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In dem autobiografischen Werk "Flügel für die Seele" nehme ich die Leser mit auf eine Reise, die von Vielschichigkeit der Themen geprägt ist. Es ist ein Buch über das zentrale Thema Bindung – um die Folgen von Bindungslosigkeit, die Chaos, Orientierungs- und Haltlosigkeit nach sich zieht, aber auch, wie es möglich ist, diese Bindungen wieder aufzubauen und nachhaltig zu stärken. In diesem Buch erzähle ich aus der Perspektive des Kindes über die Folgen von Hospitalismus und den Erkrankungen meiner Eltern. Das Buch offenbart die transformative Kraft der Liebe und wie sie unser Leben verändern kann. Es schildert die Herausforderungen als alleinerziehende Mutter, für ihre Kinder sorgen zu können, und beschreibt die persönliche Entwicklung auf diesem Weg. Dabei spielt der Glaube eine zentrale Rolle – - nicht im religiösen Sinne, sondern als innere Überzeugung und menschliche Revolution im eigenen Leben.
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2025
ist ein Buch über das zentrale Thema Bindung – um die
zerstörerischen Folgen von Bindungslosigkeit, die Chaos,
Orientierungs- und Haltlosigkeit nach sich zieht, aber auch,
wie es möglich ist, diese Bindungen wieder aufzubauen und
nachhaltig zu stärken. In diesem Buch erzähle ich aus der
Perspektive des Kindes über die Folgen von Hospitalismus
und den Erkrankungen meiner Eltern.
Das Buch offenbart die transformative Kraft der Liebe und wie
sie unser Leben verändern kann. Es schildert die
Herausforderungen als alleinerziehende Mutter, für ihre
Kinder sorgen zu können, und beschreibt die persönliche
Entwicklung auf diesem Weg. Dabei spielt der Glaube eine
zentrale Rolle – nicht im religiösen Sinne, sondern als innere
Überzeugung und menschliche Revolution im eigenen Leben.
H. Liebeler
Vierte Innenseite (linke Seite)
© 2025 H. Liebeler
Umschlag: J. Kasper
Korrektorat: Autorin
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN 978-3-384-56138-1 Paperback Softcover
e-Book 978-3-384-56139-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin H. Liebeler ver-antwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Dies ist eine Geschichte über die Kraft der Liebe, die in uns
allen steckt, die Überwindung von Schwierigkeiten und die
Suche nach innerem Halt. Es ist eine Einladung, die eigene
Reise zu reflektieren und die Flügel zu entdecken, die uns in
schwierigen Zeiten tragen.
Ich danke allen Menschen, die mir auf meinem Lebensweg begegnet sind und mich in meiner Entwicklung unterstützt haben.
Mein besonderer Dank gilt Rento, der mich dazu brachte immer weiter zu schreiben...
… und Juppi für seine große Unterstützung.
Mein größter Dank gilt meiner Freundin Claudia.
Was immer schon in mir war
Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer dein Glück wünsche. Dein Glück ist mein Glück. Ich möchte, dass du weißt, dass du unendlich wichtig für mich bist. Ich möchte, dass du weißt, dass du jetzt und an diesem Ort und in dieser Situation unendlich wertvoll bist. Du ver-bindest alles. Und ich sage dir, wieso:
Du bist die Sonne, der Mond und die Sterne, du bist Licht und Glück, Engel und Buddha, bist Atem, bist das Leben, du bist der Stoff, aus dem Träume sind, du bist Schönheit, du bist Hoffnung, bist die Kraft, bist Schöpfer, du bist die Liebe, ja, du bist das Geschenk. Du bist ein fester Teil des großen ganzen Ganzen (Universums). Du hast Raum, bist Energie – nichts geht verloren!
Du bist mit allem, was ist, verbunden – eben mit allem.
Ohne dich geht es nicht.
Das ist schwer zu verstehen, schwer zu glauben, aber so ist es!
Du kannst mir vertrauen!
Meine Wahrheit Alles, was ich dir erzähle, ist nur meiner Meinung nach so gewesen, es ist meine Geschichte und meine Erfah-rung. Ich habe keine Beweise und kann es nicht bezeugen. Alles kann anders sein! Es gibt wenige Erinnerungen und so habe ich mir manches vielleicht selber irgend wie zu-sammengereimt. Das ist meine Wahrheit und um genau die geht es. Darum schreibe ich für dich diese Zeilen, das ist das, was ich dir erzählen kann. Und das ist das, von dem mir wichtig ist, dass du es verstehen kannst… Ir-gendwie… Denn das, was für mich so schwierig war, hat sich verändert. Ich habe mich und mein Leben verändert. Und damit auch deines.
