Frankfurter Kreuzigung - Dieter Aurass - E-Book

Frankfurter Kreuzigung E-Book

Dieter Aurass

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Beschreibung

In einer Kirche in Frankfurt wird die gekreuzigte und entmannte Leiche des dortigen Pfarrers entdeckt. Schnell stellt sich heraus, dass es zahlreiche Personen gibt, die den Pfarrer gehasst haben und am liebsten hätten ermorden wollen. Die Mordkommission II des PP Frankfurt um Gregor Mandelbaum ermittelt in verschiedene Richtungen. Es tauchen zahlreiche Verdächtige auf und auch die nächste Leiche lässt nicht lange auf sich warten. Die Spur führt in eine Richtung, die niemand aus dem Team erwartet hätte.

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Dieter Aurass

Frankfurter Kreuzigung

Gregor Mandelbaums 3. Fall

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Titel

Widmung

Statement

Vorwort ...

Prolog

Tag 1 (Montag) - Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Tag 2 (Dienstag) - Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Tag 3 (Mittwoch) - Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Tag 4 (Donnerstag) - Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Nachwort des Autors

Danksagung

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Impressum neobooks

Titel

Dieter Aurass

Frankfurter Kreuzigung

Gregor Mandelbaums 3. Fall

Kriminalroman

In einer Kirche in Frankfurt wird die gekreuzigte und entmannte Leiche des dortigen Pfarrers entdeckt. Schnell stellt sich heraus, dass es zahlreiche Personen gibt, die den Pfarrer am liebsten hätten ermorden wollen. Die Mordkommission II des PP Frankfurt um Gregor Mandelbaum ermittelt in verschiedene Richtungen. Es tauchen zahlreiche Verdächtige auf und auch die nächste Leiche lässt nicht lange auf sich warten.

Die Spur führt in eine Richtung, die niemand aus dem Team erwartet hätte.

Dieter Aurass wurde 1955 in Frankfurt am Main geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Abitur begann er seine 41 Jahre andauernde Karriere bei der Polizei. 30 Jahre lang war er Ermittler des Bundeskriminalamtes in den Bereichen Terrorismusbekämpfung und Spionageabwehr. Die letzten elf Jahre seiner Polizeikarriere arbeitete er im IT- Management der Bundespolizei. Seit vier Jahren schreibt er Kriminalromane. Dieter Aurass ist seit 33 Jahren verheiratet und lebt mit seiner Frau und einer Boston-Terrier-Hündin in Mülheim-Kärlich bei Koblenz am Rhein.

Bisherige Veröffentlichungen:

Frankfurter Schattenjagd (2018) GMEINER-Verlag

Verborgen – eine Villa, zwei Nächte, drei Einbrecher (2107) HEIN-Verlag

Frankfurter Blutspur – Mandelbaum 2 (2017) GMEINER-Verlag

Transplantierter Tod (2017) NeoPubli

Frankfurter Kaddisch – Mandelbaum 1(2016) GMEINER-Verlag

Personen und Handlung sind frei erfunden.Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© 2018 – NeoPubli
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018

Umschlaggestaltung: Dieter Aurass ©

Printed in Germany
 ISBN

Widmung

Für Ellen ...

und für all die vielen Menschen,

die in den Kirchen, gleich welche Konfession,

und in deren Umfeld so viel für andere Menschen leisten.

Statement

Ich bin religiös.

Ich bin gläubig.

Ich bin praktizierender Katholik.

Aber ich bin auch Realist genug, um zu wissen:

Kein noch so guter Hirte könnte verhindern, dass sich in seiner Herde braver Schafe nicht auch ein paar böse Wölfe verstecken.

Dieter Aurass im Januar 2018

Vorwort ...

... für all diejenigen, denen die ersten beiden Bücher um Hauptkommissar Gregor Mandelbaum bisher nicht bekannt sind.

Was bisher geschah ...

Der junge Hauptkommissar Gregor Mandelbaum ist der Spross einer jüdischen Frankfurter Bankerfamilie. Er hat mit 5 Jahren seine Eltern bei einem Autounfall verloren und wuchs bei seinem Onkel auf, der die Mandelbaum-Bank leitete.

Gregor ist ein Wunderkind mit hohem IQ und einer Erbkrankheit, einer leichten Form des Asperger-Syndroms. Dies bewirkt, dass er die Gefühle anderer Menschen nicht erkennt und nicht nachvollziehen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass er aufgrund seiner Krankheit immer absolut ehrlich ist, wodurch er viele Menschen verletzt. Zur Kompensation seiner Schwächen hat er sich eine Fähigkeit angeeignet: Das Erkennen der Mikroausdrücke im Gesicht seines Gegenübers, an denen er die Emotionen ablesen kann und somit ohne den geringsten Zweifel erkennt, ob jemand die Wahrheit sagt oder lügt.

Als mehrere ältere jüdische Frankfurter Bürger ums Leben kommen, wird er und sein Team eingeschaltet. Im Zuge der Ermittlungen lernt er die Rechtsmedizinerin Dr. Sonja Savoyen kennen, für die er unerwartete Gefühle entwickelt.Die Ermittlungen führen zu Verbrechen seiner Familie in der Vergangenheit, sein Onkel kommt ums Leben und die Villa der Familie brennt bis auf die Grundmauern nieder.

Im zweiten Band führen Gregor und Sonja bereits eine On-Off-Beziehung mit gelegentlichen Schwierigkeiten, die vor allem in seinem oft seltsam erscheinenden Verhalten begründet sind. Die Handlung dreht sich um die Morde an ukrainischen und russischen Prostituierten, Ermittlungen im Rotlicht-Milieu und eine verletzte Kinderseele, die furchtbare Rache übt.

Am Ende des zweiten Romans kommt ein Kollege aus Gregors Team, Hauptkommissar Dieter Alsmann, auf tragische Weise ums Leben.

Prolog

Er benutzte den Seiteneingang zur Sakristei, um die Kirche zu betreten, wie er es jeden Morgen tat, wenn er aufschloss. Es war inzwischen Routine, fast wie ein Ritual, das er nun schon seit über fünf Jahren täglich vollzog.

Die Gefahr, dass er etwas vergaß, bestand eigentlich nicht, denn er bewegte sich langsam und mit Bedacht durch die Sakristei und kontrollierte sorgfältig das Vorhandensein aller notwendigen Gegenstände für die bevorstehende Messe. Das war seine Aufgabe als Küster der St. Agnes Kirche in Frankfurt-Höchst.

Dann verließ er den Raum und begab sich in Richtung Altar, machte seinen Kniefall davor, bekreuzigte sich und drehte sich um in Richtung Hauptportal. Dabei fiel sein Blick auf die riesige fast schwarze Pfütze unter der Kanzel, die von der rechten Seite in den Raum hineinragte.

