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Zwei Außenseiter suchen die Freiheit und das Glück! Allein auf dem Rhein bis Rotterdam und von dort auf einem der riesigen Auswandererschiffe nach Amerika! Im Jahr 1790 ist das ein waghalsiger Plan. Aber Jacob sieht keinen anderen Ausweg. Denn der Schlüssel zur wertvollen Truhe der Fischer ist ihm in den Fluss gefallen. Dass es ein Missgeschick und kein Diebstahl war, wird ihm, dem Findelkind, wohl keiner glauben. Und so will er seinem Stiefbruder folgen, der sich schon vor Jahren aus dem kleinen Dorf am Oberrhein nach Amerika aufgemacht hat. In einem Fischerkahn begibt sich Jacob auf die weite, abenteuerliche Reise. Begleitet nur von seinem Schwein und bald auch vom Gaunermädchen Amie. Werden sie allen Gefahren trotzen und das große Ziel – Amerika – erreichen?
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2024
Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert.
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© 2024 Tulipan Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Text: Petra Postert
Covergestaltung: Stephanie Raubach, Tulipan Verlag
Bildnachweis: iStock-1313409203 (Fluss mit Boot), iStock-450636357 (Schwein)
ISBN 978-3-641-32932-7V001
www.tulipan-verlag.de
Für alle, die auf der Suche nach Freiheit sind
FLUSS
Die Aale schlafen, die Hechte haben einen Mordshunger und sind schon seit dem frühen Morgen auf Beutefang, der Fluss hält still und horcht. Er hat die Pfiffe gehört. Ist da der Junge? Jetzt wieder. Die Pfiffe schießen wie Pfeile. Niemand im Dorf kann so durchdringend pfeifen wie der Junge. Aber ist er es auch? Er hat ihn heute noch gar nicht gesehen.
Im engen Bogen umfließt der Fluss das Dorf. Von oben betrachtet könnte man meinen, er halte es schützend in seinem Arm. Die Leute im Dorf aber würden sagen, so ist es nicht. Der Fluss sei launisch, ein furchtbar unberechenbares Wesen. Und immer rechneten sie mit dem Schlimmsten. In manchen Jahren hat er ihre Ernten ertränkt und Häuser zerstört, andernorts, gar nicht weit von hier, hat er gleich die ganze Siedlung samt Mensch und Vieh verschlungen. Sie könnten sich fernhalten vom Fluss, einfach fortgehen von hier. Aber mit seinen Wassern, seinen Fischgründen hält er sie auch am Leben. Sogar wertvolles Gold führt er in seinem sandigen Geschiebe, kleinste Plättchen, die in den Pfannen der Goldwäscher funkeln wie die Sterne am Himmel. Güte und Grausamkeit. So und nicht anders kennen sie ihren Fluss. Und er kennt sie auch, kennt ihre Gesichter, ihre Stimmen, lauscht ihrem Leben seit eh und je. Und vergisst nichts. Einmal hat er ein Kind hierhergebracht, einen winzigen Jungen. Die alte Hanne meint, der Fluss gebe seither auf ihn acht. Der Fluss heißt Rhein, der Junge Jacob. Und es ist Mitte Mai im Jahr 1790. Im Sonnenlicht glitzernd strömt der Fluss dahin und hält Ausschau nach dem Jungen.
JACOB
Das Schwein ist weg. Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass es allein umherstreift, allein nach Futter sucht, dass Jacob nicht dauernd sein Grunzen und Schmatzen hört, während er Holz sammelt, Fische fängt oder am Flussufer am Feuer sitzt. Aber es ist ungewöhnlich, dass es nicht kommt, wenn er nach ihm pfeift. Und Jacob hat gepfiffen, viele Male schon und in alle Himmelsrichtungen. Nun sucht Jacob nach ihm. Ziellos. Ruft. Pfeift. Die Sonne steigt höher, die Zeit verstreicht, das Schwein bleibt verschwunden. Und dann meint er plötzlich ein Grunzen zu hören. Ganz sicher ist er zwar nicht, aber er rennt sofort los, bricht durchs Dickicht, rennt und rennt, stößt sich den Kopf an einem Ast, kurz wird ihm schwarz vor Augen, aber er reibt sich nur die Stirn und rennt weiter. Morsches Holz unter seinen Füßen. Steine. Stämme. Eine tiefe Kuhle. Weiter, weiter. Glitscht über eine fette Schnecke, verliert das Gleichgewicht. Fällt nicht.
Und sieht das Mädchen.
Und bleibt stehen.
Der Wald hier ist nicht mehr so dicht, der Farn wächst hoch. Das Licht fällt in breiten Streifen durch die Bäume. Wie ein himmlisches Wesen erstrahlt das Mädchen im hellsten Schein. Moosbewachsene Hügelchen, die sich wie grüne Wellen unter seinen Füßen über den Erdboden ziehen. Insekten, die es surrend umtanzen. Und vor dem Mädchen sitzt wie gebannt das Schwein. Es wendet noch nicht mal den Kopf, als Jacob jetzt langsam näher kommt, auch dann nicht, als es seine Stimme hört. »Das ist mein Schwein!«, ruft Jacob lauter als nötig. Als das Mädchen zu ihm hersieht, bleibt er wieder stehen und stützt sich mit einer Hand am Baum neben sich ab. Vom schnellen Laufen und dem Stoß am Kopf ist ihm etwas schwindelig.
Das Mädchen scheint gar nicht überrascht, dass da plötzlich ein Junge ist, es verzieht nur spöttisch seinen Mund. »Dein Schwein«, sagt es mit erwachsener Stimme, dabei ist es sicher nicht älter als Jacob. Es trägt gute Schuhe, lederne Schuhe, sie sind geschnürt und halbhoch.
