Four Keys – Die Stadt im Schatten - Charlie Lynn Herman - E-Book
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Four Keys – Die Stadt im Schatten E-Book

Charlie Lynn Herman

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Beschreibung

Auf den ersten Blick ist Four Keys eine friedliche Kleinstadt … Im Schatten von Four Keys lauert eine altbekannte Gefahr: eine Bestie, die vor Generationen überlistet und in eine Parallelwelt verbannt wurde. Als drei entstellte Leichen gefunden werden, ist klar, dass die Bestie einen Weg aus ihrem Gefängnis gefunden hat. Nun liegt alle Hoffnung auf vier Jugendlichen: Justin, Harper, Isaac und Violet. Jeder von ihnen hat eine übernatürliche Gabe, um die Gefahr abzuwenden. Die Voraussetzung dafür: Sie müssten zusammenarbeiten. Doch verdeckte Geheimnisse, unerwiderte Gefühle und Intrigen aus der Vergangenheit stehen ihnen dabei im Weg …  

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Über das Buch

Violet wird in die Heimatstadt ihrer Mutter geschleift – einen Ort, in dem der Wald die Häuser zu verschlingen scheint. Obwohl sie die Neue ist, kennen alle ihre Familie – und die ist für etwas berühmt, das Violet bisher für unmöglich gehalten hat.

Justins Leben ist eine Lüge: Ausgerechnet der Erbe der mächtigsten Familie in Four Keys hat keine übernatürlichen Fähigkeiten. Er kann niemanden vor der Gefahr schützen, die schon zwei Opfer gefordert hat. Isaac ist wütend: auf sich selbst, auf seine Familie, die ihn im Stich gelassen hat, und auf alle, die hinter seinem Rücken über ihn sprechen. Seine Wut sorgt immer wieder für Chaos.

Harper fühlt sich wie eine Fremde in ihrer eigenen Stadt. Seit ihrem Unfall, seitdem ihr bester Freund Justin sie ignoriert, hat sie gelernt, unsichtbar zu sein. Doch als die dritte Leiche am Waldrand gefunden wird, sehen sich die Jugendlichen gezwungen, trotz alter Intrigen und unerwiderter Gefühle zusammenzuarbeiten …

 

 

 

 

Für meine Geschwister:

 

Joanna, die mir Violets Stimme finden half, Louis, der mich alles streichen ließ, was mir selbst nicht richtig gefiel, & Andrea, die alle Bücher gelesen hat, die vor diesem hier kamen —

 

Danke, dass ihr mich gelehrt habt, wie man Geschichten erzählt.

1

Nachdem in diesem Jahr schon die dritte Leiche entdeckt worden war, kniete Justin Hawthorne hinter seinem Elternhaus nieder. Er war bereit, seine Zukunft zu erfahren.

Seine Schwester May legte die Omenkarten verdeckt im Gras aus. Die allsehenden Augen auf den Rückseiten der fünf Karten starrten ausdruckslos in das Blätterdach über ihnen. Justin bekam eine Gänsehaut, als er ihre Iris betrachtete: Sie war weiß wie die Augen von Toten.

Er hatte den neuesten Leichnam nicht selbst gesehen, doch die vom Grau ausgespienen Überreste sahen immer gleich aus: bleiche, milchige Augen, eingedrückter Brustkorb und Rippen, die sich wie ein Geweih durch die aufgedunsene Rückenhaut bohrten.

»Ich muss die Karten nicht befragen.« May klang nie besonders freundlich, aber immerhin gab sie sich Mühe. Seit Justin bei seinem Ritual gescheitert war, hatte er keine Lesung mehr verlangt. May war klar, wie viel Überwindung es ihn gekostet hatte, sie jetzt darum zu bitten.

Weil eigentlich er derjenige sein müsste, der die Omenkarten lesen konnte. Weil eigentlich er sich um die Angelegenheiten der Familie und den Schutz der Stadt kümmern müsste.

Aber dazu war er nicht fähig. Er war ein morscher Ast an einem gesunden Baum.

Das Grau war in diesem Jahr immer dreister geworden und hatte ein Opfer nach dem anderen in seine Welt gelockt, dorthin, wo die hungrige Bestie auf Beute lauerte. Dummerweise hatte Justin geglaubt, dass er sie, sobald er im Vollbesitz seiner Macht war, ein für alle Mal erledigen könnte.

Doch er verfügte über keinerlei Macht. Und jetzt war wieder ein Mensch tot.

Justin wollte nicht untätig herumsitzen, während andere starben. Ob nun mit Macht oder ohne, er war ein Hawthorne. Ihm würde schon noch etwas einfallen, wie er Four Keys in Zukunft schützen konnte.

Sein Schicksal lag in den Karten.

»Mach schon!«, sagte er und ergriff Mays Hände.

May schloss die Augen. Kurz darauf spürte Justin, wie sie in seine Gedanken eindrang – spitze, zielstrebige Fühler, die sich durch seinen Kopf schlängelten. Aus Erfahrung wusste er, dass May mehr fühlte als sah. Er gewährte ihr freien Zugang zu seiner Vergangenheit und Gegenwart, damit sie darin ein Muster für seine Zukunft erkennen konnte.

Nach ein paar Sekunden zog sie sich zurück, atmete leise aus und öffnete blinzelnd die Augen.

»Sie sind so weit«, sagte sie mit belegter Stimme und drehte die Karten um, sodass die allsehenden Augen nicht mehr zum Himmel, sondern ins Gras starrten. Justin hatte kaum einen Blick auf die einzelnen Karten geworfen, als seine Schwester schon hervorstieß: »Was …?!«

Ein Sonnenstrahl verwandelte das matte Rot des Glasmedaillons um Mays Hals in flammendes Blut, als öffnete sich in ihrer blassen Kehle eine Wunde.

Im Lauf der Jahre hatte ihm May schon Dutzende Male die Zukunft gelesen, teils zum Spaß, teils zu Übungszwecken, aber so erschrocken hatte Justin sie noch nie erlebt.

Sein Blick fiel wieder auf die umgedrehten Karten.

Die Zweig-Acht lag natürlich in der Mitte. Es war Justins persönliche Karte mit dem vertrauten Bild eines Jungen, der mit einem Reisigbündel im Arm auf einem Baumstumpf hockte. Dass sich um die Beine des Jungen Wurzeln rankten, die ihn an seinen Sitzplatz fesselten, hatte Justin erst entdeckt, als er älter war.

Dann sah er auch den Grund für Mays Bestürzung. Ihre Karte, die Zweig-Sieben, lag sonst immer zu seiner Linken, aber diesmal war sie überhaupt nicht dabei. An ihrer Stelle lag eine Karte, die Justin noch nie gesehen hatte. Das Bild darauf war kaum falsch zu deuten: eine Gestalt, die von Bäumen umgeben im Grau stand. Ihre rechte Hand war aus Fleisch und Blut.

Die linke Hand war skelettiert.

Justin musste an das Wiegenlied der Gründer denken: Zweig und Dolch …

»Knochen«, sagte May tonlos und drückte den lackierten Fingernagel auf das Holz. Ihre Hand zitterte. »Ich hätte nicht …« Ihre Stimme erstarb. Nicht mal eine zu Tode erschrockene May würde zugeben, dass ihr im Umgang mit den Karten ein Fehler unterlaufen war.

»Wir wissen beide, dass du keine Fehler machst«, sagte Justin rasch, konnte den Blick aber nicht von den Karten abwenden. »Also erklär mir, was das hier bedeutet.«

»Wenn du unbedingt willst …« May zog die Hand weg. »Du wirst einen Weg finden, wie du der Stadt helfen kannst. Welchen Weg, kann ich nicht genau erkennen. Hier haben wir die Verschlungene Wurzel, eine Reihe Entscheidungen mit ungutem Ausgang. In Verbindung mit dem Schild sieht es aus, als würdest du wie üblich zu vermitteln versuchen. Woran vermutlich die Dolch-Drei schuld ist, denn Isaac macht ja immer Ärger.«

»Und was ist mit dieser Karte hier? Tu doch nicht so, als ob nichts wäre!« Obwohl die Karte im Schatten lag, schien sie zu leuchten. Die verflochtenen Finger aus Fleisch und Knochen – eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten. »Sag schon!«

May schob die Karten geschickt zusammen und steckte sie dann in den Stapel zurück. Dabei schaute sie über Justins Schulter. Als sie schließlich wieder den Mund aufmachte, war der Blick ihrer hellblauen Augen auf die Bäume geheftet.