Verdammt, was ist denn das schon wieder für eine Schweinerei? Hoffentlich ist das kein Öl, das krieg ich ja nie wieder sauber.

Aber wo sollte hier mitten in der Kirche Öl herkommen, fragte er sich und runzelte überlegend die Stirn. Und warum unterhalb der Kanzel? Da oben gab es nichts, was irgendeine Flüssigkeit hätte verlieren können.

Langsam näherte er sich der Pfütze. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sie sich farblich als eher dunkelrot und nicht schwarz. Er ging nicht direkt unterhalb der Kanzel durch, da ihr unteres Ende lediglich einen Meter fünfzig über dem Kirchenboden lag, sondern umrundete sie, wobei sein Blick nach wie vor auf die rätselhafte Pfütze gerichtet war. Erst als er zur Hälfte um die Kanzel herumgegangen war, fiel ihm aus dem Augenwinkel der Schatten auf, der den Blick auf die hohen Seitenfenster verdeckte.

Erschrocken sah er auf - und wich hastig und laut schreiend zurück. Er stolperte über seine Füße und setzte sich hart und schmerzhaft auf seinen Hintern. Dennoch hörte er nicht auf, sich nun auf dem Hosenboden rutschend immer weiter von der Kanzel zu entfernen, bis er mit dem Hinterkopf gegen eine Kirchenbank stieß. Der Schmerz wurde ihm kaum richtig bewusst, so entsetzlich war das, wovon sein Blick sich nicht lösen konnte.

An der Außenseite der Kanzel hing, in der Position des gekreuzigten Jesus, Pfarrer Bock. Er hatte seine beige Soutane an, die jedoch im unteren Drittel rot verfärbt war.

Trotz seines Entsetzens und des schrecklichen Anblicks kam er nicht umhin, in Gedanken aus der Verfärbung der Soutane auf den Ursprung der Pfütze unter dem Pfarrer zu folgern.

Das muss Blut sein, kein Öl, schoss ihm sofort die Erklärung durch den Kopf. Im nächsten Moment schämte er sich unsäglich, denn sein zweiter Gedanke dazu war, dass er nicht wusste, wie gut sich Blutflecken von diesem Untergrund entfernen ließen.

O Gott, vergib mir. Wie kann ich in einem solchen Moment nur an so etwas denken?

Dann besann er sich trotz seiner Verwirrung auf das Wesentliche, fummelte mit zitternden Fingern sein Handy aus der Tasche und rief den Notruf an.

Als zehn Minuten später der Notarztwagen mit Blaulicht und Sirene vor dem Hauptportal vorfuhr, hatte er die Tür aufgesperrt und stand rauchend und noch immer am ganzen Körper zitternd auf der Vortreppe des Kircheneingangs. Den zwei aus dem Wagen springenden jungen Männern rief er schon von oben herab entgegen: »Engel ... Friedrich Engel ... ich bin der Küster, ich hab sie angerufen ... bitte, der Herr Pfarrer ist da drinnen, ich wusste nicht, was ich machen soll!«

Dabei hielt er die Tür auf und ließ die beiden an sich vorbeistürmen. Inzwischen hatte er allerdings seine Nerven wieder so weit im Griff, dass die Neugier siegte und er langsam und vorsichtig hinter den beiden die Kirche wieder betrat. Er wollte nun doch wissen, was mit seinem Pfarrer geschehen sein mochte.

Er näherte sich wieder durch den Hauptgang der Kanzel und konnte sehen, dass die beiden Notärzte oder Sanitäter oder was auch immer sie waren, sich inzwischen getrennt hatte. Einer war um die Kanzel herum die leicht gewendelte Treppe hinaufgegangen und fühlte von oben, über den Rand reichend, den Puls von Pfarrer Dr. Bock. Der andere kniete unten neben der riesigen Pfütze und hatte gerade einen Finger in die Mitte getunkt, den er langsam nach oben zog. Ein zäher, roter Faden hing von dem Finger herunter.

»Nö, kein Puls«, erscholl es von der Kanzel.

»Hätt mich auch gewundert«, rief der Fingertunker nach oben, »das Blut ist fast schon geronnen und bei der Menge hier, kann nicht mehr viel in ihm drin sein.«

»Er ist auch schon ziemlich kalt«, berichtete der Erste, als er langsam wieder die Treppe herunterkam. »Also kein Grund zur Eile, das ist eindeutig ein Fall für die Kripo. Hier gibt’s nix zu retten, höchstens zu ermitteln.«

Während der Zweite sich die blutverschmierten Handschuhe auszog, hatte Nummer eins schon das Handy am Ohr und berichtete offensichtlich seiner Zentrale. Nummer zwei zog sich frische Handschuhe an und näherte sich vorsichtig der Leiche.

»Was hast du vor?«, fragte Nummer eins nach Beendigung seines Telefonats.

»Ich will doch mal sehen, was das für eine Verletzung ist, woraus der arme Herr Pfarrer«, er warf einen kurzen Seitenblick auf Friedrich Engel, »so stark geblutet hat.«

Das wiederum interessierte den Küster allerdings auch, was ihn veranlasste, noch ein wenig näher heranzutreten, während der Sanitäter den unteren Rand der blutdurchtränkten Soutane anfasste.

»Pass nur auf, oder die Heinis von der Kripo lynchen dich, weil du einen Tatort versaut hast«, rief sein Kollege.

»Ja, ja ... ich pass schon auf.« Vorsichtig und darauf bedacht, nicht in die Blutlache zu treten, zog er das blutdurchtränkte Kleidungsstück zu sich heran und hob es langsam hoch. Das Erste, was sichtbar wurde, waren die nackten Füße des Pfarrers, die vollkommen rotgefärbt vom Blut waren.

Wieso hat er denn keine Schuhe an?, fragte sich Engel und sah mit Erschrecken, als der Sanitäter die Kleidung noch höher hielt, dass Pfarrer Bock auch keine Hose anhatte. Er konnte nun die rot gefärbten Beine bis kurz übers Knie sehen. Der Sanitäter hob weiter an und beugte sich ein wenig nach vorne, um leichter unter die Soutane schauen zu können.

Im nächsten Moment ließ er mit einem erschrockenen »Ach du heilige Scheiße!« den Saum los und machte einen Satz rückwärts weg von der Leiche.

»Was ist los?«, fragte sein Kollege neugierig. »Was hast du entdeckt?«

Der neugierige Sanitäter atmete mehrfach stoßartig ein und aus und Engel war nun wirklich gespannt, was er berichten würde.

