Frau Jenny Treibel - Theodor Fontane - E-Book

Frau Jenny Treibel E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Jenny Treibel predigt Wasser und säuft doch Wein. In diesem als Komödie getarnten Roman von Fontane, der bis heute zu seinen erfolgreichsten gehört, treffen Besitzbürgertum und Bildungsbürgertum aufeinander. Anhand zweier Berliner Familien: den großbürgerlichen Treibels und den gebildeteren Schmidts, lässt Fontane die Gegensätze zwischen gehuldigten Idealen und gegensätzlichem Tun aufscheinen. Ein "Clash" von Moral und Pragmatismus. Eine verheuchelte, spießbürgerliche Gesellschaft, deren Handeln stets im Widerspruch zu ihren Worten steht, und die sich dieses Umstandes nicht einmal bewusst wird – diesen Schleier zu lüften, dazu war schon Fontane von Nöten. "Nein, Corinna, sage das nicht. Er sieht das Leben von der richtigen Seite an; er weiß, daß Geld eine Last ist und daß das Glück ganz wo anders liegt." Sie schwieg bei diesen Worten und seufzte nur leise. Dann aber fuhr sie fort: "Ach, meine liebe Corinna, glaube mir, kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht." "Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selbst angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten." [Fontane] Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 305

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Theodor Fontane

Frau Jenny Treibel

oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“

Theodor Fontane

Frau Jenny Treibel

oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-954188-41-3

null-papier.de/401

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Ver­le­gers

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

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Vorwort des Verlegers

Zu Zei­ten des Au­tors wa­ren klei­ne, fran­zö­si­sche An­mer­kun­gen und Er­gän­zun­gen wie »coûte que coûte« oder »pour com­b­ler le bon­heur« noch weit ver­brei­tet. Heu­te gel­ten sie (laut Du­den) als ver­al­tet. Ich habe mir er­laubt, die Über­set­zun­gen der­sel­ben in Fuß­no­ten ein­zu­fü­gen. Eben­so ver­fah­ren bin ich bei den la­tei­ni­schen Pas­sa­gen.

Jür­gen Schul­ze, 19. Ok­to­ber 2016

Erstes Kapitel

An ei­nem der letz­ten Mai­ta­ge, das Wet­ter war schon som­mer­lich, bog ein zu­rück­ge­schla­ge­ner Lan­dau­er vom Spit­tel­markt her in die Kur- und dann in die Ad­ler­stra­ße ein und hielt gleich da­nach vor ei­nem, trotz sei­ner Front von nur fünf Fens­tern, ziem­lich an­sehn­li­chen, im Üb­ri­gen aber alt­mo­di­schen Hau­se, dem ein neu­er, gelb­brau­ner Öl­far­ben­an­strich wohl et­was mehr Sau­ber­keit, aber kei­ne Spur von ge­stei­ger­ter Schön­heit ge­ge­ben hat­te, bei­na­he das Ge­gen­teil. Im Fond des Wa­gens sa­ßen zwei Da­men mit ei­nem Bo­lo­gne­ser­hünd­chen, das sich der hell- und warm­schei­nen­den Son­ne zu freu­en schi­en. Die links sit­zen­de Dame von etwa Drei­ßig, au­gen­schein­lich eine Er­zie­he­rin oder Ge­sell­schaf­te­rin, öff­ne­te, von ih­rem Platz aus, zu­nächst den Wa­gen­schlag, und war dann der an­de­ren, mit Ge­schmack und Sorg­lich­keit ge­klei­de­ten und trotz ih­rer ho­hen Fünf­zig noch sehr gut aus­se­hen­den Dame beim Aus­s­tei­gen be­hilf­lich. Gleich da­nach aber nahm die Ge­sell­schaf­te­rin ih­ren Platz wie­der ein, wäh­rend die äl­te­re Dame auf eine Vor­trep­pe zu­schritt und nach Pas­sie­rung der­sel­ben in den Haus­flur ein­trat. Von die­sem aus stieg sie, so schnell ihre Kor­pu­lenz es zuließ, eine Holz­stie­ge mit ab­ge­lau­fe­nen Stu­fen hin­auf, un­ten von sehr we­nig Licht, wei­ter oben aber von ei­ner schwe­ren Luft um­ge­ben, die man füg­lich als eine Dop­pel­luft be­zeich­nen konn­te. Gera­de der Stel­le ge­gen­über, wo die Trep­pe mün­de­te, be­fand sich eine En­trée­tür mit Guck­loch, und ne­ben die­sem ein grü­nes, knitt­ri­ges Blech­schild, dar­auf »Pro­fes­sor Wi­li­bald Schmidt« ziem­lich un­deut­lich zu le­sen war. Die ein we­nig asth­ma­ti­sche Dame fühl­te zu­nächst das Be­dürf­nis, sich aus­zu­ru­hen und mus­ter­te bei der Ge­le­gen­heit den ihr üb­ri­gens von lan­ger Zeit her be­kann­ten Vor­flur, der vier gelb­ge­stri­che­ne Wän­de mit et­li­chen Ha­ken und Rie­geln und da­zwi­schen einen höl­zer­nen Halb­mond zum Bürs­ten und Aus­klop­fen der Rö­cke zeig­te. Dazu weh­te, der gan­zen At­mo­sphä­re auch hier den Cha­rak­ter ge­bend, von ei­nem nach hin­ten zu füh­ren­den Kor­ri­dor her ein son­der­ba­rer Kü­chen­ge­ruch her­an, der, wenn nicht al­les täusch­te, nur auf Rühr­kar­tof­feln und Car­bo­na­de1 ge­deu­tet wer­den konn­te, bei­des mit Sei­fen­wra­sen un­ter­mischt. »Also klei­ne Wä­sche«, sag­te die von dem al­len wie­der ganz ei­gen­tüm­lich be­rühr­te statt­li­che Dame still vor sich hin, wäh­rend sie zu­gleich weit zu­rück­lie­gen­der Tage ge­dach­te, wo sie selbst hier, in eben die­ser Ad­ler­stra­ße, ge­wohnt und in dem ge­ra­de ge­gen­über ge­le­ge­nen Ma­te­ri­al­wa­ren­la­den ih­res Va­ters mit im Ge­schäft ge­hol­fen und auf ei­nem über zwei Kaf­fee­sä­cke ge­leg­ten Brett klei­ne und große Dü­ten ge­klebt hat­te, was ihr je­des­mal mit »zwei Pfen­nig fürs Hun­dert« gut ge­tan wor­den war. »Ei­gent­lich viel zu viel, Jen­ny«, pfleg­te dann der Alte zu sa­gen, »aber Du sollst mit Geld um­ge­hen ler­nen.« Ach, wa­ren das Zei­ten ge­we­sen! Mit­tags, Schlag Zwölf, wenn man zu Tisch ging, saß sie zwi­schen dem Kom­mis Herrn Miel­ke und dem Lehr­ling Louis, die bei­de, so ver­schie­den sie sonst wa­ren, die­sel­be hoch­ste­hen­de Kamm­tol­le und die­sel­ben er­fro­re­nen Hän­de hat­ten. Und Louis schiel­te be­wun­dernd nach ihr hin­über, aber wur­de je­des­mal ver­le­gen, wenn er sich auf sei­nen Bli­cken er­tappt sah. Denn er war zu nied­ri­gen Stan­des, aus ei­nem Obst­kel­ler in der Spree­gas­se. Ja, das al­les stand jetzt wie­der vor ih­rer See­le, wäh­rend sie sich auf dem Flur um­sah und end­lich die Klin­gel ne­ben der Tür zog. Der über­all ver­bo­ge­ne Draht ra­schel­te denn auch, aber kein An­schlag ließ sich hö­ren, und so faß­te sie schließ­lich den Klin­gel­griff noch ein­mal und zog stär­ker. Jetzt klang auch ein Bim­mel­ton von der Kü­che her bis auf den Flur her­über, und ein paar Au­gen­bli­cke spä­ter ließ sich er­ken­nen, daß eine hin­ter dem Guck­loch be­find­li­che klei­ne Holz­klap­pe bei Sei­te ge­scho­ben wur­de. Sehr wahr­schein­lich war es des Pro­fes­sors Wirt­schaf­te­rin, die jetzt, von ih­rem Beo­b­ach­tungs­pos­ten aus, nach Freund oder Feind aus­sah, und als die­se Beo­b­ach­tung er­ge­ben hat­te, daß es »gut Freund« sei, wur­de der Tür­rie­gel ziem­lich ge­räusch­voll zu­rück­ge­scho­ben, und eine ra­mas­sier­te Frau von Aus­gangs Vier­zig, mit ei­nem an­sehn­li­chen Hau­ben­bau auf ih­rem vom Herd­feu­er ge­röte­ten Ge­sicht, stand vor ihr.

