Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die junge Rechtsanwältin Ella wird beauftragt, den tragischen Tod einer nach Schönheitsoperationen süchtigen Patientin zu untersuchen, den die Staatsanwaltschaft als Unglücksfall einstuft. Schnell entwickelt sich der Fall zur lebensgefährlichen Bedrohung, als Ella und ihr Team einem erbarmungslosen Kosmetikkonzern in die Quere kommen, der ein neues gen-therapeutisches Medikament entwickelt, welches dem Konzern ein Milliardengeschäft und der Menschheit ewige Jugend und Faltenfreiheit verspricht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Betty Hugo
For ever young
Ella ermittelt
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Impressum neobooks
Die Leiche schien vollkommen unversehrt. Wenn es hier doch nur nicht so verdammt kalt wäre, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Finger wurden schon steif vor Kälte, da wärmten auch die leuchtend blauen Nitrilhandschuhe nicht, die sie übergestreift hatte. Auf was für eine dämliche Aktion hatte sie sich hier nur eingelassen.
Verstohlen um sich blickend, nestelte sie nervös und übervorsichtig am gerüschten Totenhemd der Leiche herum. Sie konnte weder verräterische Male am faltigen Hals der Toten entdecken, noch einen Y-Schnitt am Brustkorb, der auf eine Leichenöffnung schließen ließe. Nichts, absolut nichts, schien in irgendeiner Weise verdächtig zu sein.
Sie kam sich irgendwie albern vor. Ehrlich gesagt, sie kam sich so albern vor, wie noch nie in ihrem Leben. Der Impuls möglichst schnell das Weite zu suchen wurde übermächtig.
Plötzlich durchfuhr sie ein unangenehmes Frösteln. War es wirklich dermaßen saukalt hier oder war es eher die morbide Atmosphäre des Todes, die die Temperatur auf den Gefrierpunkt brachte? Inzwischen war sie endgültig bedient!
Sie streifte die Handschuhe ab und warf sie in einen diskret in der Zimmerecke stehenden Abfalleimer, der von verheulten Papiertaschentüchern überquoll und verließ den „Raum des Abschieds”. Ohne sich nochmals umzudrehen, eilte sie in die vorderen Geschäftsräume. Eine dünne, blasse Gestalt in schwarzem Anzug glitt lautlos auf sie zu und fragte mit professioneller Trauermiene:
„Haben wir alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt? Entspricht alles ihren Vorstellungen?”
Erschrocken zuckte sie zusammen - abwesend blickte sie den Bestatter an und nickte.
„Es ist soweit alles in Ordnung, bitte achten sie auf frischen Blumenschmuck bei der Trauerfeier.”
„Selbstverständlich, gnädige Frau", säuselte er in aufgesetzt mitfühlendem Ton, der Berufskrankheit aller Bestatter. „Stets zu ihren Diensten.”
Er schlich sich so lautlos davon, wie er gekommen war.
Plötzlich verursachte ihr die Atmosphäre Übelkeit.
Den schweren, süßlichen Duft der Lilien, vermischt mit Weihrauch und mehr als einem Hauch Desinfektionsmittel, vermochte sie keine Sekunde länger zu ertragen. Auch die lange, dürre Gestalt mit dem totenblassen Gesicht und dem schwarzen, pomadisierten Haar schien eher einem Vampirroman entsprungen, als dem normalen Leben. Erneut überkam sie eine Welle der Übelkeit.
Hastig stürzte sie zur Ladentür, hinaus auf die Straße und hielt nach einem Abfallbehälter der Berliner Stadtreinigung Ausschau. Diese Orangen dreckigen Dinger waren zwar meistens nicht zu finden, wenn man sie am Dringensten brauchte, aber
ein paar Meter die Straße runter erspähte sie das rettende Teil.
Sie legte einen Sprint hin, wie zum letzten Mal in der zehnten Klasse beim Sportabzeichen, nur dass sie damals keine High Heels getragen hatte. Sie kotzte so geräuscharm und diskret hinein, wie es ihr möglich war, nur ihre cremefarbene Seidenbluse bekam ein paar winzige Spritzer ab.
Erschöpft ließ sie sich auf eine Parkbank in der Nähe fallen. „Puh, das ist gerade noch mal gut gegangen!“, der Stoßseufzer kam ihr unwillkürlich über die Lippen. Keine Passanten in unmittelbarer Nähe. Dankbar schnappte sie nach Luft und ließ die frische Sommerbrise durch ihre Lungen strömen.
„Die Idioten von der Arbeitsagentur haben uns jemanden geschickt! Aus dem Spezial Vermittlungsprogramm für Syrische Geflüchtete zur beschleunigten Integration ins Arbeitsleben der Bundesrepublik.”
Die Stimme aus dem Telefonhörer schraubte sich höher und höher, bis sie in einem heiseren Gurgeln endete.
Ella hatte das Handy mit der Schulter ans Ohr geklemmt und drückte ihr Gesicht ins Kopfkissen.
Das grelle Morgenlicht, das durch die Jalousien blinzelte war einfach nicht zu ertragen für ihre verquollenen Augen.
Die Sonnenstrahlen bohrten sich förmlich in ihr Gehirn, welches um diese frühe Stunde noch nicht aufs Denken programmiert war. Sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und gleichzeitig die Stimme am anderen Ende der Verbindung zu beruhigen.
„Ich will mir keine teure Renokraft leisten. Unser Büro kann noch kein hohes Gehalt zahlen, wir müssen nehmen, was uns angeboten wird.”, krächzte sie in den Hörer.
„Von wo aus rufst du überhaupt an?”
„Aus dem Büro natürlich, allerdings mit meinem Handy. Als Angestellte kann ich mir Unpünktlichkeit nicht leisten. Du als Chefin kannst natürlich ausschlafen.”, meckerte die Stimme weiter.
„Ich komme so schnell ich kann, die Nacht war kurz.” Vor dem Wegdrücken der Verbindung fiel ihr noch ein zu fragen, „Wo ist er oder sie denn?”
„Schon hier im Büro aufgelaufen. Die Deppen von der Arbeitsagentur haben ihr einen Zettel mit unserer Adresse gleich in die Hand gedrückt!”, meldete ihre Mitarbeiterin.
Für ein paar Sekunden ließ sie sich in die weichen Kissen zurückfallen und starrte an die Decke ihres Schlafzimmers. Die vergangene Nacht war echt anstrengend gewesen, sie hatten eine rauschende Abschiedsparty gefeiert und sie war erst in den frühen Morgenstunden im Bett gelandet. Prompt rächte sich das an diesem Morgen, der entsprechend chaotisch anfing.
Mist, ihr Erinnerungsvermögen war beeinträchtig, ihr fiel auf Anhieb nicht so genau und im Detail ein, was sie letzte Nacht gemacht hatte!
Sie ließ ihren Blick im Schlafzimmer umherschweifen, vielleicht ergaben sich daraus Anhaltspunkte, die ihre Amnesie erklärten. O.K., es sah irgendwie ein wenig wild aus, deutlich unordentlicher als sonst. Ein Kleiderhaufen lag auf den Bodendielen, sie inspizierte ihn gründlich mit den Augen. Definitiv keine fremden Klamotten, nur ihr pailettenbesetztes Cocktailkleid, etwas Seidenunterwäsche von Agent Provocateur und ihre heißesten Pumps aus dem Schuhschrank, irgendein angesagtes italienisches Label, Lackleder, schwindelerregende Absätze. Das ließ irgendwie Rückschlüsse auf eine heftige Party zu. Halb unter dem Bett verborgen kullerte eine leere Champagnerflasche herum. Ella hob die Flasche an, wer hatte den Veuve Cliquot bloß geblecht? Sie oder er?