»Es geht um die Familie Saunders.« May stand auf. »Sie kommen zurück. Ich sag’s Mom und du erzählst es niemandem. Nicht mal Isaac.«

»Warte doch mal!« Justin rappelte sich ebenfalls hoch, aber wenn May es darauf anlegte, war sie ziemlich schnell. Ihre Hand lag schon auf der Klinke der Hintertür. »Was hat das alles damit zu tun, dass ich Four Keys helfen kann?«

Mays rosafarbenes Haarband war verrutscht. Für ihre Verhältnisse war das sehr unordentlich, aber sie schien es nicht einmal zu merken. »Ich weiß nicht, ob ich es richtig deute«, antwortete sie, »aber sobald die Saunders wieder hier sind, bekommst du die Gelegenheit, für Four Keys eine große Veränderung zu bewirken.«

Justin ließ sie gehen.

Er selbst blieb noch eine ganze Weile im Hof stehen und betrachtete den Weißdornbaum, dem seine Familie ihren Namen – Hawthorne – verdankte. Der Baum streckte seine knorrigen Äste wie gierige Finger über die Giebel und das Dach seines Elternhauses aus.

Zum allerersten Mal in Justins Leben würde ein anerkanntes Mitglied jeder der vier Gründerfamilien in Four Keys anwesend sein.

Justin gehörte dazu. Und er würde die Möglichkeit bekommen, etwas zu ändern.

Daran glaubte er fest. Ihm blieb gar nichts anderes übrig.

Die Omenkarten hatten es ihm verkündet – und im Gegensatz zu den Hawthornes, die die Karten legten, logen diese selbst nie.

Zwei Wochen später

Ein einzelnes türkisfarbenes Haar brachte Violet Saunders aus der Fassung. Sie entdeckte es, als sie gerade in ihrem Notenhefter blätterte. Das Haar spross wie ein Grashalm aus der Lücke zwischen ihrem Sitz und dem Becherhalter.

Violet hielt inne. Klebriger Schweiß sammelte sich auf dem dunkelblauen Plastikhefter. Sie konnte sich weder auf die Straße, die an den Fenstern des Porsche vorbeiglitt, noch auf ihren Fingersatz zu Schumanns Abegg-Variationen konzentrieren. Ihre Begeisterung für das Klavierstück war plötzlich verflogen.

Sie löste einen Finger nach dem anderen vom Hefter und ihre linke Hand kroch wie eine blasse, geäderte Tarantel auf das Haar zu, als ihre Mutter unerwartet ihr Bluetooth-Headset ausschaltete.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Du bist ganz blass um die Nase.«

Violet zog die Hand sofort zurück, stellte den tosenden Schumann in ihren Kopfhörern leiser und versuchte, ihre Verwunderung zu verbergen. Zum ersten Mal seit über einer Stunde hatte ihre Mutter etwas zu ihr gesagt. »Mir ist nur ein bisschen schlecht vom Fahren.«

Juniper Saunders legte den Kopf schief. Das Headset an ihrem Ohr blinkte und warf blaues Licht auf die zugewachsenen Ohrlöcher. Sie waren die letzte sichtbare Erinnerung an eine Version von Violets Mutter, die es längst nicht mehr gab. »Sag mir Bescheid, wenn du dich übergeben musst. Dann halte ich an.«

Die Vorstellung, dass sich Juniper ihretwegen Sorgen machte, versetzte Violet einen Stich. Als sie mit den Klavierstunden aufgehört hatte, hatte ihre Mutter keinen Ton dazu gesagt, allerdings schien es ihr auch nicht groß aufgefallen zu sein, dass Violet ihr Zimmer am Tag der Hausbesichtigung dunkelrot gestrichen und sich nach der Beerdigung die Haare zu einem ungleichmäßigen, etwas über kinnlangen Bob abgeschnitten hatte. Trotzdem hatte Juniper jetzt offenbar mitten in einer Telefonkonferenz mitbekommen, dass es ihrer Tochter nicht gut ging.

Nicht ganz logisch, aber andererseits hatte Violet ihre Mutter noch nie richtig verstanden.

»So schlimm ist es nicht.« Violet kratzte mit dem Fingernagel über den Hefter. »Die Reisekrankheit, meine ich. Ich muss nicht kotzen oder so, noch nicht.«

Junipers Headset blinkte wieder. »Dann kann ich mich ja weiter meiner Konferenz widmen, oder? Im Londoner Büro geht es drunter und drüber und ich muss die Entwickler auf Spur bringen, sonst gibt’s dort eine Katastrophe.«

»Klar«, antwortete Violet. »Dafür will ich natürlich nicht verantwortlich sein.«

Sie drehte die Lautstärke auf, bis der Schumann wieder aus den Kopfhörern dröhnte. Sie kannte jeden Takt, jede Pause, jeden Akkord – schließlich spielte sie bei dieser Aufnahme selbst. »Dann muss ich meinen Mageninhalt eben im Auto loswerden.«

Juniper verdrehte die Augen und redete weiter, irgendetwas über einen Fehler in der Software, die ihre Firma entwickelte. Violet blendete sie aus und ließ sich in ihren Sitz zurücksinken.

Four Keys. Die Kleinstadt, in der ihre Mutter aufgewachsen war, von der sie nie erzählt hatte. Juniper erzählte sowieso nie etwas – auch nicht, warum sie darauf bestanden hatte, dass Violet und ihre Schwester ihren Nachnamen und nicht den ihres Vaters trugen oder warum sie ihre Heimatstadt gleich nach ihrem Schulabschluss verlassen und nie wieder besucht hatte. Nicht einmal, als ihre Eltern gestorben waren. Nicht einmal, als ihre Schwester, eine Tante, die Violet nie kennengelernt hatte, krank geworden war.

Der Gedanke an Schwestern bedrückte sie nur noch mehr. Hätte es in ihrer eigenen Familie nicht ebenfalls eine Katastrophe gegeben, wären sie jetzt nicht nach Four Keys unterwegs.

Ein riesiger Lastwagen überholte den Porsche. Violet schlug das Herz bis zum Hals, als ihr der Anhänger die Sicht nahm. Seit Rosies Unfall vor einem knappen halben Jahr hatte sie schon x-mal wieder im Auto gesessen, aber Lastwagen wie dieser lösten bei ihr immer noch eine fiese Mischung aus Übelkeit und Wut aus.

Sie zwang sich wegzuschauen, doch da fiel ihr Blick wieder auf das Haar, das sie zu verhöhnen schien. Violet hielt die Übungsaufnahme an, legte den Hefter in den Schoß und zog das türkisfarbene Haar aus dem Spalt.

Was gar nicht so leicht war. Als sie daran zupfte, merkte sie, dass es sich im Verschluss eines dünnen Silberarmbands verfangen hatte, das ebenfalls in der Lücke neben dem Sitz klemmte. Während Juniper unermüdlich Anweisungen in ihr Headset blaffte, strich Violet behutsam mit dem Finger über den filigranen Rosenanhänger.

Das Komische am Trauern war, dass es Violet nach den ersten schlimmen Wochen, in denen sie wieder lernen musste zu schlafen, zu essen und zu atmen, fast noch schlechter ging. Es gab gewisse Regeln, wie man eine Beerdigung organisierte und mit überfürsorglichen Nachbarn umging, und es gab Therapien. Aber alle Beileidsbekundungen und gut gemeinten Ratschläge verrieten einem nicht, wie man sich verhalten sollte, wenn man den Schmuck der toten Schwester im Auto entdeckte, nachdem ihre übrigen Sachen längst weggepackt waren.

Dabei hatte Rosie das Armband nicht mal gemocht. Im Gegenteil – Violet erinnerte sich noch gut, wie ihre Schwester abfällig den Mund verzogen hatte, als sie die Schachtel an ihrem sechzehnten Geburtstag geöffnet hatte. Das Armband war ein Geschenk einer Großtante väterlicherseits, die Rosie und Violet zuletzt als Kleinkinder gesehen hatte und sich mit Jugendlichen und ihrem Geschmack anscheinend nicht besonders auskannte.

»Was soll ich denn mit einer Rose?«, hatte Rosie später gesagt, als sie wieder in ihrem Zimmer waren und den Berg Klamotten und die fragwürdigen Bastelarbeiten, die Rosie von ihren Freundinnen bekommen hatte, begutachteten. »Wie unkreativ ist das denn!? Ich werde das Ding höchstens aus Höflichkeit tragen, aber es sieht doch aus wie diese Halskettchen mit Namensanhänger. Wie ein Hundehalsband.«

Violet hatte ihr wie immer zugestimmt und sich ebenfalls über das Geschenk lustig gemacht, war aber insgeheim der Meinung gewesen, dass das Armband zwar nicht Rosies Stil entsprach, ihre Großtante aber immerhin versucht hatte, wieder Verbindung mit ihnen aufzunehmen. Nach Dads Tod hatte Juniper den Kontakt zu seiner Familie einschlafen lassen und Violet freute sich über jede Erinnerung an diese Verwandten.

