FM4 Wortlaut 23. Scharf - Stefan Baier - E-Book

FM4 Wortlaut 23. Scharf E-Book

Stefan Baier

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Beschreibung

Wortlaut, der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb, startet wieder und heuer wird das "scharf". Von der scharfen Person zum scharfen Chilli, von scharfen Krallen zum scharfen Messer, vom scharfen Verstand zum scharfen Wind, vom scharfen Hund zum scharfen Gestank, vom scharfen Foto zum scharfen Blick. Von der Politik, in der ständig etwas "aufs Schärfste" abgelehnt wird, zu Ibiza. FM4 bietet allen Schreibenden die Chance, sich in kurzer Form literarisch über das Thema "SCHARF" auszulassen. Die redaktionelle Vorjury wählt aus den cirka 600 Einreichungen 20 Texte aus, die anonymisiert an die hochkarätige Jury weitergegeben werden. Diese kürt dann die Gewinner*innen, die zehn besten Beiträge schaffen es in die Anthologie FM4 Wortlaut 23. SCHARF. Und scharf auf die Kurzgeschichten ist auch die Jury: Didi Drobna (Schriftstellerin) Elias Hirschl (Autor und Musiker) Anna Mabo (Musikerin und Regisseurin) Eva Scheidweiler (Gewinnerin Wortlaut 2022) Michael Stavarič (Autor und Übersetzer)

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Seitenzahl: 150

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luftschacht

WORTLAUT 23. SCHARF

Der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb. Die besten Texte.

Herausgegeben vonZita Bereuter & Claudia Czesch

Luftschacht Verlag

© Luftschacht Verlag – Wien 2023

luftschacht.com

Einzelrechte © jeweils bei den Autor*innen

Herausgegeben von Zita Bereuter und Claudia Czesch.

Die Wahl der angewendeten Rechtschreibung obliegt dem/der jeweiligen Autor*in. Layout- und Formatvorgaben der einzelnen Texte wurden in der Regel beibehalten.

Covergestaltung: Tessa Sima – tessasima.at

Korrektorat: Raffael Leitner

Satz: Luftschacht, gesetzt aus der Metric und der Noe

Druck und Herstellung: druck.at

Gefördert von der Stadt Wien Kultur.

ISBN: 978-3-903422-38-4

ISBN E-Book: 978-3-903422-44-5

Inhalt

VORWORT HERAUSGEBERINNEN

Zita Bereuter, Claudia Czesch

„Mit dem Wortlaut fing alles an“

PLATZ 1

Janett Lederer

Tigerbalsam ist mein safe place, weil da riecht es zumindest frisch

PLATZ 2

Nikolai Köhle

Abinseln

PLATZ 3

Elisa Past

Fangirling über den Typen vom Edeka Pfandflaschenautomaten

PLATZ 4 (in alphabetischer Reihenfolge)

Stefan Baier

Liebe lieber modern

Ekaterina Heider

Die Tage mit Steffi

Martin Peichl

Von der Angst, die menschliche Sprache zu vergessen

Mario Petuzzi

Messer, Gabel, Schere, Licht

Barbara Pfeiffer

Jalapeño-Hitze

Lorena Pircher

Zungen

Mario Schemmerl

Der bessere Ort

DIE HERAUSGEBERINNEN

Zita Bereuter, Claudia Czesch

„Mit dem Wortlaut fing alles an“

Es ist ein schönes Gefühl, wenn eine Idee aufgeht. Wenn sich ein Projekt genau so entwickelt, wie man sich das ursprünglich nicht nur vorgestellt, sondern erträumt hat.

Wortlaut, der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb, wollte immer eine Plattform für Nachwuchsautor:innen sein. Eine Art Sprungbrett sein. Ihnen eine erste Öffentlichkeit bieten. Dass das gelungen ist, hat das Jahr 2023 mehrfach gezeigt.

„Mit dem Wortlaut fing alles an“, erklärt Marcus Fischer. 2015 schrieb er bei Wortlaut den besten Text. „Für mich war der Preis ja wirklich eine Initialzündung, ich weiß nicht, ob ich ohne diese Bestätigung durchgehalten hätte“, meint er 2023, nachdem er mit seinem Debütroman Die Rotte den Rauriser Literaturpreis gewonnen hat.