Aber der einzige sichtbare Beweis für seine nächtliche Anwesenheit, der zurückgeblieben war, war die einsame schwarze Herrensocke im Blumentopf.
„Wie ist die da bloß hingekommen?“, sinnierte Ella.
Sie angelte nach ihrem Wecker, der unter dem Bett stand. Erschrocken fuhr sie auf, „Was, schon 8:00 Uhr?“ Für langes Duschen und Schminken blieb keine Zeit. Der Blick in den Badezimmerspiegel offenbarte wild abstehende Haare und ein müdes Gesicht. Offensichtlich hatte sie jetzt das Alter erlangt, in dem sich mangelnder Schlaf rächte, dabei war sie doch erst Anfang Dreißig, na ja, nicht mehr ganz, sie neigte jetzt schon zur Schönfärberei was ihr Alter betraf.
Ella beeilte sich im Bad und brachte ihr Gesicht mit dieser erst kürzlich erstandenen wunderbaren und auch irrsinnig teuren Gesichtsmaske in Form, die sie extra für solche Zwecke in einer teuren Parfümerie erworben hatte. Die Verkäuferin dort sah super gut aus und Ella hatte ihr glatt geglaubt, als sie die Cremeampullen mit dem Spruch anpries: „Der neueste Schrei auf dem Kosmetikmarkt!“
Nun, jetzt hatte sie den Ernstfall und das Zeug schien zu wirken. Als Make up musste heute ein Lippenstift reichen. Der war ebenfalls brandneu und stammte von selbiger Verkäuferin. Sie hatte den Roseton des Lippenstifts als Allzweckwaffe im Kosmetikschrank gelobt, da musste Ella einfach zugreifen. Allzweckwaffen konnte sie jederzeit gebrauchen! Sie betrat den Schönheitstempel eher selten, nur wenn sie wirklich etwas brauchte. Ihr persönliches Problem: sie mutierte dort grundsätzlich zur Wachspuppe in den Händen der Verkäuferinnen.
Ella baute sich vor ihrem Kleiderschrank auf und riss die Türen auf. Mit geübtem Blick musterte sie den Inhalt und angelte dann ihr Bürokostüm aus dem Schrank. Währenddessen lief der Espresso durch die vollautomatische Maschine. (Superleichte Bedienung - auch für Technikidioten). Mit der Tasse in der einen Hand, das Gebräu in hastigen kleinen Schlückchen genießend, suchte sie mit der freien Hand hastig ihre Sachen zusammen: Umhängetasche, Schlüsselbund und ihre allerneusten Pumps, in die sie sich neulich im Internetshop verliebt hatte. Währenddessen verkündete der Nachrichtensprecher auf Inforadio einen weiteren sonnigen und trockenen Tag.
Im Hinausgehen warf sie einen rundum Blick durch die Wohnung und seufzte laut, die Bude sah einfach unmöglich aus. Der Wäschekorb im Bad quoll über, die Staubflusen tanzten auf den schwarz-weißen Fliesen im Sonnenlicht, die Spinnweben hingen an den Stuckverzierungen der hohen Decken. Die Spinnen brauchten halt auch ihren Lebensraum, fiel ihr als lahme Ausrede noch ein. Der Kühlschrank war gähnend leer, abgesehen von einer Notration pappiger Tiefkühlpizza und einer Packung Käse. Ganz zu schweigen von dem dreckigen Geschirr, das sich in der Küchenspüle stapelte und nur die mikroskopisch kleinen Lebewesen erfreute, die sich dort tummelten und die Woche hatte gerade erst begonnen. Kommendes Wochenende, kommendes Wochenende schwor sie sich, würde sie aufräumen, ach was, einen Großputz würde sie veranstalten.
Die schwere Holztür fiel hinter ihr ins Schloss. Auf dem Weg nach unten begegnete sie nur ihrem uralten Nachbarn, der just in dem Moment, als sie seine Wohnungstür passierte, seinen Rollator geschützartig in den Treppenhausflur katapultierte. In letzter Sekunde verhinderte sie einen Zusammenstoß, der garantiert die Spitzen ihrer neuen Pumps ruiniert hätte. Ella flitzte mit einem schnellen Gruß an ihm vorbei, ehe er sie mit seiner üblichen langweiligen Klage über die Zustände in der Welt aufhalten konnte.
Sie überlegte kurz, ob sie es wagen sollte, ihren Mini durch den Stadtverkehr zu steuern, entschied sich aber für die U-Bahn, die war einfach schneller. Nach einer gefühlten Rekordzeit von nur 35 Minuten durch das allmorgendliche Berliner Verkehrschaos landete sie in ihrem Büro.
Ruth kam ihr schon entgegen, ehe Ella ganz die Tür aufgeschlossen hatte. Ihre von Natur aus schon lockigen Haare umwehten ihr Gesicht noch wilder als sonst und ihr schreiend buntes Sommerkleid stach in die Augen. Allen modischen Erziehungsversuchen zum Trotz, kleidete Ruth sich weiterhin äußerst farbenfroh. Atemlos verkündete ihre Mitarbeiterin,
„Die Bewerberin sitzt im Wartezimmer. Da haben wir uns was eingebrockt!”
Ella starrte sie verständnislos an.
”Wo liegt das Problem? Wir brauchen dringend eine neue Mitarbeiterin, du hast dich doch immer über das hohe Arbeitspensum beschwert!”
„Kümmere dich selbst drum, ich hab zu tun”, blaffte Ruth nur und rauschte zu ihrem Schreibtisch.
Ella holte einmal tief Luft, straffte den Rücken und zog den Bauch ein - wieso hatte sie diese komische Angewohnheit nur - und öffnete die Tür zum Wartezimmer.
Das Zimmer war gähnend leer, die Stühle standen in Reih und Glied, die Zeitschriften akkurat auf einem Stapel, die große Zimmerpalme staubig und vertrocknet wie die Sahara. Die Bildzeitung lag zerknittert auf einem Sessel und die riesigen Lettern der heutigen Schlagzeile schrieen ihr förmlich entgegen: „Grausamer Mord an Obdachlosem, Ritualmörder treibt sein Unwesen in Berlin“.
Nur in der hintersten Ecke saß eine zierliche Gestalt, bekleidet mit einem langen, dunklen Mantel und einem eleganten, seidenen Kopftuch. Ella grüßte kurz in ihre Richtung und schloss wieder die Tür.
In Richtung Schreibtisch flüsterte sie:
”Hej, Ruth, wo ist denn die große Überraschung, da drinnen sitzt nur eine neue Mandantin, offensichtlich eine Muslima.”
Ruth hob den Kopf und starrte Ella an. Ihre hellblauen Augen durchbohrten sie wie Stecknadeln. Betont langsam und nuanciert sagte sie:
„Das ist unsere neue Mitarbeiterin, falls du dich nicht noch anders entscheidest!“
Trügerisch lieblich säuselte Ruth:
”Als gläubige Christin liebst du doch den lebendigen Diskurs zwischen den Religionen und im absoluten Multikulti Bezirk Berlin - Mitte sind wir doch hier auch. Ich weiß nicht, ob das gut geht, drei Religionen in einem Büro!”
„Häh?”, kraftlos rutschte Ella die Hand von der Türklinke des Wartezimmers.
