Flying High - Bianca Iosivoni - E-Book

Flying High E-Book

Bianca Iosivoni

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Beschreibung

Das Einzige, was für mich zählt, ist, dass du jetzt hier bist



Hailee hatte ein Geheimnis. Ein dunkles Geheimnis, das niemand kannte und niemand erfahren sollte. Am allerwenigsten Chase, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hat. Hailee war klar, dass sie Chase verlieren würde. Sie wusste es von der ersten Sekunde an, als sie ihm gegenüberstand. Und doch hat er ihr Herz mit jedem Lächeln und jeder Berührung ein bisschen mehr erobert. Aber gibt es für sie beide überhaupt eine Chance? Oder müssen sie einsehen, dass manchmal nicht einmal die Liebe ausreicht, um zwei Menschen zusammenzuhalten?


"Die Liebesgeschichte von Hailee und Chase ist nicht nur atemberaubend schön, sondern ehrlich, feinfühlig und der Inbegriff von Mut." STEHLBLÜTEN


Die mitreißende Fortsetzung von Falling Fast!



Die neue New-Adult-Reihe von Bianca Iosivoni:

1. Falling Fast
2. Flying High




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Seitenzahl: 564

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Liebe Leser*innen

Widmung

Zitat

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Bianca Iosivoni bei LYX

Leseprobe

Impressum

BIANCA IOSIVONI

Flying High

ROMAN

Zu diesem Buch

Mutig zu sein – das war Hailee DeLucas Plan für diesen Sommer. Sie wollte einen Roadtrip durch die USA machen und all die Dinge tun, vor denen sie sich bislang immer viel zu sehr gefürchtet hat. Niemals hätte sie erwartet, dass sie sich auf ihrer Reise verlieben könnte – bis sie in der kleinen Stadt Fairwood mitten im Nirgendwo auf Chase Whittaker traf. Mit seinem Lächeln, seinem Humor und der Art, wie er sie besser als jeder andere Mensch auf dieser Welt zu verstehen schien, hat Chase ihr Herz im Sturm erobert. Dabei wusste Hailee vom ersten Moment an, dass es für sie beide keine Zukunft geben würde. Der Sommer war beinahe vorbei und Hailee fest entschlossen, ihren Plan bis zum Ende durchzuziehen. Doch je mehr Zeit sie in Fairwood verbrachte und je näher sie und Chase sich kamen, desto größer wurde ihr Wunsch, Chase nicht verlassen zu müssen. Mutig genug zu sein, nicht zu gehen. Aber gibt es für sie beide überhaupt eine Chance? Oder haben Hailee und Chase keine andere Wahl, als einsehen zu müssen, dass manchmal nicht einmal die Liebe ausreicht, um zwei Menschen zusammenzuhalten?

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

ACHTUNG: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Bianca und euer LYX-Verlag

Für alle,

die die Dunkelheit kennen. Ihr seid nicht allein. Ihr seid niemals allein.

To be yourself in a world that is constantly trying to make you something else is the greatest accomplishment.

– Ralph Waldo Emerson

Playlist

Kelly Clarkson – Already Gone

The Fray – How to Save a Life

Walking On Cars – Don’t Mind Me

Jason Walker feat. Molly Reed – The Way Back

Avril Lavigne – Head Above Water

Rachel Platten – Fooling You

Jack Garratt – Weathered

Lady Gaga – Always Remember Us This Way

OneRepublic – Choke

Machine Gun, X Ambassadors & Bebe Rexha – Home

Florence + The Machine – Wish That You Were Here

Eric Arjes – Find My Way Back

The Band Perry – Stay in the Dark

Florence + The Machine – Stand by Me

X Ambassadors – Torches

Andra Day – Rise Up

Jem – You Will Make It

Walking On Cars – Catch Me If You Can

Tom Petty and the Heartbreakers – Learning to Fly

OneRepublic – Burning Bridges

Fleur East – Girl on Fire

You Me At Six – Take on the World

Imagine Dragons – I Bet My Life

WILD – Back to You

Kapitel 1

CHASE

Ich habe einen neuen schönsten Ort gefunden. Einen, der zwar nicht Katie, dafür aber Jesper die Welt bedeutet hat.

Von all den Worten in Hailees Abschiedsbrief haben sich ausgerechnet diese in mein Gedächtnis eingebrannt. Sie kreisen in meinem Kopf, krallen sich darin fest und tauchen mit solcher Klarheit vor meinem inneren Auge auf, dass sich alles in mir zusammenzieht und ich mich fast übergeben muss. Stattdessen umklammere ich das Lenkrad fester und zwinge mich dazu, tief durchzuatmen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Aber das Gefühl, gleich zu ersticken, bleibt.

Ich habe keine Ahnung, wie ich von Beth’s Diner hierhergekommen bin – auf den Skyline Drive außerhalb von Fairwood. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Ich weiß nur, dass ich weiterfahren muss.

Schneller. Immer schneller. Ich muss Hailee finden, bevor es zu spät ist. Bevor sie etwas tut, was keiner von uns rückgängig machen kann.

Bei der Vorstellung, Hailee auf diese Weise zu verlieren, dreht sich mir erneut der Magen um. Clayton versucht mich wieder zu erreichen, wahrscheinlich weil ich ihn vorhin einfach abgewürgt habe, aber ich ignoriere das Klingeln, reiße das Handy aus der Halterung und werfe es auf den Beifahrersitz. Damit kann ich mich jetzt nicht beschäftigen. In meinem Kopf ist nur noch Platz für einen einzigen Gedanken. Für ein einziges Ziel.

Ich sehe nicht, wie die Landschaft, wegen der so viele Besucher in dieses Tal kommen, an mir vorbeirast. Ich starre nur geradeaus und drücke das Gaspedal durch. Der Motor meines Dodge Avengers jault auf, und der Wagen schießt nach vorne. Nur noch ein paar Meilen. Nur noch ein paar Minuten.

Gott, bitte lass mich nicht zu spät sein.

Ausgerechnet jetzt entscheidet mein Gehirn, Erinnerungen auf mich abzufeuern. Bruchstücke von Bildern und Emotionen, die wie eine verdammte Flutwelle über mich hereinbrechen und mich unter sich zu begraben drohen.

Das erste Mal, dass ich Hailee gesehen habe. Erst im Barney’s, als sie mich angesprochen hat, und dann am nächsten Tag in Lizzy’s Cakes, als sie von meiner Anwesenheit mindestens genauso überrascht schien wie ich von ihrer.

Das erste Mal, dass ich sie lächeln gesehen habe.

Der Moment auf dem Plateau, als sie sich völlig lebensmüde halb kopfüber hat fallen lassen.

Der Streit in Jespers Zimmer.

Ihr Lachen im Maislabyrinth.

Das Gefühl ihrer Hand in meiner, ihres warmen Körpers an meinem, als wir ohne Musik in völliger Dunkelheit in ihrem Zimmer miteinander getanzt haben.

Die Art, wie sie mich mit aller Kraft festgehalten und beruhigt hat, als ich auf Shaine losgegangen bin.

Der erste Kuss nach einem langen Nachmittag am See, während der Geruch vom Lagerfeuer in der Luft hing.

Das Leuchten in ihren Augen während des Musikfestivals.

Die Entschlossenheit in ihrem Gesicht, als sie mir Lebewohl gesagt hat.

In diesem Moment wird mir klar, dass dieser Augenblick unser letzter gewesen sein könnte. Dass gestern Abend das letzte Mal gewesen sein könnte, dass ich mit Hailee gesprochen, ihre Stimme gehört, sie berührt, umarmt und geliebt habe.

Ich schlucke hart. Meine Finger umklammern das Lenkrad so fest, dass mein ganzer Arm vor Anspannung bebt. Fuck, ich muss mich konzentrieren. Ich muss die richtige Ausfahrt erwischen, denn wenn ich auch nur ein paar Minuten, ein paar Sekunden zu spät komme, ist alles vorbei.

Einfach vorbei.

HAILEE

Als wir klein waren, hat Katie mich dazu überredet, mit ihr den Wald hinter dem Haus zu erkunden. Wir waren gerade mal sieben oder acht Jahre alt, es war ein warmer Sommertag, und uns war langweilig. Mom suchte irgendetwas in der Küche, und Dad, der bis eben noch bei uns im Garten gesessen und gelesen hatte, war nach irgendeinem wichtigen Anruf aus der Kanzlei ins Arbeitszimmer verschwunden.

»Komm schon, Hailee!«

Ich kann Katies Stimme so deutlich hören, als würde sie jetzt neben mir stehen. Und ich kann das kleine Mädchen mit dem von der Sonne aufgehellten braunen Haar und dem dunkleren Teint ebenso vor mir sehen wie die wunderschöne junge Frau, zu der meine Zwillingsschwester herangewachsen ist.

