er es, der das Gespräch wieder aufnahm.

«Aus welcher Gegend der Schweiz kommen Sie?», fragte er und sah dem Mädchen nach, das ein Getränk ins Restaurant brachte.

«Aus Bern.»

«Ja ... Bern», sagte er nachdenklich und schaute durch die verspiegelte Rückwand der Bar in weite Fernen und sprach nicht weiter. Ich spürte, etwas verband ihn mit dieser Stadt. Ich wartete eine Weile und fragte schließlich in die entstandene Stille:

«Sie kennen Bern?»

«Ja, ich spielte dort ... es ist lange her ... seither habe ich die Stadt nicht mehr besucht». Zwischen den einzelnen Sätzen legte er kleine Pausen ein. Umständlich klopfte er eine Zigarette aus der halb geöffneten Packung. Das Mädchen war sofort da, um ihm Feuer zu geben. Wieder ruhte das Gespräch und ich wusste, dass ich behutsam vorgehen musste. Ein Wort zu viel könnte die einen Spalt weit geöffnete Türe wieder schließen.

Das Mädchen hatte uns nachgeschenkt, schaute beiden von uns kurz in die Augen, um zu sehen, ob noch ein Wunsch abzulesen sei und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

Er räusperte sich.

«Ich erzähle Ihnen von einem Vorfall, der sich vor langer Zeit in Bern zugetragen hat und der mich bis zum heutigen Tag verfolgt. Ich weiß nicht, warum ich gerade Ihnen davon erzähle. Vielleicht weil Sie aus Bern sind, vielleicht aber nur, weil der Name der Stadt gefallen ist und ich endlich einmal darüber sprechen muss. Mögen Sie die Geschichte überhaupt hören?»

«Natürlich», sagte ich und schaute ihn betont ruhig an, um mir meine Spannung nicht anmerken zu lassen.

Er nahm einen Schluck Wein, stellte das Glas auf die Theke und bewegte es mit Daumen und Zeigefinger beider Hände langsam im Kreis. Seine Augen folgten den leichten Bewegungen des Glases und fixierten das durch die Spotlampen vergoldete Rot des Weines.

«Ich war knapp dreißig Jahre alt», hob er endlich an. Sein Gesichtsausdruck hatte sich jetzt verändert, war jünger und milder geworden, vielleicht weil ich mich mit ihm zurückversetzte in diese Jahre und mir vorzustellen versuchte, wie er damals ausgesehen haben mochte.

«Ein Engagement in der Ryfflibar, Sie werden sie wohl kennen.»

Ich nickte stumm.

«Mein Zuhause war die Bar, nicht die kleine Wohnung, die mir zur Verfügung gestellt wurde. Die Gäste waren treuer damals. Selbst die, welche drei oder vier Stammlokale hatten, beschränkten sich auf diese und man sah sie fast jeden Abend, oder mindestens einmal die Woche. Es ging zu und her wie in einer Großfamilie. Trat ein fremder, nie zuvor gesehener Gast ein, wurde er freundlich begrüßt. Saß mal einer einsam in der rührigen Gesellschaft, ohne wahrgenommen zu werden, war es meine Aufgabe, ihn durch Blickkontakt willkommen zu heißen oder ihn während einer kleinen Pause nach einem Musikwunsch zu fragen, sodass er sich bald aufgenommen fühlte.»

Das Mädchen kam hinter die Bar. Es spürte, dass unser Gespräch nicht oberflächlich war, schenkte den Rest des Weins in die Gläser und schaute mich kurz an. Ich nickte. Sie kam mit einer neuen Karaffe, füllte die Gläser nach und zog sich ans obere Barende zurück, um Gläser zu polieren.

Wieder bewegte sich das Weinglas des Pianisten zwischen den schlanken Händen in ruhigen kleinen Kreisen.

«Zu den Stammgästen gehörte ein junges Paar», fuhr er fort.