„Wieso drei? Meine Mutter hat mich als Säugling taufen lassen. Ich habe so laut geschrieen, dass der Pfarrer im Turbogang durch die Liturgie gerast ist und mich am liebsten im Taufbecken ertränkt hätte, aber drei?”
Kokett legte Ruth den Kopf schief und verkündete salbungsvoll:
„Ich bin Jüdin! Ich habe eine jüdische Urgroßmutter mütterlicherseits, das nennt man jüdische Wurzeln. Ich war neulich sogar auf einer Bar Mizwa Feier eines jüdischen Cousins dritten Grades eingeladen, war echt krass.”
Ella war ehrlich verblüfft, das waren ja interessante Offenbarungen, aber sie hatte jetzt keine Zeit, um über Religion zu diskutieren. Was sie brauchte, war eine neue Mitarbeiterin und zwar dringend. Besänftigend meinte sie,
„Na gut, ich schau mir die Kandidatin mal an, wir brauchen keine erfahrene Chefsekretärin, aber deutsche Sprachkenntnisse sind unerlässlich.”
Womöglich sprach diese Frau kein Wort Deutsch, das Vorstellungsgespräch würde schnell vorbei sein, fuhr es ihr durch den Kopf.
Erneut legte Ella die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür zum zweiten Mal. Sie ging auf die wartende Gestalt zu und streckte die Hand aus,
„Guten Tag Frau…?”
„Al Hadid”, antwortete die Frau und erhob sich.
„Mein Name ist Amira Al Hadid, das Jobcenter hat mich geschickt. Sie meinten mein Profil würde zu ihrer Suchanzeige passen.”
Eins zu null für die Kandidatin, schoss es Ella durch den Kopf, ihre Sprachkenntnisse schienen besser als erwartet.
„Frau Al Hadid, darf ich sie in mein Büro bitten, dort können wir uns in Ruhe unterhalten.”
Die Bewerberin nahm ihre Tasche und folgte Ella den Gang hinunter in ihr Büro. Dort angekommen bot Ella ihr den Besucherstuhl an und verschanzte sich hinter ihrem riesigen altmodischen Schreibtisch. Sie überlegte krampfhaft, wie sie das Gespräch eröffnen sollte. Grundsätzlich hasste sie es, Bewerbungsgespräche zu führen. Sie fühlte sich in dieser Hinsicht total inkompetent. Meistens verließ sie sich einfach auf ihr Bauchgefühl. Verstohlen musterte sie aus den Augenwinkeln die Kandidatin, während sie so tat, als würde sie etwas in der Schreibtischschublade suchen.
Soweit Ella es trotz des langen Mantels erkennen konnte, schien sie eine schlanke, zierliche Person zu sein. Ihr Gesicht war blass mit einer zart gebogenen Nase und dunklen, mit schwarzem Kajalstrich geschminkten Augen, die ihrerseits unauffällig die Umgebung erkundeten. Ella räusperte sich,
„Also, das Jobcenter hat sie geschickt? Aus einem speziellen Vermittlungsprogramm für Asylbewerber und Geflüchtete aus Syrien? Das Wichtigste wären mir - ehrlich gesagt - ausreichende Sprachkenntnisse. Wir brauchen dringend Verstärkung im Büro für den Telefondienst, Recherche am Computer, allgemeine Schreibarbeiten, die Kenntnisse der üblichen Textverarbeitungsprogramme werden voraus gesetzt, das Übliche eben.”
Ella hatte ihr Pulver verschossen und verstummte. Peinliches Schweigen machte sich breit.
Die dunklen Augen musterten Ella mit einer Mischung aus Zurückhaltung, Ernst und Entschlossenheit. Mit einer raschen Bewegung zauberte sie aus den Falten ihres schwarzen Mantels eine dünne Mappe zutage, die sie auf den Tisch legte. Ihre Stimme war leise aber klar und deutlich.
„Sehr geehrte Frau Rechtsanwältin, ich bin ausgebildete Sprachlehrerin für Deutsch und Englisch und habe einige Jahre an einer Schule in Damaskus unterrichtet, bevor wir fliehen mussten. Meine Diplome befinden sich in der Bewerbungsmappe. Die üblichen Textverarbeitungsprogramme für die Büroarbeit beherrsche ich auch.”
Ella versuchte ihr Erstaunen zu verbergen. Scheiß Vorurteile schoss es ihr durch den Kopf. Zwei zu Null für die Bewerberin, ihre Sprachkenntnisse waren einwandfrei.
Neugierig geworden fragte sie:
”...und haben sie auch eine Familie?”
Stolz blitzte in den dunklen Augen der Frau auf.
„Ja, mein Mann und meine beiden Kinder sind auch hier. Ein Junge und ein Mädchen, 8 und 10 Jahre alt. Sie gehen beide hier zur Schule”, verkündete sie und verlor langsam ihre Zurückhaltung.
Unentschlossen schob Ella die Bewerbungsmappe auf dem Schreibtisch hin und her und versuchte ihre Gedanken zu ordnen, die ihr durch den Kopf schossen. Sie brauchten dringend Verstärkung für ihr Büroteam, das eigentlich nur aus Ruth und ihr und gelegentlichen Aushilfskräften bestand. Neben der üblichen Arbeit für die Mandanten, die rechtliche Beratung suchten, wurde Ruths Zeit auch von Rechercheaufträgen und privaten Ermittlungen in Anspruch genommen, dann blieb der ganze Schreibkram liegen.
Sie hatte die Kanzlei erst vor zwei Jahren eröffnet und die Geschäfte entwickelten sich seitdem besser als erwartet, trotz harter Konkurrenz. Aber sie war dennoch gezwungen wirtschaftlich vorsichtig zu agieren, vor allem konnte sie sich noch keine hohen Lohnkosten leisten. Mangels weiterer geeigneter Bewerber könnte sie es mit Frau Al Hadid versuchen überlegte sie. Welches Risiko bestand denn schon? Schlimmstenfalls würde man sich nach einigen Wochen trennen.
Innerlich war sie fast erleichtert, dass sie nur eine Bewerberin hatte, so war sie nicht gezwungen, mehrere Kandidaten miteinander zu vergleichen und dann auszusortieren wie bei Aschenputtel nach dem Motto, die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.
So etwas viel ihr unendlich schwer und Ella war sich voll im Klaren darüber, dass sie in dieser Hinsicht auch nicht sonderlich für den Aufbau einer Firma geeignet war. Hoffnungsvoll überlegte sie, ob sie Ruth zukünftig die Auswahl geeigneter Kandidaten überlassen konnte.
Ella raffte sich zu einem Entschluss auf, sie klopfte mit der Mappe auf die Unterlage,
„O.K., wir werden es miteinander versuchen. Drei Monate Probezeit.” Sie nickte ihr zu. ”Meine Mitarbeiterin, Frau Blumenfeld, wird sie einarbeiten. Im Übrigen nennen wir uns hier im Büro beim Vornamen.” Sie streckte der neuen Mitarbeiterin die Hand hin und sagte: ”Ich heiße Ella und“, sie zeigte vage in Richtung Tür, „da draußen am Schreibtisch sitzt Ruth“.
Ihr Gegenüber streckte ebenfalls etwas zögerlich aber sichtlich erleichtert die Hand aus.
”Amira”.
Erleichtert, dass sie diese Angelegenheit geregelt hatte, war Ella reif für den zweiten Espresso dieses Vormittags. Alles weitere, die Einarbeitung und das gegenseitige Beschnuppern würde sie Ruth überlassen.