»Los, wir gehen in den Wald! Das wird ein Abenteuer, du wirst schon sehen!«

Anfangs habe ich gezögert, weil ich Angst hatte und wir bisher immer nur mit Dad dort waren, aber nie allein. Doch dann hat Katie mir ihre Hand hingehalten und ich habe sie genommen. Kichernd sind wir über das Feld in den Wald gerannt, ohne einen Gedanken an irgendetwas oder irgendjemanden zu verschwenden. Schon gar nicht daran, dass es gefährlich sein oder unsere Eltern sich Sorgen machen könnten. Und Katie behielt recht: Es war ein Abenteuer. Wir haben einen kleinen Bach entdeckt. Die Lichtstrahlen zwischen den Bäumen und das gluckernde Wasser, das in der Sonne gefunkelt hat, waren so magisch, als hätten wir eine andere Welt betreten. Aber das war noch nicht genug, also sind wir auf einen Baum geklettert, dessen Äste sich über den Bach erstreckten.

»Guck, wie hoch ich komme! Guck mal, Hailee! Guck doch!«

An diesem Nachmittag ist Katie beim Klettern ausgerutscht und vom Baum gefallen. Sie hatte Glück. Ein paar Äste haben ihren Sturz gebremst, und sie ist nicht auf den Steinen am Ufer des Baches gelandet, sondern auf dem weichen Waldboden. Für einen Moment lag sie ganz still da. Bewegungslos. Ohne ein einziges Geräusch von sich zu geben. Damals dachte ich, ich hätte sie verloren.

Diesmal habe ich sie wirklich verloren.

Katie DeLuca wurde am 20. Februar ganze zwei Minuten und siebenundfünfzig Sekunden vor mir geboren, aber sie hat es immer auf drei Minuten aufgerundet, weil das cooler klang. Sie war meine große Schwester, meine zweite Hälfte, meine Mutmacherin, Trösterin und der Mittelpunkt in meinem Leben. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der wir länger als eine Nacht voneinander getrennt waren.

Und jetzt sind es auf den Tag genau fünfzehn Wochen. Fünfzehn Wochen ohne Katie. Fünfzehn Wochen, in denen ich alles getan habe, was ich schon immer mal tun wollte, und mich Dinge getraut habe, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Fünfzehn Wochen, in denen ich mein Versprechen an Katie erfüllt habe.

Ich war mutig. Mein Leben lang bin ich Regeln und Plänen gefolgt. Ich war die Brave, während Katie die Rebellin von uns war. Der Wirbelwind. Und obwohl ich in diesem Sommer all meine Regeln gebrochen und drei Monate lang so gelebt habe, als gäbe es kein Morgen, ist erst heute der Tag, an dem das wirklich stimmt. Es gibt kein Morgen für mich. Dieser Sommer hatte von Anfang an ein Ablaufdatum. Das war die einzige Möglichkeit, wie ich es durchziehen konnte. In dem Wissen, Katie und auch Jesper schon bald wiederzusehen, konnte ich alles tun, alles erreichen und immer wieder mutig sein. Und nun ist es an der Zeit, ein allerletztes Mal mutig zu sein.

Meine Hand zittert, als ich nach dem Türgriff taste und aus dem Honda steige. In wenigen Schritten bin ich am Rand des Plateaus. Eine warme Sommerbrise begrüßt mich, und der Ausblick, den ich bereits aus dem Wageninneren gesehen habe, wird um ein Vielfaches schöner. Das Tal mit all seinen Bäumen, deren Blätter sich allmählich bunt zu verfärben beginnen, erstreckt sich zu meinen Füßen. Der Shenandoah-Fluss schlängelt sich durch den Nationalpark und das Wasser glitzert genauso in der Sonne wie der Bach im Wald hinter unserem Haus. Von hier aus kann ich auch den Skyline Drive erkennen, den ich in den letzten Wochen mit Chase entlanggefahren bin.

Chase …

Ich kneife die Augen zusammen, atme tief durch und zwinge mich dazu, jeden Gedanken an ihn zu vertreiben. Hierbei geht es nicht um ihn. Das hat es nie. Es geht nur um das Versprechen, das ich am Grab meiner Schwester gemacht habe.

Wie sehen uns wieder, Katie. Ich verspreche dir, dass wir uns wiedersehen.

Heute ist der einhundertsechste Tag, den ich ohne sie erlebe. Und es wird der letzte sein.

Ein lautes Knacken dringt an mein Ohr und stört die friedliche Stille auf der Aussichtsplattform. Meine Finger sind so verkrampft, dass sie die Plastikflasche in meiner Hand eindrücken. Die milchig weiße Flüssigkeit darin schwappt etwas herum. Es hat viel länger gedauert als gedacht, Moms Schlaftabletten zusammen mit den Schmerzmitteln in Wasser aufzulösen, aber ich habe es geschafft.

Jetzt muss ich nur noch …

Sobald ich das Zeug getrunken habe, muss ich nur noch die Augen schließen. Ich werde einschlafen. Wieder bei Katie sein. Bei Jesper. Ich werde sie beide endlich wiedersehen.

Meine Hände zittern stärker. Nein, nicht meine Hände. Ich zittere am ganzen Körper.

Meine Knie geben nach.

Heißer Schmerz schießt durch sie hindurch, als ich auf dem harten Stein des Felsplateaus lande. Irgendwie halte ich mich aufrecht. Ich muss nur die Flasche öffnen, sie an meine Lippen führen und trinken, dann ist es vorbei.

Das Atmen tut weh. Etwas Heißes, Feuchtes rinnt über meine Wangen. Ich wische mir die Tränen mit dem Arm weg, aber sie kommen immer wieder. Hören einfach nicht auf. Total dämlich.

Ich hatte nie vor, hierherzukommen. Ich wollte nie nach Fairwood. Aber vor allem hatte ich nie vor, hierzubleiben. Nicht für ein paar Tage. Nicht für ein paar Wochen. Und schon gar nicht für immer. Also warum weine ich dann? Warum tut mir alles weh, als würde sich mein Körper mit aller Macht dagegen wehren, dass ich die Hand hebe und die Flasche ansetze?

Meine Fingerspitzen kribbeln und werden taub, als ich den Deckel abmache. Es kostet mich mehrere Versuche, weil ich immer wieder abrutsche. Verdammt, waren meine Hände schon die ganze Zeit so schwitzig?

Ein Schluchzen kommt mir über die Lippen.

Ich habe es versprochen.

Ich habe es Katie versprochen.

Ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben soll. Ich kann es einfach nicht.

Ich. Kann. Nicht.

Aber mein Arm bewegt sich nicht.

Zitternd rutsche ich näher an den Abgrund und sehe hinunter. Ich könnte mich fallen lassen. Einfach die Augen schließen und es passieren lassen. Aber würde ich dann wirklich sterben? Was, wenn ich in einem Krankenhaus aufwache? Schwer verletzt und ohne die geringste Chance, es nach meinen eigenen Vorstellungen zu beenden. Der Gedanke, Mom und Dad auf diese Weise gegenübertreten und die Enttäuschung in ihren Gesichtern sehen zu müssen, ist schlimmer als alles andere. Schlimmer als die Vorstellung, nie wieder aufzuwachen.

Außerdem gibt es kein Zurück mehr. Ich habe den Brief an meine Eltern abgeschickt. Habe den Brief an Chase geschrieben. Mich verabschiedet.

Ich kann nicht mehr zurück, selbst wenn ich das wollte.

Ganz langsam hebe ich die Hand. Führe die Flasche an meine Lippen. Meine Finger beben so sehr, dass die Flüssigkeit wild herumschwappt.

Ich muss nur trinken.

Nur trinken.

Gleich ist es vorbei.

CHASE

Ich biege ab und rase über den unbefestigten Weg. Kieselsteine spritzen auf und donnern gegen die Karosserie. Bäume und Sträucher fliegen an mir vorbei. Ich muss mich dazu zwingen, den Fuß etwas vom Gas zu nehmen, um mich nicht gleich um den nächsten Stamm zu wickeln. Aber – verdammt! Jede Sekunde ist wichtig. Jede Sekunde, in der ich es schneller zu Hailee schaffen kann, in der ich …

Der rote Honda taucht am Rande der Aussichtsplattform vor mir auf.

Im ersten Moment bin ich gelähmt vor Schock, vor Erleichterung, dann trete ich auf die Bremse. Der Wagen kommt mit quietschenden Reifen nur wenige Zentimeter hinter dem Honda zum Stehen.

Mein Puls rast. In meinem Kopf ist kein klarer Gedanke mehr. Nur ein einziges Chaos.

Ich reiße die Tür auf, springe aus dem Wagen und laufe auf das Plateau.

»Hailee?«

Sie ist da. Sie ist noch da.

Sie sitzt mit dem Rücken zu mir viel zu nahe am Abgrund, und sie rührt sich nicht. Sie ist so verflucht bewegungslos, als wäre sie selbst zu Stein erstarrt. Oder als wäre sie …

»Hailee!«

Diesmal zuckt sie deutlich zusammen. Ganz langsam dreht sie sich zu mir um. Wenn ich geglaubt habe, ich könnte unmöglich noch mehr Angst empfinden, dann habe ich mich geirrt. Bei Hailees Anblick setzt mein Herz einen verdammten Schlag lang aus, ehe es umso heftiger, umso schmerzhafter hinter meinen Rippen weiterhämmert.