»Ach, Frau Trei­bel … Frau Kom­mer­zi­en­rä­tin … Wel­che Ehre …«

»Gu­ten Tag, lie­be Frau Schmol­ke. Was macht der Pro­fes­sor? Und was macht Fräu­lein Co­rin­na? Ist das Fräu­lein zu Hau­se?«

»Ja, Frau Kom­mer­zi­en­rä­tin. Eben wie­der nach Hau­se ge­kom­men aus der Phil­har­mo­nie. Wie wird sie sich freu­en.«

Und da­bei trat Frau Schmol­ke zur Sei­te, um den Weg nach dem ein­fenst­ri­gen, zwi­schen den zwei Vor­der­stu­ben ge­le­ge­nen und mit ei­nem schma­len Lein­wand­läu­fer be­leg­ten En­trée frei zu ge­ben. Aber ehe die Kom­mer­zi­en­rä­tin noch ein­tre­ten konn­te, kam ihr Fräu­lein Co­rin­na schon ent­ge­gen und führ­te die »müt­ter­li­che Freun­din«, wie sich die Rä­tin gern sel­ber nann­te, nach rechts hin, in das eine Vor­der­zim­mer.

Dies war ein hüb­scher, ho­her Raum, die Ja­lou­si­en her­ab­ge­las­sen, die Fens­ter nach in­nen auf, vor de­ren ei­nem eine Blu­me­ne­stra­de mit Gold­lack und Hya­cin­then stand. Auf dem So­pha­ti­sche prä­sen­tier­te sich gleich­zei­tig eine Glas­scha­le mit Ap­fel­si­nen, und die Por­träts der El­tern des Pro­fes­sors, des Rech­nungs­rats Schmidt aus der He­rolds­kam­mer und sei­ner Frau, geb. Schwe­rin, sa­hen auf die Glas­scha­le her­nie­der – der alte Rech­nungs­rat in Frack und ro­tem Ad­ler­or­den, die ge­bo­re­ne Schwe­rin mit star­ken Ba­cken­kno­chen und Stubs­na­se, was, trotz ei­ner aus­ge­spro­che­nen Bür­ger­lich­keit, im­mer noch mehr auf die pom­mersch-ucker­mär­ki­schen Trä­ger des be­rühm­ten Na­mens, als auf die spä­te­re, oder, wenn man will, auch viel frü­he­re po­sen­sche Li­nie hin­deu­te­te.

»Lie­be Co­rin­na, wie nett Du dies al­les zu ma­chen ver­stehst und wie hübsch es doch bei Euch ist, so kühl und so frisch – und die schö­nen Hya­cin­then. Mit den Ap­fel­si­nen ver­trägt es sich frei­lich nicht recht, aber das tut nichts, es sieht so gut aus … Und nun legst Du mir in Dei­ner Sorg­lich­keit auch noch das So­pha­kis­sen zu­recht! Aber ver­zeih', ich sit­ze nicht gern auf dem So­pha; das ist im­mer so weich, und man sinkt da­bei so tief ein. Ich set­ze mich lie­ber hier in den Lehn­stuhl und sehe zu den al­ten, lie­ben Ge­sich­tern da hin­auf. Ach, war das ein Mann; ge­ra­de wie Dein Va­ter. Aber der alte Rech­nungs­rat war bei­nah' noch ver­bind­li­cher, und ei­ni­ge sag­ten auch im­mer, er sei so gut wie von der Ko­lo­nie. Was auch stimm­te. Denn sei­ne Groß­mut­ter, wie Du frei­lich bes­ser weißt als ich, war ja eine Char­pen­tier, Stralau­er-Stra­ße.«

Un­ter die­sen Wor­ten hat­te die Kom­mer­zi­en­rä­tin in ei­nem ho­hen Lehn­stuh­le Platz ge­nom­men und sah mit dem Lor­gnon nach den »lie­ben Ge­sich­tern« hin­auf, de­ren sie sich eben so huld­voll er­in­nert hat­te, wäh­rend Co­rin­na frag­te, ob sie nicht et­was Mo­sel und Sel­ter­was­ser brin­gen dür­fe, es sei so heiß.

»Nein, Co­rin­na, ich kom­me eben vom Lunch, und Sel­ter­was­ser steigt mir im­mer so zu Kopf. Son­der­bar, ich kann Sher­ry ver­tra­gen und auch Port, wenn er lan­ge ge­la­gert hat, aber Mo­sel und Sel­ter­was­ser, das be­nimmt mich … Ja, sieh' Kind, dies Zim­mer hier, das ken­ne ich nun schon vier­zig Jah­re und dar­über, noch aus Zei­ten her, wo ich ein halb­wach­sen Ding war, mit kas­ta­ni­en­brau­nen Lo­cken, die mei­ne Mut­ter, so viel sie sonst zu tun hat­te, doch im­mer mit rüh­ren­der Sorg­falt wi­ckel­te. Denn da­mals, mei­ne lie­be Co­rin­na, war das Rot­blon­de noch nicht so Mode wie jetzt, aber kas­ta­ni­en­braun galt schon, be­son­ders wenn es Lo­cken wa­ren, und die Leu­te sa­hen mich auch im­mer dar­auf an. Und Dein Va­ter auch. Er war da­mals ein Stu­dent und dich­te­te. Du wirst es kaum glau­ben, wie rei­zend und wie rüh­rend das al­les war, denn die Kin­der wol­len es im­mer nicht wahr ha­ben, daß die El­tern auch ein­mal jung wa­ren und gut aus­sa­hen und ihre Ta­len­te hat­ten. Und ein paar Ge­dich­te wa­ren an mich ge­rich­tet, die hab' ich mir auf­ge­ho­ben bis die­sen Tag, und wenn mir schwer ums Herz ist, dann neh­me ich das klei­ne Buch, das ur­sprüng­lich einen blau­en De­ckel hat­te (jetzt aber hab' ich es in grü­nen Maro­quin bin­den las­sen) und set­ze mich ans Fens­ter und sehe auf un­sern Gar­ten und wei­ne mich still aus, ganz still, daß es nie­mand sieht, am we­nigs­ten Trei­bel oder die Kin­der. Ach Ju­gend! Mei­ne lie­be Co­rin­na, Du weißt gar nicht, welch' ein Schatz die Ju­gend ist, und wie die rei­nen Ge­füh­le, die noch kein rau­her Hauch ge­trübt hat, doch un­ser Bes­tes sind und blei­ben.«