Jetzt musterte sie die silberne Rose, die nach ihrer Verbannung neben den Becherhalter ein bisschen angelaufen war.

Ach, was soll’s! Violet öffnete den Verschluss des Armbands, zupfte das Haar heraus und klemmte es in ihren Hefter. Dann legte sie sich das Armband um und drehte den Anhänger so, dass er die lila Adern verdeckte, die sich in Richtung Handfläche wanden.

Klar, das war schon ein bisschen kitschig. Rosie hätte bestimmt einen bissigen Kommentar rausgehauen. Aber als sie von der Schnellstraße abbogen, kam sich Violet nicht mehr ganz so allein vor.

Der Porsche fuhr jetzt über Landstraßen und statt der überfüllten Autobahn zogen bewirtschaftete Felder an den Fenstern vorbei. Die Felder gingen in Wald über und kurz darauf war der Wagen von Bäumen umgeben, die sich bis dicht an den Fahrbahnrand drängten, und deren Äste und Zweige sich im Gegenlicht des frühen Nachmittags als Silhouetten abzeichneten. Während die Musik in ihren Kopfhörern von Schumann über Bach zu Chopin wechselte, blickte Violet durch die Windschutzscheibe auf eine in dunkelgrüne Schatten getauchte Landschaft.

Die Bäume lenkten sie von der Straße und vom Himmel ab. Die scharf umrissenen Stämme, Äste und Blätter zogen ihren Blick so unwiderstehlich an, als würden sie direkt vor dem Auto flirren und winken.

Schließlich bogen sie auf einen holprigen Weg mit vielen Kurven ab. Von einem überhängenden Ast baumelte an rostigen Ketten ein Holzschild, dessen eingebrannte schwarze Buchstaben sie in Four Keys im Bundesstaat New York willkommen hießen.

»Das Schild ist ja noch da!«, sagte Juniper amüsiert. »Ich hätte gedacht, dass sie es inzwischen durch etwas halbwegs Modernes ersetzt hätten.«

Violet nahm die Kopfhörer ab. »Hing das Schild schon zu deiner Schulzeit hier?«

»Es hängt hier, seit ich denken kann.«

Das war die erste Information über Four Keys, die sich Juniper freiwillig entlocken ließ. Als der Porsche an mehreren heruntergekommenen Einfamilienhäusern vorbeifuhr, kamen Violet die unzähligen anderen, nie beantworteten Fragen wieder in den Sinn. Über und neben den Haustüren hingen rötlich braune Glocken, mal nur eine oder zwei, mal zehn und mehr. Sie schaukelten im Wind, aber Violet hörte kein Läuten – auch nicht, als sie das Fenster herunterließ.

Sie versuchte, einen besseren Blick auf die Glocken zu erhaschen, aber anscheinend hatten sie jetzt die sogenannte Innenstadt erreicht, wo anstelle der heruntergekommenen Einfamilienhäuser größere heruntergekommene Gebäude die Straße säumten.

Violet entdeckte keine Filialen bekannter Handelsketten, nur ein paar kleine Läden, die den Eindruck machten, als wären sie einem alten Schwarz-Weiß-Foto entsprungen. Die abblätternde Goldschrift an einem Eckgebäude verriet, dass es sich um ein Kaufhaus handelte, außerdem gab es einen Laden für Secondhandkleidung, eine Kneipe, einen Lebensmittelladen und eine Bibliothek mit schiefem Giebeldach. Vor einem Diner, das aussah wie aus den Fünfzigerjahren übrig geblieben, standen ein paar Leute, schnippten ihre Kippen auf den Bürgersteig und sahen dem vorbeifahrenden Porsche nach.

Obwohl sie Westchester County erst vor fünf Stunden verlassen hatten, kam es Violet vor, als hätte sie jemand auf einen anderen Planeten gebeamt.

Juniper zeigte auf das Rathaus, ein durchaus eindrucksvolles Gebäude, das so gar nicht zu seinen schäbigeren Brüdern passen wollte. Dahinter erstreckte sich bis zum Horizont dichter Wald, dessen Äste von beiden Seiten her bis über das Rathausdach ragten. In Ossining, Violets Heimatstadt, wirkte jeder Baum wie ein Eindringling, der trotzig aus dem losen Kies emporwuchs oder in einer eingezäunten kleinen Fläche am Straßenrand sein Dasein fristete. Hier dagegen wirkten die Häuser wie Fremdkörper, als wären sie nur eine störende Unterbrechung des Waldes.

Die einzige baumlose Fläche war eine kleine Wiese gleich neben dem Rathaus. An ihrem Rand zum Wald hin und ein Stück von der Hauptstraße entfernt stand ein einzelnes Gebäude mit einem eigenartigen Symbol auf der Tür – einem Kreis, der von vier Linien durchschnitten wurde, die sich unterhalb der Mitte trafen, so wie bei einem umgedrehten Kreuz.

»Ist das eine Kirche?« Violet betrachtete den Marmorgiebel.

Juniper schüttelte den Kopf. »In Four Keys gibt es keine Kirchen. Das ist ein Mausoleum. Hier werden die Leute erst eingeäschert und dann beigesetzt. Das Mausoleum dient als allgemeine Gedenkstätte.«

»Gruselig.«

Juniper zuckte die Achseln. »Praktisch, würde ich sagen.«

Doch Violet konnte ihr Unbehagen bei der Vorstellung einer Stadt ohne Kirche und Friedhof nicht abschütteln.

Hinter der Wiese kam noch eine Ladenzeile, dann säumten wieder Wohnhäuser die Hauptstraße.

»Moment mal!« Violet drehte sich ungläubig um. Das Rathaus verschwand hinter einem wippenden Ast. »War das etwa schon alles?«

Wieder fuhren sie durch dichten Wald, der Wagen glitt durch einen Tunnel aus grünem Laub. Violet wollte mit dem Handy ein Foto machen, aber auf dem Bild waren die Blätter und Zweige total verschwommen.

Dann kamen sie aus dem Wald heraus und in offenes Gelände. Grelles Sonnenlicht fiel durch die Windschutzscheibe und Violet musste die Augen zusammenkneifen. Noch ehe sie die dunklen Flecken weggeblinzelt hatte, tauchte vor ihnen ein roter Ziegelbau auf.

»Ist das unser Haus?«, fragte sie. Vielleicht antwortete ihre Mutter etwas, vielleicht auch nicht. Violet war so gebannt von dem Anblick, dass sie es nicht richtig mitbekam.

Das Haus wirkte wie aus einem Traum: verfallen, geheimnisumwittert und ein bisschen schief. Die roten Mauern überragten die Bäume und das Dach war von drei Türmchen mit rostigen Eisenspitzen gekrönt.

Violet wartete kaum ab, bis das Auto hielt, riss die Tür auf und sprang heraus. Der Garten rund um das Haus war hoffnungslos verwildert. Violet stieg die bemooste Treppe zur Veranda hoch.

»Erstaunlich, dass die Bude überhaupt noch steht, so marode, wie sie ist«, sagte Juniper.

»Ich finde sie genial.« Staunend sah Violet, dass an der Tür sogar ein Messingklopfer hing. Dann fiel ihr ein, wie begeistert Rosie davon gewesen wäre, und ihre Euphorie bekam einen Dämpfer. Sie hatten immer davon geträumt, gemeinsam in genau so ein Haus zu ziehen. Ein knarrendes, altes Landhaus, wo Rosie die Wände bemalen und Violet den ganzen Tag Klavier spielen konnte, wo die Nachbarskinder sie beide für Hexen halten würden. Violet riss sich zusammen und betätigte den Türklopfer, aber die Gedanken ließen sich nicht verscheuchen. Genauso wenig wie die Trauer, die ihre Haut wie ein dünner Film überzog und sie wie in einen Kokon eingesponnen hatte.

Die Tür ging auf und auf der Schwelle stand eine Frau, die mindestens einen Kopf kleiner war als Violet. Sie hatte krauses Haar und trug ein feuerrotes Strickkleid. Ihre Züge waren ein Zerrbild von Junipers Gesicht – eine Juniper, die ihre Haare ungeniert grau werden ließ und lieber barfuß als auf hohen Absätzen ging.