„Ja, tatsächlich war Wortlaut so der Einstieg in die Literaturszene“, sagt Anna Felnhofer. 2018 war sie unter den besten Zehn. Das habe ihr „einen Riesen-Boost gegeben für das weitere Schreiben.“ Beim Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis wurde die Psychologin und Schriftstellerin im Sommer 2023 mit dem Deutschlandfunkpreis ausgezeichnet. (Ein Punkt nur fehlt ihr auf den Bachmannpreis.)

Ebenfalls beim Wettlesen um den Bachmannpreis mit dabei ist Mario Wurmitzer. „Wortlaut war auch wichtig.“ Er war 2013 und 2016 unter den „Großen Zehn“. An Wortlaut war für ihn wichtig, „dass auch Aufmerksamkeit für literarische Texte erzeugt wird. Und dass man bestärkt wird im eigenen Schreiben.“

Luca Kieser überzeugte vor zwei Jahren die Jury mit seiner Kurzgeschichte Chemie. Damals schrieb er bereits an einem Roman. Der Wortlautgewinn war für das Weiterschreiben bedeutend. „Weil das war ganz schön motivierend. Ich habe sehr viel schneller zu Ende geschrieben, als ich gedacht hätte. Die erste Rohfassung des Manuskripts war dann schon so im Frühjahr 2022, also drei, vier Monate später, fertig.“ Sein Debütroman Weil da war etwas im Wasser kam auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis – also für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres.

2023 ist Didi Drobna in der Wortlautjury. Mit Anfang Zwanzig fängt sie an zu schreiben und schickt ihre Kurzgeschichten bei Wortlaut ein. „Das war ein paar Jahre hintereinander immer ein Fixpunkt meiner eigenen produktiven Schreiberei.“ Bei ihrer dritten Teilnahme, 2012, gewinnt Didi Drobna den 3. Platz.

„Ich kann es gar nicht in Worten ausdrücken, wie wichtig und wegbereitend das für mich war. Wofür ich den FM4 Wortlaut Literaturwettbewerb immer geschätzt habe, war, dass er ein bisschen abseits dieses regulären, leicht verstaubten Literaturbetriebs sehr ernsthaft über Literatur diskutiert hat, aber auch sehr offen und zugänglich und sehr divers war. Das fand ich immer großartig und das zeigt sich auch zum Beispiel daran, dass wirklich jedes Jahr viele Leute ins Finale kommen – und unter die Top 20 oder sogar unter die Top zehn oder auch vielleicht unter die ersten drei Plätze –, die noch nie vorher etwas veröffentlicht haben. Und das, finde ich, zeichnet dann FM4 Wortlaut massiv aus und zeigt, wie durchlässig er ist und wie offen die Jury ist für neue Ideen, für neue Schreiberei. Das ist, finde ich, einzigartig im deutschsprachigen Raum.“ Das finden wir auch. Und damit hoffen wir, dass wir von einigen in dieser Anthologie versammelten Autor:innen noch viel lesen und hören werden.

„Okay But No“

Rund 600 Texte zum Thema „scharf“ erreichten Wortlaut, den FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb. Herzlichen Dank an dieser Stelle allen teilnehmenden Autorinnen und Autoren!

Alle Einsendungen wurden mehrfach gelesen, kommentiert, weitergereicht. Diese enorme Lesearbeit erledigt die redaktionelle Vorjury. Heuer waren das die FM4-Redakteur:innen Jenny Blochberger, Barbara Köppel, Conny Lee, Maria Motter, David Pfister, Lena Raffetseder, David Riegler, Lisa Schneider und Simon Welebil, Jürgen Lagger vom Luftschacht Verlag sowie die beiden Herausgeberinnen Zita Bereuter und Claudia Czesch. Es waren „scharfe“ Lesestunden. Und das lag nicht an den zugegeben häufigen Texten über Chilis und scharfe rote Kleider … Letztlich konnte sich die Vorjury auf zwanzig Texte für die Longlist einigen. Aus diesen hat dann die Jury die besten zehn Kurzgeschichten ausgewählt – die sind in diesem Buch gesammelt.