»Ja«, lach­te Co­rin­na. »die Ju­gend ist gut. Aber ›Kom­mer­zi­en­rä­tin‹ ist auch gut und ei­gent­lich noch bes­ser. Ich bin für einen Lan­dau­er und einen Gar­ten um die Vil­la her­um. Und wenn Os­tern ist und Gäs­te kom­men, na­tür­lich recht vie­le, so wer­den Os­terei­er in dem Gar­ten ver­steckt, und je­des Ei ist eine Atrap­pe voll Kon­fi­tü­ren von Hö­vell oder Kranz­ler, oder auch ein klei­nes Ne­ces­saire ist drin. Und wenn dann all' die Gäs­te die Eier ge­fun­den ha­ben, dann nimmt je­der Herr sei­ne Dame, und man geht zu Tisch. Ich bin durch­aus für Ju­gend, aber für Ju­gend mit Wohl­le­ben und hüb­schen Ge­sell­schaf­ten.«

»Das höre ich gern, Co­rin­na, we­nigs­tens ge­ra­de jetzt; denn ich bin hier, um Dich ein­zu­la­den, und zwar auf mor­gen schon; es hat sich so rasch ge­macht. Ein jun­ger Mr. Nel­son ist näm­lich bei Otto Trei­bel's an­ge­kom­men (das heißt aber, er wohnt nicht bei ih­nen) ein Sohn von Nel­son & Co. aus Li­ver­pool, mit de­nen mein Sohn Otto sei­ne Haupt­ge­schäfts­ver­bin­dung hat. Und He­le­ne kennt ihn auch. Das ist so ham­bur­gisch, die ken­nen alle Eng­län­der, und wenn sie sie nicht ken­nen, so tun sie we­nigs­tens so. Mir un­be­greif­lich. Also Mr. Nel­son, der über­mor­gen schon wie­der ab­reist, um den han­delt es sich; ein lie­ber Ge­schäfts­freund, den Otto's durch­aus ein­la­den muß­ten. Das ver­bot sich aber lei­der, weil He­le­ne 'mal wie­der Plätt­tag hat, was nach ih­rer Mei­nung al­lem an­de­ren vor­geht, so­gar im Ge­schäft. Da ha­ben wir's denn über­nom­men, of­fen ge­stan­den nicht all­zu gern, aber doch auch nicht ge­ra­de­zu un­gern. Otto war näm­lich, wäh­rend sei­ner eng­li­schen Rei­se, wo­chen­lang in dem Nel­son'schen Hau­se zu Gast. Du siehst dar­aus, wie's steht und wie sehr mir an Dei­nem Kom­men lie­gen muß; Du sprichst eng­lisch und hast al­les ge­le­sen und hast vo­ri­gen Win­ter auch Mr. Booth als Ham­let ge­se­hen. Ich weiß noch recht gut, wie Du da­von schwärm­test. Und eng­li­sche Po­li­tik und Ge­schich­te wirst Du na­tür­lich auch wis­sen, da­für bist Du ja Dei­nes Va­ters Toch­ter.«

»Nicht viel weiß ich da­von, nur ein biß­chen. Ein biß­chen lernt man ja.«

»Ja, jetzt, lie­be Co­rin­na. Du hast es gut ge­habt und alle ha­ben es jetzt gut. Aber zu mei­ner Zeit, da war es an­ders, und wenn mir nicht der Him­mel, dem ich da­für dan­ke, das Herz für das Poe­ti­sche ge­ge­ben hät­te, was, wenn es mal in ei­nem lebt, nicht wie­der aus­zu­rot­ten ist, so hät­te ich nichts ge­lernt und wüß­te nichts. Aber, Gott sei Dank, ich habe mich an Ge­dich­ten her­an­ge­bil­det, und wenn man vie­le da­von aus­wen­dig weiß, so weiß man doch man­ches. Und daß es so ist, sieh', das ver­dan­ke ich nächst Gott, der es in mei­ne See­le pflanz­te, Dei­nem Va­ter. Der hat das Blüm­lein groß ge­zo­gen, das sonst drü­ben in dem La­den­ge­schäft un­ter all den pro­sa­i­schen Men­schen – und Du glaubst gar nicht, wie pro­sa­i­sche Men­schen es gibt – ver­küm­mert wäre … Wie geht es denn mit Dei­nem Va­ter? Es muß ein Vier­tel­jahr sein oder län­ger, daß ich ihn nicht ge­se­hen habe, den vier­zehn­ten Fe­bru­ar, an Otto's Ge­burts­tag. Aber er ging so früh, weil so viel ge­sun­gen wur­de.«

»Ja, das liebt er nicht. We­nigs­tens dann nicht, wenn er da­mit über­rascht wird. Es ist eine Schwä­che von ihm, und man­che nen­nen es eine Un­art.«

»O, nicht doch, Co­rin­na, das darfst Du nicht sa­gen. Dein Va­ter ist bloß ein ori­gi­nel­ler Mann. Ich bin un­glück­lich, daß man sei­ner so sel­ten hab­haft wer­den kann. Ich hätt' ihn auch zu mor­gen ger­ne mit ein­ge­la­den, aber ich be­zweifle, daß Mr. Nel­son ihn in­ter­es­siert, und von den an­de­ren ist nun schon gar nicht zu spre­chen; un­ser Freund Kro­la wird mor­gen wohl wie­der sin­gen, und As­ses­sor Gold­am­mer sei­ne Po­li­zei­ge­schich­ten er­zäh­len und sein Kunst­stück mit dem Hut und den zwei Ta­lern ma­chen.«

»O, da freu' ich mich. Aber frei­lich, Papa tut sich nicht ger­ne Zwang an, und sei­ne Be­quem­lich­keit und sei­ne Pfei­fe sind ihm lie­ber, als ein jun­ger Eng­län­der, der viel­leicht drei­mal um die Welt ge­fah­ren ist. Papa ist gut, aber ein­sei­tig und ei­gen­sin­nig.«

»Das kann ich nicht zu­ge­ben, Co­rin­na. Dein Papa ist ein Ju­wel, das weiß ich am bes­ten.«

»Er un­ter­schätzt al­les Äu­ßer­li­che, Be­sitz und Geld, und über­haupt al­les, was schmückt und schön macht.«

»Nein, Co­rin­na, sage das nicht. Er sieht das Le­ben von der rich­ti­gen Sei­te an; er weiß, daß Geld eine Last ist und daß das Glück ganz wo an­ders liegt.« Sie schwieg bei die­sen Wor­ten und seufz­te nur lei­se. Dann aber fuhr sie fort: »Ach, mei­ne lie­be Co­rin­na, glau­be mir, klei­ne Ver­hält­nis­se, das ist das, was al­lein glück­lich macht.«

Co­rin­na lä­chel­te. »Das sa­gen alle die, die drü­ber ste­hen und die klei­nen Ver­hält­nis­se nicht ken­nen.«

»Ich ken­ne sie, Co­rin­na.«

»Ja, von frü­her her. Aber das liegt nun zu­rück und ist ver­ges­sen oder wohl gar ver­klärt. Ei­gent­lich liegt es doch so: al­les möch­te reich sein, und ich ver­den­ke es kei­nem. Papa frei­lich, der schwört noch auf die Ge­schich­te von dem Ka­mel und dem Na­delöhr. Aber die jun­ge Welt …«