»Dem haben sie ... der hat keinen ... äh«, sein Blick fiel auf Engel, der aufmerksam lauschend direkt neben seinem Kollegen stand. »Ach was ... das möchtest du wirklich nicht wissen ... und Sie schon gar nicht!«, fuhr er den Küster an. »Sehen Sie zu, dass sie hier rauskommen, und warten Sie draußen auf die Polizei. Die werden sich noch mehr mit Ihnen beschäftigen als Ihnen lieb ist. Und bis dahin seien Sie froh, wenn Sie nichts wissen.«

Das regte den Widerspruchsgeist in Engel an. Er war zeit seines nun einundsechzig Jahre währenden Lebens nicht der Typ gewesen, der sich von irgendjemandem Vorschriften hatte machen lassen. Erst recht nicht, wenn er der Meinung war, Anspruch auf etwas zu haben. Inzwischen hatte er sich auch von seinem ersten Schreck soweit erholt, dass er wieder zu seinem streitbaren Selbst gefunden hatte.

»Na hören Sie mal«, protestierte er, »ich hab ihn schließlich gefunden, da kann ich ja wohl verlangen ...«

Noch während er sprach, hatte er sich langsam der Pfütze genähert und nun ebenfalls an den Rocksaum der Soutane gefasst. Er zog ihn schnell nach oben und warf einen Blick darunter.

Als er drei Minuten später auch den letzten Rest seines ausgiebigen Frühstücks hinter die erste Bankreihe erbrochen hatte, klopfte ihm einer der Sanitäter leicht auf den Rücken. »Sehen Sie, das haben Sie davon. Die Kripo wird hellauf begeistert sein, dass sie hierhin gekotzt und damit den Tatort verunreinigt haben. Herzlichen Glückwunsch.«

Das war allerdings Friedrich Engels kleinstes Problem. Er machte sich keine Gedanken, was die Polizei dazu sagen würde, dass er so neugierig gewesen war. Sein ganzes Denken kreiste nur um die Frage, ob er den schrecklichen Anblick dieses Lochs, an dem sich sicherlich einmal die Genitalien seine Chefs befunden hatten, jemals wieder würde vergessen können oder er nun sein restliches Leben lang von Albträumen geplagt werden würde.

Tag 1 (Montag) - Kapitel 1

So hatte Klaus Braake seinen Chef bisher noch nie gesehen. Gregor Mandelbaum, der Leiter der Mordkommission II des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main, wirkte so unsicher und verstört, dass er sich nicht erklären konnte, was dafür die Ursache sein könnte.

Der einundvierzigjährige Computerspezialist der Mordkommission, war sich unschlüssig, wie er sich diesbezüglich verhalten sollte. Er blickte sich in dem weiten Rund der Kirche um, die inzwischen von hektischer Betriebsamkeit erfüllt war. Uniformierte Beamte, die kreuz und quer Absperrband aufzogen, die Kollegen von der Spurensicherung, die in ihren weißen Einwegoveralls immer wie Maler und Lackierer aussahen und eifrig dabei waren, irgendwelche kleinste Teile vom Boden aufzuklauben, der Fotograf, der alles von allen Seiten in Bildern festhielt, und natürlich seine Kolleginnen und der Chef der MK. Jeder wusste normalerweise, was er zu tun hatte, lediglich Gregor stand diesmal ziemlich hilflos und ohne etwas zu tun, in der Mitte des Raumes.

Als die Haupteingangstür sich öffnete, fiel ein Sonnenstrahl durch die Öffnung und Gregors Gesichtszüge entspannten sich sichtlich erleichtert nach einem kurzen Blick dorthin. Braake ahnte, wer da gerade gekommen war, noch bevor ein Blick zur Tür seine Vermutung bestätigte. Es handelte sich um die Rechtsmedizinerin Dr. Sonja Savoyen, die Lebensgefährtin seines Chefs.

Schmuddel, wie fast alle den auf Reinlichkeit und saubere Kleidung keinen Wert legenden Computerfreak nannten, winkte der attraktiven jungen Frau kurz zu. Sie winkte zurück und eilte dann auf direktem Weg zu Gregor Mandelbaum. Dem war die Erleichterung anzusehen und Schmuddel hatte den Verdacht, dass seine Verstörung mit seiner Erbkrankheit zu tun hatte.

Er arbeitete nun seit fast zwei Jahren mit dem erst 30 Jahre alten Leiter der MK II zusammen und kannte inzwischen seine Lebensgeschichte im Detail. Gregor litt unter einer leichten Form des Asperger-Syndroms, einer erblich bedingten Entwicklungsstörung. Diese äußerte sich dadurch, dass er nicht wie normale Menschen Emotionen zum Ausdruck brachte oder automatisch auf Emotionen seiner Mitmenschen reagierte. Er handelte und dachte weitestgehend logisch und nüchtern. Dazu kam die erschreckende und oft schonungslose Offenheit und Wahrheitsliebe eines Logikers, der nichts beschönigte oder verniedlichte. Auf seine Umwelt wirkte er deshalb meist arrogant, besserwisserisch und oft verletzend.

Schmuddel hatte schon oft am eigenen Leib erfahren müssen, wie seine manchmal gedankenlos geäußerten Bemerkungen von Gregor verbessert, richtiggestellt und im Detail erläutert worden waren.

Er hatte sich inzwischen den beiden genähert und war nun in der Lage, ihre leise geführte Unterhaltung mitzuhören.

»Ich weiß einfach zu wenig über den katholischen Glauben, die Regeln in dieser Kirche und die Abhängigkeiten in der Hierarchie der Kirche und deren Auswirkungen«, hörte er Gregor gerade sagen.

»Mach dir darüber keine Gedanken«, erwiderte Sonja, die ihm die Hand wie beruhigend auf den Arm gelegt hatte. »Das ist auch nur ein Verein wie jeder andere, mit ganz speziellen Regeln, Sitten und Gebräuchen. Du bist nicht der Einzige, der sich diesbezüglich nicht wirklich gut auskennt.«

»Aber ich habe überhaupt keine Grundlage für die Auswahl des richtigen Verhaltens in dieser Umgebung. Ein solches Wissensdefizit kann ich durch nichts ausgleichen. Ich muss mir unbedingt die entsprechenden Informationen anlesen, bevor ich hier auch nur eine einzige fundierte Entscheidung treffen kann.«

In diesem Moment fiel es Schmuddel wie Schuppen aus seinen fettigen Haaren. Natürlich! Gregor war ja Jude, da lag es nahe, dass er keine detaillierten Informationen über die katholische Kirche hatte.