«Beide waren um die zwanzig, einundzwanzig. Er hieß Raffael, war Medizinstudent, ein großgewachsener, ernsthafter junger Mann. Valeria, seine Freundin, war das pure Gegenteil. Sie langweilte sich, wenn er mit einem Thema kam, das ihn im Augenblick beschäftigte, und saß dann plötzlich an diesem und jenem Tisch. So kam es oft vor, dass er für eine Weile alleine sitzen blieb, still das Geschehen um sich beobachtete und sich dann frühzeitig von ihr und seinen Bekannten verabschiedete.»

Er schaute über die Theke auf den dahinter liegenden matt glänzenden Keramikboden.

«Er fühlte, dass ich ihn verstand», sagte er mit abwesendem Blick und seine Stimme wurde leiser, als führe er ein Selbstgespräch.

«Er hatte mich zu seinem Freund auserkoren. Er kannte den Rhythmus meiner Pausen und beim letzten Stück stand das Bier für mich bereits auf seinem Tisch. Wenn Valeria nicht schon bei Freunden saß, nutzte sie mein Kommen, um den Tisch zu wechseln. Sie wusste, dass wir in den Pausen intensive Gespräche führten, die sich immer um die gleichen Themen drehten. Er hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und verstand nicht, dass die Gesellschaft Unrecht und Gewalt gleichgültig hinnahm, wenn es Drittpersonen betraf. Eindrücklich skizzierte er in kurzen Zügen seine Anliegen. Wenn ich dann mit einem schalen Gefühl versuchte, eine seiner klaren Thesen abzuschwächen oder das Gespräch in freundlichere Bahnen zu lenken, spürte er, dass ich in Gedanken schon wieder auf dem Weg zum Klavier war. Später habe ich nie mehr jemanden getroffen, der sich mit seinem ganzen Wesen, ohne Wenn und Aber für die Schwachen und Hilflosen eingesetzt hat. Sagt Ihnen der Name Max Dätwyler etwas?»

«Der Friedensapostel?», fragte ich.

«Ja, er war damals schon ein sehr alter Mann. Raffael bewunderte ihn und hat mir viel von ihm erzählt. Dätwyler war der erste Dienstverweigerer der Schweiz und wurde dafür von den Militärbehörden zur Untersuchung in eine Irrenanstalt gesteckt. Es war damals ungeheuerlich, die Waffe zu verweigern. Seine Parole hieß: ‹Ohne Soldaten kein Krieg›. Im Zweiten Weltkrieg versuchte er, ohne Visum nach Deutschland zu gelangen, um Hitler zum Frieden zu bewegen. Er wurde an der Grenze verhaftet. Zweimal stand er vor dem Kreml, ohne zu den Sowjetführern vorgelassen zu werden. Mit wehendem weißen Bart, die legendäre weiße Friedensfahne auf der Schulter, zog er zu Fuß in winterlicher Kälte in 17 Tagen von New York nach Washington, um den amerikanischen Präsidenten zu treffen. Alles umsonst. Aber er gab nie auf. Wollte er dem Bundesrat in Bern eine Protestnote übergeben, wurde er oft von Raffael begleitet, ohne dass sie vorgelassen wurden. Beide waren sie unbeirrbare Einzelkämpfer, die meistens abgewiesen oder nicht ernst genommen wurden. Der alte Max Daetwyler von den Behörden in aller Welt, der junge Raffael bei Kollegen und Barbesuchern. Raffael wollte immer gleich wissen, wie ich über dieses und jenes denke, und rüttelte damit jeweils mein Gewissen wach, mit einem angenehmen Beruf das Leben zu verdienen, ohne mich mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt auseinanderzusetzen.»

Er machte eine Pause, hob das Glas und leerte es bis zur Neige. Eine innere Erregung schien ihn erfasst zu haben. Aufmerksam wie eine Fee war das dunkelhaarige Mädchen da, schaute ihn sorgenvoll an, schenkte nach und gab ihm Feuer. Mir schien, das Gesicht des Pianisten würde wieder strenger. Die dunklen buschigen Brauen hoben sich ab wie wildes Gestrüpp.

