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Lieblos erzogen und von Selbstzweifeln geplagt, erhofft sich die angehende Studentin Lyz Selbstbestätigung bei einer Tätigkeit in einem dubiosen Lebenshilfe-Verein. Ihr neuer, undurchschaubarer Chef Rova sieht jedoch mehr in der jungen Frau als nur seine Angestellte und treibt sie in seine Abhängigkeit. Mit ihr überfordert, überträgt er ihre Aufsicht aber kurzerhand an Alex, einen seiner Bediensteten und echten Heißsporn. Lyz fällt es nicht leicht, sich zwischen den beiden zurechtzufinden.
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Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2022
Elnaro
Forced Fortune
Erzwungenes Glück
Band 1
Elnaro
Forced
Fortune
Erzwungenes Glück
Band 1
© 2023 Elnaro
ISBN Softcover: 978-3-347-80079-3
ISBN E-Book: 978-3-347-80080-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
KAPITEL 1: SOLV - Wir sind die Lösung
KAPITEL 2: Silber in seinen Adern
KAPITEL 3: Ich will nicht, dass du gehst
KAPITEL 4: Ein Opfer aus Liebe
KAPITEL 5: Eine schwere Bürde
KAPITEL 6: Unerwünschte Unterstützung
KAPITEL 7: Das Leben eines Aufpassers
KAPITEL 8: Plötzlich Professor
KAPITEL 9: Kapier es endlich!
KAPITEL 10: Kuss der Ignoranz
KAPITEL 11: Was einen Vampir ausmacht
KAPITEL 12: Hab ich dich!
KAPITEL 13: Ein Biss aus Eifersucht
KAPITEL 14: Ein verführerisches Angebot
KAPITEL 15: Eine Ausfahrt in die Vorhölle
KAPITEL 16: Der Vampirgraf
KAPITEL 17: Unter Brüdern sollte man teilen…
KAPITEL 18: Die Fähigkeit zu betrügen
KAPITEL 19: Geständnis
KAPITEL 20: Die Trauer eines Vampirs
KAPITEL 21: Das Vermächtnis der Verblichenen
KAPITEL 22: Teilen wird überbewertet
KAPITEL 23: Geschmackssache
KAPITEL 24: Ein Alter, das die Welt bedeutet
KAPITEL 25: Auf Befehl des Meisters
KAPITEL 26: Liebeszauber
KAPITEL 27: Die Besitzerin der Silberkette
KAPITEL 28: Die andere Seite derselben Medaille
KAPITEL 29: Exorzierte Menschlichkeit
KAPITEL 30: Anima
KAPITEL 31: Teil von etwas Neuem
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KAPITEL 1: SOLV - Wir sind die Lösung
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KAPITEL 31: Teil von etwas Neuem
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KAPITEL 1
SOLV - Wir sind die Lösung
„Glück ist weder Zufall, noch hat es etwas mit Schicksal zu tun. Man entscheidet sich dazu, es zu haben, ganz einfach.“ In etwa so lautete Vaters schlauer Spruch, wenn es mir dreckig ging. Er, ein passionierter Prokurist und Pedant sondergleichen, war nie besonders gut, wenn es darum ging, mich zu trösten. Immerhin versuchte er es wenigstens, im Gegensatz zu meiner Mutter, die nie ein gutes Wort für mich übrighatte.
Was Glück so genau sein sollte, darüber sparte er sich aus. Das Internet verriet mir allerhand darüber. Selbstliebe stand ganz oben. So weit, so unmöglich. Mit Freunden Zeit verbringen. Dazu müsste man erst einmal welche haben. Anderen helfen. Das klang machbar. Wenn ich helfe, wird mir geholfen, wenn ich lächle, spiegeln das die anderen und mögen mich. Irgendwann in der Mittelstufe verinnerlichte ich diesen Grundsatz. Tatsächlich wurde mein Alltag angenehmer, ich fand sogar aus meiner Depression heraus, aber vollständig erfüllend war es nicht. Aus Mangel an Alternativen zog ich es trotzdem durch. Keine gute Entscheidung, wie sich später herausstellte. Sie trieb mich in emotionale Distanz, die mir zwei ganz besondere Männer später mit Gewalt wieder abtrainieren mussten. Wieso mit Gewalt anstatt Geduld?
Weil das Glück nicht zu den Geduldigen kommt.
Kurz vor Abschluss meines Fachabis sprach mich ein aufgedreht fröhliches Mädchen auf der Straße an, ob ich mich nicht für Vereinsarbeit im sozialen Bereich begeistern könnte. Sie hatte nicht einmal einen Flyer dabei. „Spontane Eingebung“, nannte sie es. Ganz offensichtlich war sie ein ganz klein wenig verrückt. Fand ich super, denn das war ich ebenfalls. Vielleicht war das Freundschaft auf den ersten Blick, wenn es sowas gab. Auf jeden Fall war mir klar, dass ich sie kennenlernen wollte. Ich schrieb mich deshalb noch am selben Tag in diesen Verein, den sogenannten SOLV, ein.
Dies war die beste Entscheidung meines bisherigen Lebens. Das Mädchen hieß Sarina, aber alle nannten sie Sari und sie war die witzigste und wärmste Person, die ich bis zu diesem Tag kennenlernen durfte. Der „Sozial Orientierte Lebenshilfe Verein“ hatte eine Niederlassung nur ein paar Straßen von meinem Elternhaus entfernt. Im Internet stand, dass dies sogar der Hauptsitz war. Das fand ich echt merkwürdig, denn ich glaubte immer, diese alte Villa stünde leer. Sie war im Jugendstil erbaut, verziert mit Ranken, Ornamenten und hübschen Frauen- als auch Männerfiguren an den Giebeln. Das war nichts Besonderes, denn alle Gebäude in diesem Viertel entstanden in der Gründerzeit um 1900, so auch die kleine Villa meiner Eltern. Am Haus war kein Hinweisschild angebracht, nichts, das auf den Verein hindeutete, aber trotzdem trafen sich ihre Mitglieder dort mehrmals pro Woche.
„Heute lernst du unseren Chef kennen. Eigentlich Vizechef, aber egal“,
empfing mich meine neue Freundin, die ihren Kopf herumwirbelte und dabei ihre blonden Locken hüpfen ließ. Mit diesem Manöver begrüßte sie eilig die anderen Mitglieder, die so langsam eintrafen. Wir alle setzten uns an eine lange Tafel, einen sehr gut erhaltenen Echtholztisch. Wie alles in dieser Villa, mussten er und die dazu passenden Stühle antik sein. Stilsicher war es fraglos, aber, von der Tafel einmal abgesehen, auch ziemlich verfallen, von innen wie von außen. Vielleicht erzielte der Verein zu wenige Einnahmen, um seine Niederlassung zu sanieren? Besonders vertrauenswürdig kam mir das nicht vor.