Jacob sieht die Schuhe sofort, denn gute Schuhe hat nicht jeder. Diese aber passen gar nicht zu dem, was das Mädchen sonst anhat. Alles andere an ihm wirkt verwahrlost. Die Jacke ist löchrig und viel zu groß, der Rock fleckig und zu kurz, man sieht die knochigen, schmutzigen Knie. Das Mädchen greift in den Korb an seinem Arm und streckt dem Schwein etwas hin. Aber bevor Jacob erkennen kann, was es ist, hat das Tier es verschlungen. Er schnalzt mit der Zunge und sieht, wie dem Schwein ein Zucken über den Rücken läuft. Aber es bleibt sitzen. Wenigstens blickt es jetzt mal zu ihm hin. Und dann gleich wieder zu dem Mädchen. Ungeduldig schnalzt Jacob noch mal, pfeift leise. Vergeblich. Was ist los mit dem Schwein? Hat das Mädchen es verhext? Entschlossen geht er auf die beiden zu.
»Wo hast du die anderen?«, fragt das Mädchen.
»Welche anderen?«
»Schweine.«
Jacob braucht einen Moment, bis er versteht, was das Mädchen meint. »Ich bin kein Schweinehirte«, sagt er.
»Was bist du dann?«
Jacob weiß nicht, was er darauf antworten soll, und so schweigt er.
»Von wo bist du?«, fragt das Mädchen weiter.
Jacob sagt noch immer nichts. Die forsche Art, wie es ihn ansieht, verwirrt ihn.
»Bist von Weisweil?«
»Nein«, sagt er.
»Rheinhausen?«
Er schüttelt den Kopf.
»Nonnenweier?«
»Woher bist du denn?«, fragt er.
»Das geht dich nichts an«, kommt es zurück.
Jacob beugt sich zum Schwein hinunter, schrappt mit den Fingern über die festen Borsten an seiner Flanke und ärgert sich. Im Augenwinkel sieht er, dass der Korb des Mädchens halb mit Pilzen gefüllt ist, und jetzt ist ihm auch manches klar. Pilze zeigen gelegentlich erstaunliche Wirkung, bestimmt auch bei Schweinen. Vielleicht war ihm deshalb sein Pfeifen egal. Manche Pilzsorten verwirren einem die Sinne für eine Zeit, schicken einem gemeine Träume am helllichten Tag. Und wieder andere bringen den Tod. Und noch etwas fällt Jacob ein. Die ersten drei Pilze, die du findest, lege in einen hohlen Baumstumpf, sonst … sonst … Ja, was blühte einem sonst? Regeln sind meist dazu da, ein Unheil abzuwenden. Drei Pilze im Baumstumpf. Jacob hat die Regel vergessen. Die Frauen im Dorf, sie könnten es sagen.
»Bist von Friesenheim?«, fragt das Mädchen. »Bist von da? Von Friesenheim?«
Warum lässt es nicht locker? Jacob richtet sich wieder auf und blickt das Mädchen fest an. Sein Gesicht ist schmal, der Mund energisch und die Augen haben die Farbe des Flusses kurz vor dem Sturm. ›Dieses Mädchen schert sich nicht um Regeln‹, denkt Jacob. Es ist anders als die Mädchen, die er kennt, die Mädchen im Dorf. Unbändig. Verwildert.
»Was ist?«, fragt es misstrauisch.
Jacob antwortet wieder nicht, aber er hält dem strengen Blick stand. Einen langen Moment sehen sie sich schweigend an. Dann streicht das Mädchen eine der zahllosen Haarsträhnen, die sich aus seinem Zopf gelöst haben, langsam hinters Ohr. Eine Amsel trällert über ihnen im Baum. Die Stelle an Jacobs Stirn, die er sich gestoßen hat, pocht und tut weh. Die Hand des Mädchens ist wieder im Korb. Das Schwein reckt die Schnauze. Aber dann schnuppert es nur an dem Pilz, den das Mädchen ihm anbietet, fressen mag es ihn nicht.
»Nimm«, sagt das Mädchen und wedelt mit dem Pilz.
»Nein«, erwidert Jacob und nimmt den Pilz selbst. Es ist ein gedrungenes, kräftiges, fast weißes Gewächs. Jacob streicht erst über die feinen Lamellen an der Hutunterseite, dann bricht er den Pilz entzwei. Er riecht daran, lässt ihn zu Boden fallen und zertritt ihn.
»Nein!«, ruft das Mädchen empört.
»Willst du mein Schwein vergiften?«, entgegnet Jacob, greift nach dem Korb und geht dann mit seinen Fingern sacht und sehr konzentriert durch die Pilze. »Der ist gut, der ist gut«, murmelt er, während er die Pilze in einer Ecke des Korbes türmt. Einen nimmt er heraus. »Schau mal, der ist gut.« Er nimmt einen zweiten, riecht daran. »Der nicht.« Wirft ihn hinter sich. Prüft weiter. Noch zwei Pilze landen im Moos. Und ein dritter. Da entreißt ihm das Mädchen den Korb und presst ihn an seine Brust. »Bist du dumm?«, regt Jacob sich auf. »Die sind doch giftig! Gut möglich, dass du verreckst, wenn du die isst.«
»Du kannst mir viel erzählen!«, zischt das Mädchen. »Und überhaupt: Was kümmert’s dich?«
Jacob schnauft verächtlich. Ja, dieses Mädchen ist wirklich dumm. Er bückt sich nach dem Pilz, den er gerade weggeworfen hat, und hält ihn dem Mädchen dicht vors Gesicht. »Dann probier ihn doch!«, sagt er herausfordernd.
