Flüchtlingskinder - gestern und heute - Hans Hopf - E-Book

Flüchtlingskinder - gestern und heute E-Book

Hans Hopf

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Beschreibung

Als Kind hat der bekannte Kindertherapeut Hans Hopf selbst Flucht und Vertreibung erlebt. Die Parallelen der heutigen Situation zur Nachkriegszeit liegen auf der Hand, doch aus den damaligen Erfahrungen wird nicht gelernt. Dabei wissen Psychotherapie und Pädagogik, worauf es bei der Integration dieser Menschen ankommt. Die Eingliederung der Asylsuchenden stellt unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren vor eine ihrer größten Herausforderungen. Unter ihnen befinden sich auffallend viele Jungen und junge Männer, die ohne ihre Familien geflohen und auf sich alleine gestellt sind. Hans Hopf zeigt die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede der Situation der damaligen und heutigen Flüchtlingskinder auf und erklärt auf der Grundlage seiner eigenen persönlichen Erfahrungen, seiner Kenntnisse als Psychoanalytiker und seiner jahrelangen Erfahrung als therapeutischer Heimleiter, was getan werden muss und wie eine Integration gelingen kann.

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Hans Hopf

FLÜCHTLINGS-

KINDER

gestern und heute

Eine Psychoanalyse

Klett-Cotta

Über das Buch:

Die Eingliederung der Asylsuchenden stellt unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren vor eine ihrer größten Herausforderungen. Unter ihnen befinden sich auffallend viele Jungen und junge Männer, die ohne ihre Familien geflohen und auf sich alleine gestellt sind. Hans Hopf zeigt die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede der Situation der damaligen und heutigen Flüchtlingskinder auf und erklärt auf der Grundlage seiner eigenen persönlichen Erfahrungen, seiner Kenntnisse als Psychoanalytiker und seiner jahrelangen Erfahrung als therapeutischer Heimleiter, was getan werden muss und wie eine Integration gelingen kann.

Der Autor:

Dr. Hans Hopf ist einer der führenden Kinder und Jugendlichen-Psychoanalytiker Deutschlands und war viele Jahre lang therapeutischer Leiter im Kinderheim Osterhof für Kinder mit psychischen Problemen. Im Sudetenland geboren, hat er nach dem Krieg zeitweise ohne seine Eltern gelebt und mehrere Jahre in Flüchtlingslagern verbracht.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von bpk (historisches Foto) und ullstein bild – snapshot-photography/B. Shamlo (Syrische Flüchtlingskinder in Arbat, Irak)

Fotos: Das Bild auf S. 35 vom Güterzug aus Teplitz mit freundlicher Genehmigung von Karl Hermann Völker. Alle anderen Bilder mit freundlicher Genehmigung des Vorsitzenden des Heimatgeschichtlichen Arbeitskreises Ebelsbach, Roland Meyer

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98208-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10089-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Dank

Einführung

Ein Kriegs- und Vertriebenenkind

Vertreibung – von Teplitz nach Dainrode

Neue Heimat auf Zeit – Dainrode

Leben im Flüchtlingslager

Lebensräume im Lager

Die Lagerschule

Ärztliche Versorgung, Krankheiten und Tod

Armut

Meine religiöse Erziehung

Kinder Lager Leben

Freundschaften und Rivalitäten

Eine »Schickse«

Oberrealschule Bamberg

Traumatisierte Erwachsene

Das hässliche Gesicht des Traumas – gewalttätige, übergriffige Männer

Berichte aus einer ›Überlaufeinrichtung‹

Unsicherheit und Hilflosigkeit

Traumatisierte Eltern – heute

Pädagogische Begleitung und Therapie

Männer und Frauen sind gleichberechtigt

»Nein« heißt Nein

Zauberwort »Integration«

Flüchtlingskinder heute

Spielstörungen

Desorientierte Kinder

Angstlust und Spiel

Sprachlose Begegnungen

Meine Traumata

›Darf‹ ein Psychoanalytiker psychische Probleme haben?

Die Entstehung meiner Symptomatik

Die quälenden Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung

Die Ursachen der Traumata

Dem traumatisierten Menschen zuhören

Bindung und Psychotherapien – was mir geholfen hat

Beziehungen und Ressourcen

Spiele und Symbole

Rituale

Flüchtlingskinder brauchen feinfühlige und ›fühlbare‹ Lehrerinnen und Lehrer

Väter, Männer, Jungen

Welche Probleme können auf uns zukommen?

Die Entwicklung des Jungen

Muslimische Familien

Der negative Held

Adoleszenz und narzisstische Wut

Prävention und Psychotherapie

Psychotherapeutische Behandlung von Flüchtlingskindern

Mitbehandlung von Bezugspersonen

Amal, das Mädchen aus Somalia

Amals Bericht: Das Schwarze Leben

Auf der Flucht

Das Virus ›Fremdenfeindlichkeit‹

In einer ›Kalten Heimat‹

Der unheimliche Fremde – wie entstehen Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit?