Ihm wurde gleich darauf bewusst, dass er ebenfalls nicht über große Kenntnisse verfügte, was die unterschiedlichen Glaubensrichtungen der christlichen Kirchen anging. Allerdings war es ihm sowieso grundsätzlich egal, wie man sich in welcher Umgebung richtig verhielt. Es hatte ihn auch noch nie gekümmert, was andere von seinem Äußeren oder seinem Verhalten hielten. Ich bin, wer ich bin - das war schon immer seine Devise gewesen. Seine Fähigkeiten und Wissen über die Informationstechnologie und die Gewinnung von Erkenntnissen aus Computersystemen machten ihn aus. Dafür wurde er geachtet, und wenn nicht, dann von den Meisten zumindest geduldet. Man brauchte ihn und deshalb konnte er sich manches herausnehmen, wobei andere Menschen in der Arbeitswelt erhebliche Schwierigkeiten bekommen hätten.

Da hat er sich aber ganz schön was vorgenommen, wenn er auf die Schnelle den Katholizismus begreifen lernen will, dachte er amüsiert. Dann fiel ihm aber ein, dass Gregor in mehr als nur einer Beziehung ein Wunderkind war. Er hatte mit fünfzehn Abitur gemacht und mit achtzehn ein Studium der Psychologie abgeschlossen. Danach war er zur Polizei gegangen, hatte während seiner Grundausbildung nebenher Jura studiert und war seit fast zwei Jahren der jüngste Leiter einer Frankfurter Mordkommission, den es je gegeben hatte. Ihm kam auch zugute, dass er über ein fotografisches Gedächtnis verfügte, was inzwischen jedem Mitglied des Teams bekannt war.

Na ja, vielleicht braucht er dann doch nicht so lang und ist uns wieder mal meilenweit voraus.

»Hallo Sonja«, begrüßte er die hochgewachsene schlanke Blondine, die ihn immer wieder an die junge Brigitte Nielsen erinnerte.

»Hi Schmuddel. Kann ich mir denn die Leiche schon mal genauer ansehen, bevor sie bei mir in der Rechtsmedizin landet?«

»Na klar«, entgegnete Schmuddel gönnerhaft, »der liegt inzwischen schon da hinten am Rand. Den eigentlich interessantesten Akt hast du allerdings schon verpasst.« Er sah ihren verständnislosen und fragenden Blick und reagierte sofort. »Ich meine das Abhängen von unserem Ersatz-Jesus. Das kannst du dir gar nicht vorstellen, wie kompliziert das war. Der war doch tatsächlich richtig fest an die Kanzel genagelt worden. Da hat es sechs Mann auf drei Leitern gebraucht, um die Nägel rauszuziehen und ihn gleichzeitig nicht einfach runterfallen zu lassen.« Er lachte kurz auf, bis er den nun leicht verärgert wirkenden Blick von Sonja bemerkte.

»Ich wäre an deiner Stelle ein bisschen vorsichtiger mit meinen flapsigen Bemerkungen, mein Lieber. Ob das hier in dieser Umgebung bei jedem so wirklich gut ankommt, wage ich zu bezweifeln«, äußerte sie in einem eisigen Tonfall. »Du solltest ein wenig Rücksicht darauf nehmen, wo wir hier sind. Das ist immer noch eine Kirche und ein toter Pfarrer bedeutet meiner Einschätzung nach eine große Aufmerksamkeit durch die Medien.« Sie schaute sich in der Halle um. »Du willst doch sicher nicht, dass morgen deine respektlosen Äußerungen in der Klatschpresse stehen, weil ein Sanitäter oder ein herumstehender Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmers deine Bemerkungen hört und sie brühwarm an einen Pressevertreter weitergibt, oder?«

Schmuddel sah ein, dass er vielleicht ein wenig zu locker über den Vorfall geredet hatte. Er nahm sich vor, bis zur Rückkehr ins Präsidium ein wenig mehr auf seine Wortwahl zu achten. »Du hast ja recht«, räumte er zerknirscht ein. »Ich reiß mich zusammen, versprochen.«

»Hast du denn niemanden zu befragen?«, mischte sich Gregor ein, der inzwischen hinzugetreten war.

»Ich weiß nicht«, meinte Schmuddel etwas unsicher und schaute sich um. »Jenny befragt grade den Typen, der unser Opfer gefunden hat, und Mutti und Irina stehen da drüben bei den beiden Sanitätern, die ja wohl noch vor der Polizei am Fundort waren. Ich frag mal, ob sich da schon was ergeben hat, und wen wir noch befragen könnten.«

Er wartete nicht ab, ob Gregor noch eine andere Aufgabe für ihn hätte, sondern schlenderte gemächlich in Richtung der Kolleginnen.

Seit dem Tod von Kriminalhauptkommissar Dieter Alsmann, vor etwas über einem halben Jahr, bestand das Team nun aus drei Frauen sowie dem Chef und ihm als einzige Männer. Als er näher an seine Kollegin Jenny Jung herantrat, die sich eifrig Notizen in ein kleines Büchlein machte, hörte er noch den Küster sagen: »Da kann ich nicht weiterhelfen, da müssen Sie schon die Pfarrgemeindesekretärin fragen. Das Fräulein Knecht hat seine Termine verwaltet. Die kann Ihnen das sicherlich alles sagen.«

Schmuddel musste sich eingestehen, dass er keine wirkliche Ahnung hatte, was ein Küster eigentlich genau für eine Aufgabe hatte, aber er würde den Teufel tun und das zugeben.

Als Jenny ihn bemerkte und von ihren Notizen aufblickte, musste er zum tausendsten Mal daran denken, wie überrascht er gewesen war, als die inzwischen Dreiundzwanzigjährige dem Team offenbart hatte, dass sie und die Kollegin Irina Petrowska ein Paar waren. Es war ihm heute noch peinlich, wie belämmert er gewirkt haben musste, als er in seiner Verwirrung herumgestammelt hatte: »Wie? ... Paar? ... Was meinst du ...?«

Alle anderen hatten laut gelacht und ihm war überdeutlich klar geworden, dass er bis zu diesem Moment wohl als Einziger noch nichts von der lesbischen Beziehung der beiden mitbekommen hatte.

Was für eine Verschwendung, dachte er wie so oft, wenn er eine von beiden sah. Jenny war mittelgroß, blond mit einer Meg-Ryan-Frisur, sehr sportlich und durchtrainiert, Irina dagegen eine rassige Schwarzhaarige, der man ihre slawische Herkunft ansah. Mit ihrer langen, gelockten Mähne, der sehr weiblichen Figur und ihrem Hang zur Fröhlichkeit, war sie der fleischgewordene Männertraum.

Obwohl er sich niemals hätte Hoffnungen machen können, eine der beiden für sich zu gewinnen, empfand er es dennoch als extrem schade, dass beide nicht auf Männer standen.

»Kommst du mit?«, riss Jenny ihn aus seinen Tagträumen.