Gerade als sie sich ein Croissant reinstopfte und ungeduldig versuchte, die fettigen Krümel von den Aktendeckeln zu fegen, kündigte ihr Ruth einen altbekannten Mandanten an.
Etwas außer Atem erschien ein überaus korpulenter Herr hinter Ruths Rücken und drängte sich mit einer Flinkheit an ihr vorbei, die man bei seiner Körperfülle nicht vermutet hätte. Theatralisch ließ er sich auf den Besucherstuhl sinken, sein gewaltiger adipöser Bauch zitterte wie Wackelpudding. Ehe Ella ihn begrüßen konnte, polterte es aus ihm heraus,
„Meine geliebte Mama ist tot”, Tränen schossen ihm in die Augen. ”Plötzlich und unerwartet ist sie verschieden”, jammerte er.
Ella war gewappnet, in der Tat hatte das Pflegeheim ihr telefonisch mitgeteilt, dass die Seniorin Hertha Schmidtke friedlich entschlafen war. Sie öffnete den Mund und wollte schon, „Wo ist das Problem? Sie sind doch der Alleinerbe”, hervorstoßen, entschied sich jedoch noch rechtzeitig für ein hastiges,
„Mein herzliches Beileid, Herr Schmidtke”.
Ella konnte sich aber dann doch nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass seine Mutter beinahe das Alter von Queen Mum erreicht hatte.
Sie angelte ein Papiertaschentuch aus einer auf dem Schreibtisch herumliegenden Packung und reichte es Herrn Schmidtke, der geräuschvoll hineintrompetete. Aber er ließ sich durch diese Ablenkung in keiner Weise beirren.
„Meine Mutter war topfit, ihr Tod kommt mir irgendwie seltsam vor. Ich habe sie doch noch vor drei Tagen in ihrer Seniorenresidenz besucht und da war sie noch putzmunter, putzmunter sage ich ihnen. Wir haben uns zusammen die Hitparade der Volksmusik mit Stefanie Hertel angeschaut, so ein hübsches Mädel.“
Ella war mit den Gedanken für eine Sekunde abgeschweift und hatte nicht richtig aufgepasst.
„Wer ist ein hübsches Mädel?“
„Na, die Stefanie, die mit den tollen Dirndels, ist ja auch egal, jedenfalls haben wir die Hitparade geguckt und dabei mit geschunkelt. Das macht doch keiner, der am nächsten Tag stirbt!“
Herr Schmidtke rang dramatisch die Hände.
Ella war sich da nicht so sicher, hatte aber Mühe passende Gegenargumente zu bieten. Herr Schmidtke redete indessen munter weiter,
„Ich bin sicher, dass meine Mama nicht an Altersschwäche gestorben ist. Da war so eine komische Pflegerin, wissen sie? Die war mir irgendwie unheimlich, immer schlich die so komisch um uns rum, wenn ich da war.
Jetzt reichte es Ella langsam, diesen aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen musste sie Einhalt gebieten.
„Das kann nicht sein Herr Schmidtke“,
sie versuchte so überzeugend wie nur möglich zu klingen, obwohl ihr die Situation langsam skurril vorkam.
„Ich habe mir ihre Mutter gestern Vormittag höchstpersönlich im Bestattungsinstitut Kupferberg angeschaut. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass sie eines unnatürlichen Todes gestorben ist.“
Sie förderte weitere Argumente zutage.
„Den behandelnden Hausarzt, Dr. Breitenbach, der den Totenschein ausgestellt hat, habe ich auch noch mal befragt. Er hat Stein und Bein geschworen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Soweit ich das überprüfen konnte, ist ihre Mutter auch nicht seziert worden. Im Ernst, Herr Müller, auch wenn ihre Mutter ,Topfit´ war, ist das Leben irgendwann vorbei. Außerdem handelt es sich um eine ausgesprochen teure und angesehene Seniorenresidenz, die einen untadeligen Ruf genießt“, schob sie noch hinterher.
Innerlich genervt, dachte sie: Aus - Schluss - Vorbei, die Verwandten hatten immer wieder Probleme, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Die Endgültigkeit des Todes!
Eine gefühlte Ewigkeit später verabschiedete sich Herr Schmidtke, nachdem sie noch Erbschaftsangelegenheiten besprochen hatten.
Ein Blick auf seine Armbanduhr scheuchte ihn auf. Schon 18:00 Uhr, er musste sich beeilen, wenn er seine Verabredung an diesem Abend pünktlich einhalten wollte.
Innerlich seufzend blickte er sich in seinem kargen Dienstzimmer in der Turmstraße in Moabit um, die Akten stapelten sich fast bis an die Decke des engen, hohen Zimmers aus dem 19. Jahrhundert und schienen nie weniger zu werden, soviel er auch schuftete.
Die mit schmutz abweisender Ölfarbe lindgrün gestrichenen Wände verströmten den Charme einer Gefängniszelle. Es war schon Paradox, er saß hier, um die Bösewichte der Stadt zu verfolgen und möglichst hinter Schloss und Riegel zu bringen und hatte es - rein optisch betrachtet - nicht besser als die, bei denen er erfolgreich gewesen war.
Vielleicht war dies eine Methode der Justizverwaltung, ihre Angestellten stets an den Ernst des Lebens hinter Gittern zu erinnern.
Immerhin, er war frei. Frei, dieses staubige Verlies zu verlassen und sich mit einer tollen Frau zu treffen.
Leon beschloss, für heute die Arbeit zu beenden und klappte die letzte Akte des Tages zu. Da er es nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffen würde, musste er sich wohl oder übel im Büro umziehen. Er zog den teuren Anzug aus, den er sich extra für den neuen Job angeschafft hatte. Was für eine Gehaltsverschwendung bei diesem Ambiente. Stattdessen wechselte er in eine Jeans und ein frisches Hemd.
Sogar einen Ausflug ins KaDeWe hatte er für den neuen Anzug unternommen. Aber allein die Marke BOSS sagte nichts darüber aus, dass er auch BOSS werden würde. Garantiert würde dieses rosagesichtige Schweinchen Egbert - Friedrich vor ihm die Karriereleiter hinauffallen. Der war in der richtigen Studentenverbindung gewesen, der war jetzt in der richtigen Partei und soff garantiert mit den richtigen Leuten, dafür hatte der einen Riecher wie ein Trüffelschwein.
Das winzige vorsintflutliche Waschbecken mit dem kaputten Spiegel erlaubte nur eine notdürftige Wäsche. Es war so niedrig, dass er sich geradezu herabbeugen musste. Vor gefühlt 100 Jahren waren die Angestellten wohl deutlich kleiner gewesen.
Mist, er hatte schon wieder einen deutlichen dunklen Bartschatten, obwohl er sich erst heute Morgen gründlich rasiert hatte. Der nagelneue scheiß supercut Rasierer, für den soviel Werbung gemacht wurde, hielt auch nicht, was er versprach. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und fühlte sich gleich besser. Mit etwas Wasser bändigte er auch seine kräftigen braunen Haare, die er sich beim Brüten über den Akten gründlich zerrauft hatte.
Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und trocknete sich das Gesicht. Zum Glück war er, der Bürohockerei zum Trotz, schlank und fit geblieben, davon konnte dieser grässliche Egbert nur träumen.