Eine ›normale‹ Fremdenangst ist uns angeboren

Projektion und ›Stereotypen‹

Fremdenfeindlichkeit kann eine Persönlichkeitsstörung sein

Veränderungen in der Gesellschaft

Verführungen und Manipulationen

Literatur

Für Giselasowie meine Enkel Vincent, Anna-Lena, Sophie, Raphael und Julia

»Traumatisierte Menschen sind aus der Welt gefallen und das ist auch der Grund, weshalb jede Kultur den Individuen Mittel zur Verfügung stellen muss, um sie wieder in ihre Welt zurückzuholen.«

Mario Erdheim, Psychoanalytiker und Ethnologe

»Ich bin auf der Flucht. Ich fühle mich sehr traurig. Es herrscht Krieg, ich und andere Kinder sind geschlagen worden. Ich habe viel Blut am Körper.

Zwei Kinder sitzen am Wegesrand, ich möchte ihnen helfen. Ich frage die beiden: Wo ist denn eure Familie? Die Kinder antworten: Die sind tot.

Ich denke: Ich bin nicht schuld.

Ich frage mich: Wieso gibt es so viel Hunger?

Ich frage andere Menschen: Bitte helft! Bitte helft!«

Traum des Mädchens Amal aus Somalia

Vorwort und Dank

Meine Kindheit beginnt mit Krieg, Vertreibung und Flüchtlingslager. Die Ereignisse jener Zeit haben sich tief in meine Seele eingebrannt. Die Folgen waren furchtbar. Während meiner Kindheit und Jugend litt ich unentwegt an seelischen Störungen, bis ins Erwachsenenalter.

Heute kommen wieder Flüchtlinge nach Deutschland. Ich werde mit dem Leid von Erwachsenen konfrontiert, vor allem jedoch mit der Not vieler Kinder. Mit traurigen Augen sehen sie mich aus Zeitungen, Illustrierten, während der Nachrichten an und erinnern mich an die eigene Kindheit.

Das Bild des kleinen syrischen Jungen, der ertrunken am Strand von Bodrum liegt, kann ich nie mehr vergessen. Der dreijährige Ailan wurde zum Sinnbild für eine »an Land gespülte Unmenschlichkeit«. Welche Gefahren haben diese Menschen auf sich genommen, um Not und Elend zu entfliehen. Ich sehe Ähnliches wie damals: Menschen auf der Flucht, Massenunterkünfte, traumatisierte Erwachsene und Kinder. Vor allem erschrecken mich die aufkommende Feindseligkeit gegenüber diesen leidenden Menschen, die Kälte und der Hass, wie auch wir sie damals erfahren haben.

In Gesprächen mit dem Lektor Dr. Heinz Beyer entwickelte sich die Grundidee zu diesem Buch. Ich erinnere mich an meine Kindheit und meine Traumatisierungen. Ich bin auch Psychotherapeut und betrachte die heutige Situation aus therapeutischer Sicht. Ich will nachzeichnen, welche Ähnlichkeiten es gibt und worin die Unterschiede zu damals bestehen.

Einige Menschen haben mich bei der Gestaltung dieses Buches sehr unterstützt. Ihnen möchte ich an dieser Stelle Dank sagen. Meine Kolleginnen Hilke Ganzert und Sabine Könekamp haben mir Fallgeschichten aus ihrer psychotherapeutischen Arbeit zur Verfügung gestellt. Hildegard Linge war jahrelang meine Kollegin als Erziehungsleiterin im Therapiezentrum Osterhof und hat ehrenamtlich in einer Flüchtlingsunterkunft mitgearbeitet. Gemeinsam haben wir ihre Beobachtungen reflektiert, ich gebe ihr in diesem Buch Raum, ihre Erfahrungen in eigenen Worten zu schildern, ihre Textpassagen sind kenntlich gemacht. Der Leiter des Gemeindearchivs Ebelsbach, Roland Mayer, hat mir in großzügiger Weise Texte, Dokumente und Bilder zur Verfügung gestellt. Und Dr. Heinz Beyer hat dieses Buch mit vielen kreativen Anregungen und hilfreichen Dialogen begleitet. Für ihre sorgfältige Lektorierung und hilfreichen Korrekturvorschläge danke ich Frau Rosel Müller.

Ich werde durchgängig das Wort »Flüchtling« verwenden, nicht »Geflüchtete«, auch nicht flüchtende Menschen, obwohl die Endsilbe »-ling« negativ konnotiert ist. Mir geht es nicht um Political Correctness, für mich bleibt das Wort »Flüchtling« ein Archetyp für Menschen in Not, denen geholfen werden muss. Das Wort Frühling, mit der gleichen Endung und ähnlich klingend, ist zudem ein Symbol für einen Neubeginn.

Ich hatte eine schreckliche Kindheit und eine schlimme Jugend. Rückblickend stelle ich dankbar fest, dass ich danach ein wunderbares Familienleben führen konnte. Ich bin glücklich, einen Beruf gewählt zu haben, der mich erfüllt und den ich gerne und zufrieden ausübe. Vielleicht kann mein Beispiel Kinder und Jugendliche darin bestärken, auch in größter seelischer Not niemals die Hoffnung aufzugeben.