»Bitte?«

»Ich hatte gesagt, dass wir mit der Pfarrsekretärin sprechen sollten. Herr Engel war so nett, mir den Weg zu beschreiben. Kommst du nun mit oder nicht?«

»Selbstverständlich. Hier gibt es momentan ja eh nichts anderes zu tun.«

Jenny bedankte sich noch einmal bei dem Küster und gab ihm noch ein Kärtchen mit einer Telefonnummer, für den Fall, dass er nach diesem traumatischen Erlebnis psychologische Hilfe benötigte.

Schmuddel konnte ein Grinsen gerade noch unterdrücken. Erfahrungsgemäß meldeten sich keine zehn Prozent der Empfänger dieser Telefonnummer bei einem »Seelenklempner«. Es war vermutlich unter ihrer Würde, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber er wusste, dass viele an ihrer Entscheidung zweifeln würden, wenn die ersten Albträume kamen ... und sie würden kommen.

Kapitel 2

Kein schlechter Typ. Richtig knackig, der Junge – eigentlich beide. Nur ein wenig zu jung, schade.

Jutta Beltermann konnte ihre Gedanken nicht im Zaum halten. Sie hatte die Gelegenheit, die beiden Sanitäter genauer zu betrachten, da ihre Kollegin Irina Petrowska durchaus in der Lage war, die Befragung alleine durchzuführen. Also stand sie dabei und schaute.

Der mit dem Drei-Tage-Bart ist der hübschere, aber der andere macht einen netteren Eindruck. Wie alt sind die beiden wohl? Vermutlich gerade mal Anfang zwanzig.

Sie konnte gerade noch einen Seufzer unterdrücken, als ihr so richtig klar wurde, dass sie es hier mit einer Liga zu tun hatte, von der sie in ihrem Alter besser die Finger lassen sollte. Sie würde ihrem Spitznamen ›Mutti‹ nur allzu gerecht werden, wenn sie mit einem dieser ›Kinder‹ etwas anfangen würde. Mal ganz abgesehen davon, ob die überhaupt Interesse an ihr hätten. Ihr Spitzname hatte zwar nichts mit ihrem Alter zu tun, sondern war dadurch entstanden, dass sie schon immer durch ihre fürsorgliche Art und das Bedürfnis, sich um alle Sorgen und Nöte der Kollegen zu kümmern, stets als ›Mutter der Kompanie‹ gegolten hatte - auch schon mit Mitte zwanzig.

Nun, in ihrem 42. Lebensjahr, kam sie langsam in die Situation, dass sie tatsächlich die Mutter einiger Kollegen und Kolleginnen hätte sein können.

Für ihr Alter fühlte sie sich eigentlich noch recht passabel. Sie trieb zwar keinen regelmäßigen Sport, aber ihre Figur war ansehnlich, sie war weder faltig, noch hatte sie Altersflecken, ihre Haut war straff und sie sah nach ihrer eigenen Einschätzung eigentlich jünger als 42 aus. Sie pflegte sich, achtete immer auf eine ordentliche Frisur und ihre mittelbraunen Haare wiesen noch nicht den Hauch von Grau auf.

Dennoch hatte sie seit geraumer Zeit keine Beziehung und noch nicht einmal Sex gehabt. Zumindest keinen, an dem mehr als eine Person beteiligt gewesen war. Wie lange ist das schon her?, fragte sie sich ein wenig wehmütig.

Sie musste diese Gedankengänge nicht weiterführen, da sie der emotionale Ausbruch eines der beiden Sanitäter wieder in die Gegenwart zurückholte. »Verdammt noch mal, ja, es war sicherlich ein Fehler ... und ja, ich war vielleicht ein wenig zu neugierig, aber das ist unter diesen Umständen doch sicherlich nachvollziehbar, oder?«, bemerkte er gerade ein wenig zu lautstark.

Der Hübschere, hmmm, der ist also tatsächlich nicht so nett.

Ihr war klar, dass er seinen Fehler erkannt hatte und sich nun mit Gewalt rechtfertigen wollte. »Ist ja gut, junger Mann, regen Sie sich nicht auf. Solange Sie keine falschen Spuren gelegt und den Tatort nicht verunreinigt haben, ist ja nichts passiert«, versuchte sie, ihn wieder ein wenig runter zu holen.

»Ich hatte selbstverständlich Handschuhe an, Frau Kommissarin.« Sein Tonfall war leicht indigniert, als wolle er die Unterstellung als völlig aus der Luft gegriffen und unangebracht aussehen lassen.

Mutti überhörte die Art, wie er ›Frau Kommissarin‹ betont hatte, geflissentlich. »Was können Sie uns denn zum Verhalten der Person sagen, die den Leichnam gefunden und Sie dann zu Hilfe gerufen hat?«

Sie sah sofort den überraschten Blick von Irina.

»Oh, hattest du das schon gefragt? Sorry, ich war gerade geistig ein wenig abwesend.«

»Kein Problem«, lächelte Irina verstehend. »Die beiden Herren sind der Meinung, dass er zwar ausnehmend neugierig, aber auch gleichzeitig aufrichtig entsetzt gewirkt habe. Auch die Reaktion seines Magens auf sein bescheuertes Betrachten der Verletzung war wohl durch echte Überraschung erzeugt.«

»Okay ... nun, dann mir fällt mir im Moment nichts mehr ein, was wir noch fragen könnten. Dir?« Mutti sah die zwanzig Jahre jüngere Kollegin fragend an.

»Nein, mir auch nicht. Tja, meine Herren, dann wären wir so weit fertig. Ihre Erreichbarkeit habe ich ja. Wir melden uns bei Ihnen, wenn noch etwas zu klären sein sollte. Erstmal vielen Dank.«

Mutti entgingen die gierigen Blicke der zwei momentan offensichtlich testosterongesteuerten Männer nicht, die an Irinas Lippen und anderen Körperteilen hingen. Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, aber es bestand keine Gefahr, dass die beiden darauf aufmerksam würden, denn sie hatten nur Augen für die junge Kollegin.

Tja, früher hätten sie vielleicht mal so nach mir geschaut. Aber das ist wohl vorbei. Schade, dass ich den beiden nicht sagen kann, dass sie bei Irina auf keinen Fall landen können.

Grundsätzlich war es eher nützlich, wenn ihr männliches Gegenüber, egal ob Zeugen oder Verdächtige, ein Auge auf Irina warf und sich vielleicht sogar Chancen ausrechneten. Von den beiden gab es allerdings kaum noch etwas zu erfahren.

Irina übergab einem gerade die Visitenkarte der Mordkommission mit der zentralen Nummer und äußerte die Bitte, sich doch zu melden, falls ihnen noch etwas Wichtiges einfallen würde.

»Kann ich Sie denn nicht auch persönlich anrufen, Frau Kommissarin. Ich meine, mir fällt bestimmt noch was ganz Wichtiges ein ... wenn Sie wissen, was ich meine?«, wagte es der Mutigere der beiden, zu fragen.