Hailees Augen sind rot vom Weinen. Tränen schimmern auf ihren Wangen. Ihre Wimperntusche hat schwarze Spuren auf ihrer Haut hinterlassen. Und sie ist blass. Sie ist so verflucht blass, als würde sie jeden Moment in sich zusammenfallen. Die Klippe hinunterstürzen. Ist das vielleicht ihr Plan? Zu springen?

»Chase …?«

Ich weiß nicht, ob ich meinen Namen gehört oder nur von ihren Lippen abgelesen habe. Aber sie hat mich erkannt. Sie atmet. Sie redet mit mir. Vor Erleichterung knicken mir fast die Beine weg. Dann fällt mein Blick auf die Plastikflasche in ihrer Hand.

Sie ist leer.

»Shit!« Ich merke nicht, wie ich mich bewege, aber plötzlich bin ich bei ihr, sinke vor ihr auf die Knie und packe sie behutsam an den Schultern. »Was war da drin? Hast du es getrunken? Alles davon?«

Ihre Finger schließen sich um meine Handgelenke. Sie sind kalt, kraftlos, aber sie hält sich an mir fest.

»Hast du es getrunken?«, bohre ich nach, während es fieberhaft in mir arbeitet. Mein Puls rast noch immer, aber jetzt übernimmt mein Verstand die Kontrolle. All die Dinge, die ich in den letzten Jahren gelernt habe, kommen mir wieder in den Sinn und rücken alles andere in den Hintergrund. Erste Hilfe. Lebensrettende Sofortmaßnahmen. Traumabehandlung. Aber weder damals bei der Feuerwehr noch bei meinem Nebenjob im Krankenhaus oder im Military Paramedic Training bei der Army war davon die Rede, was in einem Fall wie diesem zu tun ist. Und niemand hat mich davor gewarnt, wie verflucht hilflos ich mich fühlen würde.

»Rede mit mir«, bitte ich sie und lege die Hand an ihre Wange. Ihre Haut ist heiß und feucht.

Hailees Atmung geht viel zu schnell, und ihr Puls hämmert an ihrem Hals. Aber ich kann keine offenen Wunden entdecken, außerdem sehen ihre Pupillen normal aus, und sie scheint ansprechbar zu sein.

Ganz langsam schüttelt sie den Kopf. »I-ich … ich konnte nicht.« Ihre Stimme ist nur ein abgehacktes Flüstern, kaum hörbar und doch so laut in der Stille um uns herum. »Ich w-wollte es tun. I-ich will mein Versprechen an Katie einhalten, u-und … und ich … ich will wieder bei ihr sein, a-aber … ich kann … ich kann nicht.« Tränen laufen ihr über die Wangen. »Ich kann einfach nicht …«

Sie sagt es wieder und wieder, selbst dann noch, als ich die Arme um sie lege und sie an mich ziehe. Die Flasche fällt ihr aus der Hand und rollt über den Stein. Erst jetzt bemerke ich die Reste einer milchig weißen Flüssigkeit darin – und die Feuchtigkeit auf dem Boden direkt neben uns. Was auch immer Hailee da zu sich nehmen wollte – vermutlich eine Mischung aus Schlaftabletten und anderen Medikamenten, wenn ich die Spuren richtig deute –, sie scheint es weggeschüttet zu haben, bevor ich hergekommen bin.

Ich kann gar nicht sagen, was das in mir auslöst. Ich kann sie nur noch fester halten und ihr immer wieder über den Hinterkopf und den Rücken streicheln, während sie sich an mich klammert. Ein Schluchzen kommt ihr über die Lippen, dann noch eines, bis sie gar nicht mehr aufhören kann. Das Zittern, das durch ihren Körper läuft, wird immer stärker.

Ich halte sie so lange fest, wie sie es braucht. Wie wir beide es brauchen.

»Ich bin kein ganzer Mensch mehr«, wispert sie kaum hörbar. »Ich bin nur noch halb da …«

Alles in mir zieht sich zusammen, und ich umarme sie noch etwas stärker. Obwohl ich ihr so verdammt gerne versichern würde, dass dieses Gefühl vergehen und alles gut werden wird, kann ich es nicht. Denn ich weiß nicht, ob es wirklich so sein wird. Es gibt keine Garantien. Schon gar nicht dafür, dass der Schmerz eines Tages verblassen wird.

Ich hasse meine eigene Hilflosigkeit in diesem Moment mehr als alles andere. Das Einzige, was ich tun kann, ist, jetzt für sie da zu sein und ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein ist. Denn das ist sie nicht. Und ich muss hoffen, dass es fürs Erste ausreicht.

»Bist du ganz sicher, dass du nichts genommen hast?«, hake ich nach ein paar Sekunden nach, da trotz der Erleichterung noch immer diese nagenden Zweifel in mir sind. Die Panik, die darauf drängt, Hailee sofort ins Krankenhaus zu fahren, damit sie untersucht und behandelt werden kann. Sie muss nicht alles von dem Schlaftablettenmix getrunken haben, damit er eine Wirkung zeigt. Und wer weiß, ob sie nicht zuvor etwas anderes eingeworfen hat, bevor sie zu der Mixtur in der Flasche gegriffen hat …

»Ich konnte nicht«, beteuert sie. »Ich konnte es einfach nicht.«

Ich zögere einen Herzschlag lang. »Du solltest trotzdem ins Krankenhaus und dich durchchecken lassen«, sage ich behutsam.

Sofort schüttelt sie den Kopf und lehnt sich etwas zurück, um mich ansehen zu können. »Ich kann nicht ins Krankenhaus. Wenn ich … wenn ich dort hingehe, werden sie … Sie werden es als … als …«

Sie werden es als Suizidabsicht registrieren, mit Hailee reden und sie, je nachdem, wie das Gespräch verläuft, als gefährdet einstufen. Unter Umständen wird ihr geraten, für ein paar Tage unter Aufsicht dazubleiben. Aber es wird keine Zwangseinweisung geben. Hailee hat nichts getan. Sie hatte den Plan, ja, aber sie hat ihn nicht durchgezogen.

»Im Krankenhaus können sie dir helfen«, versuche ich sie zu beruhigen. »Es wird nichts passieren, was du nicht willst, das verspreche ich dir. Aber du musst dich untersuchen lassen und mit jemandem reden. Mit jemandem, der dafür ausgebildet ist.«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich schwöre dir, ich habe nichts davon getrunken. Bitte, Chase.« Ihre Augen sind riesig in ihrem noch immer unnatürlich blassen Gesicht. Flehend.

Sie ist schon am Boden. Fuck, sie ist so weit unten, wie sie nur sein kann, und wenn ich jetzt einfach handle und sie in die Notaufnahme fahre, obwohl sie das nicht will … Was tue ich ihr damit an? Aber kann ich es wirklich verantworten, anders zu handeln? Kann ich nur auf ihr Wort vertrauen? Nach allem, was passiert ist? Nach dem, was sie fast getan hätte?

»Bitte …« Ihre Stimme ist nur noch ein Hauchen. Erneut treten ihr Tränen in die Augen und kullern über ihre Wangen. »Ich will da nicht hin.«

In meinem Kopf reiht sich ein Fluch an den anderen, während ich die Zähne so fest zusammenbeiße, dass mein Kiefer wehtut. Ich kann Hailees Vertrauen nicht missbrauchen. Aber ich kann auch nicht nichts tun. Das wäre nicht nur unverantwortlich, sondern geht auch gegen alles, was ich gelernt habe. Scheiße, es geht gegen alles, was mich ausmacht.

»In Ordnung«, sage ich, als mir eine Idee kommt. »Wir fahren nicht ins Krankenhaus. Ich bringe dich zurück in dein Zimmer über dem Diner. Unter einer Bedingung.«

Sie erwidert meinen Blick einen Moment lang stumm, dann nickt sie ganz leicht.

»Ein Bekannter von mir ist Arzt und schuldet mir noch einen Gefallen. Er wird dich untersuchen, ohne dass es in die Akten kommt, okay?«

Sie zögert, scheint mit sich zu ringen, nickt dann jedoch erneut. »Okay …«

»Versprich es mir, Hailee. Versprich mir, dass du dich von ihm behandeln lässt.«

»Versprochen«, wispert sie und klammert sich an mich, als ich sie wieder in meine Arme ziehe. »Aber ich habe nichts davon getrunken.«

Gott, ich hoffe, dass es die Wahrheit ist. Ich hoffe es so sehr. Fast genauso sehr, wie ich hoffe, dass ich sie dazu bringen kann, mit jemandem zu reden, der für Situationen wie diese ausgebildet ist.