«Ja», fuhr er fort, «alles nahm seinen Lauf. Eines Tages, als Raffael wieder früher gegangen war, die Polizeistunde näher rückte und sich das Lokal langsam leerte, half Valeria noch beim Abwasch. Das tat sie öfters, weil sie mit den Angestellten befreundet war und mit ihnen noch über den vergangenen Abend plaudern wollte. Der Inhaber offerierte noch Champagner. Mein Vertrag lief eine Woche später aus und ich sprach mit ihm über ein Datum für das nächste Engagement. Ungefähr um zwei Uhr morgens verließen Valeria und ich die Bar.»

Er rauchte in tiefen Zügen, blies den inhalierten Rauch aber nicht von sich weg, sondern ließ ihn aus dem geöffneten Mund wie eine Nebelwand vor seinem Gesicht zur Decke aufsteigen, als wollte er sich vor der Außenwelt schützen.

Er schaute mir hilfesuchend in die Augen. Die Weingläser blieben voll. Wir hatten beide die Welt um uns vergessen.

Er sah kummervoll aus. Die wilden Brauen betonten das Flehen seiner Augen um Verständnis. Er öffnete den Mund nur wenig, als er leise und abwesend weitererzählte.

«Sie bedrängte mich, gemeinsam ein Taxi zu nehmen. Meine Wohnung liege auf ihrem Nachhauseweg. Zuerst lehnte ich ab, mit der Begründung, ich sei in einer Viertelstunde zu Hause und brauche noch frische Luft. Aber dann war das Taxi da und sie zog mich hinein. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten, weiß aber noch, dass sie sich im Taxi an mich drückte und mir dabei nicht wohl war. Als der Wagen in der Länggasse vor meiner Wohnung hielt, stieg sie auch aus und bezahlte den Fahrer. Sie möge noch nicht nach Hause und ich hätte sicher noch etwas zu trinken, drängte sie weiter. Oben im Zimmer ging dann alles schnell. Die Müdigkeit, der reichlich geflossene Alkohol, die an mir reibenden weiblichen Rundungen und meine Willensschwäche ließen keine Gegenwehr mehr zu. Irgendeinmal lehnten wir uns erschöpft zurück und rauchten eine Zigarette. Ein ungutes Gefühl kroch in mir hoch. Plötzlich hörte ich im Gang ein Geräusch. Da klopfte es leise und bevor ich etwas sagen konnte, ging die Tür langsam auf. Raffael stand bleich und reglos im Türrahmen und schaute uns an, nein, er schaute mich an. Sein Blick streifte nicht übers Bett und unsere Körper. Er schaute mir in die Augen. Nur mir. Valeria beachtete er nicht. Sein Blick hatte etwas unsagbar Trauriges, vermischt mit einem erschreckten Staunen, ich spürte, dass für ihn etwas Unvorstellbares, etwas Unmögliches geschehen war. Es gab nichts zu sagen. Die Zeit stand still. Alles schien ewig zu dauern, dabei war es vielleicht eine halbe Minute. Dreißig schrecklich lange Sekunden, die ich nie vergessen werde. Dann endlich senkte sich sein Blick, er drehte sich müde um, verliess das Zimmer ohne ein Wort zu sagen und schloss leise hinter sich die Tür.

Als ich am Abend die Bar betrat, spürte ich sofort, dass etwas geschehen war. Es herrschte eine bedrückte Stimmung. Die Gäste steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Mein ungutes Gefühl, das schon den ganzen Tag über auf mir lastete, verstärkte sich.

«Was ist hier los?», fragte ich leise René, den Kellner.

«Raffael hat sich umgebracht. Letzte Nacht. Er hat sich aufgehängt.»

Erstarrt blieb ich stehen. Es war, als hätte mir jemand mit einem Beil den Schädel gespalten. Ich hatte mich davor gefürchtet, ihn zu sehen, hatte mir vorgenommen, mit ihm zu reden, zu versuchen, ihm alles zu erklären, ihn für meine Schwäche um Entschuldigung zu bitten. Ich ging dem Ausgang zu, wollte das Lokal ohne mich zu entschuldigen, verlassen, hinaus in den Abend, in die Nacht, vielleicht dem Fluss entlang, vielleicht mich irgendwo in einer Kneipe betrinken. Doch dann hielt mich etwas zurück.