Ich habe immer versucht, meinen Platz in dieser Welt zu finden. Ich habe versucht, mich selber zu finden. Ich habe selten Worte dafür gehabt. Ich habe sehr lange Zeit ge-glaubt, keine Sätze sprechen zu können, die wahr sind, die verständlich machen, warum ich dachte, meinen Platz in dieser Welt suchen zu müssen, meinen Platz nicht ein-fach zu haben. Denn eigentlich glaubte ich schon immer fest daran, dass jedes Lebewesen seinen Platz in dieser Welt hat! Aber für mich war es so, als könnte ich nicht einfach Sein. Ich habe mich immer sehr extrem gefunden mit all meinen Emotionen, mit meiner Sichtweise auf Dinge, die ich sehe, die ich denke, die ich fühle und auch damit, wie ich sie fühle, wie ich sie mache. Und auch des-halb, weil ich stets versuchte, nicht extrem zu sein – nach außen hin. Ich habe mich lange Zeit nicht eingebunden, vertraut, gewünscht gefühlt. Ich hatte gelernt, dass ich an-strengend und zu viel in dem bin, das oder was ich bin. Ich habe mich lange Zeit nicht selber gesehen und hatte selber kein Verständnis für mich und meine Bedürfnisse. Und deshalb hatte ich oft geglaubt, keine Berechtigung zu haben. Wie könnte ich überhaupt ich sein? Ich glaube, ich hatte keine Identität. Wie könnte ich mein Recht auf Liebe, Würde, Fülle, Schönheit, Reichtum, Freiheit in mein Anrecht manifestieren? Wie würde ich es schaffen, mir selber zu erlauben, glücklich zu sein? Wie würde ich mir verzeihen, mir selber meinen Platz nicht gegeben zu haben?
Mein Weg ist nicht vergleichbar, ich bin nicht vergleich-bar. Und das hat mich mich oft einsam fühlen lassen.
Und seitdem ich denken kann, sehnte ich mich nach Ge-borgenheit und ein kleines bisschen mehr Sicherheit.
Ich wünschte mir, meine unbändige Wildheit, meine wunderbare kindliche Neugier, meine ureigene Kraft, meine immer dagewesene tiefgründige Zartheit und meine maßlose Liebe leben zu dürfen. Ich wollte das Ge-fühl von tiefster Verbundenheit erfahren. Ich wünschte mir, auf dieser Welt das wichtigste Wesen zu sein, für We-sen, die mich wollen, so wie ich bin. Ich sehnte mich nach Menschlichkeit. Ich sehnte mich danach, gesehen und ge-hört zu werden.
Und natürlich nach einem Menschen, der mich liebt, so wie ich bin.
Ich wollte mich der Welt sooo gerne zum Geschenk ma-chen.
Und so fing es an:
Die Reise beginnt.
Ich konnte mich lange Zeit nicht erinnern … In meinem Kopf war Chaos oder Leere...
Meine Mutter erzählte, dass sie in Kur fahren musste, als wir etwa sechs Wochen alt waren. Alles war sehr anstren-gend für sie mit uns. Vielleicht passten meine Tante und meine beiden Omas auf uns auf, ich weiß es nicht.
Ich hatte meine Mutter nicht oft nackt gesehen, aber ein paar Mal konnte ich sehen, wie ihr Bauch einmal längs und quer aufgeschnitten und wieder zusammengeflickt worden war – mit vielen Narben und Falten, die aufgrund der tiefen Schnitte und Nähte in dem großflächigen Ge-webe zurückgeblieben waren. Diese zogen sich über ih-ren gesamten Bauch. Obwohl sie eine wunderschöne Frau war, wirkte ihr Bauch wie nach einer Schlacht auf einem Schlachtfeld oder, wie ich zunächst dachte, wie ein aufge-schnittenes und wieder zusammengeflicktes bratfertiges Hähnchen. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass ihr Becken für eine normale Geburt zu eng und deshalb ein Kaiser-schnitt nötig sei. Sie hatte zwei solcher Eingriffe. Einmal bei meiner älteren Schwester und einmal bei mir und mei-ner Zwillingsschwester. Wir sind 1964 geboren, meine Zwillingsschwester und ich. Meine ältere Schwester war zwei Jahre zuvor auf die Welt gekommen.
Als ich ein Jahr alt war, erkrankten meine Zwillings-schwester und ich an einer offenen (ansteckenden) Tuber-kulose. Während meine Zwillingsschwester ein Dreivier-teljahr in Quarantäne im Kinderkrankenhaus war, ver-brachte ich ein ganzes Jahr dort. Mein Opa, der Arzt war, hatte diese Krankheit sozusagen mit nach Hause gebracht – so wurde es erzählt. Unsere Eltern durften uns nur einmal im Monat besuchen. Meine Mutter berichtete, ich hätte mich bei ihrem Besuch so stark an sie geklammert, dass sie mich nur sehr schwer von sich habe lösen kön-nen, und das sei sehr schwer für sie gewesen. Als ich ent-lassen wurde, habe ich alles kaputt gemacht und zerris-sen, zerbissen und geschlagen. Meine Mutter sagte, ich hätte insbesondere mein Bettzeug zerrissen. Ich hatte Hospitalismus.
Wie man das nennt, hatte meine Mutter nicht gesagt, sie sagte nur: „Du warst so aggressiv.“ Meine Mutter sagte auch, dass ich nicht in den Kindergarten gedurft hätte, da ich alle Kinder geschlagen hätte. Und dass wegen mir dann auch meine Zwillingsschwester nicht in den Kinder-garten durfte. Mein Vater, glaube ich, besuchte uns nie im Krankenhaus. Ich kann es nicht wissen, denn ich schaffe es nicht, ihn danach zu fragen. Ich habe Angst, er könnte sagen, dass er es nicht ertragen hätte, uns so zu sehen, mich so zu sehen. Alleine die Vorstellung davon wühlt mich immer noch auf. Meine Mutter kann ich danach nicht mehr fragen, denn sie ist vor langer Zeit gestorben. Ich hatte, seitdem ich denken kann, ein Chaos in mir mit Nähe und Distanz. Ich werde immer wissen, wie es sich anfühlt, völlig verlassen und alleine, und außerordentlich machtlos zu sein. Meine Seele und mein Körper wissen das, denn dieses Wissen ist in jeder Zelle, jedem Organ, jedem Muskel, jeder Faser meines Körpers abgespeichert. Meine Seele schrie nach Liebe und Mitgefühl und mein Körper nach Bewegung und Ausdruck und beide zusam-men nach Freiheit. Da meine Beine stark waren und ich immer schon gerne gelaufen bin, begann sich vielleicht zunächst mein Körper zu heilen.