»Jetzt?«
»Jetzt.«
Das Mädchen starrt ihn an.
»Stirbst du, habe ich recht gehabt. Bleibst du am Leben, lag ich falsch.«
Das Mädchen bewegt die Lippen, als wolle es etwas sagen, bleibt aber stumm. Jacob muss sich zusammenreißen, dass er nicht lacht. Überlegt es gerade wirklich, den giftigen Pilz zu essen? Dem Mädchen ist das Blut in den Kopf geschossen, seine Nasenflügel beben. Und dann holt es aus, schlägt Jacob den Pilz aus der Hand, dreht sich um und rennt davon. Jacob ist so verdutzt, dass er sich erst nicht rühren kann, aber dann läuft er dem Mädchen hinterher und ruft nach ihm. Ruft, dass es zurückkommen soll. Aber das Mädchen reagiert nicht, es dreht sich nicht mal mehr um. Jacob bleibt stehen. Einen Pilz noch in seiner Hand, einen guten. Er betrachtet ihn, er schmeckt ihn schon. Das Schwein neben ihm blickt erwartungsvoll an ihm hoch. Der Pilz heißt Maipilz. Täuscht er sich auch nicht? Jacob mag den leisen Nervenkitzel. Dann beißt er hinein. Das mürbe, feste Pilzfleisch, es zerfällt auf seiner Zunge. Köstlich. Das Schwein bekommt den Rest. Zwischen den Bäumen sieht Jacob das Mädchen immer noch. Sein geflochtener Zopf schwingt auf seinem Rücken wie ein dickes Tau hin und her.
FLUSS
Die ersten drei Pilze, die du findest, lege in den hohlen Stumpf eines Baumes. So hältst du dir den Zorn der Waldgeister vom Leib. Und willst du ganz sichergehen, bete danach noch ein Vaterunser. Sagten schon immer die Alten den Jungen, die Frauen den Mädchen. Raunten, wisperten, befahlen es. Die Körbe am Arm, die Rücken gebeugt. Frühling, Sommer, Herbst. Im Zwielicht des Waldes die Finger im Tau. Wer häufig lügt oder nicht getauft ist, der findet die meisten Pilze. Wer häufig lügt und dazu nicht getauft ist, findet noch viel mehr. Und stehen Pilze auffällig im Kreis herum, haben zuvor dort die Hexen getanzt. Hörst du, die Hexen! Und willst du nicht krank werden oder eines schweren Todes sterben, betrete niemals, niemals, niemals diesen Ort.
Diese Frühlingsnacht ist feucht und nicht zu kühl. In dieser Nacht hört der Fluss das leise Ploppen der Pilze. Die ganze Nacht geht es um. Plopp und Plopp und Plopp. Klingt wie das Zerplatzen von Blasen, wenn sie sich aus dem Waldboden heben, die jungen Boten einer geheimnisvollen, unterirdischen Welt.
Morchel, Steinpilz, Pfifferling.
Schopftintling.
Großer Schmierling.
Filziger Milchling.
Säufernase.
Das konnten die Menschen immer schon gut. Den Dingen Namen geben. Alles und jedes bezeichnen. Ihre Welt aber verstehen sie deshalb noch lange nicht.
Grünspan-Träuschling.
Gelbgestiefelter Schleimkopf.
Gurkenschnitzling.
Zitterzahn.
Krause Glucke.
Totentrompete.
Flockenstieliger Hexenröhrling.
Wasche deine Pilze zum Beispiel in Wein, gare sie in heißer Asche, bestreue sie mit Salz und Pfeffer und bringe sie nach dem Fleisch warm auf den Tisch.
Dem Fluss braucht niemand Pilze zu servieren. Er labt und berauscht sich allein am Klang ihrer Namen. Wacht nach durchschwelgter Nacht benebelt auf und kommt sich vor, als habe er Dutzende Fliegenpilze auf einmal verschlungen.
JACOB
Gerade noch war es ein guter Tag. Sorglos und satt. Am Morgen haben sie das andere Schwein geschlachtet. Die halbe Nachbarschaft war da und hat geholfen. Und zu Mittag gab es draußen Blutsuppe für alle. In der Brühe gekochte Pfote, Ohren, Niere und etwas von der Schnauze. Backpflaumen und Lorbeer. Dann mit Mehl und etwas Essig das Blut hineingerührt. Gerührt, gerührt, damit es nicht klumpt. Und dann: gelöffelt. Endlich mal wieder Blutsuppe! Und frisches, warmes Brot dazu. »Iss, Junge«, hat der Vater gesagt und wieder die Kelle gefüllt. Jacob hat drei Schüsseln geschafft. Es war ein Fest. Später hat einer die Schweinsblase aufgepustet und Jacob und ein paar andere Jungen und Mädchen haben sie geschnappt und geworfen und gekickt. Die Sonne schien und die milde Luft war gefüllt mit dem Lachen und Schwatzen der Leute.