»Hallo, Daria«, sagte Juniper. »Wir sind’s.«

»Danke, wir kaufen nichts!«, erwiderte die Frau beziehungsweise Tante Daria.

Dann knallte sie die Tür mit einer Wucht zu, die man so einer kleinen Person gar nicht zugetraut hätte. Violet sprang erschrocken zurück. Als Juniper ihr erzählt hatte, Daria sei krank, hatte sie sich eine bettlägerige, gebrechliche Greisin vorgestellt!

»Daria!« Juniper rüttelte an der Tür. »Lass den Quatsch. Mach auf!«

»Geht es ihr nicht gut?«, fragte Violet leise und betrachtete einen roten Wollfaden, der sich in der Türangel verfangen hatte. In Darias Blick hatte sich kein Funken des Erkennens gespiegelt. Nicht einmal beim Anblick ihrer eigenen Schwester.

Juniper drehte sich mit der Hand am Türknauf um. Eine Strähne hatte sich aus ihrem Haarknoten gelöst und kräuselte sich auf ihrer Stirn.

»Nein, es geht ihr gar nicht gut«, sagte sie schroff. »Sie leidet an einer Frühform von Demenz. Die Ärzte wollten sie ins Heim stecken. Deswegen sind wir ja hier.«

Die silberne Rose drückte gegen Violets Handgelenk, lag kühl und schwer auf ihrem sich beschleunigenden Puls. »Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?«

»Ich habe dir erzählt, dass sie krank ist.«

Diesen leicht abwesenden Gesichtsausdruck hatte ihre Mutter auch bei Rosies Beerdigung gehabt. Juniper hatte das Ganze umsichtig und professionell abgewickelt. Sie hatte den Sarg sogar in ihrer Mittagspause ausgesucht, weil sie dafür nicht extra einen Tag freinehmen wollte. Sie hatte der Andacht in der Kirche geduldig gelauscht und ihre in höflichem Desinteresse erschlafften Züge hatten sich auch dann nicht verändert, als sie am Grab standen. Violet hätte sie am liebsten in die offene Grube geschubst, aber dann hatte sich ihr Gewissen gemeldet und sie davon abgehalten. Außerdem hatte Rosie bessere Gesellschaft verdient.

Auch jetzt wäre es reine Zeitverschwendung gewesen, ihr klarmachen zu wollen, dass sie Violet gekränkt hatte. Wenn Rosies Tod nicht bewirkt hatte, dass Juniper ihrer verbliebenen Tochter mehr Aufmerksamkeit schenkte, dann war ihr auch nicht mehr zu helfen.

»Unglaublich«, sagte Juniper und hatte Violet schon wieder vergessen, als sie vor der säulengerahmten Tür auf und ab tigerte. »Wir sind den ganzen weiten Weg gefahren … da kann sie uns doch nicht einfach …«

»Und ob ich das kann!«, ertönte es heiser und leicht gedämpft durch ein Seitenfenster.

Daria drückte das runzlige Gesicht an die Scheibe. Was Violet auf eine Idee brachte.

Sie sprang die morschen Stufen wieder hinunter und stapfte durch den Garten, wobei ihre niedrigen Absätze tief im hohen Gras versanken.

»Was hast du vor?«, rief Juniper ihr nach.

Violet beachtete sie nicht und ging auf die Rückseite des Hauses, wo der verwilderte Rasen zu einem bewaldeten Hang hin abfiel. Aus diesem Blickwinkel spießte das höchste Türmchen die untergehende Sonne gerade mit seiner Eisenspitze auf.

Die Hintertür war weit weniger aufwendig gestaltet als die Vordertür. Vielleicht war hier früher der Dienstboteneingang gewesen? Obwohl sich die Klinke nicht herunterdrücken ließ, war die schmutzige Scheibe in der Tür von spinnwebartigen Sprüngen durchzogen. Violet drehte sich wieder zum Garten um.

Sie hatte ihn vor ein paar Minuten zum ersten Mal gesehen und doch kam er ihr seltsam vertraut vor.

Ihr ganzes Leben lang hatte es immer nur sie und Rosie und Juniper gegeben. Ihr Vater war lediglich eine verschwommene Erinnerung, die sich aus wenigen Anekdoten und ein paar kostbaren Fotos zusammensetzte. Die ganze Saunders-Familie war ein einziges großes Geheimnis.

Das Haus war der Beweis dafür, dass es mit dieser Familie mehr auf sich haben musste.

Violet gab sich einen Ruck und suchte die üblichen Verstecke ab, bis sie den Ersatzschlüssel schließlich unter einem Übertopf voller trockenem Laub entdeckte.

Der Schlüssel war verdreckt und verrostet, aber er passte. Kurz darauf betrat sie die Diele im Erdgeschoss ihres neuen Zuhauses. Es roch muffig, die dunklen, dumpf hallenden Räume links und rechts schienen unbewohnt zu sein. In der Diele selbst säumten ausgestopfte Tiere die Wände. Als Violet versehentlich mit der Hand eine Gruppe ausgestopfter Vögel streifte, erschauerte sie unwillkürlich.

In einem Raum, der vermutlich das Wohnzimmer war, entdeckte sie hinter einem Sofa zerknitterten roten Stoff und krause Haare. Seufzend ging sie weiter bis in die sonnendurchflutete Diele.

Als sie die Haustür aufmachte, lehnte ihre Mutter mit finsterer Miene am Verandageländer.

»Gott sei Dank.« Juniper kam eilig herein. »Dieses Haus konnte mich noch nie leiden, ich schwör’s.«

Violet folgte ihrer Mutter und blieb neben ihr stehen, als Juniper vor der halb offenen Wohnzimmertür anhielt. Daria war aus ihrem Versteck gekommen. Sie kauerte auf dem Boden, ihr Kleid breitete sich wie eine wollene Blutlache um sie aus. Die Hände vergrub sie in den drahtigen Locken. Die Saunders-Locken – so nannte Violets Mutter ihre Haare ärgerlich, als wären ihre schottischen Vorfahren für all ihre Probleme verantwortlich.

Juniper legte Violet die Hand auf die Schulter und sie versteifte sich. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter sie zuletzt angefasst hatte. Schon vor Rosies Unfall hatten sie immer Abstand voneinander gehalten. »Ich kümmere mich um meine Schwester. Du kannst schon mal den Umzugswagen ausräumen.«

Juniper klang ungewohnt sanft, beinahe entschuldigend. Irgendwie war das noch schlimmer als das höfliche Desinteresse vorhin im Auto, so wie auch ihre Besorgnis wegen Violets Reiseübelkeit schlimmer war, als wenn Juniper sie einfach ignoriert hätte. Denn es bedeutete, dass ihre Mutter durchaus auf sie eingehen konnte, wenn sie nur wollte.

Violet entzog sich ihr. »Mach ich.«

Sie ging in Richtung Haustür, drehte sich dann aber noch einmal um. Ihre Mutter kniete neben Daria und sagte etwas zu ihr, was Violet nicht verstehen konnte, doch sie hörte aus dem Tonfall sowohl Unmut als auch Mitgefühl heraus.

Daria stemmte die Hand gegen Junipers Schulter. Suchte sie Halt oder wollte sie ihre Schwester wegschubsen? Dann erhoben sich beide im Gegenlicht der durch die großen Fenster hereinflutenden Sonnenstrahlen wie ein einziges, vierbeiniges Tier. Ihre Umrisse verschwammen, und als Violet die Augen zusammenkniff, hätte sie schwören können, hinter den beiden Köpfen etwas Türkisfarbenes aufblitzen zu sehen.

2

Kurz bevor sich Justins Herz an seinen eigenen Rippen aufspießte, ertönten vom Rand der Bahn drei schrille Pfiffe.

»Das reicht!«, blaffte Trainer Lowell und ließ die Trillerpfeife wieder sinken.

Erleichtert verlangsamte er seinen Sprint zu einem gleichmäßigen Trab. Normalerweise freute er sich auf das Training, aber das ferienbedingte Formtief hatte ihn in eine keuchende Schweißpfütze verwandelt. Seine Kameraden vom Crosslauf-Team der Four Keys High trotteten hinter ihm her, absolvierten schnaufend und leise fluchend die Auslaufrunde. Nächste Woche begann für Justin das letzte Jahr in der Oberstufe und damit auch das letzte Jahr im Team.

»Zeit?«, rief er, machte kehrt und wechselte vom Trab ins Gehen. Am Rand des Sportplatzes standen die Bäume dicht an dicht, ihre Wurzeln schoben sich wie Adern unter den aufgeworfenen Asphalt. Bei Wettkämpfen verknackste sich immer mal wieder jemand den Fuß, aber nur Teilnehmer, die nicht von hier waren.