Mit diesem Buch solidarisiere ich mich mit allen Flüchtlingskindern dieser Welt. Ich werde immer einer von euch bleiben.

Mundelsheim, im Sommer 2016

Hans Hopf

Einführung

Klassentreffen kurz nach Weihnachten. Das haben wir – eine kleine Gruppe ehemaliger Schüler des Gymnasiums – seit mehr als 50 Jahren aufrechterhalten. Eine Klassenkameradin erinnert an das Hörspiel »Der Klassenaufsatz« von Erwin Wickert. In diesem Stück erteilt ein Lehrer seinen Schülern die Aufgabe, einen Aufsatz über ihr zukünftiges Leben zu schreiben. In Rückblenden erinnert sich einer der Schüler und erzählt den Werdegang seiner Klassenkameraden – Pläne und Hoffnungen der Mitschüler sind nicht nur unerfüllt geblieben, sie wurden teils in ihr Gegenteil verkehrt. Das Schicksal kann erbarmungslos sein. Unsere Freundin schlägt vor, wir sollten aus heutiger Sicht formulieren, warum wir geworden sind, was wir sind, und warum wir uns für die jeweiligen Studien und Ausbildungen entschieden haben.

Blitzartig reise ich in die damalige Zeit zurück mit all ihren Zukunftsängsten und Unsicherheiten. Von den ehemaligen Mitschülern höre ich von phantastischen Wünschen und Plänen, von komplexen Studiengängen und großartigen Lebensentwürfen. Und ich bin wieder ganz klein, ganz arm, weil es mir damals seelisch schlecht ging und ich zu wenig Geld zum Studieren hatte. In meinen Ferien habe ich gerade so viel verdienen können, dass ich an der Pädagogischen Hochschule studieren konnte, vier kurze Semester. Dann war ich Volksschullehrer. Sofort war ich wieder in meiner damaligen Gefühlswelt gefangen. Es sind die immer noch wirksamen schmachvollen Empfindungen, nichts zu haben, nichts zu sein und durchweg als unerwünscht zu gelten. Wir waren in den Händen anderer, und wir mussten uns den Wünschen, Anweisungen und dem Willen anderer anpassen. Das hat bis in mein heutiges Alter hineingewirkt. Diese Gefühle konnten lebenslang nur geringfügig durch fortwährende Leistungsbereitschaft und Perfektion beschwichtigt werden.

Ich weiß, wie es den Schwarzen in den USA geht. Wie es ist, wegen seines Status von jedem gedemütigt werden zu dürfen, wenn nicht der Mensch gesehen wird. Das Wort, »ein Flüüchtling«, gedehnt und herabsetzend ausgesprochen, trifft mich immer noch ins Mark. Ich erinnere sofort das dreckig grinsende, arrogant-überhebliche Gesicht der jeweiligen Sprecherin oder des Sprechers. Gehört habe ich das Wort von vielen Mitmenschen, von Lehrern, Pfarrern und anderen Christen. Es bereitet dem Menschen Wohlbefinden, überheblich sein zu dürfen, denn die Aussage, der andere sei ein Nichts, macht ihn selbst augenblicklich wertvoller: Bekanntlich bestimmt neben dem Geschlechtstrieb kein Bedürfnis das Handeln des Menschen so sehr wie die Sehnsucht nach moralischer Überlegenheit. Selbst psychopathische Schwerverbrecher mit viel eigenem Dreck am Stecken sind glücklich, wenn sie im Gefängnis Kinderschänder quälen dürfen.

Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist ein Flüchtling eine Person, die sich außerhalb ihres Heimatstaates aufhält, da ihr dort aufgrund ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung droht. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es etwa 12 bis 14 Millionen Flüchtlinge, zählt man die heimatvertriebenen und ausgebombten Menschen hinzu. Darunter waren viele Kinder. Die Sterblichkeit dieser Kinder war um ein mehrfaches höher als bei den sesshaften Kindern. Sie waren unbeschreiblichen seelischen Belastungen ausgeliefert. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.

Heute sind wieder über eine Million Flüchtlinge in Deutschland angekommen. Ihre Eingliederung in unsere Gesellschaft wird eine der größten Aufgaben Deutschlands in den nächsten Jahren sein. Die Parallelen zur Nachkriegszeit liegen auf der Hand. Damals wie heute kamen traumatisierte Menschen in unser Land; unter ihnen befinden sich auffällig viele junge Männer, oftmals vaterlos, die ohne ihre Familie nach Deutschland gekommen und auf sich allein gestellt sind. Doch aus den Erfahrungen der vierziger und fünfziger Jahre wird zu wenig gelernt. Politiker heute reden von Unterbringungsproblemen und Sprachkursen, die Industrie freut sich auf billige Arbeitskräfte und Lehrlinge in Berufen, die von Deutschen gemieden werden. Dabei wissen Psychotherapie und die Pädagogik relativ genau, worauf es ankommt, will man diese Menschen in die Bundesrepublik integrieren.