Jetzt aber stürmt Jacob aus dem Haus, als seien die Hunde hinter ihm her. ›Lauf!‹ Er kann gerade nichts anderes denken als das. ›Lauf!‹ Am Ende der Gasse biegt er nach links ab, dann gleich wieder nach rechts, Jacob rennt weiter, vorbei am Hof des Schmiedes, vorbei an den anderen Höfen und den Häusern dazwischen, die sich klein und krumm aneinanderschmiegen, dann vorbei am Backhaus und den schwatzenden Frauen davor. Im Laufen wischt er sich übers Gesicht und fragt sich, woher die Tränen auf einmal kommen. Er weint doch gar nicht. Jacob rennt und rennt am Bach entlang, aus dem Dorf hinaus und vorbei an der Mühle, wo der Müller gerade den Esel vor den Karren spannt. »Grüß dich, Jacob!«, ruft er ihm zu, aber Jacob grüßt nicht zurück, weil er schon am Müller vorbei ist und keuchend weiterhetzt, über die Äcker und Weiden, weiter und weiter zum Wald. Der Wald hier ist Wildnis. Wasser, Bäume, Dickicht, Sumpf. Aber Jacob kennt sich aus, besser als die meisten im Dorf kennt er sich aus und findet schnell zu der Stelle am Fluss, wo er gestern seinen Kahn gelassen hat. Er tritt ihn vom Ufer weg, springt hinein und lässt sich erst mal treiben. Benommen blickt er aufs Wasser, immer noch ist er außer Atem. Was hat er denn Böses getan? Doch nur die Jacke probiert. War das schlimm? Der Blick des Vaters ließ alles in ihm zittern.
Die Jacke.
Die dunkle Zunftjacke mit den silbrigen Knöpfen.
Als am Nachmittag alle müde vom Schlachtfest nach Hause gegangen waren, hatte der Vater sie aus der Truhe geholt und gebürstet. Am nächsten Tag würde früh morgens die große Zunftversammlung stattfinden, bei der alle Fischer ihre Jacken tragen. Der Vater hängte seine an den Haken, dann ging er noch mal allein zum Fluss, nach den Aalreusen sehen.
Die Jacke.
Am Haken.
Sie zog Jacob magisch an. Erst ist er um sie herumgeschlichen, dann hat er den Stoff angefasst und dann konnte er nicht anders, als sie überzuziehen. Das hat er noch nie gewagt. Die Jacke war ihm viel zu groß, schwer hing sie an ihm, der Kragen kratzte in seinem Nacken. Jacob war ganz feierlich zumute, ehrfürchtig hat er an sich hinabgeblickt und sich gefühlt wie ein richtiger, zünftiger Fischer – ein Fischer, der er niemals sein kann. Denn nur ehelich geborene Söhne erlaubt die Fischerordnung in der Zunft. Jacob aber ist ein Findelkind. Der Fischer Bartholomäus Rapp ist sein Ziehvater. Niemand weiß, wer seine Eltern sind, und er kann froh sein, dass er lebt. Jacob hat über die Ärmel gestrichen, in alle Taschen gegriffen, auch in die kleinste an der Innenseite der Jacke, wo der Schlüssel steckte. Er hat ihn herausgenommen und betrachtet.
Der Schlüssel ist wertvoll und kunstvoll gemacht, zwei Fische bilden den Ring. Er ist einer von zweien zur jahrhundertealten Zunftlade, einer prächtig verzierten Truhe, in der die Fischer ihre Schriften und Dokumente, ihre Zinnbecher, Silberkannen und ihr ganzes Geldvermögen aufbewahren. Das Schloss an der Truhe besitzt einen besonderen Schließmechanismus, nur mit beiden Schlüsseln gleichzeitig lässt er sich öffnen. Den einen Schlüssel verwahrt der Zunftmeister, den zweiten der Schlüsselmeister. Bartholomäus Rapp ist der Schlüsselmeister der Fischerzunft. Bartholomäus, der schweigsame Schnauzbärtige. Bartholomäus, der Verlässliche.
Als Jacob plötzlich die harten Schritte auf den Holzdielen hörte, ließ er den Schlüssel schnell in seiner Hosentasche verschwinden und schlüpfte aus der Jacke. Dann warf er sie zurück an den Haken, auf den der Vater mit strengem Arm zeigte, und flüchtete nach draußen. Jacob hatte eine unsichtbare Grenze überschritten. Dass es sie gab, wusste er schon immer, aber dass sie mitten durch ihre Stube verlief und der Vater sie jederzeit verteidigen würde, das hatte er gerade erst begriffen.
›Ich werde ihn wohl um Verzeihung bitten müssen‹, denkt Jacob jetzt auf dem Wasser. ›Ja, das muss ich wohl.‹ Vor Jacob verengt sich der Flussarm, die Ufer rücken zusammen und werden steil und hoch und die Äste der Bäume bilden über ihm ein kuppelförmiges Dach. Sonnenlicht bricht durch die Zweige und fällt in hellen Flecken aufs Wasser. Der mächtige Ast einer Silberweide streckt sich tief und weit über den Fluss und Jacob muss sich ducken, damit er nicht hängen bleibt. In seiner Hosentasche drückt der Schlüssel und erinnert ihn daran, dass er ihn später unbedingt zurück in die Jacke stecken muss. Aber jetzt nimmt er ihn heraus, wiegt ihn in seiner Hand und stellt sich vor, was aus ihm, Jacob, einmal werden könnte. Totengräber vielleicht. Kesselflicker. Oder Gaukler? Nur eine unehrliche Arbeit, eine Arbeit ohne den Schutz einer Gilde oder Zunft kommt für ihn infrage. Hirte ginge auch. Oder Hausierer. So ist es nun mal eingerichtet. Jacob seufzt tief. Wie aber wäre es, einfach selbst entscheiden zu können, was man tun will? Wie wäre es, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen? Wie Georg, sein Bruder. Frei zu sein! Jacob lehnt sich zurück, blickt zum Himmel, und während die Schatten der Bäume über ihn hinweggleiten, träumt er sich davon. Bevor Georg fortging, hat er diese Weite in seinem Innern nie gefühlt. Alles war, wie es war. Und so wie es war, erschien es ihm sinnvoll geordnet und gut. Es gibt ein fernes, freies Land, hat Georg ihm mal erzählt, wo jeder tun und lassen kann, was er will. Dort lebten manche Menschen mitten in der Wildnis, wären nur mit Teppichen bekleidet und könnten schneller laufen als ein Pferd. Amerika heißt das Land. Den Fluss hinunter und dann übers Meer, viele Wochen dauert die Reise. Warum schmeckt das Meer salzig, ein Fluss aber nicht?
