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Douglas Preston

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Beschreibung

»Der Mann starrte auf das Serum. Das war es, wonach die Menschheit seit Urzeiten gesucht hatte: der wahre Odem Gottes. Es hatte viele Opfer gefordert, um seiner habhaft zu werden. Sie waren es wert gewesen …« Im Untergrund von New York wird bei Bauarbeiten ein unheimliches Beinhaus entdeckt: Ende des 19. Jahrhunderts hat ein Serienkiller Menschen bei lebendigem Leibe Rückenmark entnommen, um eine Formel für die Verlängerung seines Lebens zu finden. Als nach einer Zeitungsmeldung über den Fund ganz ähnliche Mordtaten geschehen, greift in der Millionenmetropole Panik um sich. Lebt der besessene Wissenschaftler dank seiner Formel noch immer? Formula von Lincoln Child, Douglas Preston: Spannung pur im eBook!

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Seitenzahl: 782

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Ähnliche


Douglas Preston / Lincoln Child

Formula

Tunnel des Grauens / Thriller

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Fröba

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Widmung

Das Beinhaus

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Männer im Dienste der Wissenschaft

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Begegnungen und Konfrontationen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Viel, viel Wurm

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Der Pferdeschwanz

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Das düstere alte Haus

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

All die hässlichen kleinen Schnitte

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Wettlauf mit dem Tod

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

In den Klauen des Bösen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Epilog:Der Stein der Weisen

Ein Wort des Dankes

Leseprobe »Death – Das Kabinett des Dr. Leng«

Douglas Preston und Lincoln Child widmen dieses Buch den Lehrern, Professoren und Bibliothekaren Amerikas, besonders denen, die unser Leben geprägt und beeinflusst haben.

Das Beinhaus

   

1

Pee-Wee Boxer blickte mit Abscheu auf die Baustelle. Der Polier war ein Großmaul und seine Crew ein zusammengewürfelter Haufen von Stümpern. Der Schlimmste war der Baggerführer, der offenbar keinen blassen Schimmer davon hatte, wie man einen Cat bedient. Vielleicht war er durch die Gewerkschaft zu seinem Job gekommen, oder irgendein guter Freund hatte ihm dazu verholfen. Jedenfalls fuhrwerkte er herum, als säße er zum ersten Mal auf einem Hochleistungs-Queens. Boxer stand mit verschränkten Armen da und beobachtete, wie sich die mächtige Schaufel in den Steinschutt grub, der von den abgerissenen Wohnblocks übrig geblieben war. Sie hob sich, brach die Aufwärtsbewegung jäh ab, startete unter jämmerlichem Jaulen der Hydraulik einen neuen Versuch und schaukelte dann unkontrolliert hin und her. O Gott, wo hatten sie bloß diesen Komiker aufgetrieben?

Er hörte knirschende Schritte hinter sich, drehte sich um und sah den Polier näher kommen, das verschwitzte Gesicht über und über mit Staub beschmiert. »Boxer, hast du ’ne Eintrittskarte für die Show gelöst, oder was?«

Boxer ließ die Muskeln seiner kräftigen Arme spielen und tat, als habe er nichts gehört. Er war der Einzige auf der Baustelle, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hatte, und das genügte den anderen, um ihn schief anzusehen. Ihm war’s egal, er blieb sowieso am liebsten für sich allein.

Er hörte, wie die Baggerschaufel sich ratternd in das massive ehemalige Fundament wühlte. Seitdem es vollständig freigelegt war, sah die Baugrube im hellen Sonnenlicht wie eine frische Wunde aus – ganz oben Asphalt und Zement, darunter Ziegelsteine, Steinschutt und wieder Ziegelsteine, dann erst kam lockeres Erdreich. Damit sie das Fundament des geplanten glasverkleideten Apartmentturms direkt auf den gewachsenen Fels setzen konnten, mussten sie sich tief in den Boden wühlen.

Boxer ließ den Blick über die Baustelle schweifen. Im Hintergrund, an der Lower East Side, leuchteten die wie Kettenglieder aneinander gereihten Wohnhäuser aus rötlichem Ziegelstein im hellen Licht des Nachmittags. Einige waren gerade erst renoviert worden, der Rest sollte in Kürze folgen. Die so genannte Stadtsanierung für soziale Aufsteiger.

»He – Boxer! Bist du taub?«

Boxer spannte wieder die Muskeln und erging sich einen Moment in der Vorstellung, dem Kerl die Faust in das verschwitzte, widerlich rote Gesicht zu pflanzen.

»Nun mach schon, setz deinen Arsch in Bewegung! Hier läuft keine Peepshow ab.«

Der Polier reckte den Kopf, kam aber vorsichtshalber nicht näher. Und daran tat er gut. Boxer musterte die Männer, die Ziegel zu einem Stapel aufschichteten. Jede Wette, dass sie die an irgendeinen überkandidelten Yuppie verscherbeln wollten, der die mit Mörtel bekleckerten Abbruchreste für den letzten Schick hielt und pro Stück locker fünf Dollar hinblätterte. Schließlich setzte er sich betont langsam in Bewegung, um zu demonstrieren, dass er sich von dem Polier nicht herumschubsen ließ.

Irgendwo laute Rufe, der Lärm des Baggers verstummte jäh. Der Cat hatte sich in eine Mauer gewühlt, hinter der ein dunkler, baufällig aussehender Hohlraum lag. Als der Baggerführer aus der Kabine kletterte, stapfte der Polier stirnrunzelnd zu ihm hinüber, dann redeten beide eine Weile aufgeregt aufeinander ein.

»Boxer«, rief der Polier, »du hast doch offenbar nichts zu tun, wie? Na gut, ich hab hier was für dich.«

Boxer änderte seinen Kurs so unauffällig, als wäre er ohnehin Richtung Bagger unterwegs gewesen, dachte aber nicht daran, den Kopf zu heben oder dem Polier gar zu signalisieren, dass er ihn gehört hatte. Den aufgeblasenen Fatzke immer schön links liegen lassen! Knapp vor dem schmächtigen Mann blieb er stehen und starrte demonstrativ auf dessen schmutzige Stiefel. Kleine Füße, kleiner Schwanz.

Schließlich hob er langsam den Kopf.

»Schön, dass du wenigstens Notiz von mir nimmst, Pee-Wee.

Guck dir das mal an!«

Boxer schielte flüchtig zu dem Hohlraum hinüber.

»Gib mir deine Taschenlampe!«

Boxer hakte die gelbe Stablampe aus der Haltelasche und hielt sie dem Polier hin.

Der schaltete sie ein, murmelte mit spöttischer Bewunderung »O Mann, die brennt ja sogar«, und beugte sich weit über den Mauerrand. Ein ausgemachter Volltrottel, dachte Boxer, als der Polier sich auf Zehenspitzen tief über die Mauer beugte. Er murmelte etwas, was aber nicht zu verstehen war, und kam schließlich wieder hoch.

»Sieht aus wie ein unterirdischer Gang.« Er fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht und verteilte den schmierigen Film aus Schweiß und Staub in die Breite. »Und da unten stinkt’s wie die Beulenpest.«

»Haste irgendwo König Tut gesehen?«, rief jemand.

Alle außer Boxer lachten. Wer, zum Teufel, war König Tut?

»Ich hoffe, verdammt noch mal, dass das nicht so was Archäologisches ist«, knurrte der Polier und wandte sich zu Boxer um. »Pee-Wee, so ’n großer, kräftiger Kerl wie du sollte sich das mal aus der Nähe ansehen.«

Boxer nahm die Stablampe, ignorierte die anderen, die sich neben ihm wie Winzlinge ausnahmen, und stemmte sich durch das Loch, das der Bagger geschlagen hatte. Er kauerte auf der Halde aus zertrümmerten Ziegelsteinen und glitt mit dem Lichtstrahl kreuz und quer durch die unterirdische Höhle. Es schien tatsächlich ein langer, niedriger, an den Seitenwänden und der Decke von bedrohlichen Rissen durchzogener Tunnel zu sein. Sah aus, als würde er jeden Moment einstürzen. Boxer zögerte unschlüssig.

»Gehst du nun rein, oder was?«, drängte von oben die ungeduldige Stimme des Poliers.

Einer der Arbeiter witzelte in weinerlichem Ton: »Davon steht nichts in meinem Gewerkschaftsvertrag!« Die anderen reagierten mit schallendem Gelächter.

Boxer kroch über den Steinschutt weiter in den Stollen.

Der Boden des unterirdischen Gangs war mit zerbrochenen oder zu Schutt zersplitterten Ziegelsteinen bedeckt. Boxer musste sich, von aufgewirbeltem Staub umwölkt, kriechend vorarbeiten, bis er einigermaßen festen Boden unter den Füßen hatte und sich aufrichten konnte. Er leuchtete mit der Stablampe ins Dunkel, aber der Staub, der in der Luft hing, verschluckte den Lichtstrahl schon nach wenigen Metern. Boxer wartete, bis der Dunst sich gesetzt hatte und seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt waren. Er hörte, dass die Männer oben sich lachend unterhielten, was seltsam gedämpft klang, wie aus weiter Ferne.

Er ging ein paar Schritte weiter und schwenkte den Lichtstrahl hin und her. Von der Decke hingen Stalaktiten wie dünne Fäden. Ein Schwall übel riechender Luft schlug ihm entgegen. Tote Ratten, vermutlich.

Der Tunnel schien leer zu sein, nur ein paar Brocken Kohle lagen herum. Links und rechts waren roh mit Ziegeln zugemauerte und oben abgerundete Nischen in die Wände eingelassen, etwa einen Meter breit und anderthalb hoch. An den Stollenwänden glitzerte Wasser, das monotone Tröpfeln erinnerte an gedämpften, eintönigen Chorgesang. Ansonsten herrschte Grabesstille, der unterirdische Gang verschluckte alle Geräusche aus der Welt, die irgendwo über ihm lag.