Ich will mit diesem Buch auf die vergangene Zeit zurückblicken, auf die damaligen Verhältnisse im Sudetenland, auf die Flucht sowie auf meine spätere Lebensgeschichte und meine Probleme als Vertriebenenkind. Wahrscheinlich haben die Folgen meiner damaligen Traumata dazu beigetragen, dass ich Psychotherapeut geworden bin. Mit ›therapeutischem Blick‹ will ich auf die seelischen Verletzungen zurückschauen, will meine sowie die Traumata der damaligen Kinder beschreiben, aber auch, welche Ressourcen mir und anderen dabei halfen, sie – zumindest teilweise – zu bewältigen. Vielleicht können einige Erkenntnisse dabei helfen, die Probleme heutiger Flüchtlingskinder besser zu erkennen, Prophylaxe zu betreiben und Schäden zu beheben. Ich habe dieses Buch darum so gut wie ausschließlich aus meinen eigenen Erinnerungen geschrieben und nur wenig aus anderen Büchern zitiert.

Die Ikone von den ›bedürftigen Flüchtlingen‹, die unser völliges Engagement brauchen, hat bereits mehrere schwere Risse erhalten. Die Ereignisse der Kölner Domplatte haben uns die Sexualisierung und die dissozialen Taten schwer traumatisierter Männer vor Augen geführt. Rücksichtslos wurden jene ausgebeutet, die ihnen Schutz und Hilfe garantiert haben. Vielerorts schlossen sich sexuelle Übergriffe in Bädern an, wurden Flüchtlinge wegen Drogenhandels und Betrügereien verhaftet. Die heftigste Erschütterung unserer Hilfsbereitschaft bedeuteten jedoch die Mordversuche zweier Flüchtlinge an völlig unschuldigen Menschen, die sie im Namen des IS verübten. Die Süddeutsche Zeitung schreibt, dass Nächstenliebe ein ungedeckter Scheck sei (22. 7. 16). Helfen ist ein Wagnis. Engagement kann scheitern. Die Standhaftigkeit der Helfer darf sich langfristig jedoch nicht von einer Atmosphäre von Misstrauen, Angst und Wut erschüttern lassen.

Es ist dunkel, ich bin müde und habe Hunger und Durst. Der Zug ist stehen geblieben. Von außen werden die Türen des Güterwagens aufgerissen. Das plötzliche Licht blendet mich, ich reibe meine Augen. Ich sitze auf dem Schoß meiner Mutter, die auf dem Boden hockt. Draußen sehe ich Wasser, weit und breit nur Wasser. »Das ist das Meer«, sagt meine Mutter.

Dies ist meine erste sichere Erinnerung. Alle Eindrücke, die frühere Zeiten betreffen, sind wahrscheinlich Fantasien, Traumfetzen, Berichte von nahestehenden Personen. Die beschriebene Szene ereignete sich im Juli 1946, etwa acht Wochen vor meinem vierten Geburtstag. Mit dem Zug waren wir tagelang gefahren, von Teplitz-Schönau (heute Teplice-Sanov) im Sudetenland durch das zerstörte Deutschland bis an die Ostsee, wahrscheinlich in die Nähe von Stralsund. Wahrscheinlich haben wir nur wenig zu essen und zu trinken bekommen und waren in dem stickigen Güterwagen eingesperrt. Aber das weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Angehörigen. Bei einer Bekannten beginnen die Erinnerungen an den furchtbaren Transport schon vorher. Sie fühlte sich damals eingeschlossen, hatte Luftnot und beklemmende Angstgefühle. Noch heute, im Alter von über siebzig Jahren, kann sie in keinen Zug allein einsteigen, weil sie sofort Panikattacken bekommt.

Siebzig Jahre später, im Februar 2016. Ein vierjähriger syrischer Junge sitzt im Omnibus, an seine Mutter geschmiegt. Viele Stunden sind sie durch ein fremdes Deutschland gefahren. Der kleine Junge hat Hunger und Durst. Und er ist so müde. Seine Mutter sagt ihm, dass man bald da sei und er dann zu trinken und zu essen bekäme, dass er bald in einem Bett schlafen könne. Vor der Unterkunft trifft der Bus auf eine grölende Menge. Der kleine Junge erkennt in der Dunkelheit weiße Fratzen, die rhythmisch etwas schreien. Di titi tom! Di titi tom! Di titi tom! Dass es »Wir sind das Volk« heißt, weiß der kleine Junge nicht. Was einst die mutige Aussage einiger protestierender Menschen war, die Freiheit und Leben riskiert haben, ist hier das wüste Gebrüll eines feigen Mobs! Die Masse will verhindern, dass der Bus zum Ziel gelangen kann. Ihre Hassgesichter erschrecken die Businsassen, den kleinen Buben ganz besonders. Das Schreien versteht niemand, aber alle im Bus wissen, dass sie gehasst und bedroht werden. Dann wird die Tür aufgerissen, alle müssen aussteigen. Ein fünfzehnjähriger Junge wird von einem Polizisten gepackt und rabiat aus dem Fahrzeug gezerrt. Er hatte sich geweigert auszusteigen. Mit seiner Familie war er vor drei Monaten aus Tripoli im Libanon geflohen. »ISIS-Leute haben meinen Vater immer wieder bedrängt: Er soll mich in Syrien kämpfen lassen«, so erzählt er später. »Wir hatten große Angst und flohen.« Nun habe seine Familie in Deutschland Angst vor den Menschen hier, »vor den Polizisten«.