Warum gibt Gott verschwenderisch viel von der einen Sache in das eine, nichts oder wenig davon in das andere?
Warum hier viel und dort wenig oder nichts?
Warum?
Jacob hat viele Fragen, seit Georg fort ist. Wenn er sich einfach weitertreiben ließe, überlegt er, heute, morgen und die Tage danach, käme er dann wirklich ans Meer? Der Fluss hat ihn ins Dorf gebracht. Würde er ihn bis an sein Ende tragen? Aber will er überhaupt woanders hin? Er ist noch nie woanders gewesen und eigentlich hat er es doch gut im Dorf. Der Flussarm weitet sich, das Wasser fließt nun langsamer und das Boot bewegt sich kaum noch vorwärts. Jacob richtet sich auf, beugt sich über den Bootsrand und betrachtet nachdenklich sein Spiegelbild im ruhigen Wasser. Er schüttelt seine dichten, wirren Haare, spitzt die Lippen. ›Das bin ich‹, denkt er und neigt seinen Kopf zur Seite. ›Was kann ich sein?‹
Da klatscht ein großer Kieselstein vor ihm in den Fluss, groß wie eine Faust. Mit Schwung kam er geflogen und das Wasser spritzt Jacob ins Gesicht. Vor Schreck lässt er den Schlüssel fallen. Ins Wasser fällt er und sinkt. Und Jacobs Welt steht still. Kurz hört er auf zu atmen, die Wolken hören auf zu ziehen, die Vögel verstummen und der Fluss ist ein See. Jacob schreit auf, sein Arm schießt dem Schlüssel hinterher. Tief. Tiefer. Jacob greift Wasser. Wasser, nur Wasser. Gefährlich weit beugt er sich aus dem Boot, das sich tief zur Seite neigt. Und dann fällt er kopfüber hinein. Kalt ist das Wasser, sehr kalt, aber Jacob spürt es kaum. Er reißt die Augen auf, und obwohl er fast nichts erkennen kann im trüben Fluss, schwimmt er mit kräftigen Zügen zum Grund, greift wie von Sinnen um sich, greift Schlamm, Pflanzen, Steine. Braune Wolken steigen auf, Dreck steigt in seine Nase. Er sieht nichts mehr, der Schlüssel könnte überall sein. Es hat keinen Zweck. Jacob stößt sich vom Boden ab, schnaubend taucht er wieder auf. Packt mit einer Hand sein Boot. Da steht jemand am Ufer. Jacob wischt sich übers Gesicht, blinzelt, wischt noch mal. Das Mädchen! Das Pilzmädchen! Es hat ihn auch erkannt, es lacht und winkt zu ihm herüber.
Und Jacob packt der Zorn. »Du saudummes Ding!«, brüllt er. Verdutzt lässt das Mädchen seinen Arm sinken. »Verzieh dich! Hau ab!« Das Mädchen rührt sich nicht. »Hast du nicht gehört? Hau ab!« Er schlägt mit der Faust aufs Wasser. Da dreht es sich um und rennt davon.
FLUSS
Der Fluss ist unruhig und hellwach. Wo ist der Junge auf einmal hin? Nachdem er das Boot an Land gezogen hatte, saß er doch die ganze Zeit am Ufer, die nassen Kleider zum Trocknen ausgebreitet neben sich. Und dann war er plötzlich verschwunden. Ist er zu Hause? Es ist ja schon dunkel. Die Eule, die gerade in der Erle gelandet ist, spannt noch einmal ihre Schwingen und blickt dann stumm und ohne Regung in die beginnende Nacht. Sie weiß es bestimmt. Eulen sehen alles und wissen noch viel mehr, selbst in den schwärzesten Nächten entgeht ihnen nichts, aber Eulen sprechen nicht mit Flüssen und Flüsse nicht mit Eulen. Der Fluss könnte näher ans Dorf heran. Er könnte kurz über die Ufer treten, über die Felder schwappen bis in die kleinen Gassen hinein, selbst nachsehen, ob der Junge zu Hause ist, und sich dann schnell wieder zurückziehen in sein Bett. Es wäre ein Leichtes, aber es gäbe ziemlich viel Aufregung. Darum lässt er es sein.
JACOB
Wie ein scheues Tier hockt Jacob oben im Baum. Ewig hockt er schon hier und starrt hinunter aufs Wasser. Die Stelle dort drüben, wo sich das Wasser leicht kräuselt, genau diese Stelle lässt er nicht aus den Augen, weil er dort vor Stunden mit dem Kahn gewesen ist, weil er dort, auf dem Grund, den Schlüssel vermutet. Wäre der Fluss heute gnädig, schickte er ihm einen flinken Hecht, eine Brachse, eine Schleie, einen Maifisch oder einen Stör mit dem Schlüssel im Maul. Der Fluss ist ja voll mit Fischen, aber er wird Jacob keinen schicken. Vielleicht wird er den Schlüssel irgendwann einmal anschwemmen, so wie er immer irgendetwas anschwemmt. Irgendwann kann das wirklich passieren, morgen schon oder übermorgen oder erst in so vielen Jahren, so weit, wie keiner hier zählen kann. Aber darauf kann Jacob nicht warten. Warum bloß hat er den Schlüssel aus der Hose genommen? Mitten auf dem Wasser! So ein Leichtsinn, so eine Dummheit! Jacob verflucht sich selbst. Und das Mädchen verflucht er auch. Aber eigentlich, das muss er zugeben, trifft es keine Schuld. Er hat den Schlüssel aus der Jacke des Vaters genommen. Ihm ist er in den Fluss gefallen. Jacob fühlt ihn noch in seiner Hand, das kühle Metall. Morgen früh bei der Zunftversammlung wird der Vater den Schlüssel brauchen. Morgen früh wird die Zunftlade geöffnet.