Boxer wagte noch einen Schritt, den Lichtstrahl der Lampe abwechselnd auf die Wände und die Decke gerichtet. Das Netz aus Rissen schien dichter zu werden, immer wieder rieselte feiner Schutt auf ihn herab, stellenweise vermischt mit größeren Brocken. Er blieb stehen und suchte mit einem mulmigen Gefühl die zugemauerten Nischen ab.

Schließlich ging er vorsichtig auf die nächstgelegene zu. Die Ziegelmauer machte keinen sonderlich Vertrauen erweckenden Eindruck, ein Stein war schon herausgebrochen, die übrigen sahen ebenfalls locker aus. Aber irgendwie ließ ihm die Frage keine Ruhe, was sich wohl dahinter in den Nischen verbergen mochte. Seitengänge? Oder hatte jemand etwas Wertvolles verstecken wollen?

Er richtete die Stablampe auf die Stelle, an der der Stein herausgebrochen war, konnte aber außer nachtschwarzer Dunkelheit nichts ausmachen. Er schob die Hand in das Loch und fing an, den darunter liegenden Stein hin und her zu bewegen. Wie er sich’s gedacht hatte: Der war auch schon locker. Er brach ihn heraus, was prompt eine kleine Staublawine auslöste. Dann nahm er sich den nächsten vor – und noch einen. Der widerliche Gestank wurde stärker, er kam direkt aus dem Loch.

Boxer leuchtete abermals in den Hohlraum. Noch eine Wand, etwa einen Meter hinter der ersten. Er richtete den Lichtstrahl auf den Boden. Da lag irgendetwas, eine Art Porzellanschüssel. Von dem widerlichen Gestank fingen ihm die Augen zu tränen an, er zog sich ein paar Schritte zurück, hin- und hergerissen zwischen Neugier und der vagen Ahnung, dass er sich womöglich einer unbestimmten Gefahr aussetzte. Irgendjemand hatte irgendetwas da drin verborgen, so viel stand fest. Vielleicht etwas Altes, Wertvolles. Warum hätte er sich sonst die Mühe gemacht, eine Mauer hochzuziehen?

Boxer kannte einen, der hatte bei Abbrucharbeiten einen Beutel mit Silberdollars gefunden. Seltene Münzen, ein paar Riesen wert. Der Typ hatte sich von dem Erlös einen nagelneuen Mähtraktor kaufen können. Falls er hier tatsächlich auf etwas Wertvolles stieß – zum Teufel mit den anderen, was es auch war, er würde es für sich behalten.

Er knöpfte den Overall auf, zog das Unterhemd hoch und stülpte es sich über Mund und Nase. Dann steckte er die Stablampe durch das Loch, gab sich einen Ruck und schob Kopf und Schultern hinterher.

Ein paar Sekunden hing er reglos in der Öffnung, wie erstarrt. Dann zuckte sein Kopf unwillkürlich zurück und stieß hart gegen die oberen Ziegel. Die Lampe rutschte ihm aus der Hand, er taumelte rückwärts und holte sich prompt die nächste Schramme, diesmal an der Stirn. Er hetzte, die Hände als Fühler ausgestreckt, durch den dunklen Stollen, stolperte über Steine und fiel der Länge nach hin.

Totenstille umgab ihn. Als der Staub sich etwas verzogen hatte, sah er in einiger Entfernung einen schwachen Lichtschimmer. Das musste der Ausgang sein. Der widerliche Gestank schwappte über ihn weg. Er raffte sich stöhnend auf, kroch auf allen vieren auf den Lichtschimmer zu, schaffte es bis zu dem Schutthaufen am Stollenende, wollte drüber klettern, stürzte, krallte sich mit beiden Händen fest und zog sich hoch. Und dann war er endlich draußen, zurück im Sonnenlicht und in der frischen Luft. Als er oben war, verließen ihn die Kräfte. Er zwängte sich durch das Loch und kippte vor Erschöpfung nach vorn. Gelächter wurde laut, das aber abrupt verstummte, als er sich auf den Rücken rollte. Alle kamen angerannt, wollten ihm auf die Beine helfen, redeten ohne Punkt und Komma auf ihn ein.

»Mein Gott, was ist passiert?«

»Er hat sich verletzt, ist ganz blutig.«

»Nicht bewegen, lasst ihn liegen! Ruft mal einen Krankenwagen!«

»Was war’s denn? Ein unterirdischer Gang?«

Boxer starrte die Männer an, versuchte durchzuatmen und den rasenden Pulsschlag unter Kontrolle zu bringen. Und irgendwann brachte er stammelnd das Wort »Knochen« heraus.

»Knochen? Was meinst du damit?«

Boxer spürte warmes Blut über sein Gesicht rinnen. Aber wenigstens konnte er allmählich wieder klar denken. »Schädel«, sagte er. »Dutzende Schädel. Und viele Knochen. Alle aufeinander geschichtet.«

Dann wurde ihm schwindelig. Er ließ sich nach hinten kippen und badete das zerschundene Gesicht im Sonnenlicht.

2

Nora Kelly stand am Fenster ihres Büros im vierten Stock des New York Museum of Natural History. Sie sah auf das Kupferdach, die Kuppeln, die Minarette, die Fratzen der Wasserspeier auf den Türmen und die große grüne Lunge des Central Parks bis zu den vom Herbstlicht gelb gefärbten Silhouetten entlang der Fifth Avenue: aus der Ferne ein monolithischer Block, wie eine lang gestreckte Wehrmauer. Ein schöner Anblick, aber heute konnte sie ihm nichts abgewinnen.

Der Besprechungstermin rückte näher und näher. Zorn stieg in ihr auf, und als sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass es ein hilfreicher Zorn war. Seit achtzehn Monaten war ihr Budget für wissenschaftliche Arbeiten eingefroren. Und im selben Zeitraum war die Zahl der Vizepräsidenten von drei auf zwölf angeschwollen, und jeder kostete das Museum pro Jahr zweihunderttausend Dollar. Sie hatte miterlebt, wie sich die Public-Relations-Abteilung von einem kleinen Büro mit ideenreichen Exjournalisten in ein Studio voller junger Macher verwandelt hatte – alle todschick gekleidet, aber bar jeder Ahnung von Archäologie und wissenschaftlicher Methodik – und wie sich in den Führungspositionen, früher eine Domäne erfahrener Wissenschaftler, nun Anwälte und smarte Jungs breit machten, deren einzige Aufgabe es war, Spendengelder aufzutreiben, aber die dienten hauptsächlich dazu, noch mehr Spendenwerber einzustellen, sodass sich die ganze Energie letzten Endes in einem onanistischen Kreislauf erschöpfte.

Dennoch blieb es das New York Museum, sagte sie sich, das größte naturgeschichtliche Museum der Welt. Und sie war froh, ihren Job zu haben. Nachdem in letzter Zeit all ihre Aktivitäten unter einem ungünstigen Stern gestanden hatten – die archäologische Expedition nach Utah ebenso wie das geplante Lloyd Museum, aus dem dann nichts geworden war –, brauchte sie ihn, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Und sie nahm sich fest vor, die Sache diesmal cool anzugehen, getreu den Spielregeln des Systems.

Aber System hin oder her, ohne zusätzliches Geld konnte sie ihre Arbeit über Schnittpunkte der Anasazi- und der Aztekenkultur nicht zu Ende führen. Am dringlichsten war die massenspektrografische Auswertung der Daten aus sechsundsechzig organischen Untersuchungen, die sie letzten Sommer in Utah vorgenommen hatte. Achtzehntausend Dollar würde das kosten, und sie brauchte die verdammten Daten nun mal, sonst konnte sie ihre Ergebnisse einmotten. Also musste sie das Geld lockermachen, so oder so, alles andere war zweitrangig.

Es wurde Zeit. Sie zog die Tür hinter sich zu und stieg die schmale Treppe hinauf zum fünften, allgemein nur Plüschetage genannten Stock. Vor der Tür zu den Räumen des Ersten Vizepräsidenten zupfte sie das graue Kostüm zurecht (denn davon verstanden diese Typen am meisten: maßgeschneiderte Kleidung und gepflegtes Aussehen), setzte eine denkbar unverbindlich freundliche Miene auf und steckte den Kopf durch die Tür.

Die Sekretärin war zum Lunch gegangen. Nora nahm allen Mut zusammen, durchquerte das Vorzimmer und blieb mit klopfendem Herzen vor der inneren Tür stehen. Sie musste das Geld bekommen, vorher ging sie hier nicht weg. Also zauberte sie ein hübsches Lächeln auf ihr Gesicht, gab sich einen Ruck und klopfte an. Der Trick bestand darin, höflich, aber bestimmt aufzutreten.

»Herein!«, rief eine energische Stimme.

Das Eckbüro lag voll im Licht der Morgensonne. Roger C. Brisbane III. saß an einem glänzenden Bauhaus-Schreibtisch. Nora wusste von Fotos, wie das Büro zu Zeiten des sagenumwobenen Dr. Frock ausgesehen hatte. Seinerzeit war es die typische Arbeitsstätte eines Museumskurators gewesen, staubig und unaufgeräumt, voll gestopft mit Fossilien, Büchern, viktorianischen Ohrensesseln, Massaispeeren und einem ausgestopften Dugong. Jetzt sah es hier wie im Wartezimmer eines Kieferchirurgen aus. Nur der Glaswürfel auf Brisbanes Schreibtisch, in dem, auf Samt gebettet, einige spektakuläre Edelsteine funkelten, erinnerte vage an die Atmosphäre eines Museums. Die Gerüchteküche des Museums meldete, dass Brisbane eigentlich vorgehabt hatte, Gemmologe zu werden, von seinem pragmatischen Vater aber genötigt worden war, Jura zu studieren. Hoffentlich stimmte das, denn dann konnte Nora vielleicht darauf hoffen, dass sein Herz insgeheim doch für die Wissenschaft schlug.