Wie sich die Bilder gleichen. Sind die heutigen Flüchtlinge politische Nachfahren der Vertriebenen bei Kriegsende vor 70 Jahren? Vergleichbar ist das individuelle Trauma, das die einen wie die anderen erleben mussten. Wenn Menschen ihre Heimat und ihre Angehörigen verlieren, weil sie vertrieben werden, ist das ein Einschnitt, den nur verstehen kann, wer es selbst erlebt hat. Manche der deutschen Heimatvertriebenen verfügen immer noch über eine besonders hohe Empathie gegenüber allen Opfern von Flucht und Vertreibung, aber leider kann es auch anders sein.

Keineswegs will ich die Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg in naiver Weise auf die heutige Zeit übertragen. Die Rahmenbedingungen für die Aufnahme von Flüchtlingen sind heute überwiegend andere. Deutschland wird sich verändern, es wird nie mehr so sein wie vor Ankunft der Flüchtlinge. Ich sehe vor allem folgende Unterschiede: Die meisten der heutigen Flüchtlinge beherrschen nicht die deutsche Sprache. Viele haben einen muslimischen Glauben. Natürlich gibt es nicht »den Islam«. Dennoch möchte eine große Zahl von Gläubigen die Gesetze des Korans wortgetreu umsetzen. In der Bibel stehen ebenfalls beunruhigende, grausame Texte. Doch Christen lesen mittlerweile ihre Bibel als einen historischen Text, der ausgelegt wird. Der Koran hingegen gilt für viele als das zeitlose Wort Gottes, das wortgetreu und konkret zu beherzigen ist; nichts von den Inhalten darf ›als ob‹ interpretiert und verstanden werden. Wird der Geist des 7. Jahrhunderts als unbeugsame Leitlinie mit unserem Rechtssystem und Wertevorstellungen im 21. Jahrhundert kollidieren?

Waren es damals vor allem Frauen und Kinder, so sind es heute überwiegend junge Männer, die als Flüchtlinge ankommen. Einige haben sogar lange auf der Straße gelebt. Sie haben andere Vorstellungen von Beziehungen zu Frauen, vom Umgang von Elternpaaren miteinander und von Erziehung verinnerlicht. Viele der jungen Männer sind völlig anders sozialisiert, und wir müssen mit vielen Problemen rechnen, mit Aggression, anderen Vorstellungen von Sexualität und mit sexueller Gewalt. Es existiert eine große Gruppe allein reisender junger Flüchtlinge. 2015 mussten von den Jugendämtern 42 300 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen werden, 91 % davon waren männlich. Lediglich 3600 Mädchen reisten ohne Verwandte ein. Diese Kinder und Jugendlichen stellen eine spezifische Risikogruppe dar.

Die Flüchtlinge kommen heute in ein reiches Land, das viel leistungsfähiger ist als das zerbombte Deutsche Reich nach dem Krieg. Heute stellen sich die Herausforderungen eher in sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht. Und diese sind mit Sicherheit schwerer zu bewältigen als die rein materielle Hilfe. Schon jetzt muss darauf hingewiesen werden, dass nicht selten ein wichtiger Unterschied in der Diskussion neben den wirtschaftlichen Fakten vergessen wird: Die Mentalitäten der Deutschen in den späten vierziger Jahren waren bestimmt durch feste Strukturen, strenge Ordnung und teilweise autoritäres Denken. Die heutigen Flüchtlinge kommen in ein offenes, liberales Land, das von einer hohen Toleranz und einem Laissez-Faire-Denkstil charakterisiert wird. Prinzipiell kann jeder tun und lassen, was er möchte, ist frei in seinem Denken. Übersehen wird, dass die meisten Flüchtlinge das von Hause aus nicht kennen. In Deutschland angekommen, kennen sie häufig keine Orientierungswerte, keine Stützen, kein Geländer, an dem sie sich festhalten können. Unsere Gesellschaft sollte ihnen diese Strukturen nicht nur vorleben, sondern auch vorgeben; nur so kann ihnen Orientierung und Eingliederungshilfe gewährt werden. »Je vielfältiger eine Gesellschaft, desto klarer müssen die Regeln sein«, steht auf dem Titel der ZEIT vom 28. April 2016. Mir haben die Willkommenskultur und der Satz »wir schaffen das« sehr gefallen. Doch es hätte von Anfang an auch verdeutlicht werden müssen, wie das geschehen und umgesetzt werden sollte. Dann wären radikale, fremdenfeindliche Töne zumindest verringert worden. Mütterliche Fürsorge ist die eine Seite, väterliche Struktur die andere, jedoch ebenso wichtige. Mütterliche wie auch väterliche Haltung haben nichts mit dem Geschlecht zu tun, sondern beschreiben spezifische erzieherische und therapeutische Haltungen.