Durch den langen Krankenhausaufenthalt hatte ich viel-leicht auch spät sprechen gelernt. Auf jeden Fall ist Spra-che für mich nicht selbstverständlich und ich hatte oft Angst mich auszudrücken. Ich folgte meiner eigenen kindlichen Logik. Später brachten mir die Worte, die ich hörte, selten die Erklärungen, die mir wahrscheinlich ge-holfen hätten, die Welt besser zu verstehen, um mit mir und Situationen etwas sanfter umgehen zu können. Es schien, dass die Welt für mich ein undurchschaubares Rätsel war. In solchen Momenten hörte ich mich selbst in-nerlich schreien: „Erkläre mir die Welt oder gib mir nur ein Wort, an dem ich mich festhalten kann.“ Mein Verlan-gen, das scheinbar Unmögliche zu verstehen, war wirk-lich stark.
Aber da ist meine Zwillingsschwester und ihr Herz schlägt mit meinem.
Für eine lange Zeit teilten meine Zwillingsschwester und ich uns ein Bett. Obwohl wir natürlich jeweils unser eige-nes hatten, schliefen wir meistens in einem. Wir gaben uns gegenseitig Nähe und Sicherheit, Geborgenheit, Wärme, Akzeptanz, Vertrauen, Verständnis und Halt.
Unsere Verbundenheit war so stark, dass wir uns nur als Einheit gut fühlten. Nur mit ihr war Nähe einfach. Wir konnten uns alles erzählen, einander verstehen und uns unsere Welt erklären. Wir konnten uns zusammen upgra-den. In meiner Erinnerung werden wir immer „die Zwil-linge“ gerufen. Oder es wird gesprochen, gefragt, als wä-ren wir eine Person … Ihr! Ich empfinde auch heute noch manchmal eine echte Überraschung, wenn jemand meinen Namen ausspricht: Ich bin gemeint. Dann steigt manchmal noch diese merkwürdige Aufregung in mir hoch.
Vieles wurde für mich, als ich etwa sechs Jahre alt war, noch komplizierter. Zunächst bemerkte ich, dass sich meine Mutter veränderte. Sie schien zunehmend in ihrer eigenen Welt zu leben. Ich konnte ihr ansehen, dass sie sich in sich zurückzog, denn ihre Augen blickten nach in-nen. Sie nahm uns manchmal nicht wahr. Es war, als müssten wir Kinder sie erst anstupsen oder sie direkt vor ihr stehend ansprechen: „Mama.“ Dann wieder war sie immer öfter außer sich. Sie schrie uns immer häufiger an und auch meinen Vater, der irgendetwas getan hatte oder vielleicht nicht getan hatte. Wie sie vorher war, kann ich nicht mehr genau sagen. Sie war irgendwie ein warmes, liebevolles Gefühl in mir. Sie war wunderschön und fein und weich und auch stark. Sie war humorvoll und lachte gerne und in Gesellschaft lachte sie auch gerne laut. In Geselligkeit blühte sie oft richtig auf. Sie war sehr groß-zügig und spontan. Die meisten Geschichten über unsere Familie hatte ich wahrscheinlich von ihr gehört.
Meine Mutter besuchte vor ihrer Heirat eine Haushalts-schule. Das war früher wohl so üblich, dass die Mädchen zur Vorbereitung auf die Ehe (das Führen eines ordentli-chen Haushalts) auf eine solche Schule gingen. Meistens war es wohl so, dass das Erstgeborene irgendwann die Schule und anschließend die weiterführende Schule be-suchen durfte. Je nachdem, wie die finanziellen Möglich-keiten waren, denn die Schule musste bezahlt werden. Nun, meine Mutter war das vierte von fünf Mädchen. Sie würde also heiraten und kam für einige Zeit somit auf diese Hauswirtschaftsschule, die in Norddeutschland war, nahe der Lüneburger Heide. Meine Mutter fand die Zeit mit all den anderen Mädchen, die mit ihr diese Haus-haltsschule besuchten, wunderbar. Meine Mutter konnte wirklich gut kochen. Sie kochte früher einmal am Wo-chenende ganze Menüs. Sie briet Hähnchen im Backofen und machte selbstgemachte Pommes dazu. Sie konnte be-sonders gut Szegediner Gulasch mit Kartoffelpüree oder einen Chicoréeauflauf zaubern. Es gab selbstgemachten Nachtisch, wie drei verschiedene süße Cremes, die sie in Glasschälchen abwechselnd schichtete. Zum Schluss krönte sie das Ganze mit einer Mandarine aus der Dose oder etwas Schokoraspeln. Und manchmal bereitete sie aus einer quadratischen Packung, auf der ein Eselchen war, unseren Eselchenpudding mit Orangengeschmack zu, den ich so liebte und den es heute nicht mehr zu kau-fen gibt. Meine Mutter erzählte einmal, dass sie als Kind Pudding genannt worden sei, denn Pudding sei ihre Lieb-lingsnachspeise gewesen und diese liebe sie immer noch. Sie machte auch die besten und schönsten Buttercreme-torten, auch mit verschiedenen Schichten und wunder-schön dekoriert. Meistens machte sie aber Apfelstreusel-kuchen. Die ganze Familie meiner Mutter legte sehr viel Wert auf gutes Essen.