Sie versuchte, ihr Lächeln möglichst aufrichtig wirken zu lassen. Brisbane sah sie aalglatt und selbstsicher an. Sein Gesicht war so verschlossen, weich und pinkfarben wie das Innere einer Muschel – tadellos rasiert, gecremt und von einer Wolke Eau de Cologne umweht. Sein welliges braunes Haar war ein wenig zu lang.

»Dr. Kelly!«, Brisbane entblößte zwei von perfekter Orthodontrie zeugende Zahnreihen. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Nora ließ sich vorsichtig auf einer Konstruktion aus Chrom, Leder und Holz nieder, die wohl eine Art Sofa sein sollte, sich aber als ziemlich unpraktisch erwies, zumal sie bei jeder Gewichtsverlagerung jämmerlich quietschte.

Der junge Vizepräsident lümmelte sich in den Schreibtischsessel und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Wie läuft’s denn so bei der täglichen Kleinarbeit?«

»Sehr gut. Großartig. Es gibt eigentlich nur eine Kleinigkeit, über die ich mit Ihnen sprechen wollte.«

»Sehr schön. Ich muss nämlich auch mit Ihnen sprechen.«

»Mr. Brisbane«, sagte Nora rasch, »ich …«

Brisbane unterbrach sie mit erhobener Hand. »Ich weiß, weshalb Sie hier sind, Nora. Sie brauchen Geld.«

»Ja, das ist richtig.«

Brisbane nickte verständnisvoll. »Mit dem eingefrorenen Budget können Sie Ihre Arbeit nicht zu Ende führen.«

»Stimmt.« Sie war verdutzt, aber auf der Hut. »Es war ein enormer Erfolg, dass wir die Murchison Grant dazu bewegen konnten, uns die Untersuchungen im Anasazigebiet zu genehmigen. Aber ohne eine wirklich gute Serie von C-14-Daten kann ich meine Arbeit unmöglich abschließen. Gute Daten sind die Voraussetzung für alles andere.« Sie gab sich Mühe, einen kindlich-vertrauensvollen Tonfall zu treffen, der ihm signalisieren sollte, wie sehr alles von seinem Wohlwollen abhing.

Brisbane nickte und wiegte sich mit halb geschlossenen Augen im Sessel vor und zurück. Sie wusste zwar nicht, wieso, aber irgendwie fühlte sie sich ermutigt. So viel Verständnis hatte sie gar nicht erwartet. Ihre Rechnung schien aufzugehen.

»Über welchen Betrag sprechen wir?«, fragte Brisbane.

»Für achtzehntausend Dollar könnte mir die Universität von Michigan die Daten aus allen sechsundsechzig Untersuchungsfeldern aufbereiten. Die verfügen über das beste massenspektrografische Labor weit und breit.«

»Achtzehntausend Dollar. Sechsundsechzig Felder.«

»Ganz recht. Verstehen Sie, ich bitte nicht um ein auf Dauer erhöhtes Budget, sondern nur um einen gezielten Zuschuss für dieses Projekt.«

»Achtzehntausend Dollar«, wiederholte Brisbane, als wäge er die Summe im Geiste ab. »Nun, Dr. Kelly, das ist, wenn man’s recht bedenkt, kein allzu großer Betrag, nicht wahr?«

»Nein.«

»Er hört sich sogar recht bescheiden an.«

»Vor allem angesichts der wissenschaftlichen Ergebnisse, die er bringen würde.«

»Achtzehntausend. Welch ein Zufall.«

»Zufall?« Nora war plötzlich beunruhigt.

»Das entspricht nämlich exakt der Summe, um die wir Ihr Budget nächstes Jahr notgedrungen kürzen müssen.«

»Sie wollen mein Budget kürzen?«

Brisbane nickte. »Zehn Prozent, durch die Bank. Bei allen wissenschaftlichen Abteilungen.«

Nora verspürte ein leichtes Schwindelgefühl und umklammerte die Chromarmlehnen. Sie war drauf und dran, geharnischt zu protestieren, doch eingedenk ihrer Vorsätze schluckte sie alles hinunter.

»Die Kosten für die neuen Dinosaurierhallen liegen über der ursprünglichen Kalkulation. Darum war ich froh, dass es bei Ihnen um keinen hohen Betrag geht.«

Nora atmete tief durch, aber ihre Stimme hatte nun einen anderen Klang. »Mr. Brisbane, bei einer derart drastischen Kürzung kann ich meine Untersuchung nicht abschließen.«

»Sie werden es müssen. Wissenschaftliche Forschung ist nur ein kleines Teilgebiet der Museumsarbeit, Dr. Kelly. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, Ausstellungen zu arrangieren, neue Hallen zu gestalten und dem Publikum etwas zu bieten.«

»Aber die wissenschaftliche Forschung ist die Lebensader dieses Museums«, ereiferte sich Nora. »Ohne Forschungsergebnisse wäre alles nur Show.«

Brisbane stand auf, kam um den Schreibtisch herum, blieb vor dem Glaswürfel stehen, klappte die Leiste eines verdeckten Schlosses auf und führte einen Schlüssel ein. »Haben Sie schon mal den Tev-Mirabi-Smaragd gesehen?«

»Den was?«

Er öffnete den Glaswürfel, streckte seine schlanke Hand nach einem polierten, aber ungeschliffenen, etwa vogeleigroßen Smaragd aus, hob ihn aus seinem Samtbett und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Der Tev-Mirabi-Smaragd. Makellos. Und als Hobbygemmologe kann ich Ihnen versichern, dass Smaragde dieser Größe nie lupenrein sind. Außer diesem einen. Sehen Sie sich ihn ruhig an!«

Nora schluckte abermals alles hinunter, was ihr auf der Zunge lag, und nahm den Stein.

»Vorsicht, nicht, dass er Ihnen runterfällt! Smaragde sind extrem zerbrechlich.«

Sie drehte den Stein behutsam hin und her.

»Schauen Sie nur. Durch einen Smaragd sieht die Welt wie verwandelt aus.«

Sie konzentrierte den Blick auf die Tiefen des Steins und sah sich mit einer bizarr verzerrten Welt konfrontiert. Eine aufgeblähte grüne Qualle starrte sie an: Brisbane.

»Sehr interessant, Mr. Brisbane, aber …«

»Wie gesagt, lupenrein.«

»Ohne Zweifel. Aber wir waren bei einem anderen Thema.«

»Was glauben Sie, was er wert ist? Eine Million? Fünf? Zehn? Er ist ein Unikat. Ein Verkauf würde uns aller finanziellen Sorgen entheben.« Er gluckste leise in sich hinein, nahm den Smaragd und hielt ihn sich vors Auge, das aus Noras Blickwinkel plötzlich schwarz, riesengroß und glitschig feucht aussah. »Ein Verkauf kommt natürlich nicht in Frage.«

»Es tut mir Leid, aber ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«

Brisbane lächelte schmallippig. »Sie und die anderen Wissenschaftler vergessen eins: Es geht um Show. Nehmen Sie diesen Smaragd. Wissenschaftlich gesehen, werden Sie nichts an ihm entdecken, was nicht auch für alle hundertmal kleineren Smaragde zuträfe. Aber die Leute wollen nicht irgendeinen Smaragd sehen, sie wollen den größten sehen. Show, Dr. Kelly, das ist die Lebensader dieses Museums. Was glauben Sie, wie lange wir uns die wissenschaftliche Forschung leisten könnten, an der Ihnen so viel liegt, wenn die Leute nicht mehr in unser Museum kämen und unsere Einnahmen versiegen würden? Wir brauchen Spendengelder, Aufsehen erregende Ausstellungen, gewaltige Meteoriten, Dinosaurier, Planetarien, Goldschätze, Dodos und riesige Smaragde, damit die Leute nicht das Interesse verlieren. Und Ihre Arbeit fällt eben nicht in diese Kategorie.«

»Aber meine Arbeit ist interessant.«

Brisbane hob abwehrend die Hände. »Jeder hält seine Arbeit für höchst interessant, meine Liebe.«

Das »meine Liebe« war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nora stand auf, der Zorn ließ ihre Lippen blutleer erscheinen. »Es ist schlimm, dass ich hier sitzen und meine Arbeit Ihnen gegenüber rechtfertigen muss. Die Utahuntersuchung wird den Nachweis bringen, wann der aztekische Einfluss im Südwesten die Anasazikultur abgelöst hat. Wir werden an den Ergebnissen ablesen können …«

»Tja, wenn Sie Dinosaurier ausgraben würden, das wäre etwas anderes. Dafür begeistern sich die Leute, das bringt Geld in die Kassen. Es steht nun mal fest, Dr. Kelly, dass alte Tonscherben außer Ihnen niemanden vom Hocker reißen.«

»Und es steht ebenso fest«, ereiferte sich Nora, »dass Sie ein Möchtegernwissenschaftler sind, der sich darin gefällt, den Pfennigfuchser zu spielen. Nur, um ehrlich zu sein, Sie übertreiben dabei!«

Sie war zu weit gegangen, das merkte sie sofort. Brisbanes Miene schien sekundenlang zu versteinern. Dann hatte er sich gefangen, bedachte sie mit einem kühlen Lächeln, rieb den Smaragd sorgfältig mit seinem Einstecktuch ab und legte ihn in den Glaswürfel zurück.