In der Jury waren heuer Didi Drobna (Schriftstellerin), Elias Hirschl (Autor und Musiker), Anna Mabo (Musikerin und Regisseurin), Eva Scheidweiler (Gewinnerin Wortlaut 2022) und Michael Stavaric (Autor und Übersetzer). Sie alle haben ohne Honorar ihre Zeit und Engagement in das mehrfache Lesen der Texte und in die Jurysitzung gesteckt und das, obwohl sie in dieser Zeit viele andere Projekte und Aufträge hatten. Hier ein kleiner Einblick in das Schaffen der Jury:

Didi Drobna leitet hauptberuflich die Wissenschaftskommunikation für ein Informatik-Forschungszentrum in Wien. 2023 erhält sie den Förderungspreis der Stadt Wien für Kultur und Wissenschaft.

Elias Hirschl ist 2023 Stadtschreiber in Klagenfurt (nachdem er 2022 beim Wettlesen um den Bachmannpreis den Publikumspreis gewonnen hat), daneben schreibt er für eine Performance für das Volkstheater Wien quasi alle Texte dort ab („Das Volkstheater abschreiben“) und schafft ein Musical über Bodenbeläge – ja, richtig gelesen. Daneben viele Auftritte mit seiner Band „Ein Gespenst“. Außerdem schreibt er an seinem neuen Roman, der im Jänner 2024 erscheint.

Anna Mabo führt im Frühjahr 2023 am Volkstheater in München Regie bei europa flieht nach europa, im Sommer kuratiert sie das Popfest in Wien und ihr drittes Album Danke, gut erscheint. Auch das verbunden mit vielen Auftritten.

Eva Scheidweiler ist selbständige Grafikerin und schreibt, motiviert durch den Wortlautgewinn im Vorjahr, jetzt mehr. „Schreiben ist fast zu einem täglichen oder zweitäglichen Begleiter geworden und da hat der Wortlaut einen Riesenanteil dran oder eigentlich den Hauptanteil.“

Michael Stavaric veröffentlicht 2023 gleich vier Bücher in unterschiedlichen Genres. Der Roman Das Phantom, das Kindersachbuch Faszination Qualle und das Weihnachtsbuch für Naturfreaks – Tierisch wilde Weihnachten sowie den Gedichtband Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit. Am dritten Band seiner erfolgreichen Kindersachbuchserie über das Leben im Meer schreibt er aktuell – Faszination Haie erscheint im Februar 2024.

Kurzum – die Jury ist vielbeschäftigt und hat viel zu tun und kam dennoch bestens vorbereitet zur Sitzung. „Okay But No“ stand nicht zufällig auf dem T-Shirt von Didi Drobna. Alle zwanzig Kurzgeschichten wurden besprochen. Bei einigen wenigen war die Diskussion eher kurz, häufig waren die Meinungen und Wertungen unterschiedlich. Freundlich und respektvoll konnte sich die Jury schließlich auf die vorliegenden Texte einigen. Bei Platz 3 imponierte etwa „eine obsessiv gedankliche Achterbahn mit Sprachoriginalität auf metaphorischer Ebene“, Platz 2 „verbindet auf wirklich sehr minimalistische Weise Liebe und Tod, ganz riesige Themen und kommt ohne viel übermäßige Erklärungen aus.“ Bei Platz 1 lobte die Jury den Humor. „Eine Geschichte, die mich maximal gut unterhalten und amüsiert hat.“

In diesem Sinn danken wir der Jury und wünschen viel Freude bei der Lektüre.

Die Herausgeberinnen

Zita Bereuter und Claudia Czesch

Portraits zur Jury und alle Info zu Wortlaut, dem FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb sind auf fm4.orf.at/Wortlaut

Tigerbalsam ist mein safe place, weil da riecht es zumindest frisch

Janett Lederer

Foto: Privat

* 1989 mit deutsch-ungarischer Staatsbürgerschaft in Passau. Nach einem Drehbuch-Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg lebt sie mittlerweile in Berlin und schlägt sich als unverfilmte Drehbuchautorin, Redakteurin für Reality-Shows und Kellnerin durch.