»… Ist lei­der an­ders. Nur zu wahr. Aber so ge­wiß das ist, so ist es doch nicht so schlimm da­mit, wie Du Dir's denkst. Es wäre auch zu trau­rig, wenn der Sinn für das Idea­le ver­lo­ren gin­ge, vor al­lem in der Ju­gend. Und in der Ju­gend lebt er auch noch. Da ist zum Bei­spiel Dein Vet­ter Mar­cell, den Du bei­läu­fig mor­gen auch tref­fen wirst (er hat schon zu­ge­sagt), und an dem ich wirk­lich nichts wei­ter zu ta­deln wüß­te, als daß er Wed­der­kopp heißt. Wie kann ein so fei­ner Mann einen so stör­ri­schen Na­men füh­ren! Aber wie dem auch sein möge, wenn ich ihn bei Otto's tref­fe, so spre­che ich im­mer so gern mit ihm. Und warum? Bloß weil er die Rich­tung hat, die man ha­ben soll. Selbst un­ser gu­ter Kro­la sag­te mir erst neu­lich, Mar­cell sei eine von Grund aus ethi­sche Na­tur, was er noch hö­her stel­le als das Mora­li­sche; worin ich ihm, nach ei­ni­gen Auf­klä­run­gen von sei­ner Sei­te, bei­stim­men muß­te. Nein, Co­rin­na, gib den Sinn, der sich nach oben rich­tet, nicht auf, je­nen Sinn, der von dort­her al­lein das Heil er­war­tet. Ich habe nur mei­ne bei­den Söh­ne, Ge­schäfts­leu­te, die den Weg ih­res Va­ters ge­hen, und ich muß es ge­sche­hen las­sen; aber wenn mich Gott durch eine Toch­ter ge­seg­net hät­te, die wäre mein ge­we­sen, auch im Geist, und wenn sich ihr Herz ei­nem ar­men, aber ed­len Man­ne, sa­gen wir ei­nem Man­ne wie Mar­cell Wed­der­kopp, zu­ge­neigt hät­te …«

»… So wäre das ein Paar ge­wor­den«, lach­te Co­rin­na.

»Der arme Mar­cell! Da hätt' er nun sein Glück ma­chen kön­nen, und muß ge­ra­de die Toch­ter feh­len.«

Die Kom­mer­zi­en­rä­tin nick­te.

»Über­haupt ist es scha­de, daß es so sel­ten klappt und paßt«, fuhr Co­rin­na fort. »Aber Gott sei Dank, gnä­digs­te Frau ha­ben ja noch den Leo­pold, jung und un­ver­hei­ra­tet, und da Sie sol­che Macht über ihn ha­ben – so we­nigs­tens sagt er selbst, und sein Bru­der Otto sagt es auch, und alle Welt sagt es – so könnt' er Ih­nen, da der idea­le Schwie­ger­sohn nun mal eine Un­mög­lich­keit ist, we­nigs­tens eine idea­le Schwie­ger­toch­ter ins Haus füh­ren, eine rei­zen­de, jun­ge Per­son, viel­leicht eine Schau­spie­le­rin …«

»Ich bin nicht für Schau­spie­le­rin­nen …«

»Oder eine Ma­le­rin, oder eine Pas­tors- oder eine Pro­fes­so­ren­toch­ter …«

Die Kom­mer­zi­en­rä­tin stutz­te bei die­sem letz­ten Wor­te und streif­te Co­rin­na stark, wenn auch flüch­tig. in­des­sen wahr­neh­mend, daß die­se hei­ter und un­be­fan­gen blieb, schwand ihre Furcht­an­wand­lung eben­so schnell wie sie ge­kom­men war. »Ja, Leo­pold«, sag­te sie, »den hab' ich noch. Aber Leo­pold ist ein Kind. Und sei­ne Ver­hei­ra­tung steht je­den­falls noch in wei­ter Fer­ne. Wenn er aber käme …« Und die Kom­mer­zi­en­rä­tin schi­en sich al­len Erns­tes – viel­leicht weil es sich um et­was noch »in so wei­ter Fer­ne« Lie­gen­des han­del­te – der Vi­si­on ei­ner idea­len Schwie­ger­toch­ter hin­ge­ben zu wol­len, kam aber nicht dazu, weil in eben die­sem Au­gen­bli­cke der aus sei­ner Ober­se­cun­da kom­men­de Pro­fes­sor ein­trat und sei­ne Freun­din, die Rä­tin, mit vie­ler Ar­tig­keit be­grüß­te.

»Stör' ich?«

»In Ihrem ei­ge­nen Hau­se? Nein, lie­ber Pro­fes­sor; Sie kön­nen über­haupt nie stö­ren. Mit Ih­nen kommt im­mer das Licht. Und wie Sie wa­ren, so sind Sie ge­blie­ben. Aber mit Co­rin­na bin ich nicht zu­frie­den. Sie spricht so mo­dern und ver­leug­net ih­ren Va­ter, der im­mer nur in ei­ner schö­nen Ge­dan­ken­welt leb­te …«

»Nun ja, ja«, sag­te der Pro­fes­sor. »Man kann es so nen­nen. Aber ich den­ke, sie wird sich noch wie­der zu­rück­fin­den. Frei­lich, einen Stich ins Mo­der­ne wird sie wohl be­hal­ten. Scha­de. Das war an­ders als wir jung wa­ren, da leb­te man noch in Phan­ta­sie und Dich­tung«

Er sag­te das so hin, mit ei­nem ge­wis­sen Pa­thos, als ob er sei­nen Se­cun­da­nern eine be­son­de­re Schön­heit aus dem Horaz oder aus dem Par­ci­val (denn er war Klas­si­ker und Ro­man­ti­ker zu­gleich) zu de­mons­trie­ren hät­te. Sein Pa­thos war aber doch et­was thea­tra­lisch ge­hal­ten und mit ei­ner fei­nen Iro­nie ge­mischt, die die Kom­mer­zi­en­rä­tin auch klug ge­nug war, her­aus­zu­hö­ren. Sie hielt es in­des­sen trotz­dem für an­ge­zeigt, einen gu­ten Glau­ben zu zei­gen, nick­te des­halb nur und sag­te: »Ja, schö­ne Tage, die nie wie­der keh­ren.«

»Nein«, sag­te der in sei­ner Rol­le mit dem Ernst ei­nes Gro­ßin­qui­si­tors fort­fah­ren­de Wi­li­bald. »Es ist vor­bei da­mit; aber man muß eben wei­ter le­ben.«

Eine halb­ver­le­ge­ne Stil­le trat ein, wäh­rend wel­cher man, von der Stra­ße her, einen schar­fen Peit­schen­knips hör­te.

»Das ist ein Mahn­zei­chen«, warf jetzt die Kom­mer­zi­en­rä­tin ein, ei­gent­lich froh der Un­ter­bre­chung. »Jo­hann un­ten wird un­ge­dul­dig. Und wer hät­te den Mut, es mit ei­nem sol­chen Macht­ha­ber zu ver­der­ben.«

»Nie­mand«, er­wi­der­te Schmidt. »An der gu­ten Lau­ne un­se­rer Um­ge­bung hängt un­ser Le­bens­glück; ein Mi­nis­ter be­deu­tet mir we­nig, aber die Schmol­ke …«

»Sie tref­fen es wie im­mer, lie­ber Freund.«

Und un­ter die­sen Wor­ten er­hob sich die Kom­mer­zi­en­rä­tin und gab Co­rin­na einen Kuß auf die Stirn, wäh­rend sie Wi­li­bald die Hand reich­te. »Mit uns, lie­ber Pro­fes­sor, bleibt es beim al­ten, un­ent­wegt.« Und da­mit ver­ließ sie das Zim­mer, von Co­rin­na bis auf den Flur und die Stra­ße be­glei­tet.