»Echauffieren Sie sich nicht! Das führt zu Arterienverhärtungen und ist Ihrer Gesundheit auch sonst abträglich.«

»Es tut mir Leid, dass mir das rausgerutscht ist. Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich diese Kürzung verkraften soll.«

Brisbanes kühles Lächeln war wie weggewischt. »Ich habe gesagt, was zu sagen war. Sollte einer der Kuratoren nicht in der Lage oder nicht willens sein, die Kürzungen umzusetzen – kein Problem, ich nehme ihm die Mühe mit Vergnügen ab.«

 

Draußen auf dem Flur überschlugen sich Noras Gedanken. Sie hatte sich geschworen, nicht ohne das Geld wegzugehen, und nun war sie schlechter dran als zuvor. Ob sie um einen Termin bei Collopy bitten sollte? Aber der Präsident galt als schwierig und unnahbar. Und nachdem sie gerade erst aus der Rolle gefallen war, hätte sie es sich durch eine Umgehung des Dienstweges bei Brisbane endgültig verscherzt. Das konnte sie im schlimmsten Fall den Job kosten. Nun gut, sie fand sicher etwas Neues. Und das Geld ließ sich möglicherweise auch woanders auftreiben. Man darf die Hoffnung nie aufgeben …

Sie stieg langsam die Treppe zum vierten Stock hinunter und sah verblüfft, dass ihre Bürotür offen stand. Am Fenster lehnte ein Fremder und blätterte in einem Buch. Er wirkte in seinem tiefschwarzen, weit geschnittenen Anzug irgendwie befremdlich, ein bisschen wie ein Bestattungsunternehmer. Seine Haut war auffallend blass, das früher vermutlich blonde Haar war fast weiß. Als er wieder eine Seite umblätterte, fielen ihr seine langen, schlanken Elfenbeinfinger auf.

»Entschuldigung, was tun Sie in meinem Büro?«

»Interessant«, murmelte der Fremde und machte Anstalten, sich umzudrehen.

»Wie bitte?«

Er hielt das Buch hoch. Die Geochronologie der Sandiahöhle. »Etwas merkwürdig, dass der Autor lediglich Folsoms Thesen berücksichtigt. Sehr suggestiv, finden Sie nicht?« Der weiche, einschmeichelnde Akzent der Südstaaten-Upperclass.

Aus Noras Verblüffung wurde Verärgerung. Was fiel dem Mann ein, einfach in ihr Büro einzudringen?

Er ging zum Bücherbord, stellte die Monografie an ihren Platz zurück und fuhr mit dem Finger über ein paar andere Buchrücken. »Ah«, sagte er und zog einen anderen Band heraus, »ich sehe, dass die Monte-Verde-Ergebnisse nicht mehr unumstritten sind.«

Nora ging energisch auf ihn zu, nahm ihm das Buch aus der Hand und schob es in die Lücke zurück. »Ich bin im Augenblick sehr beschäftigt. Rufen Sie mich an, wenn Sie einen Gesprächstermin vereinbaren wollen! Und schließen Sie beim Rausgehen bitte die Tür!«

Zehn Prozent! Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Wie, um alles in der Welt, sollte sie das hinkriegen?

Aber der Fremde ging nicht. Er sagte in seinem honigsüßen Südstaatensingsang: »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber jetzt gleich mit Ihnen sprechen, Dr. Kelly. Wäre es sehr vermessen von mir, Sie mit einem leidigen kleinen Problem zu belästigen?«

Nora drehte sich um. Der Fremde streckte ihr die geöffnete Hand entgegen. In seinem Handteller lag ein kleiner bräunlicher Schädel.

3

Noras Blick pendelte zwischen dem Schädel und dem Gesicht des Fremden hin und her. »Wer sind Sie?« Nicht nur seine Haut, auch die blauen Augen wirkten seltsam blass. Die klassisch geschnittenen Gesichtszüge erinnerten sie an eine Marmorskulptur aus der Antike.

Seine Reaktion war ein Mittelding zwischen Nicken und Verbeugung. »Special Agent Pendergast, Federal Bureau of Investigation.«

Noras Herz rutschte Richtung Magen. Hatte das womöglich etwas mit einem der vielen Ärgernisse während der Utah-expedition zu tun? Das fehlte ihr gerade noch. »Können Sie sich ausweisen?«, fragte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.

Pendergast lächelte nachsichtig, zog ein Ledermäppchen aus der Seitentasche des Anzugs und ließ es aufklappen. Sie beugte sich vor und beäugte die Dienstmarke. Ja, die war bestimmt echt, sie hatte während der letzten achtzehn Monate genug solche Plaketten gesehen.

»Gut, Sie haben mich überzeugt, Special Agent …« Sie stockte. Wie hieß der Bursche noch mal? Sie wollte noch einmal auf seine Dienstmarke schielen, aber er hatte das Mäppchen bereits wieder zugeklappt.

»Pendergast«, vollendete er ihren Satz und fügte, als könne er ihre Gedanken lesen, hinzu: »Übrigens hat das nichts mit gewissen Ereignissen in Utah zu tun. Es geht hier um einen völlig anderen Fall.«

Sie sah ihn prüfend an. Diese wandelnde Komposition aus Schwarz und Weiß hatte absolut keine Ähnlichkeit mit den FBI-Agenten, mit denen sie es im Westen zu tun gehabt hatte. Er wirkte ganz anders, irgendwie exzentrisch. Seine Miene war unbewegt, aber sie mochte sein Gesicht. Sie richtete den Blick wieder auf den kleinen Schädel. »Ich bin keine Anthropologin, Knochenfunde und ihre physischen Merkmale sind nicht mein Spezialgebiet«, sagte sie entschieden. Statt einer Erwiderung streckte ihr Pendergast den Schädel hin. Sie hätte nicht erklären können, wieso sie nach ihm griff und ihn von allen Seiten sorgfältig inspizierte.

»Das FBI wird doch wohl eigene Gerichtsmediziner haben, auf die es in solchen Fällen zurückgreifen kann?«

Pendergast schloss die Tür, drehte den Schlüssel um, ging zu Noras Schreibtisch und zog den Telefonstecker aus der Kontaktdose. »So, jetzt sind wir ungestört. Wollen wir zur Sache kommen?«

»Natürlich. Ganz wie Sie wollen.« Sie merkte selber, wie nervös sie sich anhörte, und ärgerte sich darüber. Wahrscheinlich lag es an der gelassenen Ruhe, die er ausstrahlte, dass sie sich so aus der Fassung bringen ließ.

Pendergast nahm ihr gegenüber am Schreibtisch Platz und schlug die schlanken Beine übereinander. »Unabhängig von Ihrem Fachgebiet würde ich gern Ihre Meinung zu diesem Schädel hören.«

Sie seufzte. Sollte sie sich darauf einlassen? Wie mochte die Museumsleitung darauf reagieren? Vermutlich begrüßten sie es, wenn eine der Mitarbeiterinnen vom FBI konsultiert wurde. Vielleicht war das genau die Art von Publicity, von der Brisbane gesprochen hatte.

Sie examinierte den Schädel. »Nun, auf den ersten Blick würde ich sagen, dass dieses Kind kein sonderlich glückliches Leben hatte.«

Pendergast hob gespannt die Augenbrauen.

»Die noch nicht voll verwachsene Stirnnaht lässt den Schluss zu, dass wir es mit einem Kind im frühen Teenageralter zu tun haben. Etwa dreizehn, würde ich sagen. Dem grazilen Augenbrauenrist nach vermutlich ein Mädchen. Ein außerordentlich schadhaftes Gebiss, ohne jede zahntechnische Korrektur. Das lässt, vorsichtig ausgedrückt, einen Mangel an Fürsorge vermuten. Die beiden Einkerbungen im Zahnschmelz sind gewöhnlich ein Indiz für Wachstumsstörungen. Möglicherweise gab es zwei Perioden, in denen das Kind stark unterernährt oder schwer erkrankt war. Der Schädel ist offensichtlich alt, allerdings nicht aus prähistorischer Zeit. Bei Menschen aus der Frühzeit sind derlei Zahnschäden nicht zu beobachten. Die Schädelform deutet übrigens mehr auf einen kaukasischen Typ als auf eine amerikanische Ureinwohnerin hin. Ich schätze, sie hat vor fünfundsiebzig bis hundert Jahren gelebt, was natürlich nur eine Vermutung sein kann. Es kommt ganz darauf an, wo und unter welchen Umständen der Schädel gefunden wurde. Ich halte eine C-14-Analyse für erwägenswert.« Sie saß einen Augenblick stumm da, weil sie unwillkürlich an ihre unerfreuliche Unterredung mit Brisbane denken musste.

Pendergast wartete geduldig. Nora hatte das dumpfe Gefühl, dass er mehr erwartete, und ging zum Fenster, um den Schädel im hellen Vormittagslicht zu betrachten. Irgendwie ärgerte sie sich über ihre Gefügigkeit, doch dann entdeckte sie plötzlich etwas, was ihr ganz unheimlich erschien.

»Was ist?«, fragte Pendergast scharf und war im Nu auf den Beinen.

»Diese schwachen Schrammen unten am Hinterkopf …« Sie nahm die Lupe zu Hilfe, die sie aus Gewohnheit ständig um den Hals trug, und sah sich die Kratzspuren genau an. »Die wurden dem Kind mit einem Messer beigebracht. Als hätte jemand Gewebe entnommen.«

»Was für Gewebe?«

Sie fühlte sich sehr erleichtert, als ihr klar wurde, was es war.

»Solche Spuren hinterlässt ein Skalpell bei einer Leichenöffnung. An dem Kind wurde eine Autopsie vorgenommen. Die Schrammen stammen von einer Untersuchung, nachdem der obere Teil des Rückenmarks oder das Nachhirn freigelegt worden war.« Sie legte den Schädel auf den Schreibtisch. »Aber ich bin Archäologin, Mr. Pendergast. Sie sollten lieber die Expertise eines Spezialisten einholen. Wir haben in unserer Abteilung einen medizinisch ausgebildeten Anthropologen, Dr. Weidenreich.«

Der Agent verstaute den Schädel in einem Beutel, den er verschloss und wie durch Magie in den Falten seines weit geschnittenen Anzugs verschwinden ließ, ohne dass irgendeine Ausbeulung zu sehen war. »Was ich brauche, sind Ihre archäologischen Erfahrungen.« Er bückte sich, schob den Telefonstecker in die Buchse, ging zur Tür und schloss sie wieder auf. »Und nun wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich ins Stadtzentrum begleiten würden.«

»Sie meinen … ins FBI-Büro?«

Pendergast schüttelte den Kopf.