Er freute sich auf die Begegnung mit Ella heute Abend. Sie sahen sich viel zu selten, obwohl sie sich seit Grundschultagen kannten. Als Teenager hatte er heimlich für sie geschwärmt, sich dies aber nie anmerken lassen. Bis zum heutigen Tag waren sie bloß alte Kumpel geblieben, es war nie mehr aus ihrer Freundschaft geworden. Warum, konnte er sich auch nicht genau erklären, er hatte sich einfach nie aus der Deckung getraut.
Es lag wohl auch ein wenig an ihrer Familie, schon als Teenager hatte er ihre Mutter nicht leiden können. Diese anstrengende High Society Dame war furchtbar nervig und hätte ihn nie akzeptiert, mit seinem „normalen” gesellschaftlichen Background.
Insgeheim bedauerte er diesen Zustand, zumal die „Richtige” bisher in seinem Leben noch nicht aufgekreuzt war. Aber wenn er immer nur in diesem lindgrünen Verließ hockte und Akten frass, würde sich an diesem Zustand seines Privatlebens so schnell nichts ändern.
Die getigerte Katze hatte vor einigen Tagen junge Kätzchen bekommen, sechs süße kleine Viecher, die sie im Versteck hinter dem Schuppen versorgte. Immer wenn er aus der Dorfschule nach Hause gerannt kam, schaute er zuerst bei der Mutterkatze und ihren Jungen vorbei.
Er war absolut fasziniert von den Tierchen und konnte sie stundenlang beobachten, aber sein Interesse ging über das normale Interesse seiner Altergenossen hinaus. Sie gaben sich damit zufrieden, die Kätzchen zu streicheln und zu liebkosen, verloren aber dann nach einiger Zeit das Interesse und wandten sich anderen Spielen zu. Sie rannten auf den staubigen, unbefestigten Dorfplatz und spielten in der brütenden Sommerhitze Fußball.
Sein Interesse war weitergehender, naturwissenschaftlicher Art. Er beobachtete das Verhalten der Tiere untereinander, wunderte sich, wie schnell sie wuchsen und an Gewicht zulegten, nach ein paar Tagen die Augen öffneten. Er dachte über das Geheimnis des Lebens nach. Er wunderte sich und stellte sich die Frage, wie funktionierte es, das Leben? Klar das Herz schlug und pumpte Blut durch die Adern. Sie tranken Milch, die sie wachsen ließ, so war es bei Mensch und Tier. Im Verlaufe der Wochen, verspürte er immer stärker den inneren Drang, dieses „Leben“ genauer zu erkunden.
Eines Tages fasste er sich ein Herz. Er hatte seine Aktion seit einigen Tagen geplant und vorbereitet, soweit es ihm möglich war. Er hatte ein Filetiermesser aus der Schublade in der guten Stube entwendet. Es war das „gute" Besteck und wurde nur an hohen Feiertagen verwendet, seine Mutter würde es nicht vermissen. Mangels einer vernünftigen Ausrüstung war er auf die Idee verfallen, sich in der kleinen Werkstatt im Schuppen das Nötigste zusammen zu suchen. Die längsten Nägel, die er finden konnte, ein kleiner Hammer, eine kleine Handsäge, einen altmodischen Handbohrer (für einen elektrischen hatte seine Mutter kein Geld) und eine Kneifzange.
Für sein Vorhaben hatte er einen ruhigen Nachmittag ausgewählt. Seine Kumpels waren wie immer auf dem staubigen Fußballplatz zu finden oder am Flussufer, wo sie im seichten Flusswasser herum planschten. Seine Mutter war außer Haus, putzen beim Herrn Bürgermeister. Nachdem er seinen Ranzen von sich geschmissen hatte und hastig das einfache Mittagessen in sich hinein geschaufelt hatte, schlich er sich in das Versteck zu den Kätzchen.
Er sah auf den Wurf hinunter, ihn beschäftigte die Frage, welche er auswählen sollte. Die mit dem niedlichen Fleck an der Nase, den frechen Kater oder die mit dem fluffigen Fell? Er konnte sich beim besten Willen nicht entscheiden und beschloss, die Auswahl dem Schicksal zu überlassen. Voller Konzentration und mit pochendem Herzen, kniff er die Augenlider fest zu, anschließend bückte er sich und griff mitten hinein in den Wurf. Jetzt hatte er eine fest in der Hand, hob sie hoch und öffnete wieder die Augen. Das Schicksal hatte sich für die niedliche mit dem schwarzen Fleck an der Nase entschieden.
Die Werkbank im Schuppen war ein guter, wenn auch provisorischer Arbeitsplatz. Er hielt das Kätzchen fest mit der Faust umklammert, als ob sie ahnen würde, was auf sie zukam, zappelte sie heftig. Aber er gab nicht nach, das Schicksal hatte es so gewollt. Da das Zappeln nicht aufhörte, eilte er in den Schuppen, setzte sie auf die Werkbank und klemmte das eine Hinterbeinchen im Schraubstock fest. Der Druck der ausgeübt wurde, war gerade so stark, dass sie ihr Pfötchen nicht hinausziehen konnte, es aber auch nicht zerquetscht wurde. Vermutlich tat es ihr doch ziemlich weh, denn sie miaute herzzerreißend.
Mist, das war vielleicht in der Nachbarschaft zu hören! Kurzerhand schnitt er ein Stück Stoff von einem alten Lumpen ab und stopfte es wie einen Knebel in ihr kleines rosa Mäulchen. Drumherum wickelte er noch eine alte Bandage. So, jetzt konnte er endlich loslegen, er nahm das altmodische Rasiermesser zur Hand.
Pünktlich traf er am Abend in der schicken, angesagten Cocktailbar in Friedrichshain ein. Sein Magen knurrte fürchterlich und eigentlich wäre er lieber in einem Restaurant eingefallen. Hoffentlich gab es dort auch etwas „Kalorienreiches” zu essen und nicht nur dieses vegane Zeugs, von dem kein Mensch satt wurde.
Schon von weitem erkannte er sie. Unwillkürlich musste er grinsen, als er sie sah. Ihre schlanke Gestalt, das kräftige, braungoldene Haar. Ihre Ausstrahlung war unverkennbar, da hatte ihre Mutter ganze Arbeit geleistet, auch wenn sie alles dafür tat dieser Erziehung und den Erwartungen ihrer Mutter zu entkommen und ihr eigenes Leben zu leben.
„Hi, Ella“, begrüßte er sie.
Sie sprang erfreut vom Tisch auf und umarmte ihn herzlich.
„Toll, dich mal wieder zu sehen, du scheinst ja irrsinnig viel zu arbeiten. Wie viele Bösewichte hat die Staatsanwaltschaft denn in letzter Zeit erwischt? Habt ihr den spektakulären Juwelenraub bei diesem Kuˋdamm Juwelier schon aufgeklärt?”
„Die Bösewichte sind uns immer einen Schritt voraus, sie haben die neuere, bessere Technik. Das neueste I- Phone gegen dieses hier”. Mit einer schnellen Bewegung zog er sein Diensthandy aus der Hosentasche.
„Porsche Turbo gegen VW Passat, Modell 2001.”
Ella fiel vor Lachen fast vom Stuhl, als sie das vorsintflutliche Modell sah, klobig und einfach nur peinlich.
„Immerhin ist es uns gelungen, eine internationale Autoschieberbande auszuheben, das hebt mal wieder die Motivation. Sag, deiner Mutter, dass ihr Luxusschlitten wieder sicher ist”.
Ella gluckste vor Lachen.