Ich sah flüchtig in die Gesichter der vielen fremden Leute am Tisch. Sie reagierten verhalten auf mich und wendeten sich schnell wieder ihren Gesprächen zu. Ich schloss daraus, dass es mir gegenüber Vorbehalte geben musste. So weit, so normal. Ich erinnerte mich daran, wie ich einmal eine Mitschülerin fragte, warum ich ein so verzichtbarer Teil der Gruppe sei. Ihre Antwort war ebenso verletzend wie einfach. Sie beschrieb mich als unnahbar. Da Ganze war schon eine Weile her, aber daran geändert hatte sich überhaupt nichts. Kein Wunder also, dass ich mich so sehr über Saris offene Art freute.
Ihr Ellenbogen stieß mich von der Seite an und holte mich aus meinen unangenehmen Erinnerungen.
„Da ist er!“
Der stellvertretende Geschäftsführer betrat den Raum und augenblicklich kehrte Ruhe in die zuvor regen Gespräche ein. Bei seiner Erscheinung wunderte mich das nicht wirklich. In ein wahrscheinlich super teures, faltenfreies Hemd und Anzughose gekleidet, zu dem es garantiert ein passendes Sakko gab, erfüllte er das optische Klischee eines typischen Frontmanns. Ich fand es nett, dass er mich mit einem Lächeln und wenigen Worten als neues Mitglied begrüßte. Es schien keine große Sache zu sein, dass jemand zur Gruppe stieß. Wenn ich die vielen jungen Leute sah, konnte ich mir vorstellen, wie hoch die Fluktuation sein musste. Das war ganz gut so, denn ich wollte auch nur ein paar Monate bis zum Studium bleiben und dann umziehen.
Nach dem Meeting ging das Gestupse an meinem Arm schon wieder los.
„Und?“
Ich runzelte die Stirn.
„Und, was?“
Sari hob die perfekt gezupften Augenbrauen an, als sie konkreter wurde.
„Rova, Robert-Valentin Lucard, unseren Chef, wie findest du ihn?“
„Macht einen fähigen Eindruck“,
antwortete ich ehrlich. Er war eindeutig Geschäftsmann und ich traute ihm Verhandlungsgeschick zu. So wie sie mich ansah, wollte sie wohl aber eher auf sein blendendes Aussehen hinaus. Da sie mit den Augen rollte, tat ich ihr den Gefallen, das zu sagen, was sie wahrscheinlich hören wollte.
„Er ist hübsch.“
„Hübsch? Lyzzy, hast du Tomaten auf den Augen? Nenn mir einen Mann, der mit ihm mithalten kann!“
Unwillkürlich sah ich zu seinem nun leeren Stuhl und rief ihn mir in Erinnerung. Ein zartes Gesicht, wilde goldene Haare, eindringlicher Blick aus ebenfalls goldenen Augen und ein guter Körperbau. Keine Ahnung, ob es jemanden gab, der mithalten konnte. Irgendein Schauspieler vielleicht. Männer wie er verpufften in meiner Gegenwart, seit ich von einem Schönling wie ihm sitzen gelassen wurde. Naja, das versuchte ich mir jedenfalls einzureden.
„Ist doch egal. So einen hatte ich schonmal. Die haben mehr Freundinnen, als sie zählen können und verletzen einen nur.“ Mein Geständnis regte sie an, ihre Hand auf meine zu legen, wie es eine Freundin tun sollte. Sie wusste ja nicht, wie gut sich das für mich anfühlte.
„Einen wie ihn hattest du garantiert noch nicht. Vertrau mir.“ Einen Konzernchef, ne, da hatte sie recht. Mein Ex war noch im Studium, als ich mit ihm zusammen war. Wir hatten sechs Jahre Abstand, aber Rova war mindestens zehn, wenn nicht gar fünfzehn Jahre älter als Sari, beziehungsweise ich. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln. Wieso dachte ich über so etwas nach? Um mich ging es garantiert nicht, sondern um sie und ihn. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie auf ihn stand und meinen Segen wollte.
Es vergingen zwei Wochen, in denen ich den Verein regelmäßig besuchte. Diesmal stand etwas ganz neues auf dem Plan: Eine Kleiderspende sortieren. Wie immer betrat ich den großen, fast schon saalähnlichen Raum der Villa. Auf dem matt gewordenen Parkettboden lagen ganze Berge von Wäsche. Klamotten aller Art, von neu bis abgeranzt und auch Schuhe fanden sich dazwischen. Ein einziges Chaos und ich sah nur zwei Personen daran arbeiten. Meine Freundin Sari und… den Chef? Wow, wo machte einer wie er noch solche Arbeit?
„Hey Lyzzy, wir haben schon mal ohne dich angefangen“, rief sie erfreut und winkte mir fröhlich mit einer gelben Bluse in der Hand zu. Rova lächelte ebenfalls freundlich in meine Richtung. Sah schon ziemlich gut aus, der Mann, da hatte Sari recht. Ich hoffte für sie, dass es irgendwann zwischen ihm und ihr klappen würde.
So locker wie sonst war die Atmosphäre nicht. Irgendetwas Komisches lag in der Luft, das ich nicht näher definieren konnte. Ich schob mir ein paar Sachen zum Tisch, auf dem ich die Kleidung begutachtete und sortierte, um sie danach zusammenzulegen. Zwar würde die für gut befundene Kleidung im nächsten Schritt in eine Wäscherei kommen, doch trotzdem arbeitete ich ziemlich akkurat, weil ich das zu Hause so gelernt hatte. Da kam das Pedantische meines Vaters in mir durch. So war ich eben. Unruhig machte mich eher der Blick zweier goldener Augen, den ich auf mir spürte. Ich war sicher, dass da gerade meine Leistung beurteilt wurde, was mich direkt ins Schwitzen brachte.
„Wie war die Aktion auf dem Markt am Samstag, Lyz?“, hörte ich die warme, tiefe Stimme meines Beobachters fragen. Warum hatte er sich damit nicht an Sari gewandt? So ein Mist! „Gut, denke ich… hab keinen Vergleich. Waren einige Leute da, die sich Blut abnehmen lassen haben.“
Was war das denn für eine schrecklich formulierte Antwort? Wieso ließen mich meine grauen Zellen ausgerechnet in diesem Moment hängen?
„Mehr als sonst, Rova. Lyzzys positive Art spornt die Leute an, mitzumachen“,
sprang Sari ein, die sich gerade in einem rosa Negligé verheddert hatte. Von ihren lieben Worten peinlich berührt, winkte ich ab. Dass ich dort so gut auf fremde Menschen zugehen konnte, lag doch vor allem an ihrem Einfluss auf mich.
„Wirklich? Das freut mich aber“,
bestätigte er und lächelte Sari breit zu, die entzückt in sich zusammensank. Die zwei waren einfach süß zusammen.
Ich fischte gerade eine blaue Sandale aus meinem Kleiderberg, die da eigentlich nicht hineingehörte.
„Hat einer von euch die andere gesehen?“,
fragte ich in den großen Raum hinein, den Schuh zur Anschauung am Finger baumelnd.
„Hab ihn. Fang!“,
rief der Chef im selben Moment, als er ihn schon warf. Die Sandale landete genau vor mir auf dem T-Shirt, das ich zuletzt zusammengelegt hatte. Geschockt sprang ich auf, weil ich dachte, er trifft mich damit. Eine Hand war zu meiner Brust geschnellt, die nun unter meinen aufgeregten Atemzügen bebte. Sari begann zu Lachen.