Nora zögerte. »Ich kann jetzt nicht einfach weg. Ich habe eine Menge zu tun.«

»Es wird nicht lange dauern, Dr. Kelly. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Worum geht es denn überhaupt?«

Aber er war schon vorausgegangen, sie hörte seine geschmeidigen Schritte auf dem Flur. Und da ihr plötzlich klar wurde, dass ihr kaum etwas anderes übrig blieb, eilte sie ihm nach. In der wie üblich von Stimmengewirr erfüllten Großen Rotunde holte sie ihn ein.

»Sie kennen sich in unserem Museum gut aus.«

»Ja.«

Sie gingen durch die Bronzetüren und stiegen die marmornen Eingangsstufen hinunter. Auf der untersten blieb der Agent stehen und wandte sich zu ihr um. Seine Augen sahen im hellen Tageslicht nahezu weiß aus, die Farbe war zu einer Ahnung verkümmert. »Kennen Sie sich mit der New Yorker Verordnung zum Schutz archäologischer Funde aus?«

»Natürlich.« Die Verordnung untersagte, sobald man auf historische Überreste stieß, alle Ausschachtungs- und Baumaßnahmen im Stadtgebiet bis zum Abschluss der Ausgrabungen und der Dokumentation der Funde.

»In Lower Manhattan ist man auf eine vielversprechende Fundstelle gestoßen. Sie werden die Ausgrabungen als leitende Archäologin überwachen.«

»Ich? Ich habe weder die Erfahrung noch die spezielle Befähigung …«

»Keine Sorge, Dr. Kelly. Ihre spezielle Befähigung wird sich sehr schnell herausstellen.«

Sie sah ihn fassungslos an. »Aber warum ich?«

»Sie haben, was diese spezielle Art von archäologischen Fundstellen angeht, einige Erfahrung.«

»Und um was für eine Fundstelle handelt es sich?«

»Um eine Art Beinhaus.«

Er deutete auf einen geparkten neunundfünfziger Silver Wraith. »Machen wir uns auf den Weg! Nach Ihnen, bitte.«

4

Als Nora aus dem Rolls-Royce stieg, fühlte sie sich jäh in eine Welt aus Lärm und Staub versetzt. Fensterlose Skelette halb abgerissener Mietskasernen starrten sie an. Sie gingen auf den Zaun der Baustelle zu, weiter kamen sie nicht. Davor waren zwei Polizeifahrzeuge geparkt, bei einer Abrissruine standen einige uniformierte Cops, in ihrer Nähe beriet sich eine Gruppe Männer, die den Anzügen nach gewöhnlich in Büros zu Hause waren.

»Die Moegen-Fairhaven-Gruppe errichtet hier einen fünfundsechzig Stockwerke hohen Apartmentturm«, erläuterte Pendergast. »Gestern Nachmittag, etwa um vier, haben sie dort unten ein Loch in die alte Mauer gebrochen. Kurz darauf hat ein Arbeiter den Schädel gefunden, den ich Ihnen gezeigt habe, und sehr viele weitere Knochen entdeckt.«

Nora folgte seinem Blick. »Was stand hier früher?«

»Wohnblöcke aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Der unterirdische Tunnel, aus dem der Schädel stammt, scheint jedoch älteren Datums zu sein.«

Das Mauerstück, in das der Bagger das Loch geschlagen hatte, war offensichtlich das Überbleibsel eines der alten Wohnblöcke, bei dem dahinter gelegenen, von Schutt und verrotteten Balkenresten halb verdeckten Stollen schien es sich dagegen um ein noch älteres Bauwerk zu handeln.

Sie gingen am Zaun entlang. »Ich fürchte, wir werden dort unten ein paar Probleme bekommen, sodass uns nicht viel Zeit bleibt«, sagte Pendergast. »Moegen-Fairhaven ist eines der rigorosesten Bauunternehmen in der Stadt. Die können … nun, sagen wir mal: eine Menge Druck ausüben. Sie sehen ja, es sind keine Pressevertreter hier. Die Polizei wurde offenbar in aller Stille verständigt.«

Er führte sie zu einem der Tore im Bauzaun. Das Koppel des dort postierten Cops sah martialisch aus: Handschellen, Schlagstock, Funkgerät, die Dienstwaffe und ein zusätzliches Magazin mit Munition. Das Gewicht zog das Leder so weit nach unten, dass ihm das blaue Diensthemd aus der Hose gerutscht war. Pendergast blieb vor dem Tor stehen.

»Gehen Sie weiter!«, knurrte der Cop. »Hier gibt’s nichts zu sehen, Mister.«

»Ich glaube doch.« Der Agent zeigte ihm mit gewinnendem Lächeln seine Dienstmarke.

Der Cop beugte sich stirnrunzelnd vor und nahm sich viel Zeit, Pendergasts Gesicht mehrere Male mit dem Foto zu vergleichen. »FBI?«, fragte er frustriert und zog mit einem Ruck das Koppel hoch. »Und wen haben Sie da bei sich?«

»Eine Archäologin. Sie wird in unserem Auftrag die Fundstelle in Augenschein nehmen.«

»Archäologin? Warten Sie einen Moment.« Der Cop stakste zu seinen Kollegen hinüber, erstattete Meldung und kam mit einem anderen Uniformierten zurück. Ein kleinwüchsiger, übergewichtiger Mann im braunen Anzug heftete sich an ihre Fersen, hatte allerdings Mühe, mit den beiden Cops Schritt zu halten.

»Was, zum Teufel, soll das?«, keuchte er, als sie sich dem Zaun näherten. »Vom FBI war nie die Rede.«

Auf den Schultern des Cops, den der Posten geholt hatte, prangten drei goldene Captainstreifen. Er hatte schütteres graues Haar, einen fahlen Teint, eng stehende schwarze Augen und einen fast so stattlichen Bauchumfang wie der Mann im braunen Anzug. Er musterte Pendergast misstrauisch. »Darf ich Ihren Ausweis sehen?«, fragte er mit schriller, wenn auch nicht sonderlich fester Stimme.

Pendergast klappte noch einmal sein Mäppchen auf. Der Captain sah es sich lange an und reichte es dann zurück. »Tut mit Leid, Mr. Pendergast, das FBI ist hier nicht zuständig. Beamte aus New Orleans schon gar nicht. Die Bestimmungen sind Ihnen sicher bekannt.«

»Darf ich nun auch Ihren Namen erfahren?«

»Custer.«

»Captain Custer, ich bin hier mit Dr. Nora Kelly vom New York Museum of Natural History. Sie wurde von uns zur Begutachtung aus archäologischer Sicht hinzugezogen. Wenn Sie uns also bitte hereinlassen würden …«

»Dies ist eine gesicherte Baustelle«, mischte der Mann im braunen Anzug sich ein. »Wir versuchen hier ein Gebäude zu errichten, falls Sie das noch nicht bemerkt haben. Die New Yorker Polizei hat bereits jemanden damit beauftragt, sich die Knochenfunde anzusehen. Großer Gott, die Verzögerung kostet uns jetzt schon vierzigtausend Dollar am Tag, und nun mischt sich auch noch das FBI ein?«

»Und wer sind Sie, bitte?«, erkundigte sich Pendergast mit ausgesuchter Höflichkeit.

Die Augen des Mannes huschten zwischen dem Captain und Pendergast hin und her. »Ed Shenk. Der leitende Architekt.«

»Ah, Mr. Shenk. Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Pendergast trocken. Danach war der Architekt Luft für ihn, er verhandelte nur noch mit dem Captain. »Habe ich das so zu verstehen, dass Sie uns den Zutritt und die Durchführung unserer Arbeit verwehren wollen, Captain Custer?«

»Das Projekt ist für die Moegen-Fairhaven-Gruppe und für unsere Stadtplanung sehr wichtig. Wir hinken bereits hinter dem Zeitplan zurück, was auf höchster Ebene der Stadtverwaltung einige Besorgnis ausgelöst hat. Mr. Fairhaven hat die Baustelle gestern Abend persönlich besichtigt, weil er unbedingt weitere Verzögerungen vermeiden will. Von einer Hinzuziehung des FBI hat mir niemand etwas gesagt, und von archäologischen Belangen habe ich auch nichts …« Er verstummte abrupt, als der Agent zum Mobiltelefon griff. »Wen wollen Sie anrufen?«

Pendergast verschanzte sich hinter einem Lächeln. Seine Finger huschten in verblüffendem Tempo über die winzigen Tasten. Custer tauschte einen vielsagenden Blick mit Shenk.

»Sally?«, sagte Pendergast ins Telefon. »Hier Agent Pendergast. Könnte ich wohl Commissioner Rocker sprechen?«

»Hören Sie …«, versuchte Custer zu intervenieren.

»Ja, bitte, Sally. Sie sind ein Schatz …«

»Vielleicht sollten wir das lieber drinnen besprechen«, schlug der Captain vor. Ein Schlüsselbund rasselte, die Kette am Tor wurde aufgeschlossen.

»Ich verstehe«, fuhr Pendergast fort. »Ob Sie ihn wohl trotzdem kurz aus der Besprechung holen könnten, Sally?«

»Das wird nicht nötig sein, Mr. Pendergast«, warf der Captain hastig ein.

»Sally? Hat sich erledigt, ich rufe ihn später an.« Pendergast schaltete das Mobiltelefon aus.