»Unent­wegt«, wie­der­hol­te Wi­li­bald, als er al­lein war. »Herr­li­ches Mo­de­wort, und nun auch schon bis in die Vil­la Trei­bel ge­drun­gen … Ei­gent­lich ist mei­ne Freun­din Jen­ny noch ge­ra­de so wie vor vier­zig Jah­ren, wo sie die kas­ta­ni­en­brau­nen Lo­cken schüt­tel­te. Das Sen­ti­men­ta­le lieb­te sie schon da­mals, aber doch im­mer un­ter Be­vor­zu­gung von Cour­ma­chen und Schlag­sah­ne. Jetzt ist sie nun rund­lich ge­wor­den und bei­nah' ge­bil­det, oder doch, was man so ge­bil­det zu nen­nen pflegt, und Ado­lar Kro­la trägt ihr Ari­en aus Lo­hen­grin und Tann­häu­ser vor. Denn ich den­ke mir, daß das ihre Lieb­ling­so­pern sind. Ach, ihre Mut­ter, die gute Frau Bürs­ten­bin­der, die das Püpp­chen drü­ben im Ap­fel­si­nen­la­den im­mer so hübsch her­aus­zu­put­zen wuß­te, sie hat in ih­rer Wei­ber­klug­heit da­mals ganz rich­tig ge­rech­net. Nun ist das Püpp­chen eine Kom­mer­zi­en­rä­tin und kann sich al­les gön­nen, auch das Idea­le, und so­gar ›u­nent­weg­t‹. Ein Mus­ter­stück von ei­ner Bour­geoi­se.«

Und da­bei trat er ans Fens­ter, hob die Ja­lou­si­en ein we­nig und sah, wie Co­rin­na, nach­dem die Kom­mer­zi­en­rä­tin ih­ren Sitz wie­der ein­ge­nom­men hat­te, den Wa­gen­schlag ins Schloß warf. Noch ein ge­gen­sei­ti­ger Gruß, an dem die Ge­sell­schafts­da­me mit sau­er-sü­ßer Mie­ne teil­nahm, und die Pfer­de zo­gen an und trab­ten lang­sam auf die nach der Spree hin ge­le­ge­ne Aus­fahrt zu, weil es schwer war, in der en­gen Ad­ler­stra­ße zu wen­den.

Als Co­rin­na wie­der oben war, sag­te sie. »Du hast doch nichts da­ge­gen, Papa. Ich bin mor­gen zu Trei­bel's zu Tisch ge­la­den. Mar­cell ist auch da, und ein jun­ger Eng­län­der, der so­gar Nel­son heißt.«

»Ich was da­ge­gen? Gott be­wah­re. Wie könnt' ich was da­ge­gen ha­ben, wenn ein Mensch sich amü­sie­ren will. Ich neh­me an, Du amü­sierst Dich.«

»Ge­wiß amü­sier' ich mich. Es ist doch 'mal 'was an­de­res. Was Dis­tel­kamp sagt und Rind­fleisch und der klei­ne Frie­de­berg, das weiß ich ja schon al­les aus­wen­dig. Aber was Nel­son sa­gen wird, denk' Dir, Nel­son, das weiß ich nicht.«

»Viel Ge­schei­tes wird es wohl nicht sein.«

»Das tut nichts. Ich seh­ne mich manch­mal nach Un­ge­scheit­hei­ten.«

»Da hast Du Recht, Co­rin­na.«

Schmor­fleisch  <<<

Zweites Kapitel

Die Trei­bel'sche Vil­la lag auf ei­nem großen Grund­stücke, das, in be­deu­ten­der Tie­fe, von der Köp­nicker­stra­ße bis an die Spree reich­te. Frü­her hat­ten hier in un­mit­tel­ba­rer Nähe des Flus­ses nur Fa­brik­ge­bäu­de ge­stan­den, in de­nen all­jähr­lich un­ge­zähl­te Zent­ner von Blut­lau­gen­salz und spä­ter, als sich die Fa­brik er­wei­ter­te, kaum ge­rin­ge­re Quan­ti­tä­ten von Ber­li­ner Blau her­ge­stellt wor­den wa­ren. Als aber nach dem sieb­zi­ger Krie­ge die Mil­li­ar­den ins Land ka­men und die Grün­der­an­schau­un­gen selbst die nüch­t­erns­ten Köp­fe zu be­herr­schen an­fin­gen, fand auch Kom­mer­zi­en­rat Trei­bel sein bis da­hin in der Al­ten Ja­kob­stra­ße ge­le­ge­nes Wohn­haus, trotz­dem es von Gon­tard, ja nach ei­ni­gen so­gar von Kno­bels­dorff her­rüh­ren soll­te, nicht mehr zeit- und stan­des­ge­mäß, und bau­te sich auf sei­nem Fa­brik­grund­stück eine mo­di­sche Vil­la mit klei­nem Vor­der- und park­ar­ti­gem Hin­ter­gar­ten. Die­se Vil­la war ein Hoch­par­ter­re­bau mit auf­ge­setz­tem ers­ten Stock, wel­cher letz­te­re je­doch, um sei­ner nied­ri­gen Fens­ter wil­len, eher den Ein­druck ei­nes Mez­za­nin als ei­ner Bel-Eta­ge mach­te. Hier wohn­te Trei­bel seit sech­zehn Jah­ren und be­griff nicht, daß er es, ei­nem noch dazu bloß ge­mut­maß­ten fri­de­ri­zia­ni­schen Bau­meis­ter zu Lie­be, so lan­ge Zeit hin­durch in der un­vor­neh­men und al­ler fri­schen Luft ent­beh­ren­den Al­ten Ja­kob­stra­ße aus­ge­hal­ten habe; Ge­füh­le, die von sei­ner Frau Jen­ny min­des­tens ge­teilt wur­den. Die Nähe der Fa­brik, wenn der Wind un­güns­tig stand, hat­te frei­lich auch al­ler­lei Miß­li­ches im Ge­lei­te; Nord­wind aber, der den Qualm her­an­trieb, war no­to­risch sel­ten, und man brauch­te ja die Ge­sell­schaf­ten nicht ge­ra­de bei Nord­wind zu ge­ben. Au­ßer­dem ließ Trei­bel die Fa­brik­schorn­stei­ne mit je­dem Jah­re hö­her hin­auf­füh­ren und be­sei­tig­te da­mit den an­fäng­li­chen Übel­stand im­mer mehr.

*

Das Di­ner war zu sechs Uhr fest­ge­setzt; aber be­reits eine Stun­de vor­her sah man Hus­ter'sche Wa­gen mit run­den und vier­e­cki­gen Kör­ben vor dem Git­ter­ein­gan­ge hal­ten. Die Kom­mer­zi­en­rä­tin, schon in vol­ler Toi­let­te, be­ob­ach­te­te von dem Fens­ter ih­res Bou­doirs aus all' die­se Vor­be­rei­tun­gen und nahm auch heu­te wie­der, und zwar nicht ohne eine ge­wis­se Be­rech­ti­gung, An­stoß dar­an. »Daß Trei­bel es auch ver­säu­men muß­te, für einen Ne­ben­ein­gang Sor­ge zu tra­gen! Wenn er da­mals nur ein vier Fuß brei­tes Ter­rain von dem Nach­bar­grund­stück zu­kauf­te, so hät­ten wir einen Ein­gang für der­art Leu­te ge­habt. Jetzt mar­schiert je­der Kü­chen­jun­ge durch den Vor­gar­ten, ge­ra­de auf un­ser Haus zu, wie wenn er mit­ge­la­den wäre. Das sieht lä­cher­lich aus und auch an­spruchs­voll, als ob die gan­ze Köp­nicker­stra­ße wis­sen sol­le: Trei­bel's ge­ben heut' ein Di­ner. Au­ßer­dem ist es un­klug, dem Neid der Men­schen und dem so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Ge­fühl so ganz nutz­los neue Nah­rung zu ge­ben.«

Sie sag­te sich das ganz ernst­haft, ge­hör­te je­doch zu den Glück­li­chen, die sich nur we­ni­ges an­dau­ernd zu Her­zen neh­men, und so kehr­te sie denn vom Fens­ter zu ih­rem Toi­let­ten­tisch zu­rück, um noch ei­ni­ges zu ord­nen und den Spie­gel zu be­fra­gen, ob sie sich ne­ben ih­rer Ham­bur­ger Schwie­ger­toch­ter auch wer­de be­haup­ten kön­nen. He­le­ne war frei­lich nur halb so alt, ja kaum das; aber die Kom­mer­zi­en­rä­tin wuß­te recht gut, daß Jah­re nichts be­deu­ten und daß Kon­ver­sa­ti­on und Au­gen­aus­druck und na­ment­lich die »Welt der For­men«, im einen und im an­dern Sin­ne, ja im »an­dern« Sin­ne noch mehr, den Aus­schlag zu ge­ben pfle­gen. Und hier­in war die schon stark an der Gren­ze des Em­bon­point an­ge­lang­te Kom­mer­zi­en­rä­tin ih­rer Schwie­ger­toch­ter un­be­dingt über­le­gen.