Als wir einmal Fieber hatten, mixte uns meine Mutter ein Eigelb mit Zucker schaumig, fügte dem Ganzen dann et-was Rotwein hinzu und gab es uns dann in einem Wein-glas zum Löffeln. Sie sagte, dass es den Körper stärke. Sie war kreativ.
Ihre Kreativität zeigte sich auch in ihrer Gabe, wunder-schön zu zeichnen. Sie zeichnete oft Landschaften, Berge, Häuser, Wald und Wiesen. Und Stillleben. Und wenn wir umzogen, verpasste sie allen Möbeln in den Kinderzim-mern einen neuen Anstrich. Und wir zogen oft um.
Ich glaube, ich hatte immer das Gefühl, mit ihr Pferde stehlen zu können, und wenn vielleicht nicht mit ihr, so doch mit ihrer Zustimmung. Sie war meine Königin.
Aber wie gesagt, dann wurde sie anders. Vielleicht än-derte sich ihre Stimmung, für mich immer plötzlich … Ohne Vorwarnung kippte die Situation und sie konnte sehr wütend werden. Manchmal saß oder stand sie vor mir und hielt sich mit beiden Händen ihre Ohren zu, auch wenn wir vielleicht gar nichts gesagt hatten. Sie war in sich gekehrt oder merkwürdig oder schrie. Dann weinte sie oder saß einfach irgendwann nur stumm da, starrte vor sich hin. In tiefer Verzweiflung und Resignation. Das war vielleicht das Schlimmste. Bevor die Resignation kam, hatte sie oft ihre Beine übereinandergeschlagen und wippte unaufhörlich mit dem Fuß oder sie drehte den Fuß stundenlang kreisförmig in eine Richtung. Manchmal nahm sie dann ihre Brille auf diese einzigartige Mama-weise ab, um zitternd ihre Tränen wegzuwischen. Sie sah soo unfassbar, soo unerträglich traurig und verloren aus.
Dann wieder saß sie während des Mittagessens mit dem Kochlöffel neben uns, bis wir aßen, was wir aber nicht mochten. Als sie einmal in der Küche stehend etwas zu-bereitete, hatte meine Zwillingsschwester, die hinter mir bei unserer Mutter stand, etwas falsch gemacht. Schnell war sie verschwunden. Meine Mutter, die nicht reali-sierte, dass ich nicht meine Zwillingsschwester war, schlug mit ihren gnadenlos festen Händen hart auf mei-nen Po. Das war vorher noch nie passiert.
Mein Vater war mir immer irgendwie fremd und ich be-obachtete ihn distanziert. Wahrscheinlich beruhte das auf Gegenseitigkeit, denn ich kann mich nicht erinnern, dass er mich, als ich klein war, bei meinem Namen genannt hätte. Er sagte „die Zwillinge“, „die Kinder“, „ihr“. Für mich war er arbeiten und dann kam er immer öfter be-trunken nach Hause. An die Zeit vorher kann ich mich nicht erinnern. Mein Vater hatte dann manchmal seine sentimentalen Anwandlungen, die er irgendwie nur be-trunken zum Ausdruck bringen konnte. Er versuchte dann mit einer weinerlichen Stimme persönlich zu sein, glaubte ich. Da er seine Umwelt in seinem Rausch nicht mehr fixieren konnte, wusste ich nicht, ob er wirklich mich meinte oder was er überhaupt zum Ausdruck brin-gen wollte. Immer öfter war er morgens nicht ausgenüch-tert und nicht in der Lage, arbeiten zu gehen. Meine Mut-ter rief zunächst noch auf seiner Arbeitsstelle an und ent-schuldigte ihn. Anschließend schrie sie dann böse Tira-den, das heißt, es gab keinen Ausweg, als dieses Geschrei mitanzuhören. Sie schrie so etwas wie: „Das war das letzte Mal!“ Auch kam er manchmal zerschlagen und blu-tig nach Hause und hatte seine Sachen verloren oder seine Kleidung war kaputt … Er stank fürchterlich nach Alko-hol, seine Stimme war rau, seine Lippen aufgeplatzt vor Trockenheit, torkelte er in den Flur. Er konnte morgens noch kaum stehen. Eines Tages fand meine Mutter in sei-ner Tasche etwas von einer anderen Frau. Ab da sagte meine Mutter, dass er andere Frauen habe.
Ein anderes Mal hatte sich meine Mutter abends mit uns Kindern im Schlafzimmer meiner Zwillingsschwester und mir eingeschlossen. Als mein Vater nachts betrunken nach Hause kam, schlug er gegen die Schlafzimmertür und schrie, dass meine Mutter die Tür öffnen solle. Wir brachen alle in Geschrei und in Tränen aus. Ich wusste nicht, vor wem ich mehr Angst haben sollte, vor meiner Mutter oder vor meinem Vater. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, bei wem ich sicherer wäre. Denn mein Vater war, auch wenn er Alkohol getrunken hatte, nicht wirklich aggressiv, vielleicht nur schwach und weiner-lich. Aber meine Mutter sagte, er sei schuld. Und viel-leicht dachte ich, ich müsste mich entscheiden.