Im Zunfthaus.
Vor aller Augen.
Feierlich.
Andächtig.
Rechts und links eine brennende Kerze.
Der Zunftmeister wird als Erster seinen Schlüssel ins Schloss stecken, ihn drehen und dabei wird es laut Klack machen. Danach wird er dem Schlüsselmeister, Jacobs Vater, ernst zunicken. Und dieser wird wie immer und ganz selbstverständlich in die kleine Tasche an der Innenseite seiner Jacke greifen. Vor aller Augen. Mit den Fingern wird er bis tief in die Ecken der Tasche fahren und erst nicht glauben wollen, dass der Schlüssel nicht da ist. Und deshalb wird er weitertasten und weitersuchen, so ruhig wie möglich, und dann auch in die anderen Taschen fassen und dabei versuchen, sich nichts anmerken zu lassen, auch wenn ihm da schon der Schreck in allen Gliedern steckt und die Ersten ihre Gesichter verziehen. Wenn er dann beginnen wird, die Jacke abzuklopfen, mit kurzen, kräftigen Schlägen von oben nach unten und wieder nach oben, spätestens dann werden alle begriffen haben, dass der Schlüssel weg ist.
Verlierst du den Schlüssel, verlierst du deine Ehre.
Die Ehre zu verlieren, bedeutet große Schande.
Irgendwann wird Bartholomäus Rapp die Hände sinken lassen und der Schweiß wird ihm auf der Stirn stehen.
Vor aller Augen.
Jacob wird es eng in der Kehle, als er daran denkt. Er blickt zum Himmel. Bleich hängt der Mond zwischen ein paar Wolken. Eine große Leere hat sich in ihm aufgetan, groß und dunkel wie die Nacht.
FLUSS
Der Fluss lauscht. Er lauscht dem Rascheln, dem Knistern und Wispern, dem Fiepen und Knacken und Knurren der Nacht, nimmt alles hinein in sein eigenes Rauschen und bewegt währenddessen den Schlüssel auf seinem sandigen Grund sanft hin und her. Alles, was an seinen Ufern geschieht, wirklich alles, nimmt er auf. Aber nicht alles geht gleich unter wie dieser Schlüssel, vieles treibt erst auf dem Wasser, kreiselt, trudelt, verfängt sich im Geäst, wird gefunden. Was nicht gefunden wird, sinkt irgendwann hinab zum Grund, bleibt aber auch dort nicht auf ewig liegen, wird mit Kieseln und Sand weitergeschoben, weitergetragen, wohin auch immer, als stilles Geheimnis bewahrt vom Fluss.
So wie dieses Ereignis vor bald vierzehn Jahren im Jahr 1776, kurz nach Sonnenaufgang: Es ist noch recht frisch im Auwald, aber auch an diesem frühen Morgen riecht es schon nach feuchtem Sommer. Eine junge Frau tritt hinein in den dichten Nebel. Sie geht mit kleinen, schnellen Schritten. Äste knacken unter ihren Füßen, Zweige streichen ihr Gesicht, Dornen zerren an ihrem Kleid, an ihrer Schürze. Die Frau, ein huschendes Wesen zwischen den Bäumen. Der Fluss sieht sie nicht zum ersten Mal. Sie selbst sieht kaum etwas, duckt sich, stolpert, erschrickt. Etwas hat sie am Bein gefasst, aber es ist nur Gestrüpp. Sie macht sich los, geht atemlos weiter, immer weiter. Nur einmal hockt sie sich hin, lehnt sich an einen Stamm, schließt die Augen, verschnauft. Und aus den Wipfeln und vom Wasser schallt das Morgenkonzert der Frösche und Vögel. Sie hört es nicht, sie denkt an den Fluss, nur an den Fluss. Er ist schon nah. Sie muss das Wasser erreichen, solange der Nebel sie schützt. Also geht sie weiter, dauernd dreht sie sich um. Aber da ist niemand. Kein Mensch außer ihr und dem Kind. Sie trägt es in einem Weidenkorb. Vor wenigen Stunden erst hat sie es zur Welt gebracht. Allein. Am Waldrand. In einer morschen Hütte. Ein junger Fuchs saß am offenen Fenster und sah zu. Es ist ihr erstes. Ein Junge. Er lebt. Was soll werden? Sie kann ihn nicht behalten, ohne Mann, ohne Geld. Sie hat ihm zu trinken gegeben. Wenigstens das hat sie für ihr Kind. Dann hat sie auf das Ende der Nacht gewartet. Die Frau weiß ungefähr, wo die Boote der Fischer liegen. Sie findet dorthin trotz Nebel, trotz Erschöpfung, getrieben von ihrer Angst. Wer ein Kind zur Welt bringt und nicht verheiratet ist, wird bestraft. Die Fischer sollen es finden. Ein letztes Mal noch gibt sie dem Jungen die Brust, wischt ihm den Mund ab und legt ihn, gewickelt in ein Leintuch, vorsichtig zurück in den Korb. Den Korb stellt sie in eines der Boote. Der Junge schläft, als seine Mutter ihn verlässt. Er schläft auch noch, als wenig später die Schweine kommen, eine Rotte Wildschweine, eine hungrige, wilde Horde. Die Schweine schnaufen, wühlen, graben, und die Erde vibriert. Würmer, Wurzeln, Engerlinge, Eicheln, Bucheckern, Pilze. Schnecken, Mäuse. Wildschweine fressen alles, auch Vögel und junge Kaninchen, auch tote Tiere, alles, was sie finden. Unter feuchtem Laub, in der feuchten, schwarzglänzenden Erde, die feuchten, triefenden Schnauzen. Speichel und Rotz. Das Kind im Boot haben sie längst gerochen. Ein paar alte Sauen fangen plötzlich an zu streiten, beißen, rammen und rempeln. Drei von ihnen landen im Wasser zwischen den Booten. Die Keilerei geht weiter. Wildschweine sind robust. Wasser schäumt. Die Boote schwanken und krachen gegeneinander. Wasser schwappt. Dann, auf einmal, ist es vorbei.