„Den klaut doch sowieso keiner, die modernen Kriminellen stehen auf Porsche, Audi und neue Mercedesmodelle, ihr alter Jaguar ist doch von Vorgestern, der kriegt schon bald die Zulassung als Oldtimer.”
„Außerdem ist es unfair“, fuhr sie fort, „wenn ihr nur an die Luxusschlitten der Reichen denkt, was ist denn mit den Taschendieben, die die Touris und die Normalos beklauen? Das kam doch schon groß in den Medien, dass die Polizei diese Sachen nicht mehr verfolgt. Da habt ihr auf ganzer Linie kapituliert.”
Leon grinste ironisch.
„Hilf uns doch bei der Staatsanwaltschaft, die suchen dringend gute Leute.“
„Zu dir ins lindgrüne Verlies nach Moabit ziehen? Nein Danke!", grinste Ella zurück. „Aber sag mal, ich hab da heute so eine groß aufgemachte Story in der Zeitung gelesen, da ging es um einen gruseligen Mord an einem Obdachlosen. Er wurde von seinen Kumpels im Tiergarten in einem Gebüsch gefunden oder einer ihrer Hunde hat ihn aufgestöbert. Angeblich soll die Leiche teilweise verbrannt sein und „Bild” wusste mal wieder mehr als alle anderen zu berichten. Die schrieben schon von einer Mordserie, nur weil die so einen Profiler interviewt haben, der was von Ritualmord gefaselt hat.”
Leon zuckte mit den Schultern,
”Ich bin für Autoschiebereien und organisierte Kriminalität zuständig. Wird sich bald zeigen, ob uns das noch länger beschäftigen wird. Aber erzähl doch mal von deiner neuen Kanzlei, wie läuft es denn so bei dir? Hast du interessante Fälle?“
Spät abends, auf dem Rückweg in ihre Wohnung, grinste Ella glücklich in sich hinein. Das war wirklich ein lustiger Abend gewesen. Leon hatte angeboten, sie nach Hause zu begleiten, aber sie hatte abgelehnt. Erstens hatte sie eine gute S-Bahn Verbindung nach Hause und zweitens wollte sie ihn nicht Nachts in ihre Wohnung bitten, um noch ein Gläschen Wein zu trinken, wer weiß, welche Verwicklungen sich daraus wieder ergeben konnten. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren, schließlich gab es da noch den Besitzer der einsamen Herrensocke im Blumentopf!
Die Lindenblüten der Straßenbäume verströmten einen schweren, süßen, geradezu betäubenden Duft. Es war ein wunderschöner Sommertag gewesen, nun senkte sich die Abenddämmerung langsam über Berlin-Zehlendorf, die Gaslaternen beleuchteten mit ihrem sanften gelben Schein die Kopfstein gepflasterten Straßen, ein lauwarmer Abendwind wehte ihr ins Gesicht. So liebte sie die Stadt! Entspannt bewegte sie sich durch die Dämmerung, das luftige Sommerkleid bauschte sich leicht in der Abendbrise.
Es war spät geworden in der Kanzlei, aber sie musste unbedingt heute noch diesen Besuch erledigen.
Sie kannte den Weg dorthin noch von ihren vergangenen Besuchen. Nach einigen hundert Metern erreichte sie ein altmodisches, riesiges, schmiedeeisernes Tor mit einer fast unsichtbaren, modernen Gegensprechanlage. Auf einem winzig kleinen Messingschild war eingraviert: Seniorenresidenz „Athene". Nachdem sie sich angemeldet hatte, öffnete sich das Tor langsam, wie von unsichtbarer Hand. Es gab den Blick frei auf eine lange, gewundene, von großen Rhododendronbüschen gesäumte Auffahrt, die in einer parkartigen englischen Gartenanlage mündete. Der Blick auf die Villa war atemberaubend, das von Säulen gesäumte Portal, die Stuckverzierungen, so hatte man noch im 19. Jahrhundert gebaut.
Als Ella das Haupthaus erreichte, konnte sie erkennen, dass dahinter noch einige andere Gebäude lagen. Die Suiten der Seniorenresidenz waren ebenfalls in einer alten Villa aus dem 19. Jahrhundert untergebracht. Die Gebäude hingegen in denen sie die Wirtschaftsgebäude vermutete, waren von ausgesprochen moderner Architektur. Jedoch hatte es der garantiert teure und erstklassige Architekt verstanden, die alte und moderne Architektur miteinander zu versöhnen. Sie war bereits zweimal hier gewesen und konnte ihren Weg jetzt selbständig finden.
Vor einigen Wochen war eine alte Freundin und Mandantin hier eingezogen. Da sie eine alte Freundin ihrer verstorbenen Großmutter gewesen war, hatte sie es schlecht ablehnen können, als die alte Dame sie gebeten hatte, sich um ihre, wie sie es nannte, „bürokratischen Angelegenheiten” zu kümmern.
„Kindchen”, hatte sie damals gesagt. ”Ich mag mich nicht mehr um diesen ganzen Kram kümmern, ich bin zwar geistig noch klar im Kopf, aber ich kann in meinem Alter keinen Computer mehr bedienen und mich um Verträge und Bankgeschäfte kümmern.” Mit diesen Worten hatte sie Ella alles übertragen und die Vollmachten unterschrieben.
Jetzt waren von Zeit zu Zeit persönliche Besuche fällig, um alles Nötige zu besprechen.
Augusta hatte sich einen wunderschönen, privaten Altersruhesitz mit Blick auf den Wannsee ausgesucht, das musste Ella zugeben. In der Nähe sah sie auch die Villa eines traditionsreichen Segelclubs. Einige Yachten dümpelten friedlich auf den in den letzten Strahlen der Abendsonne glitzernden Wellen des Wannsees. Weiter draußen auf dem Wasser zogen noch die letzten Ruderer ihre Bahnen.
Ella ließ das Empfangsgebäude rechts liegen und gelangte nach wenigen dutzend Metern zum Altersheim. Autsch! Dieser Begriff war hier absolut verpönt, das hatte man ihr gleich zu Beginn eingetrichtert. Das Ding war eine Seniorenresidenz und dieses Gebäude trug den Namen Villa „Poseidon“ und weckte damit Assoziationen an ein Strandhotel an der Ostsee. Sie hatten es hier wohl mit den griechischen Göttern. Jeder Gast, der das Wort „Alt”, „Pflegeheim” oder gar „Altersheim” in den Mund nahm wurde mit Blicken förmlich erdolcht.
Schon das Entree war fantastisch, wie ein Schlosshotel. Wohin das Auge schweifte, nur edles Parkett, Marmor und antike Möbel, kostbarer Blumenschmuck und schöne Gemälde.
Das Personal trug schicke Uniformen, keine praktischen, ordinären Pflegekittel, wie es in den anderen Heimen üblich war und geleitete den Besucher zum gewünschten Bewohner. Alle Residenten verfügten über eine Suite mit Balkon. Im Erdgeschoß befand sich das Restaurant, in welchem auf Sterneniveau gekocht wurde. Jeden Monat war für diesen Luxus ein kleines Vermögen fällig, das wusste Ella genau.
Das ganze Gebäude war nur auf Repräsentation angelegt, alle Zweck und Wirtschaftsräume schienen wie von Zauberhand unsichtbar zu sein.
Die Pflegerin Gaby, die aber aussah wie die Angestellte eines 5 Sterne Hotels, führte Ella in die Luxussuite der alten Dame.