Aber ich erinnere mich auch noch an Zeiten, in denen meine Eltern anders waren. Es gibt sogar Fotos, da steht mein Vater im Vorgarten meiner Oma; ich sitze auf seiner einen Schulter und meine Zwillingsschwester auf seiner anderen. Wir lachen glücklich auf diesem Foto. Er ging manchmal mit uns Kindern spazieren. Ich glaube, es war dann sonntags, während meine Mutter das Menü kochte. Und er machte uns Kindern mehrmals große Teller voller kleingeschnittener Brothäppchen, die alle anders belegt und schön garniert, gestapelt zu einer Pyramide waren. Jedes Brothäppchen hatte ein Tüpfelchen Mayonnaise oder Tomatenmark aus der Tube. Oder ein Gürkchen aus dem Glas oder etwas anderes. Das habe ich sehr schön empfunden.
Einmal baute er mit uns Kindern (hier war sogar meine große Schwester dabei, die sonst nie mit uns spielte) und mit den Kindern aus der Nachbarschaft mit Lehm, Bret-tern, Nägel und Hammer ein Büdchen, eine Art Wohnung, in einem Felsen oder Ähnlichem, mitsamt der Erdstufen, die zu diesem Unterschlupf führten. Ich war so glücklich. Ich war so stolz auf meinen Vater.
Und meine Mutter brachte uns schwimmen bei. Dazu fuhren wir mit dem Bus von unserem Dörfchen in die Stadt. Ich liebte das Wasser und ich liebte es zu schwim-men. Meine Mutter trug immer einen orangefarbenen Ba-deanzug.
Mein Vater fuhr einmal einen weißen VW Käfer. Von die-sem Auto gab es ein Foto. Als ich es einmal betrachtete, erzählte mir wahrscheinlich meine Mutter, dass wir drei Kinder auf der Fahrt in den Urlaub hinten im Kofferraum geschlafen hätten. Ich kann mich weder an den Urlaub noch an das Auto erinnern. Mein Vater fuhr die weite Strecke zu seiner Arbeitsstelle vom Land in die Stadt und zurück immer mit dem Zug. Jahre später hatte er aber auch einmal einen Opel.
Mit sechs Jahren wurde ich mit meiner Zwillingsschwes-ter eingeschult. Irgendwann bestellte die Lehrerin meine Mutter und uns zu einem Gespräch ein. Ich saß vielleicht mit meiner Zwillingsschwester neben meiner Mutter vor dem Pult. Die Lehrerin sagte meiner Mutter, dass wir nicht längere Zeit ruhig sitzen könnten und unkon-zentriert seien, nicht zuhörten und dass das so nicht gehe. Ich hörte meine Mutter zu der Lehrerin sagen: „Ich weiß auch nicht, was mit den Kindern los ist.“ Oder sagte sie „mit dem Kind“? Wenn es damals schon die Bezeichnung ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Stö-rung) gegeben hätte, so hätte ich diese Störung wohl gehabt und so wäre ich vermutlich einer medikamentö-sen Behandlung nicht entkommen. Das ist von mir forsch behauptet, aber erfahrungsgemäß ermächtigten meine El-tern Personen, die eine Funktion oder höhere soziale Stel-lung bekleideten, automatisch zu Autoritätspersonen. Wenn diese ein Amt, einen Rang oder eine Position (Pfar-rer, Lehrer, Polizist) innehatten, wurde ihre Kompetenz nicht infrage gestellt. Ich bin auf jeden Fall sehr dankbar dafür, dass ich hier also unbehandelt blieb, da meine nö-tigste Verarbeitung der häuslichen Situation hauptsäch-lich über „Bewegung“ möglich war. Nun, hier vor der Lehrerin hatte ich keine Worte, keine Stimme. Und ich er-innere mich, wie verzweifelt ich darüber war, dass meine Mutter nicht für mich sprach, ihr nicht sagte, dass wir das wieder hinkriegen würden. Es traf mich hart und ich spüre heute noch, wie sich nach diesen Worten meiner Mutter mein Hals zusammen zog. Von da an war sie nie mehr meine Königin.
Ich weinte nicht.
Und so wurde ich (und meine Zwillingsschwester) wie-der ausgeschult. Da wir damals ja in einem kleinen Dorf wohnten, gab es dort auch nur eine kleine Grundschule. Ich glaube, es gab nur vier Stuhlreihen, nämlich für jede Klassenstufe eine. Vielleicht saßen in der ersten Reihe acht Kinder – das war das erste Schuljahr. In der zweiten Reihe saß das 2. Schuljahr … die vierte Reihe war die letzte Klasse. Meine große Schwester saß in der 3. Reihe. Ich dachte, dass ich anders, falsch, dumm, nicht wie all die anderen Kinder sei. Und ab da nahm ich auch wahr, wie oft mein Vater zu mir in Situationen, in denen ich an-ders reagieren sollte, sagte, dass ich nicht so dumm sein solle.
Aber da ist meine Zwillingsschwester und ihr Herz schlägt wie meines.