Langsam stehe ich auf und helfe Hailee ebenfalls hoch. Dann führe ich sie zum Dodge, öffne die Beifahrertür und schließe den Sicherheitsgurt für sie, nachdem ich ihr auf den Sitz geholfen habe. Die ganze Zeit über hämmert es schmerzhaft in meiner Brust, während es unablässig in meinem Kopf arbeitet.

Sie hat es nicht getan. Hailee hat es nicht getan. Aber sie hätte es beinahe. Vielleicht hätte sie einen anderen Weg gewählt, wenn ich nicht rechtzeitig angekommen wäre. Wenn ich nur ein paar Minuten später hier aufgetaucht wäre – hätte ich sie noch genau so vorgefunden wie jetzt? Oder wäre dann nichts mehr von der Hailee übrig, mit der ich die letzten Wochen verbracht habe?

Doch noch während ich um den Wagen herumgehe, mich hinters Lenkrad setze und den Motor starte, wird mir klar, dass ich mich geirrt habe. Ich kenne Hailee nicht. Nicht wirklich. Und vielleicht habe ich das nie.

Kapitel 2

HAILEE

Als ich die Augen aufschlage, ist es ruhig. Meine Umgebung. Meine Atemzüge. Meine Gedanken. Alles ist vollkommen still. Und für einen kleinen Moment schwebe ich irgendwo zwischen Schlafen und Wachen, und es ist das Friedlichste, was ich je erlebt habe. Bis die Erinnerungen zurückkehren. An das, was passiert ist. An das, was ich fast getan hätte. Jede einzelne reißt etwas in mir auf, wieder und wieder, bis es so viel ist, dass ich gar nichts mehr fühle.

Nach und nach stellt sich meine Umgebung scharf. Ich liege in einem Bett, das mir vertraut ist und an dem nicht nur mein Duft haftet, sondern auch seiner. Ich starre an eine Decke, an die ich in den letzten Wochen viel zu oft gestarrt habe. Ein warmer Windhauch streift mein Gesicht. Das Fenster muss geöffnet sein. Von der Straße sind Stimmen zu hören. Schritte. Kindergeschrei. Autos. Fahrradklingeln. Alles wirkt so … normal. So alltäglich. Dabei sollte es das nicht sein. Wie kann alles dort draußen einfach weitergehen, als wäre nichts geschehen?

Ich kneife die Augen zusammen und versuche es auszublenden. Aber vor allem versuche ich dem Drang zu widerstehen, auf die Uhr zu schauen. Denn ganz egal, welche Zeit sie mir anzeigen wird, ich weiß, dass es zu spät ist. Ich sollte nicht mehr hier sein. Ich wollte nicht mehr hier sein. Und trotzdem bin ich es jetzt. Nicht, weil Chase oder irgendjemand sonst mich davon abgehalten hat, die in Wasser aufgelösten Tabletten zu schlucken. Ich habe mich selbst davon abgehalten. Und in diesem Moment, als ich die Augen erneut aufschlage, weiß ich nicht, ob ich dankbar sein oder mich dafür hassen soll.

Obwohl ich nichts lieber tun würde, als wieder in den Schlaf abzudriften und alles zu vergessen, setze ich mich langsam auf. Mir ist schwindelig, mein Mund ist trocken, meine Augen brennen und mein Kopf dröhnt. Ich habe geweint. Daran erinnere ich mich viel zu deutlich. Chase hat mich festgehalten, und ich habe so sehr geweint wie nie zuvor. Wahrscheinlich fühle ich mich deswegen, als wäre ich einmal durch die Hölle und zurück geschleift worden.

Der Arzt, mit dem Chase befreundet ist und der bei mir war, hat ihm bestätigt, was ich bereits wusste. Ich habe nichts eingenommen. Ich konnte es nicht. Im Flur habe ich sie leise murmeln gehört. Ich kann mich nur noch an ein paar Bruchstücke ihres Gesprächs erinnern. »Körperlich scheint alles in Ordnung zu sein, abgesehen von totaler Erschöpfung. Aber alles andere …« Der Arzt, dessen Namen ich vergesse habe, hat Chase geraten, ich sollte schnellstmöglich einen Therapeuten aufsuchen oder zu einer Beratungsstelle gehen. Außerdem sollte man mich in nächster Zeit besser nicht allein lassen. Wahrscheinlich sollte ich also damit rechnen, dass jemand bei mir im Zimmer ist. Trotzdem bin ich überrascht, als ich die bekannte Stimme höre.

»Willkommen zurück.«

Ich drehe den Kopf zur Seite und starre in das Gesicht der Person, die auf einem Stuhl neben meinem Bett sitzt. »Lexi …?«

Chase’ Cousine lässt ihr Buch sinken und klemmt einen Finger als Lesezeichen hinein. Dann mustert sie mich geradeheraus.

Sie ist es wirklich. Lexi sitzt bei mir, vielleicht erst seit ein paar Minuten, womöglich aber auch schon seit Stunden. Zumindest müssen Stunden vergangen sein, denn der Himmel vor meinem Fenster verfärbt sich golden. Anscheinend habe ich fast den ganzen Tag verschlafen. Wahrscheinlich kein Wunder, nachdem ich letzte Nacht kein Auge zubekommen habe.

Die Frage danach, was passiert ist, liegt mir auf der Zunge, aber ich spreche sie nicht aus, weil mir im selben Moment klar wird, wie absurd das wäre. Ich weiß genau, was passiert ist, und ich glaube nicht, dass ich es jemals vergessen werde. Selbst wenn ich wollte.

Kurz zuckt mein Blick durch das Zimmer, von dem ich geglaubt habe, es nie wiederzusehen, dann landet er wieder bei Lexi. Sie wirkt blass. Die langen, leicht gelockten Haare sind eine zerzauste Mähne, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gekrochen. Ihr Make-up ist unter den Augen ein bisschen verschmiert, und ihr Nacken knackt, als sie sich aufrichtet und den Kopf etwas zur Seite rollt.

»Wo ist Chase?«

Ich weiß nicht, warum das die erste richtige Frage ist, die ich hervorbringe. Vielleicht, weil er das Letzte war, was ich gesehen und gespürt habe, bevor ich eingeschlafen bin. Vielleicht, weil sein Duft und seine Präsenz noch immer so stark in diesem Raum sind, er aber nicht da ist. Und vielleicht auch, weil ich nach allem, was passiert ist, Angst davor habe, ihm wieder gegenüberzutreten.

»Jetzt gerade?« Lexi zieht die Brauen in die Höhe und wirft das Buch auf den Nachttisch. Ein kurzer Blick auf ihr Handy, dann landet auch das scheppernd auf dem Nachttisch. »Keine Ahnung. Er hat gesagt, er wäre in ein paar Stunden zurück.« Die letzten Worte presst sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Langsam sehe ich vom Telefon zu Lexi zurück. Diesen angepissten, störrischen Gesichtsausdruck habe ich schon mal bei ihr gesehen. Mehr als einmal, um genau zu sein. »Bist du meinetwegen so wütend …? Oder ist es wegen Chase?«

Sie schnaubt abfällig. »Chase ist ein Idiot. Er läuft lieber vor Problemen davon, statt dazubleiben und sich ihnen zu stellen. Oder – Gott bewahre! – gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Genau wie ein gewisser anderer Kerl, dessen Name hier nicht genannt wird.«

Ich zucke unwillkürlich zusammen und starre auf die dünne Bettdecke hinab. »Sieht so aus, als hätten wir da alle etwas gemeinsam …«

Lexi starrt mich einen Moment lang an, dann steht sie schwungvoll auf. »Willst du etwas essen? Trinken? Ich bin am Verhungern.«

Sie wechselt das Thema so schnell, dass ich ihr kaum folgen kann, aber ich nicke langsam, auch wenn ich keinen Hunger verspüre. »Das wäre toll.«

»Okay.« Sie stemmt die Hände in die Hüften und mustert mich durchdringend. »Ich gehe kurz runter ins Diner und hole uns etwas. Tu nichts …«

»Dummes?«

Kurz presst sie die Lippen aufeinander. »Nichts, was ich nicht auch tun würde.« Ein prüfender Blick durchs Zimmer, als würde sie nach etwas suchen, dann nickt sie mir zu. »Ich bin gleich zurück.«

Ich sehe ihr nach, bemerke, wie sie die Tür nur anlehnt, statt sie hinter sich zu schließen, und weiß nicht, ob ich erleichtert darüber sein soll – oder weinen möchte. Genau genommen weiß ich überhaupt nichts mehr. Nichts ist so, wie es sein sollte, und das ist meine Schuld.