Irina lachte das für sie so typische Lachen und warf den Kopf zurück, wobei sie ihre gelockte schwarze Mähne schüttelte. Dann sah sie ihm tief in die Augen und ging näher an sein Gesicht heran. Das erwartungsvolle Leuchten in seinen Augen erlosch schneller als eine Kerze im Sturm, als sie ihm ganz leise zuflüsterte: »Träum weiter, Kleiner.«

Dann drehte sie sich um. »Komm Mutti, wir haben hier alles, was es zu erfahren gibt.«

Kapitel 3

Das Büro der Pfarrgemeinde lag in einem kleinen Fachwerkhäuschen nur hundert Meter von der St. Agnes Kirche entfernt. Es war durch ein großes, glänzendes Messingschild neben der uralten, geschnitzten und mit Ornamenten versehenen Tür leicht erkennbar. Jenny und Schmuddel gingen die fünf ausgetretenen Stufen aus Sandstein hinauf und drückten auf die Klingel, die in einer Messingschale von der Größe eines Suppentopfes in die Wand eingelassen war.

Der melodische Dreiklang war noch nicht verstummt, als von drinnen eine helle Stimme »Es ist offen!«,rief.

Jenny und Schmuddel betraten das Häuschen und gelangten zuerst in einen kleinen Flur, von dem rechts und links jeweils zwei altertümliche Holztüren abgingen. Die erste Tür links stand halb offen und die beiden wandten sich dorthin und traten ein.

»Grüß Gott. Sie sind bestimmt von der Kripo und wollen mich befragen, stimmt‘s?«, begrüßte sie eine zierliche Brünette mit halblangen glatten Haaren, die sich ihnen in einem freizügigen bunten Sommerkleid präsentierte.

Na, das ist aber nicht die graue Maus, die ich als Pfarrsekretärin erwartet hätte, dachte Jenny und betrachtete die junge Frau genauer. Vermutlich Ende zwanzig, deutlich sichtbar geschminkt und mit einem Ausschnitt, der ihren für die sonstige Figur überdimensionalen Busen sehr offen zur Geltung brachte.

Also, die geizt nun wirklich nicht mit ihren Reizen, schoss es Jenny durch den Kopf und sie konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. Wie Schmuddel darauf wohl reagiert?

Ein kurzer Seitenblick zeigte ihr, dass Schmuddel ganz offensichtlich mehr als angetan war.

Er machte große Augen und leckte sich wie automatisch und unkontrollierbar die Lippen, wie er es immer tat, wenn er von etwas begeistert oder sogar angeturnt war.

Die Frau war bei ihrem Eintreten aufgesprungen und eilte nun mit ausgetreckter Hand auf sie zu. »Hallo, ich bin Hildegard Knecht, die Pfarrgemeindesekretärin ... aber die meisten nennen mich Hilu.« Sie schüttelte Jenny kurz die Hand und wandte sich dann Schmuddel zu. »Und sie sind ...?« Dabei sah sie ihm tief in die Augen, was ihn zu Jennys großer Belustigung ziemlich verlegen zu machen schien.

»Äh ... Oberkommissar Braake von der Mordkommission Frankfurt. Aber die meisten nennen mich ...«, er machte eine kurze Pause, »äh ... Klaus.« Er schüttelte ihre Hand und konnte seinen Blick kaum von ihrem Ausschnitt losreißen.

Jenny konnte sich nicht erinnern, dass er jemals zuvor seinen Spitznamen verheimlicht hätte.

Er will sie beeindrucken ... na ja, vermutlich erst mal nicht abschrecken. Interessant.

Sie nahm sich vor, Schmuddel genau zu beobachten. Das versprach, unter Umständen sehr lustig zu werden.

»Und mein Name ist Jung, auch Mordkommission Frankfurt. Und die meisten nennen mich ›Frau Oberkommissarin‹«, konnte sie sich nicht verkneifen, zu sagen. »Wir hätten einige Fragen an Sie«, ergänzte sie und versuchte, dabei so ernst wie möglich zu bleiben.

»Ja, ja, natürlich. Das kann ich mir denken. Ich glaube, ich habe auch ein paar Antworten für Sie«, meinte die junge Frau mit einem schelmischen Lächeln.

Jennys bisher freundliches Gesicht gefror. Sie hatte ganz unterschiedliche Reaktionen für möglich gehalten und auch schon so einiges erlebt, aber damit hatte sie nicht gerechnet.

»Der gewaltsame Tod Ihres Chefs scheint Sie allerdings nicht sehr mitgenommen zu haben«, meinte sie eisig. »Darf ich fragen, warum?«

Die junge Pfarrsekretärin lachte kurz aber laut auf. »Ich habe doch gesagt, ich habe sicherlich ein paar Antworten für Sie. Wenn ich Ihnen erzählt habe, was ich weiß, dann werden Sie mich verstehen. Setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Ja gerne«, beeilte sich Schmuddel, zu antworten.

»Ja, ich auch«, sagte Jenny und setzte sich in einen der beiden vor dem Schreibtisch stehenden Stühle. Sie beobachtete, wie Hildegard Knecht zu einer Kaffeemaschine auf einem kleinen Beistelltisch neben ihrem Schreibtisch ging und dort die volle Kanne frisch gebrühten Kaffees von der Heizplatte nahm. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, wie man in so einer Situation zuerst mal frischen Kaffee kochen konnte. Hilu schenkte drei Tassen ein, stellte sie auf den Schreibtisch und nahm in ihrem Bürostuhl Platz. »Bevor Sie anfangen, mir Fragen zu stellen«, begann sie ohne Einleitung, »möchte ich Ihnen erst mal ein Bild von unserm lieben Pfarrer, dem ehrenwehrten Dr. Bock, aufzeigen, das Ihnen einige Illusionen nehmen wird und mein Verhalten vielleicht etwas verdeutlicht.«

Jenny konnte genug zwischen den Zeilen heraushören, um sich absolut sicher zu sein, dass hier nicht nur mangelnde Freundschaft, sondern viel mehr erbitterte Feindschaft oder vielleicht sogar offener Hass vorgeherrscht hatte.

»Pfarrer Dr. Bock«, Hilu betonte das ›Dr.‹ eher abfällig, »war gelinde gesagt ein Arschloch und ein rücksichtloses Schwein. Ich weiß, es ist traurig, wenn man das über einen kürzlich Verstorbenen sagen muss, aber es ist leider so ... war so«, korrigierte sie sich sofort.

»Könnten Sie das ein wenig präzisieren«, fragte Jenny in einem noch immer nicht sehr verständnisvollen Tonfall.