Es ist 19 Uhr 30 und zu dieser Jahreszeit muss ich noch fast zwei Stunden mit einer zeitschindenden Aktivität verbringen, bevor ich ins Bett gehen kann. Draußen sitzen sie auf den Balkonen zusammen und lachen. Man geht nur vor Sonnenuntergang ins Bett, wenn man krank ist, oder lebensmüde. Ich würde mich eher als tagesmüde begreifen. An sich habe ich nichts gegen das Leben, wir beide haben uns in letzter Zeit eben nur nicht so viel zu sagen. Ähnlich einer Wohngemeinschaft, in der Zimmer separat vermietet werden und man sich dann aus Versehen in der Küche trifft, weil sich die Kochzeiten unangenehmerweise überschnitten haben und man aus Versehen schon mit seinen Einkäufen die Küche betritt, während der andere schon Zwiebeln schneidet und man dann nicht mehr rauskommt aus der Nummer und dann ganz froh ist, wenn einer auf die Idee kommt über den intermittierenden Smalltalk einen Podcast über wissenschaftliche Mythen oder so laufen zu lassen. Dann kann man ab und zu sowas sagen wie: „Irre, dass Spinat gar nicht so viel Eisen hat. Haha, dann hatte Popeye wohl unrecht.“ Das „Haha“ wird natürlich auch ausgesprochen, weil das alles so unangenehm ist, dass das Zwerchfell zu blockiert ist, um ein echtes Lachen zuzulassen. Ob es trotzdem eine gute Idee war, allein in eine Zweizimmerwohnung in eine Stadt zu ziehen, in der ich niemanden kenne und zusätzlich dazu auch Podcasts nicht zu mögen, scheint mir mittlerweile fragwürdig. Ich dachte, so macht man das, wenn man beschließt „sich selbst allein genug zu sein.“ Ich rufe dafür täglich meine Mutter an, die mein einziger Sozialkontakt ist neben eingeübten Dialogen beim Einkaufen und dem Durchscrollen der Profilbilder von WhatsApp und Telegram, um zu sehen, ob jemand sein Profilbild gewechselt hat, aber ich denke nicht, dass das gilt. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich nicht trinken will und ich will mich nicht nüchtern mit Leuten treffen, mit denen ich nicht schlafen will, und Leute, mit denen ich schlafen will, kann ich nur nicht nüchtern kennenlernen, also treffe ich mich lieber mit niemanden. Es fragt sowieso niemand, weil alle mit dem Sommer beschäftigt sind. Meine Mutter sagt, ich soll doch einfach mal ein Glas am Abend trinken, das würde die Stimmung heben. Ich öffne also ein glutenfreies Biobier, das ich mir mit dem Gedanken gekauft habe, dass es in Ordnung sei, sowas alleine zu trinken, weil es so vernünftig scheint. Ich dachte wahrscheinlich, dass selbst, wenn ich es mir finanziell leisten könnte jeden Tag zwei Kästen davon zu trinken, dass es ein freundlicheres, gesünderes Bild ausstrahlen würde, von leeren Flaschen glutenfreiem Biobier umgeben zu sein, als von leeren Bierdosen. Vielleicht auch, weil Dosen derartig eindellen, wenn man sich bewusstlos über sie rollt, dass es schwierig wird sie am Pfandautomaten einlesen zu lassen. „Sich allein mit glutenfreiem Biobier zu besaufen“ – hallt in meinem Kopf wider wie eine gängige Redewendung, die sogar in einer Ausgabe von der Geolino mal erklärt worden sein könnte. „Das heißt so viel, wie dass jemand weiß, dass er schon ein Versager ist, sich aber nicht völlig gehen lässt und auf die Umwelt achtet und die Gesundheit, weil er noch etwas Hoffnung hat, dass es besser werden könnte, obwohl es eigentlich aussichtslos ist.