Ich setzte mich ans Klavier und spielte den ganzen Abend lang und in die Nacht hinein, nur für ihn ... Ich sah seine Augen und ich versuchte, ihm über die Tasten alles mitzuteilen, was ich ihm hatte sagen wollen, immer und immer wieder, ohne Pause, bis zur Erschöpfung. Freunde sagten mir am nächsten Tag, an diesem Abend sei etwas Eigenartiges, nie zuvor Dagewesenes im Raum und unter den Gästen gewesen. Der Barbesitzer entließ mich auf meine Bitte aus dem noch eine Woche laufenden Vertrag. Am nächsten Tag verließ ich die Stadt und ging nie mehr zurück.

Mit der Erinnerung an die Abreise schien die Geschichte beendet zu sein. Wir hingen beide unseren Gedanken nach und tranken den Wein in kleinen Schlucken. Ich spürte aber, dass er sich vom Geschehnis noch nicht gelöst hatte. Plötzlich stellte er das Glas mit einer Bestimmtheit auf die Theke, als sei er zu einem Ergebnis gekommen.

«Wissen Sie», fuhr er fort und schaute erregt zu mir.

«Seine Gesichtszüge sind mir im Laufe der Zeit entschwunden, aber die Augen, der Ausdruck der Augen, hat mich über all die Jahre verfolgt. Jetzt, durch das Aufrollen der Geschichte sehe ich sie wieder deutlich vor mir, aber in einem anderen Licht. Er hat mich nicht enttäuscht, nicht traurig angesehen, wie ich immer geglaubt hatte, er hat mich, und das ist vielleicht das Erschütterndste – endlich weiß ich es genau –, er hat mich voller Mitleid angesehen.»

Er drehte sich auf dem Barstuhl und schaute mir unruhig suchend in die Augen. Dann wandte er sich wieder ab und sagte resigniert: «Ich weiß nicht, ob mir diese späte Erkenntnis endlich Ruhe bringt oder ob alles weitergeht.»

Seine Augen suchten die Kellnerin. «Bezahlen, Sonja», sagte er kaum hörbar. Sie schien es trotz der großen Distanz gehört zu haben und kam mit einem besorgten Lächeln auf uns zu. Ich winkte mit einer kleinen Handbewegung ab.

«Alles schon bezahlt, Erwin», sagte sie und bekräftigte es mit einer kleinen Geste, indem sie ihre Hand behutsam auf die seine legte. Der Schmerz erfasste jede seiner Gesichtsfalten, die buschigen Brauen hingen müde über den abwesenden Augen und der kraftlose Mund machte den Eindruck, sich nie mehr öffnen zu wollen.

Schwerfällig stand er auf und blieb für einen Augenblick unschlüssig stehen. Sein kurzer Blick war halb fragend, halb entrückt.

«Vielen Dank, bitte entschuldigen Sie mich», murmelte er und wandte sich schließlich dem Ausgang zu. Noch tief in der Geschichte steckend und unter dem Eindruck der Last, die er zu tragen hatte, kam mir sein schleppender Schritt auf einmal natürlich vor.

Ich schaute ihm nach, bis sich die Tür hinter ihm schloss und plötzlich war mir klar, dass er genauso wie Raffael einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besaß und deshalb immer noch unter der Geschichte litt. Raffael musste es gespürt haben, er fühlte instinktiv den Gleichgesinnten und hatte ihn deshalb zu seinem Freund erkoren.

«Kommt er oft hierher?», fragte ich das Mädchen beim Bezahlen.

«Ja, wir verstehen uns gut», sagte sie und eilte zu einem rufenden Gast.