»Ja, natürlich. Ich weiß nur nicht so genau, wo ich anfangen soll.«

»Machen Sie sich keinen Kopf«, mischte Schmuddel sich ein und lächelte ihr verstehend zu, »erzählen Sie einfach frisch von der Leber weg, wir sortieren das dann schon.«

Sie lächelte dankbar zurück. »Ja, gerne.«

Jenny musste den Kopf schütteln über so viel blödes Geschwätz. »Na was denn nun, erzählen Sie mal«, forderte sie ungeduldig.

Hilu Knecht seufzte. »Okay, fangen wir mal ganz am Anfang an. Also der Pfarrer, der hat ... äh hatte ... keine Freunde. Eigentlich eher im Gegenteil, der hatte nur Feinde. Leute, die er vor den Kopf gestoßen hat, denen gegenüber er sich genau wie das Arschloch benommen hat, das er auch war. Ich weiß, das klingt hart, aber Sie haben ihn nicht gekannt. Er war«, sie schien sich langsam an die Vergangenheitsform zu gewöhnen, »arrogant, besserwisserisch, unausstehlich, immer schlecht gelaunt, frauenfeindlich, kinderfeindlich, eigentlich sogar menschenfeindlich, bigott, sexistisch, rassistisch und ... und ...« Ihr fielen offenbar keine Adjektive mehr ein, denn sie seufzte wieder schwer und verstummte.

Nicht nur Jenny war zu baff über diesen Ausbruch, um auf die Schnelle reagieren. Aber noch bevor sie oder Schmuddel sich etwas überlegen konnten, fuhr Hilu Knecht fort. »Wenn Sie es detaillierter wissen wollen, dann kann ich Ihnen verraten, dass er Krieg mit dem Pfarrgemeinderat hatte, mit dem Küster im Clinch lag, den Kantor gehasst hat, seine Haushälterin bis zur Weißglut brüskiert hat, mit dem Bischof von Limburg ständig Streit hatte und mir jeden Tag mindestens zwei Mal mit Kündigung gedroht hat. Hab ich noch jemand vergessen?« Sie horchte überlegend in sich hinein. »Nein, für den Anfang sollte das genügen, wenn Sie Leute suchen, die ihm den Tod gewünscht haben. Und um auf Ihre ursprüngliche Frage zurückzukommen: Nein, ich bin wirklich nicht sehr mitgenommen von seinem Tod. Wenn ich jemals an der himmlischen Gerechtigkeit gezweifelt habe, dann ist jetzt mein Glaube wiederhergestellt.«

Sie lehnte sich bequem in ihrem Stuhl zurück und sah die beiden Ermittler fragend, aber auch herausfordernd an. »Na, sind Sie jetzt schockiert?«

Jenny war sich noch nicht sicher, wie sie mit einer solchen Einstellung umgehen sollte. Auf Schmuddels Gesicht jedoch sah sie eine Art Zustimmung, die sich in einem breiten Grinsen manifestierte. Er nickte anerkennend mit dem Kopf. Jenny erkannte seine Bewunderung für ihre flapsige Art, mit dem Tod umzugehen. Er selbst hatte sich schon lange einen ähnlichen Umgang mit schlimmen Ereignissen angeeignet.

Ich werde das jetzt alles mal beiseitelassen und konzentriere mich auf die eigentlichen Fragen, entschloss sich Jenny.

»Wir sind nicht so leicht zu schockieren, Frau Knecht. Was sich aus Ihren Äußerungen schließen lässt, bleibt fürs Erste abzuwarten. Für den Moment würde es uns aber enorm weiterhelfen, wenn Sie uns den Ablauf der letzten vierundzwanzig Stunden im Leben von Pfarrer Bock mitteilen könnten. Vielleicht auch noch darüber hinaus noch seine Termine der letzten Wochen?«

»Kein Problem, Frau Kommissar.« Sie lächelte Jenny wieder schelmisch an. »Sind Sie technisch denn auf dem Stand, dass Sie mir eine Mailadresse zur Verfügung stellen können, dann sende ich Ihnen seinen kompletten Kalender? Da sind alle Termine der letzten vierundzwanzig Monate drin. Vielleicht hilft Ihnen das ja weiter.«

Bevor Jenny reagieren konnte, drängte Schmuddel sich in den Vordergrund. »Das ist dann wohl eher mein Ressort. Ich bin der Computerspezialist der Truppe.«

»Ach was«, zeigte sich Hilu Knecht interessiert, »da können Sie mir auch sicher bei dem einen oder anderen Computerproblem behilflich sein. Ich kenne mich zwar eigentlich ganz gut aus, aber mit dem Netzwerk habe ich so meine Schwierigkeiten.«

»Natürlich, gerne. Wo liegt denn Ihr Problem?«

Jenny war inzwischen ein wenig genervt von dem Gebalze, und sah sich gezwungen, mit Nachdruck einzuschreiten.

»Hallo, geht’s noch? Wir haben hier, glaube ich, ein dringlicheres Problem zu klären. Wenn Sie vielleicht so freundlich wären und meinem übereifrigen Kollegen den Kalender mit den Terminen zukommen zu lassen, wäre ich äußerst dankbar.«

Schmuddel schien zu erkennen, dass er vermutlich ein wenig über das Ziel hinausgeschossen war.

»Okay, ja, na klar. Passen Sie auf, ich gebe Ihnen jetzt eine Mailadresse, an die können Sie die Daten senden«, erklärte er kleinlaut. »Mit Ihrem Problem werde ich mich dann mal zu einem späteren Zeitpunkt beschäftigen.«

Hilu Knecht grinste noch immer unverschämt in Richtung Jenny. »Kein Problem für mich. Hat keine Eile. Ich denke, ich bin die nächste Zeit sowieso nicht so unter wirklichem Arbeitsdruck. Außer, dass ich seine Termine absagen muss.«

»Ach ja«, fiel Jenny noch ein wichtiger Punkt ein, »hat Pfarrer Bock auch einen eigenen Computer?«

»Ja, selbstverständlich. Auf den habe ich aber keinen Zugriff, der befindet sich in seiner Wohnung im Pfarrhaus.«

»Richtig, die Wohnung. Haben Sie einen Schlüssel für seine Wohnung?«

»Selbstverständlich nicht.« Die junge Frau war sichtlich entrüstet. »Ich bin Sekretärin, keine Putzfrau. Dafür ist seine Haushälterin, Maria Bleibtreu, die alte Hexe, zuständig. Die lebt schließlich auch in dem Haushalt.«

Kapitel 4

Er saß nun seit über einer Stunde in der ersten Bank der Kirche und las. Vor ihm auf der Brüstung, wo üblicherweise die Gesangbücher abgelegt wurden, befand sich sein Notepad. Er sah sich im Internet alles an, was er über den katholischen Glauben, die katholische Kirche in Deutschland, über die spezielle Kirche, in der er gerade saß und über Regeln, Zeremonien, Abläufe, Zuständigkeiten, Aufgaben und die Hierarchie der katholischen Kirche im Allgemeinen finden konnte.