Er schritt durch das Tor und kletterte, ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, mit Nora über den herumliegenden Bauschutt hinunter zu dem Loch in der Mauer.

Die anderen guckten verdutzt und eilten hinter ihnen her. »Mr. Pendergast, Sie müssen verstehen …«, versuchte der Captain schon leicht außer Atem gut Wetter zu machen.

Als sie kurz vor dem Tunnel waren, kam es Nora vor, als habe sie in dem Gewölbe kurz einen schwachen roten Lichtschimmer ausgemacht. Gleich darauf flammte ein Blitzlicht auf, Sekunden später das nächste. Jemand machte Fotos. Sie blieb an der frisch gebrochenen Mauerlücke stehen und starrte nach unten.

»Mr. Pendergast!«, rief Captain Custer.

Aber der Agent kletterte bereits behende die Schutthalde hinunter. Die Verfolgergruppe gab am Mauerdurchbruch auf. Nora folgte Pendergast, blieb aber unschlüssig stehen, als sie ihn in dem dunklen Tunnel verschwinden sah.

»Kommen Sie ruhig nach!«, rief Pendergast ihr zu.

Sie kroch vorsichtig die Ziegelsteinhalde hinunter, bis zu der schlammigen Stelle am Stolleneingang. Wieder flammte ein Blitzlicht auf. Ein Mann im weißen Laborkittel hatte den Kopf in eine der seitlichen Nischen gezwängt. Er schien irgendetwas Interessantes darin entdeckt zu haben. Ein Fotograf richtete die mit zwei Blitzlichtgeräten bestückte 4 × 5-Kamera auf das Innere einer anderen Nische.

Der Mann im weißen Kittel kam hoch und blinzelte durch den Staub zu ihnen herüber. Mit seinem wirren grauen Haarschopf und der runden Nickelbrille erinnerte er entfernt an einen Bolschewisten der frühen Revolutionsjahre.

»Was fällt Ihnen ein, hier reinzuplatzen?«, schrie er. »Es war ausgemacht, dass ich nicht gestört werde!«

»FBI.« Pendergasts Stimme klang auf einmal scharf und autoritär. Er hielt dem Weißkittel sein Ledermäppchen unter die Nase. »Darf ich Sie ersuchen, den Tunnel zu verlassen, solange Dr. Kelly und ich uns hier umsehen?«

»Hören Sie, ich bin aber mit meiner Untersuchung …«

»Sie haben doch wohl nichts angefasst?« Pendergasts drohender Unterton war unüberhörbar.

»Nicht direkt. Das heißt, ich habe natürlich ein paar der Knochen berührt …«

»Sie haben Sie berührt?«

»Nun ja, ich habe den Auftrag, die Todesursache festzustellen.«

Pendergast zückte einen goldenen Kugelschreiber und einen Notizblock. »Ihr Name, Doktor?«

»Van Bronck.«

»Ich notiere mir das für die gerichtliche Voruntersuchung. Und nun lassen Sie meine Kollegin und mich bitte ungestört arbeiten!«

»Ja, Sir.«

Pendergast sah dem Amtsarzt und seinem Fotografen nach, bis sie den Tunnel verlassen hatten. Dann wandte er sich an Nora. »Der Stollen gehört Ihnen. Ich schätze, man wird uns eine Stunde in Ruhe lassen, möglicherweise etwas weniger. Machen Sie das Beste daraus!«

Nora sah ihn groß an. »Ich habe so etwas noch nie …«

»Sie haben ein geschulteres Auge für solche Dinge als ich. Sehen Sie sich um! Ich will wissen, was sich hier zugetragen hat. Helfen Sie mir dabei, es zu verstehen.«

»In gerade mal einer Stunde? Ich habe kein Werkzeug, keine Behälter, in denen ich irgendwelche Proben …«

»Dafür dürfte es jetzt zu spät sein. Die haben sich bereits mit Captain Custer den Leiter des Polizeibezirks geholt. Wie ich schon sagte: Moegen-Fairhaven hat einen langen Arm. Uns bleibt nur diese eine Chance. Ich brauche das Maximum an Informationen in einem Minimum an Zeit.« Er drückte Nora den Notizblock, den Kugelschreiber und eine schlanke Stablampe in die Hand.

Nora schaltete die Lampe ein. Der Lichtstrahl war erstaunlich stark. Staubpartikel tanzten darin, die Luft war von üblem Geruch erfüllt – eine Mischung aus Fäulnis, verdorbenem Fleisch und Moder. Seufzend versuchte sie, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Archäologie verlangt Geduld und methodisches Vorgehen, eine unsichtbar tickende Uhr war das Letzte, was sie dabei brauchen konnte.

Schließlich fing sie an, sich eine Skizze zu machen. Der Tunnel war etwa fünfundzwanzig Meter lang, das von vielen Rissen durchzogene Deckengewölbe mochte an die drei Meter hoch sein. Der Staub, der sich auf dem Boden abgesetzt hatte, war vor kurzer Zeit aufgewühlt worden. Der Amtsarzt und sein Fotograf allein konnten das nicht gewesen sein. Offenbar hatten sich vor den beiden bereits etliche Bauarbeiter und Polizisten hier unten zu schaffen gemacht.

An den Wänden reihten sich Nischen aneinander, links und rechts je drei. Sie drang auf dem feuchten Boden tiefer in den Stollen ein, um ein Gespür für ihre Umgebung zu bekommen. Die ursprünglich zugemauerten Nischen lagen jetzt offen da, die Ziegelsteine waren neben den Nischen aufgestapelt. Sie leuchtete ins Dunkel. Überall dasselbe Bild: ein Gewirr aus Schädeln, Knochen, Knorpeln, Haarbüscheln und Kleidungsresten.

Sie warf einen Blick nach hinten. Pendergast sah sich ebenfalls im Tunnel um. Sein Blick huschte hin und her, als wolle er alles auf einmal in sich aufnehmen. Plötzlich kauerte er sich auf den Boden, starrte konzentriert auf einen Punkt und hob etwas auf. Nora wusste nicht, was er aufgelesen hatte, aber ein Knochen war es mit Sicherheit nicht.

Als sie das Ende des Stollens erreicht hatte, machte sie kehrt und begann mit der genaueren Inspektion der ersten Nische, um dahinter zu kommen, welche Bewandtnis es mit den hier angesammelten Gebeinen haben mochte. Mit einiger Mühe gelang es ihr, den widerlichen Gestank zu ignorieren.

In der Nische lagen drei Totenschädel: losgelöst vom übrigen Skelett, also praktisch enthauptet. Der Brustkorb war jedoch bei allen drei Leichen komplett erhalten. Auch die Beinknochen waren offenbar vollzählig vorhanden. Einige Wirbel wiesen ungewöhnliche Beschädigungen auf. Als wären sie aufgeschnitten worden, um das Rückenmark bloßzulegen. Neben einem relativ kleinen Schädel lag ein verfilzter Klumpen Kopfhaar. Kurzhaar, von einem Jungen. Die Leichen waren eindeutig zerstückelt worden, was sich vermutlich aus der Enge in den Nischen erklärte: Es wäre ziemlich umständlich gewesen, die toten Körper ganz hineinzuzwängen.

Nora schluckte gegen den Würgereiz an und richtete ihr Augenmerk auf die Kleidung. Die war anscheinend wahllos in die Nische geworfen worden, sodass kaum noch auszumachen war, welches Kleidungsstück zu welcher Leiche gehörte. Nora hatte schon die Hand ausgestreckt, doch dann zuckte sie zurück. Bloß nichts anfassen – das galt unter Archäologen als ungeschriebene Regel. Andererseits, Pendergast hatte zur Eile gemahnt. Also überwand sie ihre Scheu, hob die Kleiderreste und die Knochen Stück für Stück an und machte im Geiste Inventur: drei Schädel, drei Paar Schuhe, drei deutlich zu erkennende Brustkörbe, etliche Wirbelknochen und eine Menge kleiner Knochen. Nur einer der Schädel wies ähnliche Spuren auf wie der, den Pendergast ihr im Büro gezeigt hatte. Aufgeschlitzte Wirbel waren dagegen eher die Regel, jeweils vom ersten Lendenwirbel bis zum Kreuzbein. Sie sortierte weiter. Drei Hosen, mehrere Knöpfe, Knorpelstücke, Reste von ausgedorrtem Fleisch, die Knochen von sechs Beinen. Die Schuhe waren den Toten ausgezogen und einfach in die Nische geworfen worden. Wenn ich bloß Probenbeutel hätte!, dachte sie, zupfte ein paar Haare aus einem verfilzten Klumpen, an dem noch die lederartig gegerbte Kopfhaut hing, und steckte sie in die Tasche ihres Kostüms. Es ging ihr gegen den Strich, dass sie so unprofessionell und überhastet vorgehen musste.

Sie konzentrierte sich auf die Kleidung. Aus billigem, rauem Stoff gefertigt und sehr schmutzig. Verrottet, aber – genau wie die Knochen – offensichtlich nicht von Nagetieren angeknabbert. Sie tastete nach ihrer Lupe und sah sich ein Stück Stoff genauer an. Eine Menge Läuse – tot, natürlich. Die Löcher und Flickstellen ließen ahnen, wie lange die Menschen früher ihre Kleidung getragen hatten. Mit den Schuhen war es genauso, die genagelten Sohlen waren völlig abgewetzt. Sie kramte in den Taschen einer Hose: ein Kamm, ein Stück Schnur. Bei der nächsten waren die Taschen leer, bei der dritten stieß sie auf eine Münze. Als sie sie herauszog, verkrumpelte sich der Stoff auf gespenstisch anmutende Weise. Ein Großer Cent, 1877 geprägt. Hastig stopfte sie alle Fundstücke in die eigenen Taschen.