„Dein Gesicht, Lyzzy. Du bist total bleich geworden!“
Ja, haha. Wer den Schaden hat und so weiter. Rova machte auch erst einen geschockten Eindruck, aber sein Gesicht erhellte sich zusehends, bis auch er zu Lachen anfing. „Fang! Nicht hüpf hoch!“
Nun schmiss es Sari total weg. Ihr volles, ansteckendes Lachen hallte im Raum wider und erweichte auch mich. Sie wischte sich die Tränen ab, schniefte und sah Rova an, der neben ihr saß.
„Du weißt nicht, wie sehr ich mich freue, dich Lachen zu hören. Lyzzy hat wohl auf jeden diesen positiven Effekt.“
Während mich ein starkes Kribbeln durchflutete, sah Rova ein wenig überrascht aus. Sie nahm einige Hemden auf den Arm, kam zu mir, um sie mit meinem Stapel zu vereinen und flüsterte mir zu:
„Ohne deiner Anwesenheit kann er ein ganz schöner Stinkstiefel werden.“
„Erzähl ihr nicht solche Sachen, Sari!“,
rief er. Dass er sie aus dieser Entfernung gehört hatte, ließ auf ein gutes Gehör schließen. Sie kicherte und verließ dann den Raum… Sekunde, ließ sie mich gerade mit Rova alleine? Na super! Was jetzt?
Ich legte einfach weiter die Kleidung zusammen, die ich für nutzbar hielt. Kaum einen Moment später sprach er mich an. „Sieh mal, Lyz!“
Aus seinem Kleiderstapel zauberte er ein weißes, kurzes Spitzenkleid mit schwarzen Verzierungen und Schleifchen hervor. Zuerst hielt er inne, um es selbst zu betrachten und es dann mit ausgestreckten Armen zwischen sich und mich zu halten. „Wunderschön“,
säuselte ich, ohne nachzudenken.
„Das finde ich auch. Es sieht ganz nach deiner Größe aus. Würdest du es für mich anprobieren?“
Moooment, da musste ich mich verhört haben. Ich sollte was? „Ich? Aber… das geht nicht, Rova. Das hier ist doch kein Selbstbedienungsladen. Ich… kann…“
Er lächelte zärtlich. Das hatte er an diesem Tag schon häufiger getan, aber wie es schien, nur in meine Richtung… Mein Herz drehte fast durch, setzte kurz aus und legte dann richtig los. Rova hielt Blickkontakt. Es war ihm absolut ernst.
„Na gut“,
gab ich nach, nahm das Kleid an mich und verschwand aus dem Raum. Das Badezimmer lag schräg gegenüber, ein großer Raum voller vergilbter Fliesen mit Bordüre im Rosenmuster. Wohl fühlte ich mich darin gar nicht, eher beobachtet, auch wenn es dafür keinen wirklichen Grund gab. Da fiel mir ein, wo war eigentlich Sari abgeblieben? Sie war doch nicht etwa abgehauen?
Mit einem merkwürdig unruhigen Gefühl im Bauch zog ich meine enge Jeans und das Top aus und das Kleid an. Die weiße Spitze fügte sich derart geschmeidig an meinen Körper, dass es fast schon gruselig war, aber betrachten konnte ich mich nirgends. So groß das Bad auch sein mochte, gab es keinen Spiegel darin, oder zumindest keinen intakten, denn ich sah, innerhalb eines goldenen Rahmens an der Wand, Reste von Spiegelscherben. Schade um dieses einst edle Stück.
Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, um zu testen, ob der Rock in die Höhe flog. Keinen Schritt hätte ich vor die Tür des Badezimmers gemacht, wenn er zu wenig Sicherheit geboten hätte. So nackt um die Beine war ich normalerweise nicht unterwegs. Ein komisches Gefühl.
„Unglaublich. Das behältst du auf jeden Fall!“,
begrüßte mich Rova vor Freude strahlend, auf seine Ellenbogen über den Tisch zu mir gelehnt. Etwas ungläubig sah ich an mir herab, denn so wie er reagiert hatte, musste ich richtig gut ausgesehen haben. Es war mir ein bisschen unangenehm, ein so knappes Kleid zu tragen, wo mir meine Mutter doch eingetrichtert hatte, dass nur leichte Mädchen Röcke trugen, die über dem Knie endeten… und dieses endete weit darüber.
„Seh ich damit nicht wie eine Lolita aus?“,
fragte ich unsicher, immerhin erreichte ich gerade mal eine Körpergröße von 1,62 m, und da mogelte ich schon ein bisschen. Rova schmunzelte mich an.
„Würde dich das stören?“
Das war kein „Nein“… also stimmte es wohl. Naja, wenn es ihm gefiel, mochte ich es auch irgendwie. Schon zuvor hatte er mich oft angesehen, aber in diesem Kleid konnte er kaum ein Auge von mir lassen. Er schien zufrieden mit seinem Werk zu sein und obwohl ich so etwas sonst gar nicht mochte, genoss ich seine Aufmerksamkeit ein wenig. Ich hoffte nur, dass er mich nun nicht für ein leichtes Mädchen hielt, ganz so, wie es meine Mutter prophezeite.
Rova und ich unterhielten uns noch etwa eine halbe Stunde über den Verein und Saris Verbleib, bis er aufstand.
„Das reicht für heute, Lyz. Ich habe noch einen Anschlusstermin.“
Er warf sich ein, natürlich zu seiner Hose passendes, blaues Sakko über und begleitete mich nach draußen. Das kam so plötzlich, dass ich keine Chance hatte, mich wieder umzuziehen. Tja und das wiederum hieß, ich musste notgedrungen in diesem knappen Kleid nach Hause gehen. Na, das konnte noch heiter werden.
Es kam wie erwartet. Kaum Zuhause angekommen, beschimpfte mich meine dürre Mutter, die sich dazu ihre hässliche, strenge Brille festhielt, als Hure.
„Ellys! Geh dir sofort etwas anderes anziehen, bevor dein Vater dich sieht!“,
brüllte sie. Meiner Vermutung nach fühlte sie sich von mir bedroht. Aufgrund einiger Komplikationen bei meiner Geburt, hatte ich ihr das Sexualleben gestohlen. Ich, das unerwünschte Kind, verursachte diese irreparablen Schäden. Meine Mutter wurde niemals müde, mir das zu sagen. Ich ganz allein hatte ihr Leben zerstört. Das verstand ich. Deshalb war ich auch nicht wütend auf sie. Geduldig ertrug ich ihr giftiges Gekeife, schließlich war das alles, was ich ihr als Entschuldigung anbieten konnte. Immerhin schlug sie mich nicht, obwohl eine Aggression in ihren Augen funkelte, die ihren Drang danach verriet. Sie klammerte sich an gewisse Moralvorstellungen, die ihr verboten, handgreiflich zu werden. Das gehöre sich nicht in einer gut situierten, bürgerlichen Schicht wie unserer, sagte sie dann gern. Vater hätte mir nicht geholfen, das wusste ich. Ihm war ich dann doch zu gleichgültig.