Justin war in diesen Wäldern aufgewachsen. Trotzdem befiel ihn auf einmal, so nah an den Bäumen und mit dem dichten Laubdach über sich, ein beklemmendes Gefühl. Er wurde die Vorstellung nicht los, dass ihn die Zweige packen wollten.

Trainer Lowell blickte auf die Stoppuhr in seiner fleischigen Hand. »Hawthorne!«, sagte er schroff. »Komm mal her.«

Die Schule von Four Keys war zu klein und verfügte über zu wenig Mittel für eine richtige Sportförderung, aber das Laufteam fuhr zu Wettkämpfen und gewann sogar den einen oder anderen. Dann war meistens Justin der Sieger, aber die verdrossene Miene des Trainers deutete nicht unbedingt darauf hin, dass er ihn jetzt zu seiner Leistung beglückwünschen wollte.

»Sieh dir das an!« Lowell hielt Justin das Blatt mit den Zeiten unter die Nase und Justin bekam einen Schreck, als er den Eintrag hinter seinem Namen las.

Seit der neunten Klasse war er keine so lahme Runde mehr gelaufen – genau genommen seit der Mittelstufe nicht mehr.

»Was ist mit dir los?«, fuhr ihn der Trainer an. »Bei der dritten Runde hätte dich Gonzales beinahe überholt.« Sein Gesicht verzog sich unzufrieden.

»Gonzales hänge ich im Schlaf ab«, widersprach Justin.

»Die Mannschaft schaut zu dir auf, Hawthorne. Wenn du mit den Gedanken woanders bist, sind die anderen auch nicht bei der Sache.«

Justin bohrte die Spitze seines Turnschuhs in den bröckeligen Asphalt. Der Trainer hatte ja recht. Er war mit den Gedanken woanders.

Es kam ihm absurd vor, sich Sorgen wegen seiner Laufzeiten zu machen, wo doch ein Mensch gestorben war. Er musste immerzu daran denken, wie sich der Mann gefühlt haben musste, bevor ihn das Grau verschlang.

Der Mann hatte auch einen Namen: Hap Whitley. In seinem Nachruf stand, er habe zusammen mit seinem Vater in einer Autowerkstatt gearbeitet. Justin hatte das Foto, das die Familie dem Lokalblatt zur Verfügung gestellt hatte, ganze fünfzehn Minuten lang betrachtet: das auf den wirren Locken sitzende, nach hinten gedrehte Baseballcap, die leicht zusammengekniffenen Augen, das verlegene Grinsen.

Das alles lag schon zwei Wochen zurück, aber Justin stellte sich immer wieder – fast zwanghaft – vor, wie der junge Mann von dem Foto wohl ausgesehen hatte, bevor er eingeäschert und anschließend im Mausoleum beigesetzt worden war.

Die Saunders waren heute angekommen, so wie es seine Schwester vorhergesagt hatte. Die halbe Stadt hatte ihren glänzenden Wagen auf dem Weg zu ihrem Anwesen gesehen. Justin hatte damit gerechnet, aber nicht damit, dass seine Mutter ihn und May in ihr Büro zitieren und ihnen vorschreiben würde, dass sie sich von den Neuankömmlingen fernzuhalten hatten.

»Sie wissen nicht, wie diese Stadt funktioniert«, hatte sie gesagt. »Höchstwahrscheinlich sind sie sowieso ein abgestorbener Zweig der Linie. Also muss man sie gar nicht erst mit ihrem Erbe belasten.«

Obwohl Augusta Hawthorne mit beiden Kindern gesprochen hatte, hatte sie die ganze Zeit nur Justin angeschaut. Er dachte wieder an die Karte aus dünnem Holz, die zwischen ihm und May gelegen hatte, an die verflochtenen Finger aus Fleisch und Knochen und den modrigen Pilzgeruch unter dem Weißdornbaum.

Insofern stimmte es – er war nicht bei der Sache. Aber er hatte den Fehler begangen, es den Trainer merken zu lassen.

Justin besaß zwar keine übernatürlichen Fähigkeiten, konnte aber gut mit Menschen umgehen. Jetzt imitierte er Lowells lässige Haltung.

»Wird nicht wieder vorkommen.« Er sagte es voller Überzeugung und so laut, dass es auf dem ganzen Platz zu hören war.

Die Miene des Trainers hellte sich auf. Er vertraute Justin. Zumindest vertraute er den Hawthornes.

»Weiß ich doch«, brummte er und klopfte Justin freundschaftlich auf die Schulter. »Hauptsache, du bist für Long Lake bereit. Ich schätze, dass dort ein paar Scouts auftauchen … und auch kleinere Unis vergeben Stipendien.«

Scouts, die nach Talenten für die Uniteams Ausschau hielten.

Justin nickte und tat so, als wären sein wild klopfendes Herz und sein abgerissener Atem noch Nachwirkungen des Lauftrainings. Umringt von seinen Teamkameraden ging er zur Umkleide, sie redeten über den bevorstehenden Auftakt der Crosslauf-Saison.

Justin kannte die anderen Jungs natürlich alle: aus der Schule, von Partys und vom Training, aber es spielte keine Rolle, dass Cal und er schon als Kinder um die Wette gelaufen waren oder dass er schon mit Seo-Jin Park, Britta Morey und Marissa Czechowicz gegangen war. Zwischen ihm und den anderen herrschte stets eine gewisse Distanz. Als Justin noch jünger war, hatte er es genossen, dass ihn alle heimlich anschwärmten. Ihr übertriebenes Lachen über seine Witze, ihre Blicke – das alles verdankte er der Achtung, die seiner Familie in Four Keys entgegengebracht wurde. Es war ein Beweis dafür, wie viel Gutes die Hawthornes getan hatten.

Doch seit in diesem Jahr der erste Tote aufgetaucht war, hatten sich die Blicke verändert. Sie waren jetzt nicht mehr nur freundlich und bewundernd, sondern auch erwartungsvoll. Alle paar Jahre forderte das Grau in Four Keys ein neues Opfer, üblicherweise um die Tagundnachtgleiche herum, aber nie so viele Opfer in so kurzer Zeit. Und Justin wurde allmählich bewusst, dass es Konsequenzen hatte, zu jenen zu gehören, auf die Four Keys in schweren Zeiten seine Hoffnung setzte.

Vor allem, weil er selbst nichts unternehmen konnte. Seine Mutter hatte seine fehlende Macht nun schon fast ein ganzes Jahr lang geheim gehalten, aber früher oder später würde die Wahrheit herauskommen – und die allgemeine Hochachtung würde in Verachtung umschlagen.

Deshalb hatte ihn seine Mutter vor einigen Wochen auch so bedrängt und ihm einen Stapel Bewerbungen für alle möglichen Sportstipendien in die Hand gedrückt. Erst hatte Justin nicht begriffen, worauf sie hinauswollte.

Die Macht wurde jeweils nur an eine Linie einer Gründerfamilie vererbt, weshalb die Gründerkinder, die ihr Ritual bestanden, nach ihrem Abschluss nicht weggingen. Schon gar nicht jetzt, wo alle beunruhigt waren und die verbliebenen Gründerfamilien allmählich ausstarben. Onlinekurse und die örtliche Fachhochschule waren im Tausch für das Wohl der Stadt ein geringer Preis.

Allerdings waren die Hawthornes nicht irgendeine Gründerfamilie. Sie waren diejenigen, die das Sagen hatten. Seine Mutter hatte ihm an jenem Abend erklärt, dass sie in Four Keys als die geborenen Anführer galten. Justins Machtlosigkeit könnte dieses Ansehen ruinieren.

Augusta hatte also darauf bestanden, dass er Four Keys verließ, bevor die Stadt die Wahrheit erfuhr. Sie würde die Studiengebühren übernehmen, wenn er versprach, nie mehr zurückzukommen.

Bis jetzt hatte Justin noch keine Entscheidung getroffen.

Vielleicht erlaubte ihm ja die Zukunft, die May aus den Karten gelesen hatte, trotzdem hierzubleiben.

Vielleicht machte er sich aber auch nur etwas vor.

Sonst ging Justin nach dem Training gleich nach Hause, aber heute hatte er sich bereit erklärt, im Diner die Spülschicht zu übernehmen. Weil seine Mutter die Polizeichefin der Stadt war, musste Justin nach der Schule eigentlich nicht noch jobben gehen. Doch Four Keys sah sein Engagement gern und er gab sich große Mühe, als dasjenige Mitglied der Gründerfamilie zu gelten, das die Allgemeinheit nicht nur beschützte, sondern ihr auch diente.