Sie ging zur nächsten Nische und machte in aller Eile auch hier Inventur. Das gleiche Ergebnis: drei Schädel, drei zerstückelte Körper, dazu verstreut herumliegende Kleidungsstücke. Wieder suchte sie die Taschen ab. Ein verbogener Nagel, zwei Pennies, der eine von 1880, der andere von 1872. Die Wirbelsäulen wiesen dieselben merkwürdigen Spuren auf wie bei den Skeletten in der ersten Nische. Auch hier war der geradezu chirurgisch saubere Schnitt am Lendenwirbel angebracht worden, danach hatte jemand die Wirbelsäule geöffnet. Rätselhaft. Sie verstaute einen der verstümmelten Wirbel in der Tasche ihres Kostüms.

Und so ging es weiter, Nische um Nische, in jeder die sterblichen Überreste von drei zerstückelten Körpern – Kopf, Rücken, Brustkorb, Becken und Beine voneinander getrennt. Bei einigen Schädeln entdeckte Nora die Kratzspuren, die ihr schon in ihrem Büro aufgefallen waren. Alle Skelette wiesen schwere Verletzungen an der unteren Wirbelsäule auf. So weit sie das nach einer flüchtigen Untersuchung der Schädelmorphologie beurteilen konnte, schienen alle Toten etwa im gleichen Alter gewesen zu sein: zwischen dreizehn und zwanzig Jahren. Einige Mädchen waren darunter, aber die meisten waren männlichen Geschlechts.

Es hätte sie interessiert, welche Erkenntnisse der Amtsarzt bei der Untersuchung der Leichen gewonnen hatte. Vielleicht ergab sich später die Möglichkeit, ihn danach zu fragen. Zwölf Nischen, in jeder drei Leichen – das sah nach einem Plan aus.

An der vorletzten Nische angekommen, blieb sie plötzlich mitten im Tunnel stehen. Sie versuchte, nahe liegende Schlussfolgerungen zu verdrängen und sich strikt an die Fakten zu halten. Sie wusste von ihrer archäologischen Arbeit, wie wichtig es ist, einen Augenblick innezuhalten, still in sich hineinzuhorchen, den Intellekt auszuschalten und sich ganz auf die Intuition zu verlassen. Sie ließ den Blick in die Runde schweifen, versuchte, die tickende Uhr zu vergessen und sich nicht von irgendeiner vorgefassten Meinung beeinflussen zu lassen. Ein Kellerstollen aus der Zeit vor 1890, Nischen, die ursprünglich sorgfältig zugemauert worden waren, und darin die Leichen und die Kleidung von sechsunddreißig jungen Burschen und Frauen. Warum war der Tunnel gebaut worden? Sie sah sich nach Pendergast um. Er hielt sich am anderen Ende des Stollens auf und kratzte offenbar mit dem Messer etwas Mörtel von den aufgestapelten Steinen ab.

Sie ging zur nächsten Nische und setzte ihre Arbeit fort. Genau wie bei den anderen notierte sie sich die Position der Knochen und der Kleidungsstücke. Zwei Schürzenkleider, die Taschen waren leer. Und ein drittes Kleid: schmutzig, zerrissen, ein Armeleutekleid. Es musste einem schlanken jungen Mädchen gehört haben. Nora griff nach dem Schädel, der daneben lag. Ein Teenager, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Es erschütterte sie, als sie das lange, goldblonde Haar sah, das von dem Schädel herabhing. Sogar das pinkfarbene Samtband, das das Haar zusammenhielt, war noch erhalten. Die Untersuchung des Schädels zeigte, dass das Gebiss auch bei diesem Mädchen in jämmerlichem Zustand war. Sechzehn Jahre, und schon ein derart verrottetes Gebiss. Der Kontrast zwischen dem Samtband und dem ärmlichen Kleid war auffallend, das Band musste das Kostbarste gewesen sein, was das Mädchen besaß. Ein anrührender Beweis dafür, dass die menschliche Natur über Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte im Grunde unverändert bleibt. Der Gedanke schnürte ihr für einen Moment die Kehle zu.

Als sie nach der Tasche des Kleides tastete, knisterte etwas unter ihren Fingern. Papier. Sie griff den Stoff ab, merkte aber bald, dass das Papier nicht in einer Tasche steckte, sondern in den Saum eingenäht worden war. Sie zog das Kleid näher zu sich heran.

»Irgendetwas Interessantes, Dr. Kelly?«

Sie zuckte zusammen. Der Amtsarzt, der diesmal in arrogantem Tonfall gesprochen hatte. Van Bronck schielte ihr über die Schulter.

Sie war so in ihre Untersuchung vertieft gewesen, dass sie seine Schritte nicht gehört hatte. Von Pendergast konnte sie keine Unterstützung erwarten, der diskutierte am Tunneleingang mit einer Gruppe Uniformierter.

»Ich habe mich erkundigt«, fuhr van Bronck fort. »Zum amtsärztlichen Dienst gehören Sie nicht. Also müssen Sie in der forensischen Abteilung des FBI beschäftigt sein.«

Nora wurde rot. »Ich habe meinen Doktor nicht in Medizin gemacht, ich bin Archäologin.«

Broncks Augenbrauen wölbten sich, ein spöttisches Lächeln zerfloss auf seinem Gesicht. »Ah, keine Medizinerin? Dann habe ich Ihren Kollegen wohl vorhin missverstanden. Archäologie – na ja, ist ja auch was Hübsches.«

Eine Stunde, hatte Pendergast ihr versprochen, und von der war nicht mal die Hälfte vergangen. Sie legte das Kleid in die Nische zurück und schob es so unauffällig wie möglich nach hinten.

»Also«, hakte Bronck nach, »haben Sie etwas Interessantes entdeckt, Frau Doktor?«

»Ich schicke Ihnen meinen Bericht«, sagte Nora und fügte als kleinen Seitenhieb hinzu: »Nur, ich halte es für fraglich, dass Sie ihn auf Anhieb verstehen. Sie wissen ja, jede wissenschaftliche Disziplin hat ihren Fachjargon.« Bronck reagierte mit einem säuerlichen Lächeln. »So, ich habe nun noch eine Weile hier zu tun«, fuhr sie fort. »Verschieben wir unsere Unterredung auf später, wenn ich fertig bin.«

»Sobald die Leichenteile abtransportiert sind, können Sie sich von mir aus hier umsehen, so lange Sie wollen.«

»Sie werden nichts abtransportieren, ehe ich nicht Gelegenheit zu einer gründlichen Untersuchung hatte!«

»Sagen Sie das denen«, fertigte Bronck sie ab und deutete mit dem Kopf hinter sich. »Ich weiß nicht, wer Ihnen die Mär von einer archäologischen Fundstelle erzählt hat. Aber zum Glück weiß ich, dass es keine ist.«

Ein Trupp Cops schleppte Verschlusskästen für den Abtransport von Beweismitteln an, dicht dahinter folgten Ed Shenk und Captain Custer. Von Pendergast war nichts zu sehen.

»Dr. Kelly«, sagte Custer in seinem schrillen Tonfall, »wir haben inzwischen eine Entscheidung aus dem Polizeipräsidium. Sagen Sie Ihrem Chef, dass er völlig schief liegt. Das hier mag vor über hundert Jahren ein Tatort gewesen sein, aber da es sich unzweifelhaft um lange zurückliegende Verbrechen handelt, gibt es keinen Anlass, die Mordkommission einzuschalten – und erst recht nicht das FBI.«

Und der Apartmentturm muss termingerecht fertig werden, dachte Nora und sah Shenk schief an.

»Ich weiß nicht, wer Sie unter Vertrag genommen hat, aber Ihre Aufgabe ist hiermit beendet. Wir bringen die Toten ins Gerichtsmedizinische Institut. Was sonst noch hier herumliegt, wird gekennzeichnet und aufbewahrt.«

Die Cops setzten die Verschlusskästen ab, das dumpfe Echo hallte im ganzen Tunnel wider. Bronck fing an, Knochen aus den Nischen zu entnehmen und, so wie sie kamen, in einem der Behälter abzulegen. Laute Rufe klangen durch das Gewölbe, das Licht der Stablampen kreuzte sich, Nora musste hilflos mit ansehen, wie der Stollen mitsamt der Geheimnisse, die er barg, zu einem Nebenschauplatz der Baustelle wurde.

»Meine Leute werden Sie hinausbegleiten«, sagte Captain Custer mit aufgesetzter Höflichkeit.

»Ich finde selber hinaus«, beschied ihn Nora.

Ein paar Sekunden lang kam sie sich im hellen Sonnenlicht wie blind vor. Sie sog gierig die frische Luft ein, dann sah sie sich um. Der Rolls-Royce stand am alten Platz, Pendergast lehnte an der hinteren Tür und wartete auf sie.

Nora passierte das Tor und ging auf ihn zu. »Der Captain hatte Recht, Sie sind hier nicht zuständig, stimmt’s? Sie durften gar keine Anweisungen geben, nicht wahr?«

Pendergast sah sie bekümmert an, zupfte das Seidentuch aus der Brusttasche seines schwarzen Anzugs und tupfte sich die Stirn ab. »Manchmal bleibt einem keine Zeit für den Dienstweg«, erwiderte er. »Wenn wir bis morgen gewartet hätten, wäre der Tunnel leer gewesen. Sie sehen ja selber, wie schnell das bei Moegen-Fairhaven geht. Wäre der Stollen als archäologisch wertvolle Fundstelle deklariert worden, hätten sie die Bauarbeiten für Wochen unterbrechen müssen. Und so weit durften sie es selbstverständlich nicht kommen lassen.«

»Aber sie ist archäologisch wertvoll.«

Pendergast nickte. »Natürlich. Nur, wir haben die Partie verloren, Dr. Kelly. Wie ich befürchtet habe.«

Wie aufs Stichwort spuckte der Motor des Baggers graue Qualmwolken in die Luft, plötzlich wimmelte es überall von Bauarbeitern.