Zwei Tage später stieß ich wieder beim regulären Mittwochs-Meeting auf Sari. Demonstrativ hatte ich das Kleid wieder angezogen, schon um es ihr vorführen zu können. Sie saß mit zwei Jungs zusammen an der Tafel in der Villa, aber die Kleiderberge waren inzwischen beseitigt worden. Als sie mich sah, sprang sie sofort auf, sprintete zu mir und fiel mir um den Hals, wie sie es seit kurzem immer häufiger tat.
„Ich freu mich auch, dich zu sehen!“,
lachte ich, musste ihr aber auch einen Vorwurf machen.
„Wie konntest du mich nur einfach so mit dem Chef alleine lassen?“
„Was hast du da Phänomenales an?“,
überging sie mich. Ich vergaß die Anklage, denn mir schoss augenblicklich das Blut in den Kopf.
„Das hat mir Rova… geschenkt?“
Sie hüpfte um mich herum und sah mich von allen Seiten an, was mir immer peinlicher wurde, bis sie sich in ihren Komplimenten fast überschlug.
„Das ist toll! Wunderschön! Lyzzy, du bist eine Augenweide, wow! Lass uns shoppen gehen! Du brauchst passende Accessoires!“
„Brauchte ich?“
„Auf jeden!“
Sie drehte sich zum Rest der Anwesenden, vier, nein fünf Mitglieder und rief ihnen zu:
„Wir melden uns ab für heute, bye!“
Dann schnappte sie sich meine Hand und zog mich hinter sich her.
Wie angedroht, schleppte sie mich in einen Schuh- und einen Taschenladen. Eine Lederfarbe, die sich Cognac nannte, passte besonders gut zu meinen kastanienbraunen Haaren, befand sie und empfahl mir, mich damit einzudecken.
Zwei Taschen, zwei Paar Schuhe und einen leeren Geldbeutel später machten wir uns auf den Rückweg. Sari nahm sich wirklich viel Zeit für mich. Ich empfand das als große Ehre. „Warum vergeudest du deine Zeit mit mir? Du… weißt doch fast gar nichts über mich“,
fragte ich viel zu negativ. Mist, dabei mochte sie es doch viel lieber, wenn ich positiv war.
„Vergeuden? Haha, du machst Witze, Lyzzy, du machst mich einfach glücklich!“
„Glücklich?“,
wiederholte ich perplex. Warum musste sie ausgerechnet dieses Wort benutzen? Ich verstand das Glück nicht. Es war zu abstrakt. Ganz ohne, dass ich zu fragen brauchte, versuchte sie es zu erklären.
„Ich find es schön mit dir, kann‘s mir ohne dich schon gar nicht mehr vorstellen. Ich war ein bisschen einsam, bevor wir uns kennengelernt haben.“
„Du klaust mir meinen Text!“,
lachte ich ergriffen und doch fiel es mir schwer, das diesem fröhlichen Mädchen abzukaufen. Wie konnte sie einsam gewesen sein? Ich dachte, sie verstand sich mit allen gut, nicht so oberflächlich wie ich es tat, sondern richtig freundschaftlich. „Bist du schon lange beim Verein?“,
fragte ich, um der Sache nachzugehen.
„Nicht als aktives Mitglied, aber Rova kenn ich schon ewig, falls du das wissen wolltest.“
Eigentlich nicht. Wie kam sie schon wieder auf ihn? Er musste ziemlich viel ihrer Rechenleistung beanspruchen, wenn er ihr immer wieder dazwischen platzte. Es hatte sie echt erwischt. Das machte mir gleich ein schlechtes Gewissen. Er machte nämlich den Eindruck, an mir interessiert zu sein. Ein Gedanke, der mein Herz höherschlagen ließ, aber das musste ich ignorieren. Meiner Freundin den Kerl auszuspannen, kam überhaupt nicht in Frage.
KAPITEL 2
Silber in seinen Adern
Ein paar Wochen verstrichen, in denen ich eine tolle Zeit mit Sari verbrachte. Seit der Grundschule hatte ich keine Freundin mehr wie sie. Mich ihr anzuvertrauen, speziell was meine Familie betraf, blieb trotzdem undenkbar. Nie wieder würde ich jemandem etwas über sie erzählen. Das hatte ich mir vor zwei Jahren geschworen, als mich mein Ex deswegen sitzen ließ.
Von ihm hingegen berichtete ich Sari ausführlich, denn Jungs waren ihr Lieblingsthema, direkt gefolgt von klassischer Weltliteratur. Sie las sehr viel. „Krieg und Frieden“ war eines ihrer Lieblingsbücher, über das sie stundenlang philosophieren konnte. Im Gegenzug berichtete ich ihr von den Problemen anderer Leute, sprich, den Fragen, mit denen ich mich in Hilfeforen auseinandersetzte. Wer hätte gedacht, dass mein Hobby so unterhaltend sein konnte?
Meine Abschlussprüfungen hatte ich erfolgreich hinter mich gebracht und nun endlos viel Zeit, bis das Studium im Oktober losging. Obendrein war Sari in den Urlaub gefahren und ich fiel in ein Loch gefühlter Nutzlosigkeit. Ich wusste einfach nichts mit mir anzufangen.
Ich lag auf dem Bauch auf meinem mit einem Blumenmuster bezogenen Bett und starrte in Richtung meines Laptops, der auf meinem säuberlich aufgeräumten Schreibtisch stand. Mein Rechner war mein kleines Heiligtum, mein Tor zur Welt und doch so wirklichkeitsfremd. Einige User in ein paar Hilfeforen schuldeten mir noch eine Rückmeldung, andere einen Dank, 27, um genau zu sein. Ich konnte nachschauen und doch nur enttäuscht werden, oder aber trat ich mir selbst in den Hintern und bewegte selbigen mal vor die Tür, auch dann, wenn meine Freundin gerade nicht greifbar war.
Der einzige Ort, der mir in den Sinn kam, war das Vereinsgebäude. Donnerstags gab es keine Meetings oder Veranstaltungen, aber eine helfende Hand konnte man sicher immer gebrauchen, vor allem mal eine, die das Haus in Ordnung brachte. Auch zu Hause machte ich den ganzen Haushalt, schuftete wie ein Dienstmädchen, ja wirklich. Ich bekam sogar Geld fürs Kochen und Putzen. Es störte mich nicht weiter. Wenigstens wurde ich gebraucht. Ich schnappte mir also einen Eimer, schmiss ein paar Putzsachen hinein und lief die zwei Querstraßen bis zur alten SOLV Villa. Meine Laune hob sich wieder. Die Sonne kribbelte mir so angenehm auf der Haut und ich hatte wieder einen Sinn für mich gefunden. Alles prima also.