Zurück im Hotel legte ich mich eine halbe Stunde hin, versuchte erfolglos etwas zu lesen und machte mich schließlich auf den Weg, um irgendwo eine Kleinigkeit zu essen. Unterwegs und im Restaurant beschäftigte mich der Gedanke, ob es wohl gut sei, heute Abend die Hotelbar aufzusuchen. Das Gefühl sagte mir, ihm wäre lieber, mich heute nicht zu sehen. Er hatte sich geöffnet, wie vielleicht nie zuvor, hatte einem Unbekannten vertraut und ihm seine ganze Seele ausgeschüttet. Andererseits könnte ich ihm durch mein Kommen meine Loyalität bezeugen, ihm deutlich machen, dass ich mich ihm verbunden fühle. Zudem brachte sein Beruf den Vorteil, dass wir uns nur durch ein vertrautes Nicken begrüssen könnten, ohne miteinander sprechen zu müssen.

Als ich die Bar betrat, erschrak ich. Ein junger Pianist saß hinter dem Klavier und begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. Ich setzte mich an die Theke, bestellte einen Espresso mit Grappa und fragte beiläufig: «Wo ist der Pianist?»

Der Barmann stellte die Getränke hin und drehte den Tassenhenkel elegant auf die rechte Seite.

«Er ist krank. Zum Glück haben wir hier in der Stadt immer Musikstudenten, die gerne aushelfen.»

Frühzeitig verließ ich die Bar und ging auf mein Zimmer. Seine Erzählung hielt mich noch gefangen und zog sich wirr und verzerrt auch im Schlafe weiter. Am nächsten Morgen betrat ich unruhig den Frühstücksraum und atmete auf, als ich sah, dass der Tisch im Hinterteil des Raumes frei war.

Ich hätte außer Banalitäten nichts zu sagen gewusst, zu sehr war ich noch von seiner Erzählung befangen.

Ich wusste, dass er die Geschichte die ganze Zeit in sich getragen hatte und dass sie mir nur durch zufällige und zusammenspielende Umstände anvertraut worden war. Damit war aber eine Verbindung entstanden, durch die eine oberflächliche Unterhaltung von beiden als unehrlich und peinlich empfunden worden wäre. Zudem hätte der ruhige Raum, in dem fast nur das klirrende Messer- und Gabelspiel der Frühstücker zu hören war, keine persönlichen Worte zugelassen. Wahrscheinlich hatte sich der Pianist die gleichen Überlegungen gemacht.

Wie am Tag zuvor saßen die Gäste vor den Fensterplätzen. Ich setzte mich nach hinten, gegenüber seinem gestrigen Platz, als würde ich mich zu ihm an den Tisch setzen. Ich sah ihn auf den vergilbten Tapetenfleck starren, spürte seinen resignierten Blick auf mir und ließ ihn ohne Worte meine Verbundenheit spüren. Es gibt Momente, in denen wir spontan aus dem Innersten heraus Dinge tun, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Ich sagte ihm stumm, was ich ihm am Vortage nicht hatte sagen können.

Jede Äußerung hätte oberflächlich und leer gewirkt. Freunde und Bekannte nimmt man wortlos in die Arme. Ein Fremder muss feinfühlig genug sein, um uns die Betroffenheit aus den Augen oder aus unseren hilflosen Gebärden ablesen zu können.

Jetzt, im wortlosen Monolog, konnte ich ihm sagen, dass das Mitleid in Raffaels Augen bedeutete, dass er ihm vergeben hatte; dass der Entschluss zu gehen, wahrscheinlich längst feststand, weil er wusste, dass diese Welt nicht die seine war und nie sein würde.

Vielleicht, dachte ich, vielleicht wird, wenn er wieder hier sitzen wird, noch ein Hauch meiner Gedanken über dem Tisch schweben; und er wird sich möglicherweise, ohne zu wissen warum, des unbekannten Fremden, dem er sich anvertraut hatte, mit freundschaftlichen Gefühlen erinnern.

Der sauber gekleidete Kellner kam an meinen Tisch und fragte höflich, ob ich noch etwas wünsche. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich der letzte Gast war. Im Zimmer packte ich meine Sachen und ging hinunter zur Réception.

«Unvorhergesehene Ereignisse zwingen mich, früher als vorgesehen abzureisen, können Sie mir bitte die Rechnung erstellen?», sagte ich.