Als er auf dem verlassenen Platz hinter dem Diner einparkte, ging die Sonne schon über den Bäumen unter. Er warf sich die Schürze über die Schulter, ließ den Pick-up stehen und winkte den beiden Polizisten zu, die vor dem Restaurant Kette rauchten.

»Hat dich deine Mutter heute Abend für die Streife eingeteilt?«, fragte Officer Anders.

Justin schüttelte den Kopf. »Erst morgen.«

»Aha. Dann halt die Augen offen. Drei sind zu viel – wir wollen auf keinen Fall, dass es vier werden.« Der Polizist legte liebevoll die Hand auf sein Pistolenhalfter. Hinter dem Diner erstreckte sich der Wald, das Gebäude sah vor den mächtigen Eichen aus wie ein Spielzeughaus.

Wenn man ins Grau geriet, half einem auch keine Pistole mehr, trotzdem trug die halbe Truppe seiner Mutter welche. Für Leute ohne Gründerblut waren die Waffen sozusagen tröstende Schmusedecken – so wie die Steinanhänger, die sie um den Hals trugen, und die Glocken neben ihren Haustüren.

»Ich passe schon auf«, erwiderte Justin, obwohl er seinen Streifendienst auch nackt und betrunken absolvieren konnte, wenn ihm danach war. Seit er bei seinem Ritual durchgefallen war, ließ ihn Augusta nicht mal mehr in die Nähe eventueller Gefahren. Inzwischen ging er nur noch auf Streife, um sich dabei sehen zu lassen.

Justins Medaillon grub sich in sein Handgelenk – eine Scheibe aus leuchtend rotem Glas, die eigentlich bedeutete, dass er keinen schützenden Steinanhänger mehr brauchte, weil er jetzt im Besitz seiner Macht war. Sein Medaillon war Schwindel, aber er trug es für Officer Anders – und für alle anderen, die ihn für einen echten Gründer hielten. Justin verabschiedete sich und betrat das Diner. Er schämte sich.

Die Einrichtung des Restaurants sah aus, als würde sie jeden Augenblick auseinanderfallen. An einer Wand lehnte eine betagte Jukebox und leierte misstönend einen Song der Beach Boys, gelbe Schaumstofffüllung quoll im flackernden Licht der angeknacksten Neonröhre aus den blauen Polstern. Im Vorbeigehen fuhr Justin mit der Hand über die Tische, die nie richtig sauber aussahen, egal, wie oft man sie abwischte.

»Sehr schön.« Isaac Sullivan saß an der Kasse und las. »Du kannst gleich die Hauptschicht fürs Abendessen übernehmen.«

Das treffendste Wort, das Justin für Isaacs äußere Erscheinung einfiel, war »durchdacht«. Sein Undercut mit den dunklen Locken, das bis zum Hals zugeknöpfte Flanellhemd und die beiden Medaillons an den Handgelenken, die rot auf der blassen Haut leuchteten – das eine, das er sich verdient, und das andere, das er von seinem Bruder übernommen hatte.

»Wir Gründerkinder stehen sowieso im Mittelpunkt«, pflegte er zu sagen. »Da können wir den Leuten genauso gut Grund zum Glotzen geben.«

Auch deswegen waren Justin und er befreundet. Isaac wusste, wie es war, wenn man ständig unter Beobachtung stand.

Justin band seine Schürze um. »Ich bin heute nicht an der Theke. Ich hab Spüldienst.«

»Den Spüldienst übernehme ich.« Isaac griff sich sein Buch und stand auf. »Du bedienst.«

Obwohl sie schon ein paar Monate hier jobbten, musste Justin unwillkürlich lachen, als er die Aufschrift auf Isaacs Schürze las.

Herzlich willkommen!, stand da in verschnörkelten Buchstaben. Ich bin Ihre freundliche Bedienung. Für Ihre Zufriedenheit tue ich alles!

»Jetzt hör schon auf«, sagte Isaac. »Du hast das gleiche Teil um.«

»Ja, aber dich kotzt es mehr an.«

Isaacs Kiefermuskeln zuckten. Justin wusste längst, was diese Miene bedeutete. Gleich gab es Ärger.

»Jetzt nicht mehr«, sagte Isaac und berührte die Schürze leicht. Die Luft vor der gestickten Aufschrift flimmerte und die Buchstaben verkohlten, bis nur noch ein schwarz gerändertes Loch übrig war.

Justin ärgerte sich über sich selbst. Isaac zu provozieren war nie eine gute Idee, schon gar nicht bei der Arbeit.

Sein Freund hatte den Job bekommen, nachdem ein Zwischenfall im Lebensmittelladen einen beträchtlichen Sachschaden verursacht hatte. In der Stadt wusste jeder, dass nur Isaacs Status als Gründersohn und der Einfluss der Hawthornes dafür gesorgt hatten, dass er im Diner arbeiten durfte. Sogar das Buch, das er las, hätte eine bessere Bedienung abgegeben als er.

»Da bist du ja, Justin! Wir brauchen dich hinten, bevor der große Ansturm losbricht.« Pete Burnham kam aus der Küche. Seiner Familie gehörte das Diner, aber er war der Einzige, der sich darum kümmerte. Dann fiel sein Blick auf Isaacs Schürze. »Nicht schon wieder!« Er fuhr sich über den kahlen Kopf. »Du weißt doch, dass Ma die Schürzen eigenhändig bestickt!«

Isaac blieb ungerührt. »Dann kauf ihr eine Nähmaschine. Oder sag ihr, dass sie sich ein anderes Hobby suchen soll.«

»Sprich nicht so über Ma.«

»Du bist echt ein Muttersöhnchen. Hat dir das noch keiner gesagt?«

»Das muss ich mir von dir nicht bieten lassen, Sullivan!«

Die Luft um Isaac flirrte plötzlich wie die Luft über erhitztem Asphalt. Pete wich in Richtung Küchentür zurück.

Justin war kurz davor einzugreifen. Meistens hörte Isaac auf die Stimme der Vernunft, jedenfalls wenn sie von Justin kam. Doch bevor er etwas sagen konnte, schwang die Dinertür knarrend auf und ein Mädchen kam herein, das Justin noch nie gesehen hatte: kantiges Gesicht, eher mager, dunkle Augen und schulterlanges, pechschwarz schimmerndes Haar. Durch die breiten Risse in ihrer Highwaist-Jeans sah man ihre Oberschenkel.

Der Blick, den sie durch das Diner wandern ließ, hatte etwas Raubtierhaftes und verunsicherte Justin. Ohne auf Isaacs Schürze oder Petes offensichtliche Bedrängnis zu achten, marschierte sie zum Tresen.

»Arbeitet einer von euch hier?«, fragte sie in den Raum hinein.

Pete fing sich wieder, eilte hinter den Tresen und setzte sein breitestes Grinsen auf. »Pete Burnham, mein Name. Ich bin der Besitzer dieses großartigen Restaurants.«

»Freut mich«, erwiderte das Mädchen. Sie musste eine von den Saunders sein. In Four Keys tauchten neue Leute nicht einfach so ohne Grund auf. »Dann können Sie mir bestimmt verraten, ob es hier auch was zum Mitnehmen gibt.«

Pete nickte eifrig wie eine Wackelkopffigur. »Selbstverständlich! Sie haben die richtige Wahl getroffen. Wir haben die besten Speisen der ganzen Stadt.«

»Viel Konkurrenz gibt’s ja nicht«, erwiderte das Mädchen trocken.

»Äh … stimmt«, sagte Pete. »Tja, Qualität geht eben über Quantität.«

Das Mädchen bestellte etwas von der Karte, die hinter dem Tresen hing. Justin hatte noch nie erlebt, dass jemand einen Blick darauf warf. Pete verschwand in der Küche und versprach, dem Koch auf die Finger zu schauen. Bestimmt war er froh, Isaac zu entkommen.

Die Fremde blieb vor der Kasse stehen und trommelte geistesabwesend mit den Fingernägeln auf die Vitrine. Unter den Trägern ihres Tanktops standen die Schlüsselbeine hervor und um den Hals trug sie eine Kette, die im Neonlicht matt schimmerte.

Wenn sie tatsächlich eine Saunders war, könnte sie die Gestalt auf der Karte sein.

Sie anzusprechen könnte ein erster Schritt sein, den nächsten Todesfall zu verhindern.