Sie begrüßte die Seniorin mit einer herzlichen, aber vorsichtigen Umarmung und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Augusta freute sich offensichtlich über ihren Besuch und entgegnete voller Enthusiasmus:
„Ach Kindchen, ich will nicht klagen. Die Knochen werden nicht jünger, aber was soll ich mit meinen 96 Jahren jammern? Meine Freunde sind fast alle tot, das macht mich wirklich traurig. Man wird einsam im Alter. Deshalb freue ich mich ja so, dich zu sehen.”
Das schlechte Gewissen meldete sich bei Ella. Sie wusste, dass sie sich viel zu selten blicken ließ und nahm sich zum wiederholten Male vor, dies zu ändern.
Sie ließ sich auf einem eleganten Sessel nieder und holte eine Mappe aus ihrer Tasche.
„Augusta, ich muss einige finanzielle Dinge mit dir besprechen".
„Genau“, erwiderte diese, „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, und gab Ella genaue Informationen, welche finanziellen Transaktionen sie in ihrem Auftrag tätigen sollte. Ella war höchst beeindruckt, wie informiert die alte Dame über den derzeitigen Stand am Aktien- und Finanzmarkt war, dass hätte sie ihr gar nicht mehr zugetraut.
Als Augusta schließlich geendet hatte und sich im Sessel zurücklehnte, ging Ella zum geselligen Teil über. Sie nahm ein Schlückchen von dem köstlichen Earl Grey Tee aus der geblümten Meissner Porzellantasse und fragte: „Wie gefällt es dir hier Augusta? Hast du irgendwelche Dinge, über die wir uns beschweren müssen oder ist alles in Ordnung hier? ”
Augusta schüttelte vehement den Kopf,
„Nein, auf keinen Fall, der Service lässt hier keine Wünsche offen, das Personal ist richtig freundlich und dienstbereit, ich kann mich über nichts beklagen. Aber…“
Sie geriet ins Stocken und verstummte. Ella wartete ab, als nichts mehr folgte, nahm sie den Faden wieder auf und bohrte nach.
„Was aber?“
Augusta druckste herum. Sie schwieg, dann schien sie zu überlegen und senkte plötzlich ihre Stimme zu einem Flüstern herab:
”Ich wollte dir schon noch etwas Komisches mitteilen. Ich bin ja nun schon einige Monate hier und ich kann mich im Prinzip wirklich nicht beklagen, wie ich dir ja eben gesagt habe, aber ich habe immer noch gute Augen und Ohren und ich sage dir, ich habe das Gefühl, dass …,ach was, lassen wir das. Wenn man zur Ruhe kommt und nicht genügend zu tun hat, wird man leicht …“, sie hob die Schultern, „seltsam - aber ich bin weder Taub noch Blind und mit dem Rollator komme ich noch gut voran.“
Verblüfft starrte Ella ihre alte Freundin an. Wurde sie jetzt doch dement? Litt sie unter Wahnvorstellungen, Verfolgungswahn? Alles keine ungewöhnlichen Krankheitsbilder in ihrem Alter. Sie schluckte und überlegte, wie sie darauf reagieren sollte.
Augusta sah ihr geradewegs in die Augen.
„Kindchen, ich weiß, was du denkst. Du meinst bestimmt, dass ich jetzt langsam verrückt werde, ich kann es an deinem Gesicht ablesen. Aber ich schwöre dir, meine Birne ist noch intakt.”
Mit diesen Worten klopfte Augusta sich mit der Faust an die Stirn.
„Und auf der Höhe der Zeit bin ich auch.” Triumphierend zog die alte Dame ein topaktuelles I-Phone aus der Tasche ihres eleganten Hausmantels.
„Ich kann auch damit umgehen”, versicherte sie Ella nachdrücklich.
Zum zweiten Mal blieb Ella vor Verblüffung der Mund offen stehen. Wer hätte das gedacht?
Ella beschloss, sich erstmal auf diese seltsamen Andeutungen einzulassen.
„Dann erzähle mir bitte mal, was du so komisch findest. Es ist doch alles ganz fantastisch hier, nettes Pflegepersonal, tolles Essen, wie im Luxushotel und die medizinische Betreuung ist doch auch o. k.”
„Kindchen, ich kann mich, wie gesagt, nicht beschweren. Es ist mehr ein Gefühl, die Atmosphäre ist irgendwie …”
Abrupt brach sie ab und wechselte das Thema.
„Was mich am Altwerden wirklich ärgert, sind die vielen Tabletten, die einem vom Doktor verordnet werden. Zu jeder Mahlzeit muss ich irgendeine Pille schlucken, ich habe schon fast den Überblick verloren.“
Ella wurde immer mulmiger zumute. Tickte ihre alte Freundin jetzt zusehends aus?
„Also, das ist doch das normalste auf der Welt, dass hier kiloweise Medikamente verteilt werden. Ihr alten Leutchen futtert doch jeden Tag eine Apotheke leer. Jeder nimmt doch Beta Blocker, Lipidsenker, Herzmedikamente, Entwässerungsmittel, Blutzuckersenkende Medikamente und in der Grippesaison noch massenhaft Antibiotika, was weiß ich alles. Ich gehe jede Wette ein, dass jeder der hier wohnt, täglich mindestens fünf verschiedene Medikamente nimmt.”
„Ja, da hast du leider recht Ella, das weiß ich doch. Damit muss man wohl leben im Alter. Ich alte Frau sehe zu viele Gespenster.“
Heimlich schielte Ella auf ihre Armbanduhr, es war schon nach 21:00 Uhr, sie musste wirklich gehen.
”Pass gut auf dich auf, Augusta", sagte sie zum Abschied und erhob sich.
„Ich werde spätestens in vier Wochen wieder vorbeikommen und dich dann hoffentlich gesund und munter antreffen.“
„Ach, Kindchen, ich habe den Holocaust überlebt, also werde ich auch dies hier überleben, zumindest noch einige Jahre."
Gina seufzte innerlich, gerade hatte sie auf ihr Smartphone geschaut und gesehen, dass es schon beinahe 23:30 Uhr war. Sie hatte glatt vergessen, mit Scotch noch die Abendrunde zu drehen. (Das lag natürlich an dem neuen supercoolen Computerspiel, mit dem sie sich die Zeit vertrieben hatte). Das Smartphone zeigte auch an, dass die Regenwahrscheinlichkeit in den nächsten Stunden bei 80 % lag. Diese Dinger waren wirklich toll und zu viel zu gebrauchen, aber den Hund Gassi führen musste sie immer noch selber.
Ihre Mutter hatte Nachtschicht, die kam nicht vor morgen früh nach Hause. Als hätte er ihre Überlegungen gehört, hörte sie ein leises Jaulen aus dem Flur. Scotch der Terrier war ein gut erzogener Hund, aber auch er war ein tierisches Wesen mit einer Blase.
Gina nahm ihre Jacke von der Garderobe im Flur und die Hundeleine. Erleichtert sprang Scotch wie ein Wirbelwind um sie herum. Endlich hatte Frauchens Tochter ein Einsehen mit ihm.
Sie nahmen den Fahrstuhl vom 4. Stock ins Erdgeschoss. Im Fahrstuhl wurde Scotch angeleint. Gina trat durch die Eingangstür ins Freie und schaute die Straße hinauf und hinunter. In den nahe gelegenen Park würde sie um diese Uhrzeit nicht mehr gehen. Das hatte ihre Mutter ihr verboten und sie hatte auch selber schiss davor, wie sie sich eingestehen musste.