»Was haben Sie gefunden?«, wollte Pendergast wissen.

Nora zögerte. Sollte sie ihm von dem im Saum des Kleides eingenähten Stück Papier erzählen? Vielleicht war das ein unbedeutendes Detail. Außerdem hatte sie das Papier nicht. Sie riss die Seiten mit ihren eilig hingekritzelten Notizen von dem Block und gab ihn Pendergast zurück. »Ich werde heute Abend die wichtigsten Feststellungen schriftlich für Sie zusammenfassen. Bei allen Leichen wurde der Lendenwirbel vorsätzlich geöffnet. Einen konnte ich unbemerkt einstecken.«

Pendergast nickte. »Im Staub lagen eine Menge Glasscherben« erzählte er ihr. »Ich habe ein paar mitgenommen, um sie analysieren zu lassen.«

»Ach ja«, fiel Nora ein, »in der Kleidung der Toten steckten ein paar Münzen. Von 1872, 1877 und 1880.«

»Damit können wir den terminus post quem bestimmen«, murmelte Pendergast nachdenklich. »Die alten Wohnblöcke wurden 1897 errichtet, das ist unser terminus ante quem. Demnach ergibt sich für das, was hier geschehen ist, als mögliche Tatzeit ein Rahmen von mindestens siebzehn Jahren.«

Eine schwarze Stretchlimousine hielt hinter ihnen. Ein hochgewachsener Mann in einem eleganten dunklen Anzug stieg aus, musterte Pendergast mit einem abschätzenden Blick und eilte, gefolgt von einem Schwarm beflissener Mitarbeiter, auf die Baustelle.

»Aha«, sagte Pendergast, »Mr. Fairhaven möchte sich persönlich davon überzeugen, dass es keine weitere Verzögerung gibt. Ich glaube, es wird Zeit, dass wir verschwinden.«

Als sie im Fond des Wagens Platz genommen hatten, fügte er hinzu: »Ich danke Ihnen, Dr. Kelly. Morgen treffen wir uns wieder. Mit offiziell abgesegneten Befugnissen, wie ich zuversichtlich hoffe.«

Als der Fahrer sich in den Verkehr an der Lower East Side eingefädelt hatte, fragte Nora: »Woher wussten Sie überhaupt was von dem Tunnel? Er ist doch erst gestern entdeckt worden?«

»Ich habe gewisse Verbindungen. Was bei meiner Art Arbeit sehr hilfreich ist.«

»Das glaube ich Ihnen. Übrigens, weshalb haben Sie sich nicht noch einmal an den Commissioner gewandt? Ich meine, Sie sind doch mit ihm befreundet? Er hätte sich bestimmt für Sie eingesetzt.«

Der Rolls-Royce rollte mit geschmeidig schnurrendem Motor auf den East River Drive zu. Pendergast konnte sich ein Augenzwinkern nicht verkneifen. »Nun, ich hatte leider nie das Vergnügen, den Herrn persönlich kennen zu lernen.«

Nora starrte ihn verdutzt an. »Aber – wo haben Sie denn dann vorhin angerufen?«

Das verschmitzte Lächeln um seine Lippen blieb eine vage Andeutung. »In meiner Wohnung.«

5

William Smithback jr. stand mit sich und der Welt zufrieden im Eingang des Restaurants Café des Artistes. Sein neuer italienischer Seidenanzug knisterte leise, als er den in dezentes Licht getauchten Raum absuchte, sorgsam darauf bedacht, die Schultern nicht hängen zu lassen, das Kreuz durchzudrücken und gelassene Würde auszustrahlen. Die Armani-Klamotten hatten ihn zwar ein kleines Vermögen gekostet, aber dafür machten sie auch was her. Das Tüpfelchen auf dem i war das bunt gemusterte Einstecktuch, zugegeben ein wenig affektiert, aber berühmte Autoren dürfen sich solche Extravaganzen erlauben. Also gut, er war ein beinahe berühmter Autor. Sein letztes Buch hatte die Bestsellerliste um popelige zwei Plätze verfehlt.

Smithback zog dieses Restaurant allen anderen in New York City vor. Kein krampfhaftes Bemühen, sich Krethi und Plethi zuliebe trendy zu geben, nein, hier setzte man auf verspieltaltmodische Schnörkel, und das Essen war schlichtweg superb. Besonders hatte es ihm das von Howard Chandler geschaffene Wandgemälde über der Bar angetan, ein bisschen kitschig, aber mit einem Touch Bildung. Und so steuerte er, jeder Zoll lässige Eleganz, auf den Maître zu, der ihm mit beflissenem Lächeln entgegeneilte.

»Mr. Smithback – welche Freude, Sie bei uns begrüßen zu dürfen! Ihr Gast ist soeben eingetroffen.«

Smithback nickte gemessen. Er hätte es nie und nimmer zugegeben, aber in einem erstklassigen Restaurant vom Maître persönlich begrüßt zu werden bedeutete ihm viel – ein durch häufige Besuche und etliche diskret zugesteckte Zwanziger erworbenes Privileg. Wobei freilich der Umstand, dass er bei der New York Times war, auch eine Rolle spielte.

Nora Kelly saß an einem Ecktisch. Wie immer löste ihr bloßer Anblick bei Smithback ein freudig-erregtes Prickeln aus. Obwohl sie schon seit über einem Jahr in New York lebte, hatte sie sich ihre erfrischende Art und den gesunden Santa-Fé-Teint bewahrt, was sie wohltuend vom Durchschnitt der New Yorkerinnen unterschied. Kaum zu glauben, dass sie sich unter höchst widrigen Umständen kennen gelernt hatten – bei einer archäologischen Expedition nach Utah, die sie beide um ein Haar das Leben gekostet hätte. Das war nun gerade mal zwei Jahre her, und nun waren sie drauf und dran zusammenzuziehen.

Er rutschte lächelnd neben sie. Sie sah phantastisch aus mit ihrem schulterlangen, kupferfarben getönten Haar, den im Kerzenlicht funkelnden grünbraunen Augen und den kecken Sommersprossen auf der Nase. Und dann fiel sein Blick auf ihre Kleidung. O Gott, sie sah ja aus wie durch den Staub gezogen?

»Du glaubst nicht, was ich heute erlebt habe«, platzte sie heraus.

»Hm.« Er rückte die Krawatte zurecht und drehte sich so, dass das Licht auf den elegant geschnittenen Anzug fiel.

»Ich schwör’s dir, Bill, du wirst es nicht glauben. Aber vergiss nicht: Das ist strikt vertraulich.«

Es kränkte ihn ein wenig, dass sie sein Outfit bisher mit keinem Wort gewürdigt hatte. »Ich bitte dich, Nora«, säuselte er geflissentlich, »zwischen uns ist doch alles streng vertraulich.«

»Zuerst hat dieser Mistkerl von Brisbane mein Budget um zehn Prozent gekürzt.«

Smithback schnaubte mitfühlend. Aber Museen leiden eben notorisch unter Geldmangel.

»Und wie ich zurückkomme, finde ich diesen verschrobenen Kauz in meinem Büro vor. Blättert in meinen Büchern und tut, als wär’ er zu Hause. Du wirst es nicht glauben, der Typ sah wie ein Beerdigungsunternehmer aus. Schwarzer Anzug, bleicher Teint. Kein Albino, nur bleich.«

Smithback beschlich ein beklemmendes Déjà-vu-Gefühl, das er eilends verdrängte.

»Erzählt mir, dass er vom FBI ist, und schleppt mich ins Stadtzentrum zu einer Baustelle, an der ein Tunnel …«

Das Gefühl war wieder da. »Hast du FBI gesagt?« Ach was, den konnte sie ja wohl nicht meinen.

»Ja, vom FBI. Special Agent …«

»Pendergast«, fiel ihr Smithback ins Wort.

Nora sah ihn verblüfft an. »Kennst du den?«

»Kennen? Er kommt in meinem Buch über die Museumsmorde vor. Das Buch, das du schon lange lesen wolltest.«

»Ja, stimmt. Du hast ja so Recht.«

Smithback nickte zerstreut. Pendergast war also wieder in Manhattan. Bestimmt nicht zufällig. Der Mann tauchte nur da auf, wo Ärger in der Luft lag. Und wenn er ihn selber heraufbeschwören musste. Smithback konnte nur hoffen, dass es um etwas Harmloseres ging als letztes Mal.

Er war so in Gedanken versunken, dass er, als sich der Kellner nach ihren Wünschen erkundigte, statt des geplanten trockenen Sherrys einen Martini bestellte. Gütiger Himmel – Pendergast! Sosehr er den Mann bewunderte, er war seinerzeit nicht allzu unglücklich gewesen, ihn Richtung New Orleans verschwinden zu sehen.

»Erzähl mir was über ihn!« Nora lehnte sich erwartungsvoll zurück.

»Er ist …« Irgendwie fiel es ihm plötzlich schwer, die richtigen Worte zu finden. »… unorthodox. Ein Charmeur. Südstaatenaristokrat. Jede Menge Kies. Alteingesessene Familie, Pharmazeutika oder so was. Kennt eine Menge bedeutende Leute. Persönlich weiß ich so gut wie nichts über ihn, nicht mal seinen Vornamen. Er ist ein Buch mit sieben Siegeln. Man weiß nie, was er wirklich denkt.«

»So einflussreich kann er nun auch wieder nicht sein. Heute ist er ganz schön ausgezählt worden.«

Smithback hob die Augenbrauen. »Ach ja? Und wieso?«

Nora erzählte ihm in groben Zügen von ihrem kurzen Gastspiel in dem Tunnel unter der Baustelle und schaffte es, fertig zu sein, als die Quenelles an Morcheln und schwarzen Trüffeln kamen.