Justin dachte an die Ermahnung seiner Mutter, dass er sich von den Saunders fernhalten sollte. Andererseits trug das Mädchen kein Gründermedaillon – weder um den Hals noch am Handgelenk. Falls ihn Augusta zur Rede stellte, würde er einfach behaupten, dass er nicht gewusst hatte, wer sie war.

Er schielte zu Isaac hinüber, der sich in die nächstbeste Sitzecke verdrückt und sein Buch wieder aufgeschlagen hatte. Er tat so, als wäre er völlig in seine Lektüre vertieft, wollte anscheinend überdeutlich demonstrieren, dass ihn die Situation kein bisschen interessierte. Was angesichts der Tatsache, dass niemand Fremdes mehr nach Four Keys gekommen war, seit er und Justin in der zweiten Klasse waren, ziemlich unglaubwürdig war.

Es bedeutete aber auch, dass Justin allein klarkommen musste, zumindest, was die Unterhaltung mit dem Mädchen anging.

»Ich bin Justin Hawthorne«, sagte er und versuchte, ihren forschen Ton nachzuahmen. Leider klang es bei ihm eher angestrengt und gezwungen, aber er lächelte sie trotzdem an.

»Violet Saunders«, erwiderte sie nach kurzem Zögern. »Willst du mir jetzt auch erzählen, dass hier Haute Cuisine serviert wird?«

»Pete ist hier der Chef«, antwortete Justin, der nicht wusste, was »Haute Cuisine« hieß, verlegen. »Er muss das sagen.«

»Heißt das, du findest das Essen nicht so toll?«

»Doch! Ehrlich, das Essen ist lecker.«

»Na ja, auf der Karte steht ›Mischmaschteller‹«, entgegnete Violet. »Klingt nicht gerade vertrauenerweckend.«

»Das ist ein typisches Gericht für die Gegend«, erwiderte Justin überrumpelt. »Es ist in Ordnung.«

»In Ordnung oder lecker? Das ist nämlich ein Unterschied.«

Was sollte Justin darauf antworten? Isaac grinste schadenfroh hinter seinem Buch.

»In Ordnung, würde ich sagen.« Es war die Wahrheit, aber die Wahrheit war auch, dass ihn die Burnhams, wenn sie der Meinung waren, dass er ihr Lokal schlechtmachte, auf den Parkplatz schleifen und verprügeln würden, Hawthorne hin oder her. Und Justin hatte lieber eine Nase, die nicht gerichtet werden musste.

»Bist du neu hier?« Keine besonders geistreiche Frage, aber ihm fiel nichts Besseres ein. Als er seinen Nachnamen genannt hatte, hatte sie sich nichts anmerken lassen. Demnach wusste sie nichts über die Gründerfamilien, was wiederum hieß, dass seine Mutter recht hatte. Aber wie sollte ihm dieses Mädchen dann helfen, wenn sie keine Ahnung vom Grau und von den Fähigkeiten ihrer Familie hatte?

»Ist dieses Kaff so klein, dass man das sofort merkt?« Violet nahm die Hand vom Tresen. »Oder sehe ich bloß so aus, als ob ich nicht von hier bin?«

Sie verschränkte die Arme über ihrem Top. Die abwehrende Haltung erinnerte Justin an Harper Carlisle.

Der Gedanke an Harper war jedes Mal von Schuldgefühlen begleitet. Justin versuchte, ihr Bild zu verdrängen, aber die Scham schnürte ihm trotzdem die Kehle zu.

»Musst du mich so anstarren?«, fragte Violet spitz.

Justin merkte, dass er nicht mehr lächelte. Harper ließ ihn jedes Mal vergessen, dass er ein Hawthorne war. Sie war schuld, dass er aus der Rolle fiel.

»Ich habe dich nicht …«, fing er an, aber da tauchte Pete mit einer großen Papiertüte in der Hand wieder auf.

»Bitte sehr!«

»Danke.« Violet nahm die Tüte, bezahlte blitzschnell und ging zur Tür. Kurz davor blieb sie noch einmal stehen und Justin schöpfte neue Hoffnung, aber sie sah Isaac an, der sein Buch absichtlich vors Gesicht hielt. »Das Ende wird dir nicht gefallen.«

Als sie hinausging, trällerten die Beach Boys hinter ihr her.

Isaac ließ das Buch sinken. »Super gelaufen. Wenn du heimkommst, liegt sie bestimmt schon in deinem Bett.«

»Hey, sie hat mich sowieso schon fertiggemacht, da musst du nicht noch nachtreten. Warum hast du eigentlich nicht mit ihr geredet? Sie ist eine neue Gründerin. Als ob dich das nichts angeht!«

»Hast du der Polizeichefin nicht zugehört?«, konterte Isaac. »Erloschene Linie, keine Macht, aus dem Weg gehen.«

Vielleicht hätte Justin überrascht sein sollen, dass seine Mutter das offenbar allen eingeschärft hatte, aber er wunderte sich nicht. Augusta war sehr gewissenhaft. »Du hörst doch sonst nicht auf meine Mutter.«

Isaac zuckte die Achseln. »Vielleicht finde ich ja, dass sie diesmal recht hat.«

Das war Unsinn. Justin kannte Isaac in- und auswendig, besser als jeden anderen – zumindest jeden anderen, der noch am Leben war. Wenn Isaacs Stimme plötzlich tiefer wurde, bedeutete das, dass er log, aber es hatte keinen Sinn nachzuhaken. Außerdem war Pete noch im Gastraum.

Justins Blick fiel auf den Buchtitel. Schöne neue Welt. Isaac liebte Bücher mit hochgestochenen Titeln, bei denen Justin sich immer dumm vorkam.

»Das hast du doch schon mal gelesen, oder?«

Isaac nickte.

»Und? Wie geht es aus?«

Isaac klappte den Roman zu. »Der letzte Hoffnungsträger bringt sich um.«

Justin schüttelte den Kopf. »Was für ’n Scheiß. Wer will denn so was lesen?«

»Und du wunderst dich, warum sich die Neue nicht mit dir unterhalten wollte?«

»He, Sullivan!«, rief Pete vom Tresen. Er hatte Isaacs unverschämte Bemerkung von vorhin nicht vergessen. »Hast du vor, deinen Hintern heute überhaupt noch mal zu bewegen?«

Isaac ließ den Blick übertrieben bedächtig durch das Lokal schweifen. »Soweit ich sehe, sind alle Kunden zufrieden.«

»Hol dir eine neue Schürze und dann an die Arbeit. Die Kosten für die ruinierte ziehe ich dir vom Lohn ab, damit das klar ist.«

Isaac knallte das Buch auf den Tisch und Justin wurde wieder nervös, aber dann ging sein Freund nach hinten und die Luft um ihn herum sah fast normal aus. Bei Isaac musste man mit »fast normal« zufrieden sein.

»Sonst führt er sich doch auch nicht so auf«, sagte Pete, nachdem Isaac durch die Schwingtür verschwunden war.

»Kurz vor dem Jahrestag ist er immer so.«

»Ach so.« Pete hatte plötzlich an der Kasse zu tun. »Dann will ich mal nicht so sein.«

Die Tür zur Küche flog wieder auf. Isaac trug eine neue Schürze.

»Ich bin ja wohl nicht der Einzige, der hier arbeiten muss«, sagte er zu Justin. »Hör auf, über mich zu lästern, und geh spülen.«

Die ersten Abendgäste kamen herein. Es ging los.

»Mach du den Abwasch«, sagte Justin rasch. »Ich bediene.«

Isaac grinste flüchtig. »Na gut. Wenn dir das lieber ist …«

Er verschwand wieder, aber sein dankbarer Blick entging Justin nicht. Als er nach vorn ging, spürte er seine Waden, die wie immer nach dem Training höllisch stachen. Am Ende der Abendschicht, wenn er stundenlang mit Tellern in beiden Händen herumgerannt war, würden die Schmerzen unerträglich sein.

Doch er riss sich zusammen und setzte sein schönstes Lächeln auf. Isaac brauchte ihn, Four Keys setzte große Hoffnungen in ihn. Er würde sich auf gar keinen Fall anmerken lassen, wie sehr er sie jetzt schon alle enttäuscht hatte.

Das Abendessen verlief ungemütlich. Statt mit Violet und Juniper zu essen, löffelte Daria hastig einen Rest Eintopf in sich hinein und zog sich dann in ihr Zimmer zurück. Ihr Kater Orpheus, ein hochmütiges Vieh mit gelben Augen und einem roten Wollfaden ums Ohr, blieb da und fauchte Violet und ihre Mutter so lange an, bis Violet nachgab und ihm ein Stück Hühnchen hinwarf.