Um ins Gebäude zu gelangen, musste man zuerst durch das quietschende Eisentor und dann durch den verwilderten Garten. Vielleicht würde ich beim nächsten Mal eine Gartenschere mitbringen, um zumindest den Weg etwas freizuräumen, aber zuerst war das Haus dran. Ich betrat die Villa wie selbstverständlich, durch ihre kunstvolle hohe Eingangstür aus Massivholz. Im Haus war vom schönen Wetter draußen kaum noch etwas spürbar, so verdreckt wie die Fenster waren. Dort würde ich anfangen. Sie ragten nur leider so weit empor, dass ich schnell an meine Grenzen stieß. Meine Arme waren einfach zu kurz, um bis an die oberen Scheiben zu gelangen. Na gut, mir blieb nichts anderes übrig, als eine Leiter zu suchen. Im Gemeinschaftsraum Fenster zu putzen, war noch ganz angenehm gewesen, durch eine verlassene Villa zu schleichen, deren Parkett bei jedem Schritt unheilvoll quietschte, war dagegen etwas ganz anderes. Ich klopfte an allerhand Türen und probierte viele der geschwungenen Messingtürklinken aus. Viele Räume waren verschlossen, manche standen leer und andere wurden als Lager genutzt, aber Leiter fand ich keine. Nur viele sehr schöne antike Stühle, auf die ich mich garantiert nicht stellen würde.
Inzwischen glaubte ich, es sei ohnehin niemand im Haus und öffnete die letzten Türen, ohne anzuklopfen. Die Tür am Gangende belehrte mich leider eines Besseren.
In diesem schummrigen Raum empfing mich die Silhouette eines Mannes, auf dessen golden schimmerndes Haar der einzige Lichtstrahl fiel. Er saß allein auf einer Couch, die mit dem Rücken zu mir stand. Nach Frisur und Statur zu urteilen, konnte das nur Rova sein.
„Hoppsa, ich wusste nicht, dass hier jemand ist. Tut mir sehr leid, ich… hätte anklopfen sollen“,
stammelte ich beschwichtigend, aber Antwort bekam ich keine. Oder doch? Hörte ich da ein leises Stöhnen?
Der golden schimmernde Lichtstrahl sank tiefer. Irgendetwas stimmte nicht!
Ich lief in den Raum hinein, um die alte Couch herum und sah Rova vor mir, wie der drohte, langsam von der Sitzfläche zu rutschen. Geistesgegenwärtig machte ich einen Schritt auf ihn zu und versuchte ihn mit aller Kraft zurückzuschieben. Meine Güte war dieser Kerl schwer, aber ich schaffte es. Sein Duft stieg mir betörend in die Nase, als ob das gerade wichtig gewesen wäre.
Als ich glaubte, er säße wieder halbwegs stabil, sprach ich ihn an. Mein Ersthelferkurs war eine Weile her, aber im Prinzip wusste ich, was zu tun war.
„Was ist passiert? Rova?“
„Die Dosis, … sie war zu hoch“,
presste er angespannt aus seinen Lungen.
„Wovon?“,
fragte ich aufgeregt, doch er drohte schon wieder umzukippen, diesmal aber zur Seite. Vielleicht hätte ich ihn in die stabile Seitenlage bringen sollen, setzte mich aber schnell neben ihn, um ihn abzufangen.
Ich trug wieder dieses weiße Kleid, vielleicht weil ich unbewusst gehofft hatte, auf ihn zu treffen. Und das beim Putzen… mir war auch nicht mehr zu helfen und nun bekam ich die Quittung dafür, denn im Schwung war mein Rock an den Oberschenkeln nach oben gerutscht. Sein Nacken lag nun also auf meiner nackten Haut und das fühlte sich ziemlich intim an. Mit einer Hose wäre mir das nicht passiert…
„Du hast eine Überdosis wovon?“,
fragte ich erneut, doch Rova war nicht mehr ansprechbar, bei Bewusstsein aber schon. Das einzig Richtige wäre gewesen, ihn wieder abzulegen und sofort einen Krankenwagen zu rufen, doch er öffnete seine Augen und sah mich durch seine wirren Haarsträhnen hindurch an. Der einzige Lichtstrahl, den die dicken Vorhänge hineinließen, fiel erneut genau auf sein golden schimmerndes Haar. Das machte er doch mit Absicht, denn so sah ich nicht nur seinen Schmerz, sondern wurde von der Makellosigkeit seines Gesichts gefesselt. Fasziniert strich ich ihm eine Strähne aus den Augen, die ihn sicher störte und bemerkte dabei, dass mein Zeigefinger von einer Wunde rot eingefärbt war. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wann und wo ich mich verletzt haben konnte, wenngleich es genügend Möglichkeiten in diesem renovierungsbedürftigen Haus gab. War ich blöd? Ich musste etwas tun! Als ich mich ein kleines Stück aufrechter setzte, damit ich aufstehen konnte, packte Rova mein Handgelenk. Dann führte er meinen blutenden Zeigefinger bis zu seinem Mund.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, als sich seine warmen, weichen Lippen um meinen Finger schlossen. Wollte er verhindern, dass ich sein teures Hemd beschmutzte? Hatte er denn keine anderen Sorgen, als auf sein gutes Aussehen zu achten? „Rova, ich muss aufstehen, einen Notarzt rufen“,
versuchte ich ihm mit sanfter Stimme klarzumachen. Er deutete ein Kopfschütteln an, während er mich die ganze Zeit über anstarrte. Seine stechenden goldenen Augen funkelten mich an wie Sterne in der Nacht. Wie versteinert blieb ich regungslos sitzen und erwiderte seinen Blick. Für mein Herz war das eine Zerreißprobe und das, während ich mich kaum traute, zu atmen.
Es dauerte ein paar Minuten, die sich endlos anfühlten, bis er mir meine Hand wieder überließ und endlich seine Augen schloss. Damit auch ich mich etwas von der Anspannung erholen konnte, seinen Zustand aber trotzdem unter Kontrolle behielt, legte ich meine Hand auf seiner Brust ab, natürlich mit dem blutenden Finger nach oben. So spürte ich nicht nur, wie sich seine Lungen mit Luft füllten und wieder leerten, sondern auch, wie sein Herz kraftvoll gegen seinen Brustkorb hämmerte.
Wobei hatte ich ihn hier nur gestört? Neben ihm sah ich etwas in der Düsternis stehen, das eine zugeklappte Box sein konnte. Gerade, als ich mich ein wenig in diese Richtung lehnte, nahm Rova wieder meine Hand, die er nun an seine Brust presse. Er hauchte dazu ein zärtliches:
„Bleib hier“,
was mich dazu bewog, wieder an die Lehne zu sinken und die Augen zu schließen. Meine Güte, was machte ich da nur? Unterlassene Hilfeleistung nannte man das. Irgendwann, schätzungsweise eine viertel Stunde später, die man mir auch als ganzen Tag hätte verkaufen können, nahm Rova einen tiefen Atemzug und erhob sich danach von meinem Schoß.
Schnell schob ich meinen Rock zurecht, bevor er meine Oberschenkel sah. Ohne ein weiteres Wort zu mir, stand er auf und verschwand taumelnd aus dem düsteren Zimmer. Offenkundig sollte ich ihm nicht folgen.
Sofort flutete auch ich meine Lungen mit der leicht modrigen Luft. Erledigt sank ich in mich zusammen und beugte mich zu der kleinen Box, die ich kurz zuvor erspäht hatte. Nur sie würde mir das Geheimnis verraten können, wovon er sich diese zu hohe Dosis verpasst hatte. Verstohlen rutschte ich an die Metallbox heran, öffnete sie und nahm eines der drei kleinen Fläschchen heraus, die zusammen mit einigen Einwegspritzen darin lagen.