Wir wohnten in einer Wohnung, auf einem Berg, im Haus einer Schreinerfamilie. Es war das letzte Haus des Dorfes, am Waldrand. Die Familie hatte zwei Söhne, Martin und Gerd. Wir waren viel mit diesen Jungs zusammen. Aber Gerd war irgendwie mein Freund, mit ihm fühlte ich mich wohl. Wir gingen immer draußen spielen. Einmal waren mehrere Kinder auf dem Berg und es gab ein gro-ßes Fahrrad, das jedes Kind einmal fahren durfte. Ich hatte noch nie auf einem Fahrrad gesessen und wollte es auf jeden Fall auch ausprobieren. Als ich ein Stück den Berg hinunterfuhr, wusste ich nicht, wo die Bremse war. Die Fahrt nahm an Geschwindigkeit auf und ich stürzte einen Abhang neben der Straße hinunter, der steil am Bach endete. Unten angekommen wurde ich ohnmächtig. Als ich einen Moment zu mir kam, befand ich mich in ei-nem Taxi, meine Mutter saß vielleicht neben mir oder auf dem Beifahrersitz. Ich lag auf der Rückbank, glaube ich. Das nächste Mal wachte ich erst wieder im Krankenhaus auf. Dieses befand sich in der nächstliegenden Stadt, ei-nige Kilometer von unserem kleinen Dörfchen entfernt. Ich musste vier Wochen dort bleiben. Ich habe keinerlei Erinnerungen an unsere Wohnung, aber ich erinnere mich noch genau an dieses Krankenhaus. Und ich erin-nere mich auch noch, dass ich längere Zeit überhaupt an gar nichts eine Erinnerung hatte … und nur in diesem großen Zimmer mit Kinderbetten und einem Spielraum mit Kindern lebte. Es war für mich das Paradies. Die Kin-derkrankenschwestern waren Nonnen. Zur Besuchszeit durften die Eltern durch eine Glasscheibe mit den Kin-dern kommunizieren, und da neben der Glasscheibe noch Telefone hingen, konnte man auch miteinander sprechen. Ich mochte diese Besuchszeiten nicht. Niemand sollte mich beim Spielen stören. Meine Mutter stand manchmal dort, vielleicht mit meinen Schwestern. Mein Vater, glaube ich, stand nie vor der Glasscheibe.
Nach vier Wochen holte mich meine Mutter ab und ich erinnere mich noch, dass ich sehr traurig war und zu der Krankenschwester sagte, ich wolle nicht nach Hause, son-dern hier bleiben.
Nach einiger Zeit zogen wir innerhalb dieses Dörfchens in ein Haus, das meine Eltern mieteten. Ich war nicht gerne in diesem Haus und fast alle Erinnerungen, die ich hieran habe, sind nicht schön. Wir spielten immer drau-ßen. Aber während des Umzuges durfte ich mit meiner Zwillingsschwester ein paar Tage bei meiner Uroma und Oma bleiben. Einmal stand meine Oma neben mir im Ba-dezimmer vor dem Waschbecken. Ich wusch mir gerade die Hände. Meine Oma plauderte einfach irgendetwas in ihrer Singsang-Stimme, die sich immer irgendwie ver-traulich und auch gemütlich anhörte. Alle ihre Bewegun-gen waren bedächtig, sanft, harmonisch, ja und ruhig. Ich glaube, sie konnte sich nicht beeilen, auch wenn sie vor-gab, sich beeilen zu wollen. Sie nahm also sehr bedächtig meine Hände und legte sie in ihre. Niemals habe ich einen Menschen gespürt, der solch weiche Hände hatte wie meine Oma. Sie hatte ein Faible für gut riechende Seife und sie begann in Seelenruhe meine Hände einzuseifen. Meine Hände in ihren Händen kamen mir selber so klein vor. Dabei streichelte und glitt sie so, so zärtlich und lie-bevoll über meine Hände, als wären diese ein eigenstän-diges und unendlich kostbares Wesen. Bald sah ich unser beider Hände aber nicht mehr, denn der Seifenschaum umhüllte sie vollständig luftig zart. Ich bin sicher, dass ich in diesen Minuten – oder waren es Stunden – das glück-lichste Kind auf der ganzen Welt war. In ihrem Kleider-schrank legte sie ihre zahlreichen gut duftenden Seifen zwischen ihre ordentlich gefaltete Wäsche. Bei ihr war es einfach schön.
Meine Oma holte uns einige Erdbeeren aus dem Garten und servierte sie jedem auf einem Tellerchen, nachdem meine Uroma noch reichlich Zucker darüber verteilt hatte. Dies handhabte sie so auch mit Orangenstück-chen…. Sie zuckerte einfach jedes Obst.
Mit sieben Jahren wurden meine Zwillingsschwester und ich dann doch eingeschult.
Ich kann mich überhaupt nicht an diesen Schulalltag er-innern, nur noch daran, dass wir uns nicht mehr sicher waren, ob meine Mutter nach der Schule für uns gekocht haben würde. Manchmal sah ich meiner großen Schwes-ter ihre Besorgnis und ihre Angst an. Die Stimmung mei-ner Mutter war für uns nicht einschätzbar, aber manch-mal war sie nach einem „Anfall“ plötzlich wieder „nor-mal“. Meine große Schwester übernahm ab und zu die Ansage, was gerade getan werden musste.
Irgendjemand sagte dann vielleicht: „Tu doch etwas.“ Aber damit war auf jeden Fall nicht gemeint: „Sag mal et-was.“ So bewegte ich mich; vielleicht sollten wir dann aufräumen oder die Hausaufgaben beginnen, eben irgen-detwas tun.