Wie es wohl war, wenn man jahrelang friedlich allein lebte und dann plötzlich irgendwelche Leute ankamen und behaupteten, sie seien deine Verwandten? Violet stellte es sich ziemlich schrecklich vor.

»Ist es schlimm für dich?«, fragte sie ihre Mutter. »Sie so zu sehen, meine ich?«

Junipers Mund zuckte. »Was glaubst du denn? Sie weiß ja kaum noch, wer ich bin.« Dann stand sie auf und zeigte auf Violets halb vollen Teller. »Gib her. Ich bring’s weg.«

Violet verkniff es sich, ihre Mutter darauf hinzuweisen, dass sie wenigstens noch eine Schwester hatte. Sie reichte Juniper den Teller, dachte an die beiden Jungen im Restaurant und schluckte den letzten Bissen Hähnchenbrust mit Parmesan hinunter.

Da war einmal der blonde, gut aussehende, selbstbewusste Justin. Und dann der Leser, der sich betont zurückgehalten hatte. Trotzdem waren die Blicke beider irgendwie erwartungsvoll gewesen.

Im Grunde war es ihr egal, was die zwei von ihr wollten. Sie hatte sich nie viel aus Freunden gemacht, aus Freundinnen auch nicht. Klar hatte sie sich schon mal in jemanden verliebt, hatte sich sogar vor ein paar Jahren Rosie gegenüber als bisexuell geoutet, aber Dates waren einfach nicht ihr Ding. Ihre Schwester und ihr Klavier hatten ihr völlig gereicht und die wenigen, nicht sehr engen Freundschaften waren nach Rosies Tod auseinandergegangen, weil die anderen nicht wussten, wie sie mit Violets Trauer umgehen sollten. Dass sie nächste Woche in einer neuen Schule anfangen musste, wäre ihr schwerer gefallen, wenn sie in Ossining jemanden zurückgelassen hätte, an dem ihr etwas lag.

Plötzlich fiel Violet ein, dass sie schon fast einen ganzen Tag nicht gespielt hatte. Es hatte lange gedauert, den Umzugswagen auszuladen, und war superanstrengend gewesen. Als Violet endlich losgezogen war, um etwas zu essen aufzutreiben, hatte sie ihre Kisten gerade mal nach oben in ihr neues Zimmer geschleppt. Die übrigen Kartons standen noch alle im Erdgeschoss, aufgereiht wie Wachposten. Violet ging an ihnen vorbei in das Zimmer, in dem sie vorhin ein Klavier erspäht hatte.

Im Gegensatz zu ihren Verwandten konnte sich Violet nicht für Tierpräparate begeistern. Als sie den Klavierdeckel aufklappte, mied sie die Glasaugen der drei Rehbockköpfe an der Wand. Die Elfenbeintasten dagegen lächelten sie einladend an – endlich etwas Vertrautes in der neuen Umgebung.

Kaum hatte sie die Finger auf die Tasten gelegt, durchströmten sie Erleichterung und Vorfreude. Überall, wo sie spielen konnte, fühlte sie sich zu Hause. Das war schon seit ihrer ersten Klavierstunde mit vier Jahren so. Man hatte sie jedes Mal aus dem Haus der Lehrerin schleifen müssen, weil sie strampelnd darum bettelte, noch ein bisschen länger herumklimpern zu dürfen.

Probehalber spielte sie eine Tonleiter. Zu ihrer Überraschung war das Instrument gestimmt. Vielleicht spielte Daria ja darauf. Auch die Raumakustik war recht gut, und kurz darauf war Violet in Bachs Präludium und Fuge Nr. 6 in d-Moll versunken.

Nach Rosies Beerdigung hatte sie nicht mehr regelmäßig gespielt. Zwar gab es zwischendurch auch gute Tage, aber meistens schwamm die Musik nur unerreichbar in ihrem Kopf herum. Sie hatte mit dem Unterricht aufgehört, aber ihr Vorspielprogramm trotzdem mehrmals pro Woche geübt und sich eingeredet, dass sie irgendwann zur Normalität zurückkehren würde. Doch jetzt wurde ihr schon nach wenigen Minuten klar, dass das Üben nicht hatte verhindern können, dass sie immer mehr nachließ.

Sie würde nicht auf die Musikhochschule gehen. Jetzt nicht mehr.

Ihre Hände flogen über die Tasten, entfernten sich immer mehr von ihrem Programm und improvisierten neue Variationen. Violet schloss die Augen und überließ sich den Klängen.

Nach einer Weile nahm sie ein Geräusch wahr, das von außen in ihre Musikblase eindrang. Abgelenkt zog sie die Hände zurück. Es fiel ihr eigenartig schwer.

Dann öffnete sie die Augen.

Im Zimmer war es stockdunkel.

Als das Geräusch wieder ertönte, blinzelte Violet irritiert. Es war ein seltsam blecherner Laut. Dann leuchteten im Dunkeln zwei glühende Augen auf. Erschrocken schob Violet die Klavierbank zurück und tastete nach ihrem Handy. Als sie gerade Luft holte, um zu schreien, kam unter der Klavierbank ein roter Wollfaden hervor.

»Ach, du bist’s!« Violet atmete auf.

Die Katze gab wieder diese sonderbaren Laute von sich, die sich wie eine Miniaturkettensäge anhörten, und schmiegte sich an die Klavierbank. Dann zwickte sie Violet in den Knöchel.

Violet fluchte und zog die Füße auf die Bank. Erst jetzt entdeckte sie endlich ihr Handy auf dem Notenpult, doch als die Anzeige aufflackerte, bekam sie einen Schreck.

Dem Gefühl nach hatte sie bloß zehn Minuten gespielt, höchstens zwanzig, aber laut Display hatte sie fast vier Stunden am Klavier verbracht. Auch früher schon hatte sie ab und zu während des Spielens die Zeit vergessen, aber doch nicht so.

Rasch stand sie auf und ging zur Tür.

Das Unbehagen verflog auch dann nicht, als sie wieder in ihrem Zimmer war. Es war viel größer als das in Ossining. Die Wände waren nicht tapeziert, sodass das Ziegelmauerwerk freilag, und das Himmelbett hätte aus einem Museum stammen können. Auch hier gab es zahlreiche ausgestopfte Tiere. Violet trug eine gruselige Krähe und einen Rehkopf ins Nebenzimmer, wobei sie komischerweise den Drang verspürte, sich bei ihnen zu entschuldigen.

Als sie wieder zurückkam, fiel ihr Blick auf die Kistenpyramide an der Wand. Auf jeder Kiste stand in großen schwarzen Buchstaben: ROSIE.

An dem Abend, bevor Juniper Rosies Zimmer für den Umzug ausgeräumt hatte, hatte Violet den Raum zum ersten Mal seit dem Unfall wieder betreten. Sie hatte die Regale, den Nachttisch, die Wäschekommode und den Schrank gründlich durchsucht und die Geheimnisse ihrer Schwester verschwinden lassen: die halb leere Whiskyflasche unter der Matratze, die Dessous unter den T-Shirts, die Liebesbriefe von Elise in der Jackentasche. Es hatte eine volle Stunde gedauert, Rosie von dem Menschen, der sie in Wahrheit gewesen war, in die Tochter zu verwandeln, die ihre Mutter sich gewünscht hatte. Als Violet fertig war, hatte sie sich mit einem schlechten Geschmack im Mund auf dem eigenen Bett zusammengerollt.

Die Kisten waren das Ergebnis der Pack-Orgie ihrer Mutter – das bunte, aber geschmackvolle Porträt eines Mädchens, das künstlerisch veranlagt, aber trotzdem gut erzogen gewesen war, eher Monet als van Gogh. Violets Blick wanderte von dem Kistenstapel zu dem Gemälde, das darüber an der Wand hing.

Es stammte aus Rosies Mappe und war ein abstraktes Porträt, das Violet darstellen sollte. Wenn man im richtigen Winkel draufschaute, gerieten die verwischten Farbkleckse in Bewegung. Rosie hatte vier solcher Porträts gemalt: von jedem Familienmitglied eins, obwohl ihr Vater schon lange tot war. Diesen Bildern hatte sie es auch zu verdanken, dass sie gleich von drei angesehenen Kunsthochschulen angenommen worden war. »Seelenporträts« hatte sie ihre Werke genannt, und obwohl Violet ihre Schwester wegen ihrer Esoterik-Neigungen aufgezogen hatte, konnte sie nicht ganz leugnen, dass die Bezeichnung treffend war.