„Argentum Colloidale“ las ich. Das war Latein, ich also aufgeschmissen. Moment, „Argentum“ hatte ich schon einmal im Chemieunterricht gehört, aber es wollte mir einfach nichts Näheres dazu einfallen. Ein wenig überhastet stellte ich es zurück und dabei kippte ein altes, einmal zusammengefaltetes Foto ins Boxinnere, das sorgfältig an der Seite platziert worden war.
Im Gegensatz zur Ursache von Rovas Vergiftung, ging mich dieses Bild überhaupt nichts an und trotzdem konnte ich nicht widerstehen, einen Blick darauf zu werfen. Das schummrige Licht gab sich große Mühe, mir das so schwer wie möglich zu gestalten. Es war anstrengend, die Gesichter der Gruppe auf diesem vergilbten Schwarzweißbild zu erkennen. Der Knick verlief genau durch eine kleine Lücke zwischen dem wahrscheinlich blonden Ehepaar in der Mitte. Links und rechts von ihnen standen je ein weiteres Pärchen. Ihre schicke Kleidung aus der Jahrhundertwende deutete auf wohlhabende Leute hin. Alle sechs waren sie vor einem kleinen Treppenaufgang drapiert worden, der zu einer verzierten Holztür führte, die mir merkwürdig vertraut vorkam.
Warum würde Rova ein so altes Foto zu seinen Medikamenten legen?
Ich drehte es um. Auf der Rückseite des leicht fleckigen Papiers stand etwas, das von einem Kind mit Buntstift geschrieben worden sein musste. „Meine Elisabeth“ und ein Herz dahinter. Nun nahm ich mir jedes Gesicht einzelnen vor. Wer von ihnen war das wohl?
Plötzlich stockte mir der Atem. Das linke Paar… nein, das war unmöglich. Der junge Mann links sah aus wie eine etwas jüngere Version von Rova, aber noch viel verstörender fand ich die Frau neben ihm.
Trug sie… etwa mein Gesicht? Ihre Haare waren länger und ihr Ausdruck selbstbewusster als meiner, aber sonst…?
Mir platzte fast der Brustkorb vor Schreck, als Rova, in frischer Kleidung, den düsteren Raum betrat. Ohne jede Spur seines so typischen Lächelns, kam er schnurgerade auf mich zu.
„WAS hast du gesehen?“
„W-Was ist das für ein Zeug, das du dir da spritzt?“,
kam mir ausweichend über die Lippen. Er ignorierte auch diese Frage und kam stattdessen unvermittelt auf mich zu, um die Couch herum zum Medizinköfferchen. Sofort bemerkte er das offen darauf liegende Gruppenfoto, klappte das Köfferchen zu und verschloss es mit einer kleinen Metallkappe.
„Hast du dir dieses Foto genauer angesehen?“,
bohrte er unruhig nach, aber mit weicherer Stimme als zuvor. Immerhin stand er nun direkt vor mir.
„Dein Blick sagt mir, dass dir die beiden Personen links aufgefallen sind. Mitunter ist das ganz gut so, denn ich wusste nicht, wie ich es dir beibringen soll.“
Sichtlich erschöpft setzte er sich neben mich und versuchte mir diesen verstörenden Umstand zu erklären.
„Dieser Mann ist mein Großvater. Mir ist schon vor einiger Zeit aufgefallen, dass du seiner ersten Frau gleichkommst, nicht meine Großmutter, wohl aber seine große Liebe. Sie starb in jungen Jahren.“
„Elisabeth?“
Daraufhin nickte er, ließ ermattet den Kopf hängen, beugte sich nach vorn und legte seine Unterarme auf seinen Oberschenkeln ab. Ich kombinierte und plapperte unüberlegt los: „Daher kommt dein Interesse an mir also?“
Eine bessere Frage, als diese Unterstellung, fiel mir nicht ein? Unter Stress funktionierte ich einfach nicht.
Dieser Mann glaubte doch nicht etwa an das Übernatürliche!? An Wiedergeburt und dass wir füreinander bestimmt waren, oder so einen Quatsch? Da sträubten sich mir die Nackenhaare. Ich war nicht religiös, mochte weder Fantasy-Kram, noch Esoterik, was mich zu einer überzeugten Realistin machte. Und als solche wusste ich eines ganz genau: etwas wie Schicksal gab es nicht. Das war obendrein eine der wenigen nützlichen Weisheiten meines Vaters.
Wichtiger war es ohnehin, sich um Rovas Gesundheit zu kümmern, anstatt über dieses Bild zu diskutieren, deshalb sprang ich auf und reichte ihm die Hand.
„Es ist jetzt wichtiger, dich endlich zu einem Arzt zu bringen.“ „Ich habe eine medizinische Ausbildung und kann mich selbst medikamentieren, Lyz“,
antwortete er, ohne meine Hand zu ergreifen, wohl aber den Kopf zu heben. Ich machte mir viel zu große Vorwürfe, um mich so leicht abschütteln zu lassen.
„Dann begleitete ich dich nach Hause, wo immer das ist, okay?“
„Ich bin hier zuhause.“
Damit hatte ich nicht gerechnet und prompt platzte es aus mir heraus:
„In dieser Bruchbude?“
Ups, das war zu viel. Natürlich entschuldigte ich mich direkt bei ihm, auch weil ich dann streng genommen in sein Haus eingebrochen und in seine Privatsphäre eingedrungen war, doch es war zu spät. Alles war zu spät, denn ich hatte ihn sichtlich verletzt.
Ich machte einen Schritt in Richtung Tür, weil er mich offensichtlich nicht mehr um sich haben wollte. Schüchtern, mit einem abgehackten Winken verabschiedete ich mich.
„Ich hab für heute genug Mist gebaut. Ich… gehe jetzt besser.“ Auch er erhob die Hand zum Abschied, leider ohne mir etwas Tröstliches mitzugeben. Noch im Gehen drehte ich mich um und sah, wie er hinter mir wieder auf der Couch in sich zusammensank. Was hatte ich da nur angestellt? Tränen bildeten sich in meinen Augen, als ich kopflos nach draußen stürmte und natürlich meinen Putzeimer bei ihm vergaß.
Auf der Straße angekommen, wandte ich mich noch einmal zu der alten, wirklich heruntergekommenen Villa um. Kein Wunder, dass mir die Umgebung auf dem Foto so vertraut vorgekommen war. Es musste genau dort aufgenommen worden sein, wo ich gerade stand. Egal was an dieser verrückten Sache mit den gleich aussehenden Leuten dran war, schien dieses Haus schon lange in seinem Familienbesitz zu sein. Oder aber hatte er das Foto im Haus gefunden, was nicht weniger merkwürdig gewesen wäre.