Damals kamen Flüchtlinge in ein zerstörtes Land voller Armut. Viele Menschen wollten nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Folgen des verlorenen Krieges von allen getragen werden mussten und wollten nicht teilen. Flüchtlinge erfuhren Hass, Rassismus und Ablehnung. Die Leute, die am wenigsten verloren hatten, wollten mit jenen, die alles verloren hatten, nichts zu tun haben, vor allem nichts teilen. Das ist heute noch so, aber wir sind jetzt ein reiches Land und könnten tatsächlich abgeben. Wieviel Nächstenliebe die Deutschen aufzubringen bereit sind, wird sich erst in der Zukunft zeigen.

Ein Kriegs- und Vertriebenenkind

Ich bin ein Kriegskind. 1942, in der Mitte des Zweiten Weltkriegs geboren, als nach der Schlacht von Stalingrad kaum mehr verkannt werden konnte, dass der Krieg verloren war. Da damals alle Menschen mit sich, ihren Sorgen und ihrer Hoffnungslosigkeit befasst waren, wurde von Kindern erwartet, keine eigenen Ansprüche zu stellen und sich vielmehr um andere Menschen zu kümmern. Dass sie ihre Pflicht erfüllen und strebsam sein sollten. Bezeichnenderweise hat sich lange Zeit niemand mit diesen Kindern und ihren späteren Schicksalen ausführlich befasst. Erst meine Kollegen Hartmut Radebold und Michael Ermann haben mit Vorträgen, Veröffentlichungen und Büchern über die Lebenswege dieser Kinder berichtet und geschrieben, als sie bereits alte Menschen waren. Sabine Bode hat ein wichtiges Buch über die Kriegskinder verfasst. Flüchtlinge und Vertriebene haben die Zeche bezahlt, deren Schuld überwiegend andere verursacht haben. Wir sind kollektiv schuldig gesprochen worden. Bis heute verstört mich, dass unser Schicksal gleichsam mit den Verbrechen des »Dritten Reichs« aufgerechnet und unsere Leiden als eine unvermeidbare Folge der Untaten der Nationalsozialisten gesehen werden. Festzustellen ist, dass neues Unrecht geschaffen wurde, über das noch viel zu wenig und viel zu spät vorurteilsfrei und sachlich diskutiert worden ist.

Vertreibung – von Teplitz nach Dainrode

Ich bin im damaligen Sudetenland, im heutigen Tschechien, in der Stadt Teplitz-Schönau (Teplice) zur Welt gekommen. Eine Geburtsurkunde besitze ich allerdings nicht, sie ist während der Vertreibung verloren gegangen.

Auch keinen Taufschein, so dass sich konsequent die Frage nach meiner Identität stellt. Denn Identität wird durch Bescheinigungen geregelt, von der Geburtsurkunde bis zum Akademischen Abschluss. Bin ich überhaupt Deutscher? Bin ich Katholik? Überdenke ich meine ethnische Identität, so wird es noch komplizierter. Ich nehme die lebenslangen Anstrengungen wahr, die diese Integration erfordert hat. Ich bin Nachkomme von deutschen, tschechischen und jüdischen Vorfahren, in Tschechien geboren, bin in meinem Leben sechzehnmal umgezogen und schließlich ein schwäbischer Kinderpsychoanalytiker geworden.

Mein Geburtshaus und seinen langsamen Verfall habe ich bei Besuchen immer wieder einmal gesehen. Als ich geboren wurde, war mein Vater als Soldat in Serbien stationiert, meine Mutter musste mit der Betreuung von damals drei Kindern allein fertig werden. Wenig später häuften sich die Luftangriffe auf Teplitz, und wir mussten bei Alarm regelmäßig in den Luftschutzkeller. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass sie mich damals auf dem Schoß festhielt und sich an mich klammerte, weil sie starke Angst hatte. Nach einem Luftangriff erlitt ich einen epileptischen Anfall. Ich vermute, dass meine Mutter nicht nur meine Ängste nicht mildern konnte, sondern dass ich auch noch ihre Paniken in mich aufnehmen musste. Die Anfälle traten von da an regelmäßig auf. Ich erinnere mich, dass meine Mutter bei einer Routineuntersuchung in einem Lager einen Arzt nach den Ursachen fragte. Dieser antwortete etwas zerstreut, er hatte wirklich viel zu tun, dass dies wohl auf mein Zahnen zurückzuführen sei. Bis zum fünften Lebensjahr wiederholten sich diese epilepsieähnlichen Anfälle. Sie hörten auf, als ich nicht mehr bei meiner Mutter, sondern bei meiner Großmutter mütterlicherseits lebte.