Einen Moment lang starre ich nur auf meine Hände hinab, dann zwinge ich mich dazu, aufzustehen und mich ins Bad zu schleppen. Dort gehe ich zur Toilette, putze mir die Zähne und wasche mir anschließend das Gesicht. Als ich es mir mit dem Handtuch abtrockne, fällt mein Blick auf meine Sachen. Lexi oder Chase müssen sie aus dem Honda geholt und wieder ausgepackt haben. Bürste, Schminkzeug, Haargummis, Duschgel, Shampoo … aber mein Rasierer fehlt. Genau wie das Wasserglas im Zimmer. Ich kann mir denken, warum sie diese Sachen entfernt haben, trotzdem dreht sich mir bei der Erkenntnis der Magen um.

Ich kann nicht fassen, dass ich dieses Mädchen geworden bin. Das Mädchen, auf das man aufpassen muss, damit es sich nichts antut. Dabei hatte ich nie den Drang, mir selbst wehzutun. Ich wollte immer nur vor dem Schmerz fliehen, statt ihn zu spüren. Langsam lasse ich das Handtuch sinken und hänge es zurück. Ich kenne ein paar Leute vom College, die sich eine Zeit lang selbst verletzt haben. Manchen sieht man es nicht an, andere werden die Erinnerung daran für immer auf ihrem Körper tragen. Die Leute werden sie ansehen und wissen, woher diese Narben stammen. Und es wird stets Menschen geben, die sie dafür verurteilen werden, dass sie keinen anderen Weg gefunden haben. Genauso wie es von jetzt an immer Menschen geben wird, die wissen, was ich tun wollte, und die mich dafür verurteilen werden.

Ich kneife die Augen zusammen, trotzdem komme ich nicht gegen die Tränen an. Mein ganzer Körper schmerzt. Mein Kopf tut weh. Aber am schlimmsten ist es in meinem Inneren, ganz tief in meiner Brust, wo nur noch ein riesiges schwarzes Loch zurückgeblieben ist. Der einzige Grund, weshalb ich diesen Sommer genießen und all diese verrückten und mutigen Dinge tun konnte, war die absolute Sicherheit, Katie am sechsten September wiederzusehen. Ich habe mir Datum, Ort und Uhrzeit sogar in den Kalender geschrieben, bevor ich zu diesem Roadtrip aufgebrochen bin. Exakt fünfzehn Wochen nachdem sie uns verlassen hat. Derselbe Wochentag. Dieselbe Uhrzeit. Ein besonderer Ort, an den Katie und ich unbedingt zurückkehren wollten. Heute ist zwar noch immer der sechste September, aber es ist Abend geworden, und ich … ich weiß nicht weiter. Es gibt kein Datum mehr, an dem ich mich festhalten kann, keinen Tag, an dem ich meine Schwester und auch meinen besten Freund wiedersehen werde. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Wie ich mit dem Wissen leben soll, dass die beiden nie mehr zurückkommen. Dass ich sie für immer verloren habe.

»Hailee?« Lexis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Mein Spiegelbild starrt mir aus geröteten, verdächtig glänzenden Augen entgegen. Ich ziehe die Nase hoch, wische mir mit der Hand über die Wangen und kehre dann ins Zimmer zurück. »Was hast du mitgebracht?«

Lexi mustert mich misstrauisch. Es ist nur ein kurzer Moment, womöglich nur eine einzige Sekunde, aber ich hasse es. Denn es zeigt, dass sie mir nicht vertraut. Und ich habe selbst dafür gesorgt, dass sie keinen Grund mehr dazu hat. Sie deutet auf die Papiertüten und die Plastikbecher auf dem Bett. »Milchshakes, Kaffee, etwas von Beth’ Kuchen, Bagels und so weiter.«

Ich setze mich zu ihr aufs Bett und helfe ihr dabei, die Sachen auszupacken. Ich habe noch immer keinen Hunger, beiße Lexi zuliebe aber in einen Bagel und nehme einen Schluck von meinem Latte macchiato. Beth muss ihn zubereitet haben, da er genau so schmeckt, wie ich ihn in den letzten drei Wochen ständig getrunken habe. Genau so, wie ich ihn am liebsten mag.

»Wusstest du, dass Chase mal Paramedic werden wollte?«, fragt Lexi nach ein paar Minuten plötzlich.

Ich halte im Kauen inne und schüttle langsam den Kopf. Das hat er mir nie erzählt, aber irgendwie überrascht es mich nicht. Wenn Chase jemandem helfen kann, dann tut er es.

Lexi schneidet eine Grimasse. »Ja, das war noch zu Schulzeiten, aber auch kurz danach. Als Kind war es sein allergrößter Wunsch, Feuerwehrmann zu werden. Er ist ständig mit diesem lächerlichen Helm auf dem Kopf herumgerannt, den er mal zu Weihnachten bekommen hat. Und sobald er konnte, ging er zur Freiwilligen Feuerwehr. Eigentlich dürfen sie Minderjährige nicht ausbilden, aber der Chief ist ein Freund unserer Familie und hat Chase das eine oder andere Mal mitfahren lassen. Dort hat er dann ziemlich schnell gemerkt, dass er lieber Menschen rettet, als Feuer zu löschen. In der Highschool hat er medizinische Kurse belegt und ein paar Monate lang nach dem Unterricht sogar als Medical Aid im Krankenhaus gearbeitet. Du weißt schon: Akten von A nach B schaffen, Zeit mit den Patienten verbringen, die Fachkräfte unterstützen und so weiter.«

»Kennt er von dort auch den Arzt?«, höre ich mich fragen. »Von seiner Arbeit als Medical Aid?«

Lexi nickt und schiebt sich einen großen Bissen Schokokuchen in den Mund. »Eine Zeit lang war ich fest davon überzeugt, dass er seine Bestimmung gefunden hat«, nuschelt sie.

»Was ist passiert?«

Denn offensichtlich arbeitet Chase nicht mehr ehrenamtlich im Krankenhaus und hat auch keine Karriere als Paramedic eingeschlagen. Er studiert Architektur, wird nächste Woche zurück zum Campus fahren, nach dem Studium in die Firma seines Vaters und seines Onkels einsteigen und Gebäude entwerfen.

»Unsere Familie ist passiert.« Lexi lacht leise, aber es klingt irgendwie hohl. »Unzählige Generationen von Architekten. Niemand hat Chase oder Josh je gefragt, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Es stand von Anfang an fest. Als Chase das in der Highschool bewusst geworden ist, hat er eine Hundertachtzig-Grad-Wende hingelegt und eine Weile gegen alles und jeden rebelliert. Aber letzten Endes …« Sie seufzt tief und zuckt resigniert mit den Schultern. »Letzten Endes hat er sich den Erwartungen gebeugt. Er ging zur Army – noch so eine Tradition in der Familie – und hat dort die Grundausbildung absolviert …« Sie unterbricht sich und scheint einen Augenblick lang zu überlegen. »Aber auch das Paramedic Training. Danach ist er allerdings brav nach Boston gegangen und hat mit dem Architekturstudium angefangen.«

Davon hat er nie etwas erzählt. Ich wusste zwar, dass er nicht besonders glücklich mit seinem Studium und der damit einhergehenden Berufswahl ist – aber ich hatte keine Ahnung, dass es nicht wirklich eine Wahl war. Vor allem nicht seine. Andererseits habe ich ihm selbst zu viel verschwiegen, um ihm deswegen einen Vorwurf machen zu können. Ich frage mich nur, warum er nichts gesagt hat. Hat er seinen Traum von damals längst aufgegeben? Denkt er manchmal noch daran zurück?

»Was ist mit dir?«, frage ich und lenke meine Gedanken damit bewusst in eine andere Richtung. »Warum bist du nicht ins Familiengeschäft eingestiegen?«

Ihre vollen Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. »Weil meine rebellische Phase nie aufgehört hat. Aber um ehrlich zu sein, glaube ich, dass Dad und Onkel Quentin insgeheim immer noch hoffen, dass ich eines Tages meine Liebe zur Architektur entdecke und zur Vernunft komme.« Bei den letzten Worten malt sie Anführungszeichen in die Luft. »Was nie passieren wird. Es gibt nichts Langweiligeres für mich, als irgendwelche hässlichen Firmengebäude und Hotels zu entwerfen, in Raumgeometrie war ich schon immer eine Niete und bei der Vorstellung, für den Rest meines Lebens in einem stickigen Büro zu hocken, würde ich am liebsten von einem Dach springen.« Die Worte haben kaum ihren Mund verlassen, da weiten sich ihre Augen vor Schreck. »Oh Shit. Sorry. Das war ein saudummer Spruch.«

»Nein.« Ich schüttle den Kopf und muss zu meiner eigenen Überraschung sogar lächeln. »Das war genau richtig.«

»Nein, das war unsensibel und …«

»Danke«, unterbreche ich sie und lege den halb aufgegessenen Bagel zurück auf die Papiertüte.