Zu Hause angekommen machte ich mir zuerst ein Pflaster über die kleine Wunde an meinem Zeigefinger. Ich strich bedächtig darüber und bekam dabei mächtiges Herzklopfen. Dieser geheimnisvolle Kerl war nicht der Richtige für mich. An die Seite eines Frontmannes gehörte eine Frontfrau, nicht ein schüchternes Ding wie ich. Außerdem war er viel zu hübsch. Auf keinen Fall wollte ich wieder einen, den jede wollte, denn er würde sich jede nehmen. Nicht zu vergessen, dass er abergläubisch war. Bei diesem Mann ließ ich Sari nicht nur aus Freundschaft den Vortritt. Wenn ich eines in meinem Leben nicht gebrauchen konnte, dann einen Typen, der mir das Herz brach.
Ich versuchte mich abzulenken und sah nach, ob ich Reaktionen auf meine Antworten in den Hilfeforen erhalten hatte. Ich fand tatsächlich drei, die ich… nicht las. Wie von selbst gab ich stattdessen das Suchwort „Argentum Colloidale“ ein. Auch kolloidales Silber genannt, diente es, laut Wikipedia, vor etwa einem Jahrhundert der Infektionsbekämpfung, als man noch keine wirksameren Mittel kannte. In der Schulmedizin setzte man es also nicht mehr ein, aber Rova meinte, er könne sich selbst medikamentieren. Wahrscheinlich litt er an einer Krankheit, die er versuchte, mit alternativen Mitteln zu bekämpfen.
Aber er sagte auch etwas von einer zu hohen Dosis. Wie sollte das bei einer Spritze überhaupt funktionieren? Er musste doch die genauen Milliliter in den Zylinder gesogen haben, nicht mehr und nicht weniger. Warum log er mich an? Hielt er mich für einfältig?
Ich versuchte Rova aus meinen Gedanken zu verdrängen, womit ich nur wenig Erfolg hatte. In der Realität klappe es dagegen prima, denn er verschwand wochenlang weitestgehend von der Bildfläche. Ich fand es gut so, denn ich hatte keine Ahnung, worüber ich mit ihm sprechen sollte, ohne dass es peinlich werden würde.
KAPITEL 3
Ich will nicht, dass du gehst
Mein Studium rückte näher und das bedeutete, ich würde endlich aus meinem Elternhaus herauskommen und ins Studentenwohnheim umziehen können, das ab Oktober gemietet war. „Soziale Arbeit“ hieß der Studiengang, in den ich mich eingeschrieben hatte. Den NC von 1,7 erreichte ich gerade so. Die 2 in der Deutschprüfung hatte mich fast noch rausgekickt, was fatal gewesen wäre, da ich keine andere Idee für meine Zukunft hatte.
Für das Ehrenamt zwei- bis dreimal die Woche mit dem Zug anzureisen, hielt ich für keine gute Idee. Es hieß also, dass ich vom SOLV und seinen Mitarbeitern Abschied nehmen musste. Eigentlich sollte das keine große Sache sein, dachte ich und sofort verkrampfte sich mein Magen. Er war da offenbar ganz anderer Meinung.
Meinen Austritt aus dem Verein musste ich meinen Kollegen nämlich noch beibringen. Ich hätte das gleich zu Beginn tun sollen, denn später gab es keine Gelegenheit mehr… Nicht einmal Sari wusste Bescheid, aber mit ihr würde ich mich regelmäßig treffen, so sehr, wie sie mir ans Herz gewachsen war. Der einzige, den ich informiert hatte, war der Geschäftsführer August Lucard, dem ich meinen Austrittsantrag per E-Mail zukommen ließ. Er trug interessanterweise den selben Nachnamen wie Rova, was mir vorher noch gar nicht aufgefallen war, ein Familienunternehmen also. Er schien eine andere Niederlassung zu bevorzugen, denn ich hatte ihn noch nie gesehen, was mich nicht wunderte, wenn ich an die halb verfallene Villa dachte.
Im Wochenmeeting hatte ich mir von Angeline, einer lieben Mitarbeiterin, einen eigenen Tagesordnungspunkt zuteilen lassen und das sollte schon verräterisch genug sein, um zu erraten, dass ich aufhören wollte. Was hätte ich diesen ganzen Leuten wohl sonst mitteilen wollen? Diesmal waren zwölf Mitglieder anwesend, nicht besonders viel, aber genug, um mir Angst zu machen. Vor vielen Menschen zu sprechen, lag mir einfach nicht. Ihre beurteilenden Blicke auf mir zu spüren war schrecklich!
Wie zu jedem Meeting saßen wir alle zusammen an der langen Tafel im größten Raum der Villa. Ich hatte es seit jenem Erlebnis unterlassen, hier etwas verbessern zu wollen. Es war Rovas Haus und er musste selbst wissen, in welchem Zustand er es haben wollte, auch wenn er von meiner Seite nicht gerade auf Verständnis damit stieß. Your home is your castle. Das sollte man in Ordnung halten.
Wie sie es oft zwischendurch tat, scherzte Sari mit zwei jungen Männern herum, von denen sie ab und zu erzählt hatte. Alexander, der mit seinem Metallica T-Shirt und seinen schwarz gefärbten, langen Haaren wahrscheinlich ein Metal-Fan war, hatte immer ein freches Grinsen auf dem Gesicht, außer er sah mich an, dann verlor er es. Bei Peter, einem dunkelblonden Kerl, der immerzu sportlich gekleidet war, fiel die Reaktion noch heftiger aus. Er war immer bedacht, Abstand zu mir zu halten, hatte mir nicht ein einziges Mal „Hallo“ oder „Tschüss“ gesagt. Zu ihr waren sie so nett, laut ihren Storys sogar beide verschossen in sie, aber mich konnten sie nicht leiden. Vielleicht, weil ich ihnen ihre süße Sari streitig machte. „Lass sie uns in Zukunft gemeinsam trinken“,
forderte Peter an Sari gerichtet, die sich Alexanders Arm griff und prompt im Singsang antwortete:
„Hihi, das wird dir auch nicht helfen. Damit hat es nämlich überhaupt nichts zu tun.“
Waren sie und Alexander nun ein Paar? So wirklich klar war mir das nicht, schon weil sie es auf direkte Nachfrage hin abstritt. Auch wenn sie mir von ihren Neckereien berichtete, hielt sie sich über ihr Liebesleben bedeckt. Aber ich erzählte ihr ja auch nicht, was für ein Feuerwerk in mir startete, wenn Rova den Raum betrat. Vielleicht war unser gegenseitiges Vertrauen doch nicht so groß, wie ich zuvor so euphorisch gedacht hatte.
Die Eröffnung der Sitzung durch Rova hatte den typischen Effekt disziplinierter Stille im Raum, während ich wieder dieses Kribbeln bekam. Wahrscheinlich sah ich meinen Chef zum letzten Mal. Ein bisschen Reue spielte da schon mit hinein. Als er an meinem Tagesordnungspunkt angelangte, lächelte er mir entspannt zu und fragte interessiert, was denn mein Anliegen sei. Es fiel mir unglaublich schwer, es auszusprechen, aber nun konnte ich nicht mehr davonlaufen. Ich berichtete von meinen Zukunftsplänen außerhalb des Vereins und von meiner Idee, stattdessen dem Cosmopolitan Club der Hochschule dabei zu unterstützen, ausländischen Studenten beim Einstieg zu helfen. Mein Chef saß an der anderen Seite der Tafel und damit am weitesten von mir entfernt, doch trotzdem sah ich deutlich, wie er den Glanz in seinen Augen verlor und sein Lächeln versiegte. Vielleicht, um mich besser erkennen zu können, lehnte er sich nach vorn auf seine Ellenbogen über den Tisch.