Und in der Schule war nun das Thema nicht mehr, ob wir ruhig sitzen können, sondern dass meine Zwillings-schwester irgendwie besser war als ich. So glaubte ich. Denn ich konnte nicht mit meiner rechten Hand schrei-ben. Es stellte sich heraus, das ich Linkshänderin war, und ich musste mit der rechten Hand schreiben lernen. Die Lehrerin sagte, dass ich das lernen müsse … mit der „schönen“ Hand zu schreiben. Für meine Eltern war ja das gesagte Wort der Lehrerin richtig. Es fiel mir sehr schwer und wieder dachte ich, warum ich nicht einfach sein konnte wie die anderen Kinder. Es dauerte lange, bis ich den Bleistift mit meiner rechten Hand führen konnte. Jedes Kind hatte damals anstatt eines Heftes eine kleine Schiefertafel zum Schreiben. Darauf mussten wir das ABC schön schreiben üben. Wenn es nicht schön war, wurde alles Geschriebene wieder weggewischt und man musste von Neuem beginnen … ich wischte mein ge-schriebenes A,B,C oft selber weg. Als ich dann die Schreibschrift in einem Heft lernte, stellte ich fest, dass ich sehr gut Spiegelschrift schreiben konnte. Ich musste sie nicht lernen, ich konnte sie einfach. Übrigens verfasste Le-onardo da Vinci als Linkshänder all seine Texte in Spie-gelschrift. Leider war ich nicht Leonardo da Vinchi.... So-gar heute noch habe ich einen gespaltenen Bezug zu mei-ner Handschrift. Sie gehört nicht richtig zu mir und sie sieht immer etwas unordentlich aus. Im Rechnen waren meine Zwillingsschwester und ich beide nicht gut. Und ein paar Mal kam sogar mein ältester Cousin, der Lehrer werden wollte, zu uns nach Hause, um uns Nachhilfeun-terricht darin zu geben. Es war schrecklich. Lange Zeit glaubte ich, dass ich nichts lernen könne und einfach nur schlecht sei. Mir war einfach nur zum Weinen. Aber ich weinte nicht. Da hörte ich meine Mutter nach einer Nach-hilfestunde zu meinem Cousin sagen, dass sie auch nicht wisse, was mit dem Kind los sei.
Ich konnte mir einfach nichts merken, konnte gar nicht in Ruhe sein und nicht lange still sitzen, ich fühlte mich nicht richtig. Bei meiner Zwillingsschwester war das anders, sie war gefasster als ich. Da dachte ich plötzlich nicht mehr, dass das Herz meiner Zwillingsschwester gleich mit mei-nem schlage.
Eines Tages waren meine Eltern sehr im Streit … Viel-leicht war ich in einem anderen Zimmer und hörte das von dort aus. Es wurde sehr schlimm. Meine Mutter wollte irgendetwas irgendjemandem von ihm (meinem Vater) erzählen und lief schon die Treppe herunter zur Haustür im Erdgeschoss. Meine Geschwister liefen ihr nach. Plötzlich hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall. Ich lief ins Treppenhaus und sah meinen Vater auf den unteren Steinstufen liegen. Aus seinem Kopf lief Blut und sein Blut tropfte ganz langsam die Treppe hinunter. Ir-gendwie wusste ich, dass er von der Treppenbrüstung ins Erdgeschoss gesprungen und mit dem Kopf auf die Stein-stufen geknallt war. Ich konnte nicht weglaufen, es war, als müsste ich bei ihm sein. Ich weiß noch, dass ich eigent-lich nicht wollte, und doch ging ich gaaanz langsam zu ihm, Stufe um Stufe zu ihm herunter. Er öffnete seine Augen und sah mich an. Ich hörte mich ihn fragen: „Papa, warum hast du das gemacht?“ Als ich neben ihm saß, lie-fen meinem Vater plötzlich langsam Tränen über die Wangen, aber dann lächelte er: „Ich wollte einmal schnel-ler sein als deine Mutter.“ Ich blieb bei ihm, bis der Kran-kenwagen kam. Wer den gerufen hatte, weiß ich nicht. Niemand kam nach ihm gucken, niemand kam nach mir gucken. Ich glaube, ich konnte mich nicht bewegen. Das Warten fühlte sich sehr lange an. Wir sprachen nicht mehr. Mir fiel einfach keine Frage mehr ein. Mein Vater hatte die Augen wieder geschlossen. Ich wusste nicht, ob er noch lebte. Es war schlimm. Aber ich weinte nicht. Ir-gendwann kamen die Rettungssanitäter. Sie schickten mich fort. Mein Vater überlebte diesen Aufprall und ich glaube, als er sich davon erholt hatte, machte er eine Ent-ziehungskur.
Dieser Vorfall wurde nie erwähnt. Ich hatte es sogar ver-gessen, bis es mir als Erwachsene wieder einfiel. Und mit dieser Erinnerung kam der Knall zurück, ich kann ihn seitdem wieder hören, genau so, wie er war. Und ich kann das Blut riechen – im Treppenhaus.