Lexi runzelt die Stirn. Sie wirkt ehrlich verwirrt. »Danke wofür?«

»Dafür, dass du mich wieder so behandelst wie vorher und nicht wie jemanden, der … der …«

»Sich umbringen wollte?« Sie fixiert mich mit ihrem Blick. »Du wolltest es tun, also kannst du es ruhig sagen.«

Ich presse die Lippen aufeinander. Ich werde diese Worte nicht laut aussprechen. Für mich hatte dieser Plan nie etwas mit all den grausigen Bildern zu tun, die einem dabei sofort einfallen. Nie mit Blut und Qualen und dem Leid, das man anderen damit antut. Ich wollte einfach nur wieder bei Katie sein. Ich wollte bei Jesper sein. Und ich wollte, dass der Schmerz endlich aufhört. Weil ich den Gedanken an ein Leben ohne meine Zwillingsschwester nicht ertrage. Nicht vor diesem Sommer und nicht heute.

Vielleicht fühlt es sich deshalb so unwirklich an, jetzt hier zu sein und mit Lexi auf diesem Bett zu sitzen. Es ist so surreal, überhaupt zu atmen. Zu sprechen. Zu existieren. Alles ist falsch gelaufen. Katie und ich waren von Anfang an eine Einheit. Wir hätten eine bleiben sollen. Wir haben immer Witze darüber gerissen, dass wir als alte Omas in einem riesigen Haus voller Katzen oder Enkelkinder enden würden. Welche Version davon es werden würde, wussten wir selbst nicht so genau, aber dass wir bis zu unserem letzten Atemzug zusammen sein würden, war für uns beide völlig klar. Wir haben so oft darüber gesprochen, und keine von uns hat sich je ausmalen können, dass es anders kommen könnte. Dass eine von uns zurückbleiben würde. Ganz allein.

Ich schlucke schwer und senke den Blick auf die geblümte Decke unter all den Papiertüten.

»Oh, Hailee …«

Ich habe nicht mal realisiert, dass ich weine. Erst als Lexi mir von irgendwoher ein Taschentuch reicht, bemerke ich die heißen Tränen auf meinen Wangen. Ich wische sie weg, schnäuze mich und zerknülle das Taschentuch in meiner Faust. Im nächsten Moment räumt Lexi das Essen und die Getränke vom Bett auf den Schreibtisch am Fenster, setzt sich wieder und zieht mich wortlos an sich.

Ich will nicht heulen. Ich will nicht noch mal zusammenbrechen, weil ich das, ehrlich gesagt, so verdammt satthabe. Aber ich kann nicht anders. Der ganze Schmerz ist wieder da. Die schreckliche Leere. Es fühlt sich an, als würde er mich von innen heraus zerreißen. Meine Haut spannt, meine Kehle ist ganz heiser, und jeder Atemzug tut weh. Es tut so weh, hier zu sein, wenn Katie fort ist. Warum bin ich noch da? Warum hat es sie getroffen und nicht mich? Sie war so viel besser als ich. Sie war die Mutige, die Lebenshungrige, die mit den wildesten Plänen und verrücktesten Träumen. Es hätte mich erwischen sollen. Ich hätte diejenige in der Leichenhalle sein sollen. Diejenige im Sarg. Diejenige unter der Erde. Ich hätte es sein sollen, aber niemals sie. Niemals Katie.

Lexi hält mich fest. Sie gibt keine beruhigenden Laute von sich und erzählt mir auch nicht, dass alles wieder gut wird – und dafür bin ich ihr so unendlich dankbar, auch wenn ich nicht die Worte dafür finde. Denn nichts wird jemals wieder gut sein.

Ich weiß nicht, wie lange wir so sitzen. Zeit scheint nicht mehr zu existieren und zeigt sich nur noch darin, dass der Himmel vor dem Fenster an Farbe verliert und es draußen immer dunkler wird. Mein Kopf hämmert. Meine Kehle ist ganz trocken. Meine Muskeln sind ohne jede Kraft. Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.

»Willst du darüber reden?«, fragt Lexi schließlich, nachdem ich aufgehört habe, in ihren Armen zu schluchzen.

Ich schüttle den Kopf und meine, sie leise seufzen zu hören, aber sie löst sich nicht von mir. Sie macht mir keine Vorwürfe, sondern streicht mir nur sanft über den Rücken.

»Das ist okay«, murmelt sie nach einer Weile. »Niemand wird dich zu irgendetwas zwingen. Aber wenn du reden möchtest, bin ich da, okay? Chase ist für dich da, wenn du ihn lässt, genauso wie Charlotte und Clayton und Eric und auch Beth. Wir sind alle für dich da, Hailee.«

Ich kneife die Augen zusammen, trotzdem strömen mir weitere Tränen über die Wangen. Ich weiß nicht mal, warum ich noch weine. Weil es so wehtut? Weil ich mich so verloren und trotz Lexis Worten so verdammt allein fühle? Weil ich ihr glauben möchte und so unglaublich dankbar und erleichtert darüber bin, dass sie mich nicht für das verachtet, was ich tun wollte?

Ich weiß es einfach nicht.

Die Tränen fließen immer weiter, auch wenn ich gedacht habe, keine einzige mehr übrig zu haben, und Lexi hält mich die ganze Zeit fest.

Kapitel 3

CHASE

»Wo willst du hin?«

»Keine Ahnung. Ich weiß gerade überhaupt nichts mehr.«

Das kurze Gespräch mit Lexi schwirrt mir immer wieder durch den Kopf, während ich durch die Gegend fahre, aber selbst Stunden später weiß ich immer noch nicht, wo ich eigentlich hinwill. Ich weiß nur, dass ich in Bewegung bleiben muss, dass ich etwas brauche, was meine Gedanken beschäftigt und mich von den Geschehnissen von heute Morgen ablenkt.

Ein Hupen reißt mich aus meiner Starre. Die Ampel ist auf Grün umgesprungen. Ich gebe dem Fahrer hinter mir ein Zeichen und gehe wieder aufs Gas. Mittlerweile habe ich Fairwood längst hinter mir gelassen. Scheiße, ich glaube, ich bin nicht mal mehr im selben Bundesstaat. Irgendwie bin ich in dieser kleinen Stadt gelandet, an die ich mich nicht erinnern kann, die mir aber trotzdem irgendwie bekannt vorkommt.

Ohne darüber nachzudenken, biege ich ab und folge dem Straßenverlauf, bis ich erneut abbiegen kann und auf einem Parkplatz haltmache.

Der Motor läuft noch, meine linke Hand liegt auf dem Lenkrad, die rechte am Schalthebel. Ich kann jederzeit weiterfahren. Ich muss nur wenden und wieder zurück auf die Straße. Aber ich tue es nicht, weil ich aus irgendeinem verdammten Grund hierhergekommen bin. Ausgerechnet hierher. Am Rande des Parkplatzes steht ein lang gestrecktes, flaches Gebäude. Eine Boxhalle. Aber eine, in der man nicht nur seiner Fitness, sondern auch einer ganz anderen Art der Unterhaltung nachgehen kann.

Es ist nicht das Studio in Charleston, West Virginia, nicht Roys Club, wo es im Ring deutlich mörderischer zugeht und in dem ich letzten Winter bei einem der illegalen Kämpfe angetreten bin, die dort regelmäßig stattfinden. Ursprünglich war es Joshs Kampf, doch dann musste er sich ja unbedingt dieses Zeug einwerfen, also bin ich für ihn eingesprungen. Wie auch unzählige Male davor und danach. Wieder und wieder und wieder. Ich dachte, wir hätten das zu Ende gebracht. Ich war mir sicher, diese Phase hinter mir gelassen zu haben.

Und trotzdem bin ich jetzt hier. Nicht, um Joshs Schulden zu begleichen, sondern weil ich es will. Weil ich die Ablenkung brauche. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich freiwillig an einem Ort wie diesem.

Bevor ich darüber nachdenken kann, was ich hier verdammt noch mal tue, ziehe ich den Schlüssel ab und steige aus. Feuchtwarme Luft empfängt mich. Der Boden ist trocken, der Himmel klar und dunkel. Bis auf zwei Lücken ist der Parkplatz vor dem Boxstudio voller Autos. Kein Wunder, es ist schließlich Freitagabend, und die Leute kommen nicht nur hierher, um zu trainieren, sondern auch, um sich die Kämpfe anzuschauen und Wetten abzuschließen.

Ich habe keine Sportsachen dabei, im Auto aber immer Ersatzkleidung für die Arbeit auf dem Bau oder die Ausflüge mit Phil. Jetzt schnappe ich mir das Zeug zusammen mit der Flasche Wasser, überquere den Parkplatz in großen Schritten und betrete das Studio. Von außen sieht es nach nichts Besonderem aus. Ein bisschen heruntergekommen und abgelegen vielleicht, dennoch deutet nichts darauf hin, dass hier mehr passiert als nur ein bisschen Boxtraining.