In dem mit dem Bou­doir kor­re­spon­die­ren­den, an der an­dern Sei­te des Front­saa­l­es ge­le­ge­nen Zim­mer saß Kom­mer­zi­en­rat Trei­bel und las das »Ber­li­ner Ta­ge­blatt«. Es war ge­ra­de eine Num­mer, der der »Ulk« bei­lag. Er wei­de­te sich an dem Schluß­bild und las dann ei­ni­ge von Nun­ne's phi­lo­so­phi­schen Be­trach­tun­gen. »Aus­ge­zeich­net … Sehr gut … Aber ich wer­de das Blatt doch bei Sei­te schie­ben oder min­des­tens das ›Deut­sche Ta­ge­blat­t‹ dar­über le­gen müs­sen. Ich glau­be, Vo­gel­sang gibt mich sonst auf. Und ich kann ihn, wie die Din­ge mal lie­gen, nicht mehr ent­beh­ren, so we­nig, daß ich ihn zu heu­te habe ein­la­den müs­sen. Über­haupt eine son­der­ba­re Ge­sell­schaft! Erst die­ser Mr. Nel­son, den sich He­le­ne, weil ihre Mäd­chen mal wie­der am Plätt­brett ste­hen, ge­fäl­ligst ab­ge­wälzt hat, und zu die­sem Nel­son die­ser Vo­gel­sang, die­ser Lieu­ten­ant a. D. und agent pro­vo­ca­teur in Wahl­sa­chen. Er ver­steht sein Me­tier, so sagt man mir all­ge­mein, und ich muß es glau­ben. Je­den­falls scheint mir das si­cher: hat er mich erst in Teu­pitz-Zos­sen und an den Ufern der wen­di­schen Spree durch­ge­bracht, so bringt er mich auch hier durch. Und das ist die Haupt­sa­che. Denn schließ­lich läuft doch al­les dar­auf hin­aus, daß ich in Ber­lin selbst, wenn die Zeit dazu ge­kom­men ist, den Sin­ger oder ir­gend einen an­dern von der Cou­leur bei Sei­te schie­be. Nach der Be­redt­sam­keits­pro­be neu­lich bei Bug­gen­ha­gen ist ein Sieg sehr wohl mög­lich, und so muß ich ihn mir warm hal­ten. Er hat einen Sprech­a­nis­mus, um den ich ihn be­nei­den könn­te, trotz­dem ich doch auch nicht in ei­nem Trap­pis­ten­klos­ter ge­bo­ren und groß ge­zo­gen bin. Aber ne­ben Vo­gel­sang? Null. Und kann auch nicht an­ders sein; denn bei Lich­te be­se­hen, hat der gan­ze Kerl nur drei Lie­der auf sei­nem Kas­ten und dreht eins nach dem an­dern von der Wal­ze her­un­ter, und wenn er da­mit fer­tig ist, fängt er wie­der an. So steht es mit ihm, und dar­in steckt sei­ne Macht, gut­ta ca­vat la­pi­dem;1 der alte Wi­li­bald Schmidt wür­de sich freu­en, wenn er mich so zi­tie­ren hör­te, vor­aus­ge­setzt, daß es rich­tig ist. Oder viel­leicht auch um­ge­kehrt; wenn drei Feh­ler drin sind, amü­siert er sich noch mehr; Ge­lehr­te sind nun mal so … Vo­gel­sang, das muß ich ihm las­sen, hat frei­lich noch ei­nes, was wich­ti­ger ist als das ewi­ge Wie­der­ho­len, er hat den Glau­ben an sich und ist über­haupt ein rich­ti­ger Fa­na­ti­ker. Ob es wohl mit al­lem Fa­na­tis­mus eben­so steht? Mir sehr wahr­schein­lich. Ein leid­lich ge­schei­tes In­di­vi­du­um kann ei­gent­lich gar nicht fa­na­tisch sein. Wer an einen Weg und eine Sa­che glaubt, ist al­le­mal ein Po­ver­et­to, und ist sei­ne Glau­bens­sa­che zu­gleich er selbst, so ist er ge­mein­ge­fähr­lich und ei­gent­lich reif für Dall­dorf. Und von sol­cher Be­schaf­fen­heit ist just der Mann, dem zu Ehren ich, wenn ich von Mr. Nel­son ab­se­he, heu­te mein Di­ner gebe und mir zwei ad­li­ge Fräu­leins ein­ge­la­den habe, blau­es Blut, das hier in der Köp­nicker­stra­ße so gut wie gar nicht vor­kommt und des­halb aus Ber­lin W. von mir ver­schrie­ben wer­den muß­te, ja zur Hälf­te so­gar aus Char­lot­ten­burg. O Vo­gel­sang! Ei­gent­lich ist mir der Kerl ein Greu­el. Aber was tut man nicht Al­les als Bür­ger und Pa­tri­ot.«

Und da­bei sah Trei­bel auf das zwi­schen den Knopflö­chern aus­ge­spann­te Kett­chen mit drei Or­den en mi­nia­ture, un­ter de­nen ein ru­mä­ni­scher der voll­gül­tigs­te war, und seufz­te, wäh­rend er zu­gleich auch lach­te. »Ru­mä­ni­en, frü­her Moldau und Wal­lachei. Es ist mir wirk­lich zu we­nig.«

*

Das ers­te Coupé, das vor­fuhr, war das sei­nes äl­tes­ten Soh­nes Otto, der sich selb­stän­dig eta­bliert und ganz am Aus­gan­ge der Köp­nicker­stra­ße, zwi­schen dem zur Pio­nier­ka­ser­ne ge­hö­ri­gen Pon­ton­haus und dem Schle­si­schen Tor, einen Holz­hof er­rich­tet hat­te, frei­lich von der hö­he­ren Ob­ser­vanz, denn es wa­ren Far­be­höl­zer, Fer­nam­buk- und Cam­pe­che­holz, mit de­nen er han­del­te. Seit etwa acht Jah­ren war er auch ver­hei­ra­tet. Im sel­ben Au­gen­bli­cke, wo der Wa­gen hielt, zeig­te er sich sei­ner jun­gen Frau beim Aus­s­tei­gen be­hilf­lich, bot ihr ver­bind­lich den Arm und schritt, nach Pas­sie­rung des Vor­gar­tens, auf die Freitrep­pe zu, die zu­nächst zu ei­nem ve­ran­da­ar­ti­gen Vor­bau der vä­ter­li­chen Vil­la hin­auf­führ­te. Der alte Kom­mer­zi­en­rat stand schon in der Glas­tür und emp­fing die Kin­der mit der ihm ei­ge­nen Jo­via­li­tät. Gleich dar­auf er­schi­en auch die Kom­mer­zi­en­rä­tin aus dem seit­wärts an­gren­zen­den und nur durch eine Por­tiè­re von dem großen Empfangs­saal ge­schie­de­nen Zim­mer und reich­te der Schwie­ger­toch­ter die Ba­cke, wäh­rend ihr Sohn Otto ihr die Hand küß­te. »Gut, daß Du kommst, He­le­ne«, sag­te sie mit ei­ner glück­li­chen Mi­schung von Be­hag­lich­keit und Iro­nie, worin sie, wenn sie woll­te, Meis­te­rin war. »Ich fürch­te­te schon, Du wür­dest Dich auch viel­leicht be­hin­dert se­hen.«

»Ach, Mama, ver­zeih' … Es war nicht bloß des Plätt­tags hal­ber; un­se­re Kö­chin hat zum ers­ten Juni ge­kün­digt, und wenn sie kein In­ter­es­se mehr ha­ben, so sind sie so un­zu­ver­läs­sig; und auf Eli­sa­beth ist nun schon gar kein Ver­laß mehr. Sie ist un­ge­schickt bis zur Un­schick­lich­keit und hält die Schüs­seln im­mer so dicht über den Schul­tern, be­son­ders der Her­ren, als ob sie sich aus­ru­hen woll­te …«

Die Kom­mer­zi­en­rä­tin lä­chel­te halb ver­söhnt, denn sie hör­te gern der­glei­chen.