Die Tiere hieven ihre massigen Leiber aus dem Fluss und gehen auseinander, als sei nichts geschehen. Die Boote am Ufer. Eines fehlt. Still treibt es dahin, entfernt sich lautlos mit dem Korb an Bord. Fische unterm Kiel. Einer taucht ab bis zum Grund, wirbelt Sand auf und anderes. Der Fluss hört die Stimmen der Vergangenheit, hört Flüstern und Kinderlachen, dann eine Melodie. Und er trägt das Kind weiter, immer weiter, wiegt es sanft auf seinem Wasser. Ein Schwan taucht auf, begleitet das Boot ein Stück, für den Moment ist er ein freundlicher Hüter, zieht dann vorbei und verschwindet raschelnd im Schilf. Das Boot folgt weiter den sanften Bögen des Wassers, wechselt aus einer dunklen Rinne in einen hellen, klaren Quellbach und in noch einen und von dort in einen Altarm des Rheins. Einmal streifen tief hängende Weidenzweige zart das Kind. Es kräuselt die Nase, öffnet die kleine Faust und schließt sie gleich wieder. Wohin geht die Reise? Wohin?
Da.
Das Dorf.
Hinterm Auwald am rechten Ufer liegt es noch versunken in Nebelschwaden in einer Biegung des Stromes ganz nah am Wasser. Nur etwa 200 Menschen wohnen in diesem Dorf am südlichen Oberrhein, sie haben wenig und leben vor allem vom Fischfang. Ein Hahn kräht. Die Kühe rumoren in ihren Ställen und die Träume machen sich davon. Das Dorf wacht auf. Der Fluss treibt das Boot an seinen Saum. Dort ist es flach und seicht. Das Boot setzt sich fest.
Der Nebel hebt sich.
Das Kind schreit. Es schreit aus Leibeskräften.
»Storchenlache« heißt das Feuchtgebiet und ist ein tief gelegenes, oft überschwemmtes Waldstück, wo die Störche ihr Futter finden. Und so waren sich später manche im Dorf ganz sicher, die Störche hätten das Kind hierhergebracht. »Doch nicht die Störche«, sagte die alte Hanne. »Es war der Fluss, allein der Fluss.« Ein Junge aus dem Dorf, Georg hieß er, hatte den Säugling in seinem verlassenen Boot entdeckt und nach Hause getragen. Seine Mutter nahm ihn gleich an ihre Brust. Milch hatte sie reichlich, denn gerade war ihr wenige Wochen altes Mädchen gestorben. Es war im Monat Juli, genau ein Tag nach Jacobi. Darum haben sie das Kind Jacob genannt.
JACOB
Er kann hier nicht bleiben, nicht hier oben im Baum, nachts allein im Wald. Der Wald ist anders in der Nacht. Was tot ist, scheint lebendig. Was lebendig ist, scheint tot. Das ist verstörend und schauerlich ist es auch. Jacob lässt seine Beine vom Ast gleiten, greift eine Liane, packt sie mit beiden Händen und springt. Geschickt hangelt er sich nach unten und stolpert dann hastig durchs Dickicht. Als er schon fast heraus ist aus dem Wald, als er sein Dorf im Mondlicht in der Ferne sieht, spürt er für einen Moment einen starken Windzug im Gesicht. Dabei ist es gerade absolut windstill. Erschrocken bleibt Jacob stehen und legt beide Hände auf die Wangen. Was war das? Nur den eigenen schnellen Atem hört er, sonst nichts. Aber dann knackt es plötzlich laut hinter ihm. Jacob fährt herum. Von den Geistern und Dämonen der Nacht ist ihm noch nie einer begegnet. Nicht alle müsse man fürchten, sagt die alte Hanne. Nicht alle seien gemein und für Menschen gefährlich. Jacob rührt sich nicht, aber er spürt sein Herz in der Brust hart klopfen. Um ihn herum regt sich nichts, da scheint wirklich nichts zu sein, nichts Beunruhigendes, nur Bäume und Gebüsch und unter seinen Füßen Moos, Wurzeln und welkes Laub. Jacob geht weiter. Über ihm ruft eine Eule. Erleichtert blickt er hoch in die Baumkrone. Eulen fliegen lautlos und dabei machen sie Wind. Jacob kann die Eule nicht sehen. Er hört sie auch nicht mehr. Er hört sie erst wieder, als er wenig später bei den Feldern ist. Rufen Eulen am Tag, sagen sie eine Seuche vorher, ein Feuer oder sonst ein Unglück. Rufen sie in der Nacht, hat es nichts zu bedeuten. Trotzdem fürchtet sich Jacob.