Am Empfang hockt ein gelangweilter Kerl und verfolgt mit einem Proteinshake in der Hand einen Boxkampf im TV. Ich sage die richtigen Worte und nenne die richtigen Namen, schon darf ich ohne Gebühr und ohne Mitgliedsausweis passieren. Es gibt keine Fenster, und die Beleuchtung ist beschissen, trotzdem trainieren im Hauptbereich anscheinend ganz normale Leute. Ein paar sind zum Aufwärmen auf den Laufbändern. Ein übermäßig muskulöser Kerl trabt an mir vorbei Richtung Trainingsraum, in dem ein Dutzend Sandsäcke von der Decke hängen. Eine Handvoll Männer und Frauen ächzen an den Hanteln. Vom Teenager bis zum reichen Anzugträger mit den manikürten Händen, über die er gerade die Boxhandschuhe zieht, ist alles dabei.

Nach einem letzten Blick in ihre Richtung mache ich mich auf den Weg nach unten in den Keller. Das Dröhnen der Bässe ist zu hören, noch bevor ich die Tür zur Arena erreiche. Mit ausgestreckter Hand halte ich inne. Sobald ich diese Tür öffne, werde ich zu einem Teil von dem, was da drinnen vor sich geht. Und das, obwohl ich mir geschworen habe, das hier nicht mehr zu tun. Es gibt nichts, was ich nicht daran hasse. Die Kämpfe. Die Wetten. Das Gebrüll. Der Geruch von Schweiß, Bier und Pisse. Die Schmerzen. Die Schulden. Aber … fuck! Heute Abend tue ich es zum ersten Mal nicht für Josh – und auch nicht für sonst jemanden. Ich tue es für mich selbst. Dieses eine Mal will ich diesen Kampf. Dieses eine Mal will ich es tun – um alles andere zu vergessen. Denn das muss ich, weil ich sonst nicht aufhören kann, darüber nachzudenken, was heute Morgen passiert ist. Was Hailee beinahe getan hätte. Und dann drehe ich durch.

Ohne weiter zu zögern, packe ich den Knauf und reiße die Tür auf. Die Lautstärke, die Gerüche und die Hitze hier drinnen erschlagen mich fast. Ich versuche möglichst flach zu atmen und schiebe mich an den Umstehenden vorbei, die sich um den Ring geschart haben und sich die Seele aus dem Leib schreien.

Ich muss nicht lange warten, bis mich ein muskelbepackter Kerl mit finsterer Miene und Tattoos im Gesicht vom letzten Mal wiedererkennt und mich in einen kleinen Hinterraum führt, in dem es noch schlimmer stinkt als vorne bei den ganzen Menschen. Wahrscheinlich wurde hier seit Jahren nicht mehr richtig durchgewischt. Ich ignoriere den Geruch, den Lärm und die Gedanken in meinem Kopf. Ziehe mir Shirt, Schuhe und Jeans aus und stopfe sie zusammen mit meiner Tasche, Handy und Autoschlüsseln in einen Spind, der schon bessere Tage erlebt hat. Die Tür quietscht erbärmlich, aber das Schloss hält. Nur in einer langen Sporthose und mit einer Flasche Wasser in der Hand kehre ich in die Haupthalle zurück. Ein paar der Jungs bleiben hinten, um sich mental auf den Kampf vorzubereiten. Früher habe ich das auch getan. Mir selbst gut zugeredet. Mir Mut zugesprochen. Mir gesagt, dass es nur ein paarmal sein wird, dann wäre Josh seine Schulden los, und ich würde nie wieder an Abende wie diese zurückdenken.

Bei der Erinnerung daran schnaube ich. Ja, klar. Als ob man so leicht vor seiner Vergangenheit davonlaufen könnte. Oder mit ihr abschließen.

Eigentlich sollte der Lärm jeden einzelnen Gedanken in meinem Kopf auslöschen – aus genau diesem Grund bin ich schließlich hier. Trotzdem kehren sie immer wieder zu Hailee zurück. Zu heute Morgen. Und mit ihnen kommen die Fragen. Warum zum Teufel habe ich es nicht kommen sehen? Wie konnte ich mir so sicher sein, dieses Mädchen zu kennen? Wir haben ganze Tage und Nächte miteinander verbracht. Wie um alles in der Welt konnte ich den Schmerz in ihren Augen nicht sehen? Wie konnte ich nicht einmal ahnen, was sie vorhatte?

Gott … Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich alles anders machen. Andererseits weiß ich überhaupt nicht, was ich hätte tun oder wie ich es rechtzeitig hätte bemerken sollen. Ich weiß es einfach nicht. Und das macht mich fertig. Dass ich Joshs Drogenproblem nicht mitbekommen habe, bis es zu spät war, ist die eine Sache. Der Kerl ist mein großer Bruder. Wir studieren zwar an derselben Universität, aber er hat gerade seinen Master gemacht und größtenteils einen ganz anderen Freundeskreis als ich. Wir haben uns nie öfter als ein-, höchstens zweimal die Woche gesehen. Waren ab und zu ein Bier trinken. Mehr nicht.

Aber Hailee? Wie hat sie das während unserer gemeinsamen Zeit vor mir geheim halten können? Wie konnte ich so dumm, so blind sein und es nicht bemerken?

Aber selbst wenn – wie hätte ich damals wissen sollen, was ich tun kann, wenn ich es nicht mal jetzt weiß?

Der einzige Grund, weshalb ich Hailee für die letzten Stunden in Lexis Obhut lassen konnte, ist, dass Dr. Pearson sie untersucht und mir versichert hat, dass es ihr zumindest körperlich gut geht. Dass sie tatsächlich nichts eingenommen hat. Zur Sicherheit hat er Hailee auch noch Blut abgenommen, um es im Labor untersuchen zu lassen, und mich vor einer Stunde angerufen, um mir zu versichern, dass keine fremden chemischen Substanzen in ihrem Blut nachgewiesen werden konnten. Also hat sie die Wahrheit gesagt. Sie hat es nicht getan. Sie hat nicht versucht, sich umzubringen.

Aber sie wollte es.

Der Gedanke kehrt mit einer unerträglichen Klarheit zurück, bohrt sich in meinen Kopf und setzt sich in meinem Bewusstsein fest. Sie wollte es tun, hatte alles vorbereitet und schon den Abschiedsbrief an ihre Eltern geschrieben. Und sie wusste, dass sie es tun würde, als wir uns kennengelernt haben, so viel ging aus ihrem Brief an mich hervor. Sie wusste es. Wochenlang.

Shit … Ich habe keine Ahnung mehr, was ich noch denken oder fühlen soll. Ich weiß nur, dass ich eine Auszeit brauche. Einen Moment, nur ein paar verdammte Minuten, in denen ich an gar nichts mehr denken muss. In denen ich nicht mehr diese Panik und diese alles erdrückenden Schuldgefühle spüren muss.

Mit der Hand fahre ich mir durch das Haar. Direkt vor mir im Ring stürzt sich ein großer, glatzköpfiger Kerl auf seinen Kontrahenten und schlägt so lange auf ihn ein, bis ich meine, das Knacken von brechenden Knochen zu hören. Rote Spritzer landen auf dem Boden. Der Typ hustet und spuckt Blut. Er versucht, sich aufzurichten und weiterzumachen. Durchhaltevermögen hat er, das muss man ihm lassen. Aber ein einziger gezielter Faustschlag des Glatzkopfes genügt, und er geht wieder zu Boden. Diesmal rührt er sich nicht mehr.

Mein Magen zieht sich zusammen. Ich balle die Hände zu Fäusten, um jeden Impuls in mir zu unterdrücken, da hochzurennen und zu überprüfen, ob der Kerl noch atmet. Die Paramedic-Ausbildung ist noch immer so tief in mir verankert, dass ich in Gedanken bereits jeden einzelnen Schritt durchgehe. Atmung, Puls und Herzschlag überprüfen. Lebensrettende Maßnahmen einleiten. Hilfe rufen.

Der Kerl hat Glück. Ich kenne Studios mit Arenen, in denen man den Ring nur als Sieger, bewusstlos oder, im schlimmsten Fall, tot verlässt. Andere Optionen gibt es dort nicht. Hier stehen seine Chancen ganz gut. Und tatsächlich beugt sich in diesem Moment jemand über den Kämpfer am Boden und überprüft seine Vitalfunktionen. Gleich darauf helfen sie dem Kerl wieder auf die Beine.

»Whittaker.« Der Typ mit den Tattoos im Gesicht steht auf einmal neben mir und mustert mich von oben bis unten. »Hätte nicht gedacht, dich hier noch mal zu sehen. Na ja, wenigstens einer von euch Jungs steht zu seinem Wort und kommt wieder her.«

Ich beiße die Zähne zusammen. Zwinge mich dazu, die Klappe zu halten und weiterhin unbewegt auf den Boxring zu starren. Der Name des Typs will mir nicht mehr einfallen, aber das ist auch egal. Ich bin nur hier, um wenigstens für eine kurze Zeit alles andere zu vergessen, dann bin ich wieder raus.