»… Und auf­schie­ben«, fuhr He­le­ne fort, »ver­bot sich auch. Mr. Nel­son, wie Du weißt, reist schon mor­gen Abend wie­der. Üb­ri­gens ein char­man­ter jun­ger Mann, der Euch ge­fal­len wird. Et­was kurz und ein­sil­big, viel­leicht weil er nicht recht weiß, ob er sich deutsch oder eng­lisch aus­drücken soll; aber was er sagt, ist im­mer gut und hat ganz die Ge­setzt­heit und Wohl­er­zo­gen­heit, die die meis­ten Eng­län­der ha­ben. Und da­bei im­mer wie aus dem Ei ge­pellt. Ich habe nie sol­che Man­schet­ten ge­se­hen, und es be­drückt mich ge­ra­de­zu, wenn ich dann sehe, wo­mit sich mein ar­mer Otto be­hel­fen muß, bloß weil man die rich­ti­gen Kräf­te beim bes­ten Wil­len nicht ha­ben kann. Und so sau­ber wie die Man­schet­ten, so sau­ber ist al­les an ihm, ich mei­ne an Mr. Nel­son, auch sein Kopf und sein Haar. Wahr­schein­lich, daß er es mit Ho­ney-wa­ter bürs­tet, oder viel­leicht ist es auch bloß mit Hil­fe von Sham­pooing.«

Der so rühm­lich Ge­kenn­zeich­ne­te war der nächs­te, der am Gar­ten­git­ter er­schi­en und schon im Heran­kom­men die Kom­mer­zi­en­rä­tin ei­ni­ger­ma­ßen in Er­stau­nen setz­te. Die­se hat­te, nach der Schil­de­rung ih­rer Schwie­ger­toch­ter einen Aus­bund von Ele­ganz er­war­tet; statt des­sen kam ein Men­schen­kind da­her, an dem, mit Aus­nah­me der von der jun­gen Frau Trei­bel ge­rühm­ten Man­schet­ten­spe­zia­li­tät, ei­gent­lich al­les die Kri­tik her­aus­for­der­te. Den un­ge­bürs­te­ten Cy­lin­der im Na­cken und rei­se­mä­ßig in ei­nem gelb- und braun­qua­drier­ten An­zu­ge ste­ckend, stieg er, von links nach rechts sich wie­gend, die Freitrep­pe her­auf. und grüß­te mit der be­kann­ten hei­mat­li­chen Mi­schung von Selbst­be­wußt­sein und Ver­le­gen­heit. Otto ging ihm ent­ge­gen, um ihn sei­nen El­tern vor­zu­stel­len.

»Mr. Nel­son from Li­ver­pool, – der­sel­be, lie­ber Papa, mit dem ich …«

»Ah, Mr. Nel­son. Sehr er­freut. Mein Sohn spricht noch oft von sei­nen glück­li­chen Ta­gen in Li­ver­pool und von dem Aus­flu­ge, den er da­mals mit Ih­nen nach Dub­lin und, wenn ich nicht irre, auch nach Glas­gow mach­te. Das geht jetzt ins neun­te Jahr; Sie müs­sen da­mals noch sehr jung ge­we­sen sein.«

»O nicht sehr jung, Mr. Trei­bel, … a­bout six­teen …«

»Nun, ich däch­te doch, sech­zehn …«

»O, sech­zehn, nicht sehr jung, … nicht für uns.«

Die­se Ver­si­che­run­gen klan­gen um so ko­mi­scher, als Mr. Nel­son, auch jetzt noch, wie ein Jun­ge wirk­te. Zu wei­te­ren Be­trach­tun­gen dar­über war aber kei­ne Zeit, weil eben jetzt eine Drosch­ke zwei­ter Klas­se vor­fuhr, der ein lan­ger, ha­ge­rer Mann in Uni­form ent­stieg. Er schi­en Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem Kut­scher zu ha­ben, wäh­rend de­ren er üb­ri­gens eine be­nei­dens­wert si­che­re Hal­tung be­ob­ach­te­te, und nun rück­te er sich zu­recht und warf die Git­ter­tür ins Schloß. Er war in Helm und De­gen; aber ehe man noch der »Schil­der­häu­ser« auf sei­ner Ach­sel­klap­pe ge­wahr wer­den konn­te, stand es für je­den mit mi­li­tä­ri­schem Blick nur ei­ni­ger­ma­ßen Aus­ge­rüs­te­ten fest, daß er seit we­nigs­tens drei­ßig Jah­ren au­ßer Dienst sein müs­se. Denn die Gran­dez­za, mit der er da­her kam, war mehr die Steif­heit ei­nes al­ten, ir­gend ei­ner ganz sel­te­nen Sek­te zu­ge­hö­ri­gen Torf- oder Sal­z­in­spek­tors, als die gute Hal­tung ei­nes Of­fi­ziers. Al­les gab sich mehr oder we­ni­ger au­to­ma­ten­haft, und der in zwei ge­wir­bel­ten Spit­zen aus­lau­fen­de schwar­ze Schnurr­bart wirk­te nicht nur ge­färbt, was er na­tür­lich war, son­dern zu­gleich auch wie an­ge­klebt. Des­glei­chen der Hen­ri­qua­tre. Da­bei lag sein Un­ter­ge­sicht im Schat­ten zwei­er vor­sprin­gen­der Ba­cken­kno­chen. Mit der Ruhe, die sein gan­zes We­sen aus­zeich­ne­te, stieg er jetzt die Freitrep­pe hin­auf und schritt auf die Kom­mer­zi­en­rä­tin zu. »Sie ha­ben be­foh­len, mei­ne Gnä­digs­te …« »Hoch er­freut, Herr Lieu­ten­ant …« In­zwi­schen war auch der alte Trei­bel her­an­ge­tre­ten und sag­te: »Lie­ber Vo­gel­sang, er­lau­ben Sie mir, daß ich Sie mit den Herr­schaf­ten be­kannt ma­che; mei­nen Sohn Otto ken­nen Sie, aber nicht sei­ne Frau, mei­ne lie­be Schwie­ger­toch­ter, – Ham­bur­ge­rin, wie Sie leicht er­ken­nen wer­den … Und hier«, und da­bei schritt er auf Mr. Nel­son zu, der sich mit dem in­zwi­schen eben­falls er­schie­ne­nen Leo­pold Trei­bel ge­müt­lich und ohne jede Rück­sicht auf den Rest der Ge­sell­schaft un­ter­hielt, »und hier ein jun­ger lie­ber Freund un­se­res Hau­ses, Mr. Nel­son from Li­ver­pool.«