Gregor kam zugute, dass er zum einen sehr schnell lesen konnte und zum anderen über ein fotografisches Gedächtnis verfügte. Inzwischen wusste er schon eine Menge über die Zusammenhänge im Bistum Limburg, die Namen der Kirchenoberen, wie zum Beispiel den des Weihbischofs Dr. Elmar Gundelach, des apostolischen Administrators des Bistums. Auch über die Aufgaben eines Bischofs, der Pfarrer, eines Küsters und die Zuständigkeiten von Pfarrgemeinderat und anderen kirchlichen Einrichtungen hatte er bereits Unmengen von Informationen in sich aufgesaugt.

Nicht alles konnte er auf den ersten Blick nachvollziehen, aber er machte sich gedankliche Notizen, wo er über Querverbindungen zu einigen Themen noch recherchieren musste. Seine Quellen im Internet waren nicht nur Wikipedia und geschichtliche Lexika, sondern auch die Homepage des Bistums, aber auch Zeitungsartikel über Ereignisse von öffentlichem Interesse der letzten zwei Jahre.

In der Kirche war es inzwischen ruhig geworden und die Beamten des Spurensicherungsteams waren gerade dabei, alle ihre Utensilien wieder einzupacken.

Gregor las gerade einen Artikel über die Probleme der Kirche in den letzten Jahren aufgrund des Missbrauchs von Kindern, die sich in der Obhut der Kirche befanden, als er auf einen Tumult am Eingang aufmerksam wurde.

»SIE saache mir net, was ich hier derf oder net derf, dass des emal klar is, gell!«, hörte er eine aufdringliche Stimme polternd vom Eingang her tönen. »Wer hat dann hier es Saache? Ich will sofot ihrne Chef spreche.«

Seufzend schaltete Gregor seinen Notepad aus, erhob sich und ging langsam in Richtung der Aufregung. Der Verursacher war ein untersetzter, stämmiger Mann mit Halbglatze, einem strähnigen Haarkranz und einem pausbäckigen Gesicht mit rotgeäderten Wangen. Gregor schätzte ihn auf etwa Mitte Vierzig. Völlig unpassend zu seiner körperlichen Erscheinung und seinem Auftreten, war der offensichtlich maßgeschneiderte dreiteilige Anzug mit teurer Seidenkrawatte und passendem Einstecktuch im Anzug. Als Gregor nähertrat, blaffte ihn der Unbekannte an: »Habbe Sie hier was zu saache? Ich will sofot wisse, was hier los is.«

Gregor ging völlig unbewusst in den ›Sonja-Modus‹, wie es seine Kollegen bezeichneten. Da er nicht in der Lage war, mit Emotionen anderer in der richtigen Weise umzugehen, hatte seine Lebensgefährtin Sonja ihm beigebracht, welche Reaktionen in welchen Fällen zielführend waren und ihm die genauen, zur jeweiligen Situation passenden Worte vermittelt.

»Einen schönen guten Tag. Nett Sie kennenzulernen, Herr ...?«

Mit dieser Reaktion hatte der aggressive Aufrührer nicht gerechnet, denn er sah Gregor verdattert an und erwiderte in normaler Lautstärke: »Äh ... Gmünder ... Rudolf Gmünder ... ich bin de Vorsitzende vom Pfarrgemeinderat.«

Seine kurzfristige Verwirrung, die ihn etwas von seinem hohen Ross heruntergeholt hatte, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Sofort fand er wieder zu seiner cholerischen Art zurück. »Un wer sin Sie, wenn ich fraache derf?«

»Gregor Mandelbaum, Leiter der Mordkommission Frankfurt, angenehm.« Er streckte Gmünder die rechte Hand entgegen, die dieser aber geflissentlich übersah.

»Ich will jetzt sofot wisse, was hier los is! Ei, im Ort erzähle die sich ja die dollste Dinger.«

»Nun, als Vorsitzender des Pfarrgemeinderates haben Sie sicher das Recht zu erfahren, was hier passiert ist. Pfarrer Dr. Bock wurde ermordet. Zumindest liegt der Schluss nahe, da er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht selbst an die Kanzel genagelt hat.«

Gmünder sah ihn mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. »Äh ... wie ... genachelt?«

Da Gregor seine Reaktion auf das Bild sehen wollte, packte er seinen Notepad aus der Tasche, rief die Tatortfotos auf und suchte eine Aufnahme heraus, auf der Pfarrer Bock noch mit der blutdurchtränkten Soutane an der Kanzel hing. Wortlos hielt er dem Fragesteller das Bild vor die Nase.

Der kniff die Augen zusammen und besah sich die Aufnahme aus nächster Nähe, sehr ruhig und ganz genau.

Ein von Gmünder selbst vermutlich nicht bemerktes Zucken des Mundwinkels, eine hochgezogene Augenbraue und die kurz gekräuselte Oberlippe verrieten Gregor die in diesem Moment in dem Mann vorherrschenden Emotionen: Verachtung, Schadenfreude und eine Portion Zufriedenheit.

»Aha, Sie haben ihn also nicht besonders gemocht«, stellte Gregor sachlich fest.

Gmünder sah ihn fassungslos an. »Wie bitte?«, brauste er auf, »Ei natürlich hab ich de Herr Pfarrer gemocht. Der war doch übberall beliebt.«

Auch ein weniger geübter Leser von Mimik hätte die offensichtliche Lüge erkannt, aber Gregor ließ die Aussage zunächst so stehen.

»Könnten Sie sich vorstellen, wer ihm so etwas hätte antun wollen?«

»Nee, nee, off keine Fall. Also ... mir sin eine sehr friedliche und zufriedene Gemeinde, gell.«

Gregor sah ihm überdeutlich an, dass er im Geist gerade die wohl umfangreiche Liste der Verdächtigen durchging. Und als wollte er seine Behauptung in seinem letzten Satz direkt Lügen strafen, ergänzte Gmünder ungefragt: »Da werd sich de Engel abber freue. Da isser ja dann fein raus.«

»Darf ich fragen, wie Sie das meinen?«

Gmünder tat, als müsse er sich überwinden weiter zu erzählen, obwohl ihm die Befriedigung deutlich im Gesicht stand. »Ja nu ... wisse Se ... de Engel, also, der wo unsere Küster is, der hat sich letzt Woch schwer mitem Pfarrer in die Haar gekrischt. De Herr Pfarrer hat en im Verdacht gehabt, dasser in die Kollekte gelangt hat, wenn Se wisse was ich mein.«

Gregor wusste, was er meinte. Ihm war inzwischen bekannt, dass es sich bei der Kollekte um das während der Messe gesammelte Geld der Besucher handelte.