Seelenruhig zündet sich der Kerl eine Zigarre an. Die Beleuchtung in diesem Keller ist so beschissen, dass ich das Aufglühen deutlich erkennen kann. »Ich kann euch nie auseinanderhalten«, murmelt er und schnippt etwas Asche auf den kahlen Betonboden. »Bist du der Ältere oder der Jüngere?«

Ein bulliger Kerl spritzt den Ring mit einem Gartenschlauch ab. Blut vermischt sich mit Wasser und anderen Ausdünstungen und tropft auf den Boden.

»Spielt es eine Rolle?«, presse ich hervor.

Dariusz – jetzt fällt mir sein Name doch wieder ein – grinst und entblößt dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. Die schwarzen Tattoos, die an seiner Schläfe beginnen und seine ganze linke Gesichtshälfte bedecken, treten jetzt noch deutlicher hervor. »Nope.« Mit dem Kopf deutet er auf den Ring. »Du bist der Nächste, Whittaker.«

Ich hasse die Tatsache, dass er meinen Namen kennt, obwohl ich nur ein einziges Mal hier war. Dass er Josh kennt. Und dass ich damals überhaupt hierhergekommen bin. Aber heute Abend werde ich all das ausblenden. Denn heute Abend geht es nicht darum, Joshs Schulden zu begleichen, sondern darum, zu vergessen. Und wenn es auch nur für eine Handvoll Minuten ist.

Meine Finger kribbeln. Mein Puls rast. Unter dem Gejubel und Gebrüll der Leute steige ich in den Ring.

Ein paar Stunden später öffnet Lexi mir die Tür und starrt mich an, als würde sie mich kaum wiedererkennen. Ihr Blick wandert kurz an mir hinab, registriert alle Wunden, die sie auf den ersten Blick erkennen kann, und landet dann wieder in meinem Gesicht. Ihre Augen werden ganz schmal. »Ich schwöre, wenn sie dich nicht gerade brauchen würde, dann würde ich dir dermaßen in den Hintern treten …« Wut schwingt in jeder einzelnen Silbe mit.

Ich nicke nur. »Ich weiß.«

Doch dann überrascht mich meine Cousine. Statt einen Schritt zur Seite zu machen, damit ich hereinkommen kann, oder mir einen Schubs zu verpassen, um wenigstens ein kleines Ventil für ihren Zorn zu finden, tut sie etwas anderes. Etwas, das so unerwartet kommt, dass ich zunächst überhaupt nicht darauf reagieren kann: Sie umarmt mich.

Es dauert mehrere Sekunden, bis ich begreife, was hier passiert, und dann noch mal genauso lange, bis ich dazu in der Lage bin, die Geste zu erwidern. Im nächsten Moment macht sich Lexi auch schon von mir los und verpasst mir den Schubs gegen die Brust, mit dem ich bereits gerechnet habe. Sie sagt nichts mehr, aber ihr Gesichtsausdruck ist mörderisch und lässt keine Zweifel offen: Ich werde mir noch einiges von ihr anhören dürfen – genau wie Josh, sobald sie die Wahrheit kennt und er wieder auf der Bildfläche erscheint. Wann auch immer das sein wird.

»Wie geht es ihr?«, frage ich leise, da es schon nach Mitternacht ist und im Zimmer nur die kleine Schreibtischlampe brennt. Ihr warmes Licht fällt durch die Tür in den ansonsten dunklen Flur.

»Sie schläft.« Das ist alles, was Lexi sagt. Worüber auch immer sie und Hailee gesprochen haben, es bleibt ein Geheimnis zwischen den beiden. »Ich hole dir etwas Eis für dein Auge.« Sie schiebt sich an mir vorbei und ist fort, bevor ich mich bei ihr bedanken kann.

Auf der Fahrt ging es noch, doch jetzt merke ich, dass mein linkes Auge immer mehr wehtut. Wahrscheinlich hat es sich schon längst grün und blau verfärbt. Ich sollte es kühlen, um das Schlimmste zu verhindern, doch das ist zweitrangig. Jetzt will ich nur Hailee sehen und mich davon überzeugen, dass es ihr gut geht. Dass sie noch atmet.

Ich schüttle den Kopf, doch dieser Gedanke hält sich hartnäckig. Selbst dann noch, als ich das Zimmer betrete, die Tür hinter mir anlehne und ans Bett trete. Lexi hatte recht. Hailee liegt auf der Seite zusammengerollt unter der dünnen Bettdecke und schläft. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dastehe und zusehe, wie sich ihre Brust mit jedem Atemzug ganz leicht hebt und senkt. Aber nach allem, was geschehen ist, brauche ich diesen Moment. Ich muss mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Hailee noch da ist.

Hinter mir knarzt eine Diele. Meine Cousine steht in der Tür, hält mir ein Kühlpack, eine Packung Schmerztabletten und eine Flasche Wasser hin.

»Danke, Lex.«

Sie tut es mit einem Schulterzucken ab. Auch wenn sie es niemals zugeben würde, Lexi kümmert sich um die Menschen, die ihr wichtig sind, und tut alles dafür, dass es ihnen gut geht. Wahrscheinlich ist das der einzige Grund, weshalb sie beim sonntäglichen Brunch noch nicht explodiert ist, wenn es wieder mal darum ging, dass Josh und ich in die Firma einsteigen werden. Sie kennt uns beide gut genug, um zu wissen, dass sich keiner von uns freiwillig dafür entschieden hat.

Seufzend sehe ich zu Hailee zurück, dann deute ich Lexi an, mit mir nach draußen in den Flur zu kommen.

»Was ist los?«, fragt sie mit gesenkter Stimme. Die Tür ist weiterhin nur angelehnt, und keiner von uns will Hailee wecken. Aber um sie geht es gerade auch nicht, sondern um jemand anders. Um eine Wahrheit, die ich Lexi schuldig bin, auch wenn mein Bruder mir dafür vermutlich den Hals umdrehen wird.

Ich seufze tief. »Josh ist nicht auf Reisen, sondern in einer Entzugsklinik in der Nähe von Boston.«

»Was?! Du machst Witze, oder?«

»Glaub mir, ich wünschte, es wäre so.« Erschöpft lehne ich mich gegen die Wand und drücke mir das Kühlpack auf das linke Auge.

»Aber was … wie? Wie?«, wiederholt sie ungläubig. »Wie kann Mister Saubermann Josh in einer Entzugsklinik sein?«

Ich schnaube bei dem Spitznamen, weil sie damit nicht ganz unrecht hat. Ich war derjenige, der sich selbst und alle um ihn herum in Schwierigkeiten gebracht hat, Lexi war auf jede erdenkliche Art die Rebellin – und Josh? Josh war immer derjenige, der versucht hat, alles in Ordnung zu bringen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft er Lexi und mich gedeckt oder die Schuld für etwas auf sich genommen hat, das er gar nicht ausgefressen hatte, sondern wir. Von Großmutter Alexandras kostbarer Ming-Vase, die plötzlich in Scherben lag, bis hin zu unerlaubtem Graffiti auf dem Schulgelände.

»Ich schätze, wir kennen ihn nicht so gut, wie wir dachten«, murmle ich und starre auf die angelehnte Tür. »Jeder hat Geheimnisse.«

»Das weiß ich. Aber wie zum Teufel ist das passiert? Wann? Und wie, verdammt?«

Ich muss beinahe lachen angesichts ihrer Fassungslosigkeit, aber es fühlt sich so verflucht bitter an. »Da fragst du den Falschen. Ich hatte keine Ahnung, bis der Anruf aus der Notaufnahme kam. Überdosis«, füge ich mit einem kurzen Blick in ihre Richtung hinzu. Meine Stimme ist ruhiger und gefasster, als ich mich fühle. Allein bei der Erinnerung daran kommt alles wieder hoch: die Hilflosigkeit, das Unverständnis, die Wut. Die blanke Panik, weil wir ihn fast verloren hätten. Damals hätte ich ihn am liebsten durchgeschüttelt, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen, aber so einfach ist das nicht. So einfach ist es nie. »Er hat versprochen aufzuhören, aber er hat Schulden bei den falschen Leuten gemacht, ist wieder in die ganze Sache reingeschlittert und hat sich schließlich selbst eingewiesen.«

Lexi verschränkt die Arme vor der Brust. »Wie hoch sind die Schulden?«

»Hoch. Und er konnte sie nicht so einfach abbezahlen.« Das Eis in meiner Hand knistert, als ich das Kühlpack neu platziere.

»Darum die Kämpfe, oder? Und deswegen meldet er sich nie bei mir oder seinen Eltern?«

Ich nicke.

»Scheiße, Chase.« Lexi läuft vor dem Zimmer auf und ab. Aus dem Diner unter uns ertönen gedämpfte Geräusche: das Klappern von Geschirr. Schritte. Stimmen. Musik aus der Küche. »Warum habt ihr nichts gesagt?«

»Weil es nichts ändern würde. Außerdem musste ich Josh versprechen, den Mund zu halten. Er wollte weder dich noch sonst jemanden in die Sache reinziehen.«

Lexi wirbelt zu mir herum. »Aber dich schon, oder wie?«

Ich zucke nur mit den Schultern.