Vo­gel­sang zuck­te bei dem Wort »Nel­son« zu­sam­men und schi­en einen Au­gen­blick zu glau­ben – denn er konn­te die Furcht des Gef­oppt­wer­dens nie ganz los wer­den, – daß man sich einen Witz mit ihm er­lau­be. Die ru­hi­gen Mie­nen al­ler aber be­lehr­ten ihn bald ei­nes Bes­se­ren, wes­halb er sich ar­tig ver­beug­te und zu dem jun­gen Eng­län­der sag­te: »Nel­son. Ein großer Name. Sehr er­freut, Mr. Nel­son.«

Die­ser lach­te dem alt und auf­ge­steift vor ihm ste­hen­den Lieu­ten­ant ziem­lich un­ge­niert ins Ge­sicht, denn sol­che ko­mi­sche Per­son war ihm noch gar nicht vor­ge­kom­men. Daß er in sei­ner Art eben so ko­misch wirk­te, die­ser Grad der Er­kennt­nis lag ihm fern. Vo­gel­sang biß sich auf die Lip­pen und be­fes­tig­te sich, un­ter dem Ein­druck die­ser Be­geg­nung, in der lang ge­heg­ten Vor­stel­lung von der Im­per­ti­nenz eng­li­scher Na­ti­on. Im Üb­ri­gen war jetzt der Zeit­punkt da, wo das Ein­tref­fen im­mer neu­er An­kömm­lin­ge von je­der an­de­ren Be­trach­tung ab­zog und die Son­der­bar­kei­ten ei­nes Eng­län­ders rasch ver­ges­sen ließ.

Ei­ni­ge der be­freun­de­ten Fa­brik­be­sit­zer aus der Köp­nicker­stra­ße lös­ten in ih­ren Chai­sen mit nie­der­ge­schla­ge­nem Ver­deck die, wie es schi­en, noch im­mer sich be­sin­nen­de Vo­gel­sang'sche Drosch­ke rasch und bei­nah ge­walt­sam ab; dann kam Co­rin­na samt ih­rem Vet­ter Mar­cell Wed­der­kopp (bei­de zu Fuß) und schließ­lich fuhr Jo­hann, der Kom­mer­zi­en­rat Trei­bel'sche Kut­scher, vor, und dem mit blau­em At­las aus­ge­schla­ge­nen Lan­dau­er – der­sel­be, dar­in ges­tern die Kom­mer­zi­en­rä­tin ih­ren Be­such bei Co­rin­na ge­macht hat­te – ent­stie­gen zwei alte Da­men, die von Jo­hann mit ganz be­son­de­rem und bei­na­he über­rasch­li­chem Re­spekt be­han­delt wur­den. Er er­klär­te sich dies aber ein­fach dar­aus, daß Trei­bel, gleich bei Be­ginn die­ser ihm wich­ti­gen und jetzt etwa um drit­t­halb Jah­re zu­rück­lie­gen­den Be­kannt­schaft, zu sei­nem Kut­scher ge­sagt hat­te: »Jo­hann, ein für al­le­mal, die­sen Da­men ge­gen­über im­mer Hut in Hand. Das an­de­re, Du ver­stehst mich, ist mei­ne Sa­che.« Da­durch wa­ren die gu­ten Ma­nie­ren Jo­hanns au­ßer Fra­ge ge­stellt. Bei­den al­ten Da­men ging Trei­bel jetzt bis in die Mit­te des Vor­gar­tens ent­ge­gen, und nach leb­haf­ten Be­kom­pli­men­tie­run­gen,2 an de­nen auch die Kom­mer­zi­en­rä­tin teil­nahm, stieg man wie­der die Gar­ten­trep­pe hin­auf und trat, von der Ve­ran­da her, in den großen Empfangs­sa­lon ein, der bis da­hin, weil das schö­ne Wet­ter zum Ver­wei­len im Frei­en ein­lud, nur von we­ni­gen be­tre­ten wor­den war. Fast alle kann­ten sich von frü­he­ren Trei­bel'schen Di­ners her; nur Vo­gel­sang und Nel­son wa­ren Frem­de, was den par­ti­el­len Vor­stel­lungs­akt er­neu­er­te. »Darf ich Sie«, wand­te sich Trei­bel an die zu­letzt er­schie­ne­nen al­ten Da­men, »mit zwei Her­ren be­kannt ma­chen, die mir heu­te zum ers­ten Male die Ehre ih­res Be­su­ches ge­ben: Lieu­ten­ant Vo­gel­sang, Prä­si­dent un­se­res Wahl­ko­mités, und Mr. Nel­son from Li­ver­pool.« Man ver­neig­te sich ge­gen­sei­tig. Dann nahm Trei­bel Vo­gel­sang's Arm und flüs­ter­te die­sem, ihn ei­ni­ger­ma­ßen zu ori­en­tie­ren, zu: »Zwei Da­men vom Hofe, die kor­pu­len­te: Frau Ma­jo­rin von Zie­gen­hals, die nicht kor­pu­len­te (worin Sie mir zu­stim­men wer­den): Fräu­lein Ed­wi­ne von Bomst.«

»Merk­wür­dig«, sag­te Vo­gel­sang. »Ich wür­de, die Wahr­heit zu ge­ste­hen …«

»Eine Ver­tau­schung der Na­men für an­ge­zeigt ge­hal­ten ha­ben. Da tref­fen Sie's, Vo­gel­sang. Und es freut mich, daß Sie ein Auge für sol­che Din­ge ha­ben. Da be­zeugt sich das alte Lieu­ten­ants­blut. Ja, die­se Zie­gen­hals; einen Me­ter Brust­wei­te wird sie wohl ha­ben, und es las­sen sich al­ler­hand Be­trach­tun­gen dar­über an­stel­len, wer­den auch wohl sei­ner Zeit an­ge­stellt wor­den sein. Im Üb­ri­gen, es sind das so die scherz­haf­ten Wi­der­spie­le, die das Le­ben er­hei­tern. Klop­stock war Dich­ter, und ein an­de­rer, den ich noch per­sön­lich ge­kannt habe, hieß Grie­pen­kerl … Es trifft sich, daß uns bei­de Da­men er­sprieß­li­che Diens­te leis­ten kön­nen.«

»Wie das? wie so?«

»Die Zie­gen­hals ist eine rech­te Cou­si­ne von dem Zos­se­ner Lan­des­äl­tes­ten, und ein Bru­der der Bomst hat sich mit ei­ner Pas­tor­s­toch­ter aus der Stor­kower Ge­gend ehe­lich ver­mählt. Hal­be Me­sal­lian­ce, die wir igno­rie­ren müs­sen, weil wir Vor­teil dar­aus zie­hen. Man muß, wie Bis­marck, im­mer ein Dut­zend Ei­sen im Feu­er ha­ben … Ah, Gott sei Dank. Jo­hann hat den Rock ge­wech­selt und gibt das Zei­chen. Al­ler­höchs­te Zeit … Eine Vier­tel­stun­de war­ten, geht: aber zehn Mi­nu­ten dar­über ist zu viel … Ohne mich ängst­lich zu be­lau­schen, ich höre, wie der Hirsch nach Was­ser schreit. Bit­te, Vo­gel­sang, füh­ren Sie mei­ne Frau … Lie­be Co­rin­na, be­mäch­ti­gen Sie sich Nel­son's … Vic­to­ry and West­mins­ter-Ab­bey; das En­tern ist dies­mal an Ih­nen. Und nun mei­ne Da­men, … darf ich um Ihren Arm bit­ten, Frau Ma­jo­rin? … und um den Ihren, mein gnä­digs­tes Fräu­lein?«

Und die Zie­gen­hals am rech­ten, die Bomst am lin­ken Arm, ging er auf die Flü­gel­tür zu, die sich, wäh­rend die­ser sei­ner letz­ten Wor­te, mit ei­ner ge­wis­sen lang­sa­men Fei­er­lich­keit ge­öff­net hat­te.

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Drittes Kapitel