“ Wenn ich sonst über Hoffnung nachgedacht hab, hab ich den Phantomschmerz nicht ausgehalten und den Fernseher eingeschalten, aber ich habe ihn für 80 € verkauft, weil ich dachte, er lenkt mich ab von meinem Leben. Weiß irgendwie nicht mehr genau, was ich damit meinte, vielleicht, dass mir alles andere als Nachmittagsfernsehen bei VOX egal war. Ich schäme mich und rauche dabei, weil das Bier trinken sonst sinnlos wäre, obwohl mein Zwerchfell zu eingeschnappt ist, um mich richtig atmen zu lassen – geschweige denn lachen. Vielleicht bin ich der kochende podcasthörende Zweckmitbewohner in mir selbst, sinniere ich und merke froh, dass das Bier sanft anfängt zu wirken, obwohl es glutenfrei ist. Zwischendrin nehme ich einen Zug aus dem Inhalator, aber ich rauche lieber wieder, das scheint meinem Zwerchfell besser zu gefallen. Ich überlege wieder nach Berlin zu ziehen, meine Mutter sagt, dass ich dann darauf achten müsse, dass die Sonne reinscheint in die Wohnung, sonst wäre ich wieder traurig. Meine Mutter denkt, dass allein mit einem Glas Wein und Sonne keine Traurigkeit in meinem Leben herrschen könnte. Zumindest zucke ich jetzt nicht mehr über jedes Lachen zusammen, das in meine Küche dringt und das, obwohl Mittwochabend ist. Heutzutage lachen sie auch unter der Woche. Ich schaue nicht aus dem Fenster, ich bin ja auch kein Masochist. Stattdessen lache ich lieber zynisch mit, davon bekomme ich aber Magenschmerzen, am Bier kann es ja nicht liegen, weil glutenfrei. Vielleicht liegt es auch an dem Tigerbalsam, den ich mir auf meine Lippen schmiere, weil es so schön brennt. Seit einigen Monaten kann ich ohne Tigerbalsam nicht mehr leben, weil es mich atmen lässt. Nicht metaphorisch gesehen. Ich frage mich, ob ich eigentlich gerade einen Herzinfarkt habe und bin froh, dass meine Mutter konditioniert ist, täglich von mir angerufen zu werden, so werde ich nicht verwesen in der Wohnung zum spätsommerlichen Lachen anderer. Zuverlässig beginnt mein Herz schneller zu schlagen, vielleicht um zu beweisen, wie fit und voller Vitalität es noch ist, ich zünde eine neue Zigarette zu dem letzten Drittel Bier in der Flasche an und muss an meinen Großonkel Lajos mit dem Herzschrittmacher denken. Als er nach der Narkose aufgewacht war und sein optimiertes Herz zuverlässig schlagen hörte, war er zunächst beruhigt, dass er noch lebte. Nach weiteren Minuten fiel ihm auf, dass sein Herz nicht synchron im Takt zum Sekundenzeiger war. Er hielt also die Luft an, dann atmete er schnell, dann wiederum langsamer, dann hustete er, dann trank er etwas Wasser, aber der Herzschlag und die Uhr näherten sich einander nicht an. Und ansonsten gab es auch keine anderen Unterhaltungsangebote in dem Krankenzimmer, abgesehen von der Uhr; die anderen drei Patienten schliefen. Also stand Lajos auf und sprang aus dem Fenster.