Komisch, schoss es Gina durch den Kopf, bei Tageslicht war die Gegend hier, rund um die Kurfürstenstraße wahnsinnig belebt. Massenhaft Leute auf der Straße, fast wie ein Wimmelbild aus ihrem Lieblingsbilderbuch. Als kleines Mädchen hatte sie diese Bilderbücher heiß geliebt und in jeder freien Stunde angeschaut. Ihre Mutter sagte immer, dass die Gegend hier nicht so gut sei und sie eigentlich gerne in eine bessere Gegend ziehen würde, aber sie könnten sich mit ihrem Krankenschwesterngehalt keine teurere Gegend leisten. Die Mieten waren in den letzen Jahren wahnsinnig angestiegen.
Gina fand die Gegend ganz O.K., sie war daran gewöhnt, dass hier überall Frauen herumstanden, die auf Freier warteten.
Was die Wortwahl betraf, schien sich jeder Erwachsene anders auszudrücken. Eines Tages hatte ihr ihre Mutter genauer erklärt, um welches Gewerbe es sich handelte, dem die Frauen nachgingen. Ihr uralter Nachbar, Herr Koschinski, sprach von Dirnen und dem horizontalen Gewerbe, dem sie nachgingen. Gina hatte ihn allerdings im Verdacht, manchmal selbst das horizontale Gewerbe in Anspruch zu nehmen, denn sie hatte mal gesehen, wie er heimlichtuerisch mit einer Frau im Hausflur verschwand.
Gina raffte sich auf und ging mit Scotch die nass glänzende Straße hinunter. Der kleine Hund war wie elektrisiert von den Gerüchen der Straße und den Duftmarken, die seine tierischen Kollegen hinterlassen hatten. Eifrig zerrte er an der niedlichen, mit Glitzersteinchen verzierten Leine und zog Gina mit sich.
Wie angewurzelt stoppte er an einem Gebüsch, schnüffelte, wuselte herum und hob sein Beinchen. Ehe sich Gina versah, hatte Scotch sich hoffnungslos in seiner rosafarbenen Leine verheddert. So was schaffte er innerhalb von Sekunden, das war jetzt nicht das erste Mal.
Im dämmerigen Licht der Straßenbeleuchtung, welches von den Pfützen, die der kürzliche Regenschauer hinterlassen hatte, reflektiert wurde, blickte Gina genervt auf den schwärzlichen Busch, der von dem rosa Lederriemen hin und her geschaukelt und zusehends zerfleddert wurde. Sie seufzte und machte sich geduldig an die Arbeit, Scotch aus dem Busch zu befreien.
Plötzlich hörte sie ein sanftes Schnurren, ein Luftzug streifte ihre Wange. Sie blickte von ihrer Entwirrungsaktion auf und bemerkte, wie ein wunderschönes Auto in der Nähe am Straßenrand hielt. So ein tolles Auto hatte sie noch nie in Echt gesehen, höchstens in einem Film vielleicht. Heraus stieg ein wunderschöner, großer Mann, der aussah wie Ken, das männliche Pendant zu ihrer Barbiepuppe Cindy, mit der sie als sechsjährige so eifrig gespielt hatte. Dieser wunderschöne Mann näherte sich einer der Frauen, die auf einen Freier warteten. Es waren drei da an der Stelle und er suchte sich die Hübscheste aus. Gina fand, dass sie wie ein Model aussah, groß, schlank, mit ultra hohen Stiefeln, einem superkurzen Rock und langen, lockigen Haaren.
Gina fand die Frau wunderschön und wusste gleichzeitig, dass ihre Mutter ihr verbieten würde, so herumzulaufen.
Sie war so fasziniert von dem, war dort geschah, dass sie vergaß, die Leine zu entwirren. Sie war hinter dem regennassen Buschwerk verborgen und konnte die Szene, die sich etwas weiter die Straße hinunter abspielte gut beobachten, sie fühlte sich wie im Film.
Genau, ihre Mutter schaute manchmal einen uralten Liebesfilm namens “Pretty Woman" an und sie hatte früher mitgeschaut. Dies war der Held, der die Frau von ihrem Schicksal erlöste. Er sprach kurz mit der jungen Frau vom horizontalen Gewerbe, legte ihr dann mit einer zärtlichen, eleganten Bewegung den Arm um die Schultern und führte sie zu seinem luxuriösen Auto.
Ach ja, jetzt erinnerte sie sich auch an den Wagen. Den hatte sie auch vor einiger Zeit in einem Film gesehen, den ihre Mutter ganz toll gefunden hatte. Irgendwas mit zwei Freunden und einer war ganz doll gelähmt gewesen und wurde von seinem Freund durch die Gegend gefahren, in genau so einem Auto, wie sie dort sah, mit einem kleinen Dreizack vorne und hinten.
Der Prinz und die Prinzessin steckten noch kurz die Köpfe zusammen und sprachen miteinander, dann schaute der Prinz über die Schulter der Prinzessin in ihre Richtung und sein glitzernder Blick ließ ihr Herz zu Eis gefrieren, obwohl er sie doch nicht sehen konnte, sie war doch hinter dem Busch verborgen.
Ihre Traumblase löste sich urplötzlich auf und sie merkte, dass sie richtig doll fror. Sie zitterte richtiggehend. Sie sah noch, wie das Pärchen fast lautlos durch die Nacht davonbrauste. Scotch jaulte ungeduldig auf, zerrte an der verhedderten Leine und katapultierte Gina endgültig in die Gegenwart zurück. Sie konzentrierte sich jetzt richtig und hatte die Leine nach ein paar weiteren Minuten entwirrt, so dass Scotch erleichtert um sie herumtanzte.
Der Hund durfte noch ein paar Mal sein Beinchen heben, bevor sie sich auf den Rückweg in ihre warme, kuschelige Wohnung machten.
Am nächsten Morgen im Büro, Ella hatte sich gerade in eine umfangreiche Scheidungsakte vertieft, klingelte das Telefon und Ruth stellte Augusta zu ihr durch. Die alte Dame hörte sich sehr aufgeregt an.
„Ella", legte sie ohne Umschweife los, „hier geschehen wirklich seltsame Dinge. Ich habe gehört, dass im Schönheitsinstitut in der Nachbarschaft jemand gestorben sein soll, nach einer Schönheitsoperation".
„Ach Augusta, Schönheitsinstitut sagt heute kein Mensch mehr. Klinik für plastische Chirurgie nennen die sich heute. Wie bist du denn an die Information gekommen? Und wo, bitte schön, ist denn bei euch eine Klinik? Ich habe in der Gegend noch nie was Derartiges gesehen, mir ist nur der Yachtclub aufgefallen."
„Das Personal war irgendwie aufgescheucht, alle haben getuschelt und getratscht. Weißt du, in meinem Alter braucht man nicht mehr soviel Schlaf. Ich bin nachts oft wach und lausche den Geräuschen der Nacht. Ich habe noch mein altes Opernglas, erstklassige Qualität sage ich dir, also damit kann ich richtig gut gucken. Das Schönheitsinstitut ist gleich nebenan, man sieht es von der Straße aus nur nicht, weil es hinter Büschen und Bäumen verborgen ist.“
„Ja und was hast du gesehen?“, fragte Ella in leicht ungeduldigem Ton.
Sie mochte Augusta gern und hatte sich vorgenommen, immer Zeit für sie zu haben, aber sie war gerade sehr im Stress.