„WAS?! Du willst weiterziehen und mich hier zurücklassen,
Lyz? Was glaubst du, wieso…? Was hab ich getan?“
Bezog er das etwa auf sich? Was für ein Quatsch!
Die meisten anderen an der Tafel überraschte mein Austritt nicht, aber er schüttelte nur verständnislos den Kopf. Es war ihm gelungen, die von mir verdrängen Schuldgefühle anwachsen zu lassen.
„A-aber Rova, das hat doch nichts mit dem Verein zu tun und auch… auch mit dir nicht.“
Seinen Blick von mir abwendend, lehnte er sich nun nach hinten an die kunstvoll verzierte Stuhllehne, verschränkte seine Arme und murrte:
„Kann ein anderer die letzten zwei Tagesordnungspunkte für mich durchgehen? Mir ist die Lust daran vergangen.“
Angeline, die freundlicherweise schon seit einigen Minuten das Protokoll ausgesetzt hatte, übernahm die Leitung des Meetings, zog das Blatt, das vor Rova lag, zu sich und versuchte den Rest zu moderieren. Er beteiligte sich nicht mehr am Gespräch, platzte jedoch schon nach kurzer Zeit mit einer verstimmten Anklage dazwischen:
„Habt ihr das alle gewusst, oder warum bleibt ihr so gefasst? Warum sagt mir das keiner? Ich bin euer Chef und erfahre es als Letzter!?“
Nun zog er auch noch die anderen mit hinein. Mann, ich konnte es doch nur deshalb nicht früher ansprechen, gerade WEIL es mir beim SOLV gefiel. Wie sollte ich ihm das vor den anderen erklären, ohne respektlos zu wirken? Das war eher etwas für ein Vieraugen-Gespräch. Sari sprang für mich in die Bresche und machte damit alles nur noch schlimmer.
„Ich hab es auch nicht gewusst. Lyzzy hat es nicht nur dir verschwiegen, Rova“,
Ja klasse, sie war genauso sauer auf mich. Nicht ganz unverdient, eher sehr verdient sogar, denn egal, wie sehr ich mich bemühte ein guter Mensch zu sein, kam nie etwas Gutes dabei heraus, wenn ich mich jemandem annäherte. Ich hoffte einfach nur noch, dass das Meeting schnell zu Ende ging, damit ich mich verkriechen konnte.
Mein Chef war der Erste, der wutentbrannt aus dem Raum stürmte, ohne mich noch einmal anzusehen, oder sich von mir zu verabschieden. Er war überhaupt der Einzige, der so eine große Sache daraus machte, denn alle anderen verabschiedeten sich nach und nach höflich von mir. Sogar Sari hatte sich schnell wieder gefangen, als ich ihr gestand, dass ich sie am liebsten jedes Wochenende sehen wollte. Von einigen anderen bekam ich ein paar Wortfetzen mit. Offenbar war nicht ich das Gesprächsthema, sondern Rova.
„…ich verstehe nicht, was das Theater soll“
und
„…er erzählt uns doch nichts.“
Ich besprach mich noch eine ganze Weile mit Sari, bis sie sich verabschiedete. Als kaum mehr jemand von den anderen anwesend war, ging ich im Haus auf die Suche nach Rova. Egal wie groß meine Scheu vor ihm auch gewesen sein mochte, auf diese Weise durfte ich es nicht enden lassen. Besonders erwachsen fand ich sein Verhalten nicht, vor allem nicht für einen Chef. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Mein Austritt musste ihn hart getroffen haben.
Da es Abend und inzwischen dunkel geworden war, tauchte das schwache Licht der edel verzierten, aber leider sehr staubigen Wandleuchter die alten holzvertäfelten Gänge in eine düstere Atmosphäre. Bis nach Sonnenuntergang hatte ich mich zuvor noch nie in diesem Haus aufgehalten und ich wusste nun auch, warum. Es war total gruselig. Beunruhigt zwang ich mich Meter für Meter näher an das Zimmer heran, in dem sich Rova beim letzten Mal aufgehalten hatte, jener Raum mit den schweren Vorhängen und der alten Couch.
Er hatte die Tür einladend für mich offenstehen gelassen. Wie erwartet saß er mit dem Rücken zu mir auf der verschlissenen Couch allein im Zimmer. Wieder zeichneten sich nur seine Umrisse ab, aber er war es eindeutig. Die schweren Vorhänge waren diesmal vollständig aufgezogen und offenbarten einen wunderschönen Blick hinaus auf den dunklen Nachthimmel. Rova bemerkte mein Eintreten, da mich das knarzende Parkett verriet. Kurz hinter der Tür blieb ich stehen, als er kühl fragte: „Nun, wo niemand mehr mithört, kannst du ehrlich sein! Es liegt an mir, dass du gehen willst. Ich habe dich erschreckt. Hättest du das Foto doch nie zu Gesicht bekommen!“
Er seufzte gequält, drehte sich auf der Couch zu mir um und legte seinen Arm dabei auf der Lehne ab.
„Warum hast du mir deine Pläne nicht mitgeteilt? Es hätte so viele andere Möglichkeiten für dich gegeben, als aufzuhören. Du hättest SOLV Botschafterin an deiner Hochschule werden können und Spendenevents für uns organisieren. Hätte dir das nicht gefallen?“
Seine Worte trafen mich mitten ins Herz. Nichts, was ich sagen konnte, würde das alles wieder gut machen können, aber irgendetwas musste ich doch entgegnen.
„So habe ich das bisher noch gar nicht betrachtet.“
Seine düstere Gestalt erhob sich und kam auf mich zu. Sie hatte etwas Unheilvolles an sich, das mich nicht unbedingt aufbaute.
„Weil dir die Weitsicht fehlt. Du bist eben noch sehr jung… oder hast du Geheimnisse vor mir? Ich muss wissen, ob es etwas mit mir zu tun hat!“
Wieder benutzte er diesen anklagenden Ton. Was sollte das?
Ich war ihm doch nichts schuldig und nun nahm er mich so in die Mangel. Am liebsten wollte ich schnell wieder verschwinden, aber ich war wie festgefroren in meiner Position. Dass ich nicht von der Stelle kam, stresste mich zusätzlich. Die Situation entglitt mir allmählich.
„Hör bitte auf, mich anzuklagen, Rova! Ich hab vorhin schon gesagt, dass du nichts damit zu tun hast. Die Welt dreht sich doch nicht nur um dich!“
Uuups, was war mir da im Eifer des Gefechts herausgerutscht? Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund. So wie ich meinen Chef angefahren hatte, erwartete ich nun einen achtkantigen Rauswurf von ihm, wohlverdient. Komischerweise schien das Gegenteil der Fall zu sein, denn er wurde ganz ruhig und kam auch den letzten Meter zu mir heran, näher als mir andere Menschen normalerweise kamen. Meine Beine bewegten sich nur leider keinen Schritt rückwärts. Sanft hauchte er mir ins Ohr, was mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.