Die Ärztin, die ihm den Herzschrittmacher eingesetzt hatte, fand ihn dann, er hatte sich nur das Bein gebrochen, weil es lediglich der zweite Stock gewesen war, aus dem er sich gestürzt hatte, aber sie schrie ihn trotzdem an, weil sie es unverschämt fand, dass er ihre Arbeit nicht respektierte und sich stattdessen aus dem Fenster stürzte, weil warum auch, zum Teufel, dann hätte sie sich die Operation auch sparen können. Und Lajos antwortete:

„Das Ticktick vom Herz und das Ticktack der Zeit kommen nicht zusammen. Wie soll man den Scheiß aushalten?“

Keiner wusste damals was er meinte, und man sagte sich, dass es an der Narkose gelegen haben muss. Lajos lebte noch dreißig Jahre danach und beschwerte sich nicht mehr; ich glaube ich weiß was er meinte.

„So ist das mit mir und der Liebe.“, hätte ich ihm gesagt, wenn wir uns mal getroffen hätten, aber er starb vor mir, man sagt aus Kummer, weil sein ältester Sohn sich erhängt hatte am Tag der Hochzeit seiner ersten Liebe, die seinen älteren Bruder gewählt hatte.

Es ist 20 Uhr 30. Immerhin. Ich habe das zweite Bier aufgemacht, nachdem ich die leere Puppenhülle am Rand des Einweckglasdeckels betrachtet habe und dreimal hintereinander in dem Duktus meines untalentierten 16-jährigen Theater-AG-Ichs denke: „Auch Du hast mich verlassen!“ indem ich abwechselnd zuerst das „auch“, dann das „Du“ und dann das „verlassen“ betone und dann verärgert bemerke, dass mein innerer Puppenhüllenmonolog1 wieder vom Lachen von beisammensitzenden Leuten unterbrochen wird. Umso mehr kann ich mich daraufhin in mein Verlassenwerden von der von mir handaufgezogenen Raupe reinsteigern, die ich in einem Lidl-Brokkoli fand und daraufhin in ein leeres Marmeladenglas zur Pubertät brachte und sowas wie Mutterstolz spürte und mir romantisch vorstellte, wie ich den frischgeschlüpften kleinen Kohlweißling sanft auf meine Fingerkuppe setzen würde und nach Worten wie „Gute Reise, mein Freund!“ in die Freiheit entlassen würde. Natürlich schlüpfte er, als ich meinem sogenannten App-Date im Laufe der Nacht einen Kamillentee kochen musste, weil er plötzlich Magenkrämpfe bekam, als wir schon nackt nebeneinander lagen. Er wollte meinen Tigerbalsam nicht, den ich ihm auf die Bauchgegend schmieren wollte. Es sei ihm zu scharf. Ich wusste nicht, ob er sexuell oder olfaktorisch meinte. Vielleicht war es auch in der Nacht, als ich mit dem Typen schlief, der zu alt war, um solchen HipHop wie KIZ zu mögen und mir empfahl, den Satisfyer zu kaufen, weil ich ihm erzählt hatte, dass ich ein Masturbationslegastheniker sei. Er hatte ihn auch damals seiner Freundin geschenkt.

Als dann auch noch der Kohlweißling einfach so abgehauen war, glaubte ich nicht mehr daran, dass ich geliebt werden könnte und habe deshalb gelernt allein zu schlafen. Das geht gut mit Wärmeflasche und Baldriantabletten. Aber wenn ich morgens aufwache mit der kalten Wärmeflasche im Arm und Sabber auf meinem Kopfkissen, kann ich mich einfühlen, wie es sein muss in einer lieblosen Ehe gefangen zu sein. Der Tigerbalsam hilft zumindest gegen den abgestandenen Geruch. Man will morgens mit jemand anderen aufwachen. Ich sollte einen Hund adoptieren und hoffen, dass er mich gernhat. Leider verbietet mir das mein Mietvertrag. Also beschließe ich wirklich umzuziehen. Mir fällt auf, dass die einzige Konstante in meinem Leben mein Konto bei der Sparkasse ist, das ich habe, seit ich zwölf bin. Ich habe nie die Bank gewechselt, obwohl sie mir als Einzige kein Handtuch mit meinem Namen eingestickt zur Firmung geschenkt haben, das haben nur die Konfirmanden bekommen; entweder sie hatten was gegen Katholiken oder gegen mich. Kann ich auch irgendwie beides nachvollziehen.

21 Uhr 30. Ich bereue, dass ich nur zwei Bier gekauft habe und finde im Regal eine Piccoloflasche Sekt, die mir mein ehemaliger Zweckmitbewohner zum Geburtstag dagelassen hat. Ich dachte, Piccoloflaschen verschenkt man nicht, sondern trinkt sie in der S-Bahn auf dem Weg zum Berghain, aber der Zweckmitbewohner wird schon wissen was er tut, immerhin ist er Arzt. Es hängt eine kleine Grußkarte daran, auf der steht, dass 1 Milliarde Sekunden 31,8 Jahre entspricht. Ich werde also am 7. Dezember 1 Milliarde Sekunden alt, laut der Grußkarte, die ich etwas fragwürdig finde, aber er ist Arzt, er wird schon wissen was er tut. Meine Mutter hatte mir vorgeworfen, dass ich nicht mal versucht hätte ihn kennenzulernen, vielleicht wäre das was geworden, immerhin sei er Arzt. Ich hebe die Piccoloflasche