1945 war unter Staatspräsident Edvard Beneš die »Liquidierung der deutschen Frage« angeordnet worden, sprich die Vertreibung der Deutschen aus der jetzigen Tschechoslowakei. Bis heute wird die Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung beschönigend als »Abschiebung« bezeichnet. Der Hass der tschechischen Bevölkerung auf die Deutschen war gewaltig. Denn diese hatten dem Anschluss an das Deutsche Reich in der Mehrzahl zugestimmt. Die mehr als drei Millionen Deutschen wurden darum überwiegend als Verräter gesehen. Ein grausamer Rachefeldzug setzte ein. Die Deutschen wurden von den Tschechen drangsaliert, enteignet und schließlich vertrieben. Gemäß dem Historiker Andreas Kossert war die Lage der verfolgten Menschen so beängstigend und demütigend, dass tschechische Quellen allein für das Jahr 1946 unter den Deutschen 5558 Selbstmorde verzeichnet haben.

Von meinen Großeltern väterlicherseits besitze ich lediglich eine Fotografie im Kreis ihrer vier Kinder. Eines davon ist mein Vater. Über die beiden wurde nie viel erzählt. Der Großvater Anton war ein etwas beleibter Mann, was seinerzeit noch ›stattlich‹ genannt wurde. Von ihm habe ich die Statur. Er war Bäcker mit eigenem Geschäft gewesen, wie fast alle seiner Vorfahren. Die Großmutter Anna war eine hübsche, zierliche Frau, die damals vor allem mit der Versorgung ihrer Familie befasst war. Erst als junger Erwachsener habe ich erfahren, dass sich beide suizidiert haben. Als der Bäckermeister Anton in den Ruhestand gegangen war, hielt er die plötzliche Untätigkeit und die Belastungen der Kriegszeiten nur schwer aus. Eine heftige Depression überfiel ihn. Er tötete sich, indem er vom letzten Wagen eines Zuges auf die Schienen sprang und verstarb. Seine Frau lebte danach in einer Dachkammer über der Bäckerei ihrer Tochter Marie, einer Schwester meines Vaters. Einst hatte auch Vater als Konditor mitgearbeitet. Wie wenig später in unsere Wohnung, drangen Tschechen auch in die Bäckerei ein und schlugen alle nieder. Das Geschäft wurde beschlagnahmt. Alle mussten sofort flüchten und Hab und Gut zurücklassen. In Verzweiflung und Panik flüchtete meine Großmutter und ertränkte sich in einem nahe gelegenen Teich. Da war sie 73 Jahre alt, ebenso alt wie ich heute.

Was muss es in ihr ausgelöst haben, als es hieß, innerhalb von Stunden aus der Heimat zu verschwinden, alles zurückzulassen und nicht zu wissen, wohin es überhaupt gehen konnte? Ich glaube nicht, dass wir uns heute die Verzweiflung dieser alten Menschen vorstellen können, die nie woanders gelebt, nichts anderes je gesehen hatten und jetzt im Alter einen kleinen Besitz hatten. Großmutter Anna hatte es einfach nicht ertragen, aus ihrer Heimat vertrieben zu werden, sie konnte sich keine Zukunft vorstellen. Ihr Sohn, mein Vater, war zu jener Zeit noch in Kriegsgefangenschaft; sie haben sich nie mehr gesehen. Mir ist schon als Kind aufgefallen, dass über die Beiden nie gesprochen wurde. Erst als ich diesen Abschnitt schrieb, hat mir ein Cousin die ganze Wahrheit mitgeteilt. Selbsttötung von Angehörigen war lange Zeit schambesetzt und wurde tabuisiert, selbst wenn die Umstände so tragisch und nachvollziehbar waren wie bei meinen Großeltern.

Es wurde bekannt gegeben, dass die Wohnungen gesäubert werden müssten, einige wenige Utensilien dürften mitgenommen werden und dass man sich an den bekannten Sammelplätzen einfinden müsse. Die Geschwister meiner Mutter befolgten diese Anordnung rechtzeitig, während meine Mutter mit uns viel zu lange wartete. Sie hat mir später erzählt, dass alle Verwandten die Wohnung vorher noch gründlich gereinigt hätten, damit ihnen niemand etwas nachsagen könnte. Lediglich eine uns bekannte Familie hatte die Wohnung absichtlich verunreinigt, um ihrer Wut ein wenig Raum zu geben.

Von nun an wurden die Deutschen mit weißen Armbinden diskriminiert. 1946 setzen erste Erinnerungen bei mir ein, vermischt mit Erzählungen von Erwachsenen und späteren Traumbildern. Ich weiß noch, dass ich darauf stolz war, auch eine »weiße Binde« tragen zu dürfen. Mittlerweile waren bereits alle Verwandten geflüchtet, nur wir vier und unsere Großmutter lebten noch in der Koňenova (»Konevstraße«, benannt nach dem russischen Marschall Konev) in Teplice. Die 75-jährige Großmutter versorgte uns tagsüber, denn Mutter und mein ältester, bereits 16-jähriger Bruder waren zur Zwangsarbeit verpflichtet. Eines Abends brach ein Trupp tschechischer Männer in unsere Wohnung ein. Es war der 8. August 1946. Die Männer schlugen meine Mutter brutal zusammen. Die vielen Bücher, die vom Großvater stammten, Werke von Marx, Engels, Bebel, weckten ihren Zorn. Mein Großvater war Gewerkschaftsführer bei den Webern gewesen, über die Gerhart Hauptmann 1892 ein Theaterstück geschrieben hat. Jedes einzelne Buch schlugen die Männer meiner Mutter auf den Kopf. Ich habe keine Erinnerung daran, aber meine Mutter erzählte mir später, wie sie verzweifelt versucht habe, mich zur Ruhe zu bringen, weil sie fürchtete, ich würde womöglich ebenfalls misshandelt werden. Wir mussten alles zurücklassen und durften nur einige Koffer mit den wichtigsten Habseligkeiten packen. Am gleichen Tag noch wurden wir in das ehemalige Lager für Fremdarbeiter der Zeiss-Werke in Teplitz-Schönau gebracht. Es wurde damals als Internierungs- und Durchgangslager genutzt, von wo die Deutschen an Orte in anderen Ländern weitergeschickt wurden. Heute nennt man solche Einrichtungen für Flüchtlinge auch »Überlaufstationen«, ein schauderhaftes »Unwort«.