Jacob traut sich nicht hinein. Er steht vor dem Haus in der dunklen Gasse, vor der geschlossenen Tür. Wie soll er dem Vater erklären, weshalb er den Schlüssel genommen hat? Was wird der Vater sagen und vor allem, was wird er tun, wenn er hört, dass der Schlüssel im Fluss liegt? Jacob hätte eher drei Dutzend Brote stehlen können, als den Schlüssel zur Zunftlade zu verlieren. Und so nimmt er die Hand wieder von der Türklinke, huscht hinters Haus, klettert über den Zaun, geht um die tiefe Schweinesuhle herum und kriecht in den engen Verschlag zum Schwein ins Stroh. Dem Tier geht es gut. Vielleicht, weil ihm fast alles egal ist. Hauptsache, es ist genug zu fressen da. Fressen, fressen, suhlen, fressen, schlafen. Bis zum Lebensende. Jacob schiebt sich noch dichter ans Schwein heran, ihm ist kalt. Aber wenn man keinen Speck auf den Rippen hat, hilft es nicht viel, den Rücken an einen runden, warmen Schweinebauch zu drücken. Nicht in so einer Nacht. Er schichtet noch etwas mehr Stroh über sich. Das Schwein wacht auf, grunzt, ruckelt hin und her und drückt dann seine Schnauze in Jacobs Nacken. Das kitzelt. Jacob setzt sich auf. Das Tier ebenfalls und es bläst warmen Atem in Jacobs Gesicht. Jacob schließt die Augen, fühlt die Schweineschnauze an seinem Hals, am Bauch und dann an seiner Hand, das Tier schnaubt und giert.
»Ich hab nichts«, flüstert Jacob. »Hab doch wirklich nichts für dich.« Er hebt seine Hand, schnippt zweimal mit den Fingern. Das Schwein lässt sich mit einem schweren Schnaufen zur Seite fallen, und Jacob streicht sanft über seine Flanke, spürt, wie sie sich gleichmäßig hebt und senkt, spürt die Wärme. Jacob friert immer noch. Er legt sich wieder hin und irgendwann nickt er ein.
Es sind die Vögel, die Jacob mit schrillem Gesang am frühen Morgen wecken. Sofort beginnt sein Herz schneller zu klopfen. Er steckt den Kopf aus dem Verschlag und sieht zum Haus. Ob der Vater schon fort ist? Zunftversammlungen beginnen früh. Was, wenn er ihm nachher gegenübersteht? Wie könnte er anfangen? Vielleicht so: Der Schlüssel liegt im Fluss. Und dann: Es war ein Missgeschick. Das könnte er sagen. Und weiter? Es tut mir leid. Und weiter? Nichts weiter, denn mehr ist nicht geschehen. Das Schwein streckt sich und drückt eine Pfote gegen Jacobs Hintern. Er legt eine Hand auf die Schweineschnauze und streichelt sie sanft. Dann kriecht er aus der engen Hütte, huscht zum Hintereingang des Hauses und presst die Nase ans winzige Fenster. Als sich dahinter nichts rührt, öffnet er die Tür ein wenig und horcht. Alles ist ruhig. Jacob schlüpft ins Haus. Durch eine winzige Kammer gelangt er in die Stube. Jacob lässt seinen Blick durch den kleinen Raum schweifen. Zwei Betten, ein Tisch, zwei Schemel, eine Bank, eine Truhe, ein Waschtisch, es riecht nach saurer Milch und geräuchertem Fisch. Und die Jacke? Nicht mehr da. Auf dem Herd steht ein Topf. Er geht dorthin, hebt den Deckel. Mehlsuppe. Gierig isst er den kalten Rest und schabt den Topf leer. Dann verlässt er das Haus durch die vordere Tür.
Er geht schnell, aber er rennt nicht. Geht erst durch ein paar Gassen, dann auf der breiten Dorfstraße, geht vorbei an der Kirche, vorbei am Brunnen und der Dorflinde, vorbei am Wirtshaus »Zum Karpfen«. Wenige Häuser weiter geraten ihm ein paar Hühner zwischen die Beine. Ungelenk hüpft Jacob zwischen dem gackernden Federvieh hin und her. Da sieht er im Augenwinkel seinen Freund Friedrich gegenüber an der Hauswand lehnen. Friedrich ist etwas jünger als er und ein meist fröhlicher Kerl. Jetzt tut Jacob so, als bemerke er ihn nicht. Aber Friedrich ruft ihn und da bleibt ihm nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben. Der Junge kommt über die Straße geflitzt. »Hast du es schon gehört?«, fragt er halblaut und mit verschwörerischer Miene.
»Was denn?«
»Das mit dem Peter Schneider.«
»Was ist mit dem?«
»Der hat doch schon wieder im fremden Wasser gefischt!«
»Hat er wirklich? Ohhh!« Eigentlich interessiert es Jacob nicht, nicht heute, nicht an so einem Tag.
»Das gibt was«, sagt Friedrich und zieht die Luft durch die Zähne.
»Ja, das gibt was«, erwidert Jacob. Natürlich hat Friedrich recht, denn wer im fremden Wasser fischt, muss sich bei der nächsten Zunftversammlung auf etwas gefasst machen. Fischer sind nicht zimperlich.
»Wohin gehst du?«, fragt Friedrich.
»Zum Zunfthaus«, antwortet Jacob nach kurzem Zögern. Und als Friedrich überrascht seine Augenbrauen hebt, fügt er schnell hinzu: »Der Vater hat was vergessen. Ich bringe es ihm.«