Bald danach zogen wir um. Und wir zogen noch einmal um. Wir zogen in das Haus meiner Oma, der Mutter mei-nes Vaters. Und wir wurden eine Klasse zurückversetzt. Und wir zogen noch einmal um. Und zwar zu meinen Omas. Meine Oma wohnte in einem Haus zusammen mit meiner Uroma. Meine Mutter zog mit uns drei Kindern dorthin. Mein Vater wohnte bei seiner Mutter in ihrem Haus, wo wir zuvor ein Jahr zusammen gewohnt hatten. Meine Eltern trennten sich also. Mein Vater war für mich meistens betrunken und so war es für mich eine Erleich-terung, als sich meine Eltern trennten. Meine Mutter sagte, mein Vater sei schuld. Und das wollte ich glauben, wollte glauben, dass ohne ihn damit alles anders und bes-ser würde. Wollte glauben, dass meine Mutter dann wie-der wäre, wie sie früher einmal war.
Das Beste, was dieser Umzug mit sich brachte, waren meine immer gleich bleibenden Omas mit ihren immer gleich bleibenden Gewohnheiten, Traditionen, Lebens-rhythmen. Meine Oma hatte auch einen wunderschönen großen Garten. Er war so groß, dass meine Oma einen Gärtner hatte. Vielleicht kam er zwei oder dreimal im Jahr zu ihr. Sie kannten sich schon sehr lange, da er auch in dem Dorf aufgewachsen war. Auf jeden Fall war das das erste Mal, dass ich sah, wie der Gärtner während seiner Arbeit von meiner Oma wie selbstverständlich zum Essen gerufen wurde. Wir aßen einfach alle zusammen zu Mit-tag. Und dann fiel mir auf, dass an jedem Tag ein Teller mehr als nötig auf dem Tisch stand. Als ich meine Oma fragte, warum das so sei, sagte sie: „Kind, man weiß nie, wer noch kommt.“ Dabei erhob sie ihren Zeigefinger und strahlte über ihr ganzes Gesicht. Das war das Schönste, was ich je gehört hatte, glaube ich, und mein Herz wurde weit. Dieser Satz meiner Oma hat sich mir fest eingeprägt. Und tatsächlich war es so: Wenn ich einmal eine Freundin spontan nach der Schule zum Essen mitbrachte, aß sie selbstverständlich mit. Es war immer genug Essen für eine Person zusätzlich da. Auch kamen meine beiden Cousins öfter einfach mal auf einen Kaffee oder zum Es-sen vorbei. Das war heilsam. Meine Oma war eine kluge Frau.
Das Zweitbeste an diesem Umzug waren die neuen Freundinnen und die Nachbarskinder. Meine Zwillings-schwester und ich hatten eine Freundin, mit der wir in der kalten Jahreszeit bei ihr zu Hause spielten, und wir hatten eine Schönes-Wetter-Freundin, mit der wir immer auf der Straße spielten. Dazu kamen die Nachbarskinder. Es gab da keine Streitigkeiten bezüglich der Freundinnen, denn die Freundin, mit der wir in der kalten Jahreszeit spielten, ging einfach nicht nach draußen. Und die Freundin, mit der wir draußen spielten, ging nicht in andere Häuser.
Es gab nach der Trennung unserer Eltern die Regelung, dass wir Kinder unseren Vater alle zwei Wochen an ei-nem Wochentag besuchen sollten. Wir gingen nicht gerne zu ihm, da seine Verfassung immer schlechter wurde. Ich mochte unsere Oma nicht, die mich nicht mochte und die ja immer da war, wenn wir meinen Vater besuchten, da er ja jetzt nur noch mit ihr in ihrem Haus lebte. Er trank wohl viel Alkohol. Und meine Oma schimpfte wie meine Mutter. Die Stimmung, die Situation dort erschien mir unerträglich. Besonders hart war, meinen Vater jetzt zu-sätzlich auch noch von dem Urteil meiner Oma abhängig zu sehen. Für mich war sie stark und er schwach. Sie war in meinen Augen aber auch die Böse und er musste sich ihr beugen. Meine Oma war einmal Lehrerin gewesen, das konnte man sofort glauben, denn sie war energisch und streng (So sagte meine Mutter). Nach einiger Zeit ging meine Zwillingsschwester immer seltener meinen Vater besuchen. Meine große Schwester sagte mir bei vie-len Gelegenheiten, insbesondere wenn ein Besuch bei ihm bevorstand, wie gut unser Papa eigentlich sei. Sie war auch das Lieblingskind meines Vaters. Aber auch sie ging manchmal nicht hin. Sie sorgte dann aber irgendwie im-mer dafür, dass ich hingehen „musste“. Sie konnte mich so beeinflussen, dass ich das Gefühl hatte, ich müsse zu ihm gehen, wenn kein anderer es tun würde. Einmal ging mein Vater mit mir (als ich alleine bei ihm war) während des Besuchstags in die Kneipe und wir blieben, bis er sich betrunken hatte. Er betrank sich dort mit irgendwelchen Männern, die er wohl von dort kannte. Er saß auf einem Barhocker an der Theke und ich stand daneben. Er wollte nur kurz bleiben, darum brauchte ich mich vielleicht nicht zu setzen. Aber wir blieben lange, wie gesagt, bis er sich betrunken hatte, und ich wusste nicht, wie ich ihn nach Hause bringen konnte. Und er beklagte dort vor al-len Leuten laut sein Leben: „Deine Mutter ist schuld an allem.“ Manchmal sagte er, dass es sein größter Fehler ge-wesen sei, meine Mutter geheiratet zu haben. Es war eine Zeit, in der ich realisierte, dass auch mein Vater sich total verändert hatte. Und manchmal war er auch noch vom Vorabend betrunken und er stank ekelhaft nach Alkohol, wenn wir ihn besuchten.