In einem solchen Durchgangslager wurde ein Bekannter unserer Familie, damals sieben Jahre alt, auf der Toilette von einem fremden Mann sexuell missbraucht. Er hat das damals seinen Eltern verschwiegen. Schon kleine Kinder schämen sich wegen Missbrauchs-Taten, die an ihnen begangen werden, obwohl sich doch eigentlich der Täter schämen müsste. Von dieser Überwältigung hat sich mein Bekannter nie mehr erholt. Er hat sich zu einem sehr schwierigen Mann mit erkennbarer Persönlichkeitsstörung entwickelt. Ein Missbrauch ist ein Mord an der Seele eines Menschen. Warum tun erwachsene Menschen Kindern so etwas an? Der häufigste Missbrauch geschieht in Familien von nahen Angehörigen, Stiefvätern, Vätern und Müttern. Ein Kind ist ständig verfügbar und ausgeliefert. Werden Inzest- und Generationengrenzen zu wenig geachtet, so kann es zu Grenzüberschreitungen mit nachfolgendem Missbrauch kommen. Die Täter leiden häufig noch nicht einmal unter Gewissensbissen. In vielen Familien wird das Kind nicht als autonomes Wesen geachtet, sondern als Besitz seiner Eltern, mit dem alles gemacht werden darf, auch Missbrauch und Misshandlung. In solchen Einrichtungen wie dem damaligen Lager herrschten Anonymität und Fluktuation von Gruppierungen. Die meisten Missbrauchstaten werden übrigens keineswegs von Pädophilen verübt, sondern von Menschen, die zu wenig Grenzen verinnerlicht haben und unbewachte Situationen – wie im Lager – ausnutzen. Zudem spielt bei manchen Männern mit perverser Entwicklung der Machtfaktor eine große Rolle. Solche Menschen werden von schwachen Wesen, die nur wenig Widerstand bieten, besonders stimuliert; von Tieren, von behinderten Menschen und natürlich auch von kleinen Kindern. Es ist eine abstoßende Tatsache, dass behinderte Menschen viermal so häufig missbraucht werden wie nicht behinderte. Kinder, allein reisende Frauen sowie Menschen mit Behinderungen tragen ein höheres Gefährdungsrisiko für sexuelle Gewalt. Hierauf sollte auch in heutigen Flüchtlingseinrichtungen geachtet werden. Im Einwanderungsgesetz der Bundesregierung sind besondere Schutzkonzepte für Frauen und Kinder in Flüchtlingseinrichtungen vorgesehen, da es bereits zu vielen Übergriffen gekommen ist. Es ist zu hoffen, dass sie rasch umgesetzt werden.

Ich bin froh darüber, dass ich in den damaligen unsicheren Zeiten nicht auch missbraucht worden bin. Denn es ergaben sich viele Situationen, in denen wir Kinder nicht oder zu wenig geschützt wurden. An folgendes Ereignis erinnere ich mich. Ich war etwa zehn Jahre alt war und spielte allein auf dem Hügel vor dem Lager. Da kam eine etwa 20-jährige Frau, die ich von früher kannte, auf mich zu. Sie war aus dem Lager verzogen und nun noch einmal zurückgekehrt. Sie stürzte sich auf mich und küsste mich auf den Mund. Dabei wurde sie immer drängender, aufgeregter und stieß mit ihrer Zunge in meine Mundhöhle. Ich erschrak darüber und wich zurück. Da ließ die Frau von mir ab und ging lachend weiter. Wenn ich später an dieses Ereignis zurückdachte, empfand ich immer Scham und Ekel. Ich glaube aber nicht, dass ich durch diesen Vorfall größeren Schaden erlitten habe, weil nur geringe Gewalt ausgeübt worden war.

Nach einer Woche im Durchgangslager wurden wir zum Bahnhof gefahren. Undeutlich erinnere ich mich an einen Güterwaggon, in den wir steigen mussten. Ich erinnere auch die Dunkelheit darin, die Enge. Ich muss sehr geweint haben, weil ich durstig und hungrig war und die Fahrt sehr lange dauerte. Wir fuhren bis zur Ostsee in der Nähe von Stralsund.