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»Das Tolle an ›Frauen, die Bärbel heißen‹ ist, dass es sowohl eine Geschichte über Freundschaft als auch ein Krimi mit ordentlich schwarzem Humor ist.« Katja Riemann »Bärbel Böttcher, diese ledige, melancholische und eigenbrötlerische Frauenfigur von Marie Reiners, nimmt mich mit auf eine skurrile zwerchfelltrainierende Lesereise. Genial überraschend! So wie Bärbels eben sind.« Bärbel Schäfer Bärbel Böttcher, 54, ledig, keine Kinder, von Beruf Tierpräparatorin, lebt mit ihrer Mischlingshündin Frieda im Haus ihrer toten Eltern abgelegen am Rand einer Kleinstadt. Sie hat weder Familie noch Freunde, und das ist gut so, denn Bärbel ist Eigenbrötlerin aus Überzeugung. Als sie eines Morgens mit Frieda spazieren geht, findet sie im Wald einen Toten, dem ein Stock im Auge steckt. Nachdem Bärbel wohl oder übel die Polizei verständigt und ihre Aussage gemacht hat, ist sie froh, wieder zu Haus auf dem Sofa zu sitzen und ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: Verkaufssendungen im Shoppingkanal schauen. Bis es an der Tür klingt. Was es sonst nie tut. Und vor Bärbel eine Frau steht, die behauptet, die Ehefrau des Opfers zu sein und die Bärbel im nächsten Moment wenig charmant mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt hat. Dass das erst der Anfang allerlei sich überschlagender Ereignisse war, wird Bärbel schnell klar. Denn alsbald hat sie eine verletzte Schauspieler-Gattin (die Frau des Toten im Wald) im Keller, einen schnüffelnden Lokalreporter im Garten und unwillkommene Scherereien am Hals. Vorbei ist es mit dem beschaulichen Einsiedlerdasein, und Bärbel bleibt nichts anderes übrig, als sich auf die neue Situation einzulassen. Was Erfahrungen wie Enthüllungen ungeahnten Ausmaßes nach sich ziehen wird ... Wer die Erfolgsserie »Mord mit Aussicht« mochte, wird auch an »Frauen, die Bärbel heißen« großen Spaß haben. Beides stammt aus der Feder von Drehbuchautorin Marie Reiners, ist skurril, frisch, voller Esprit, originell und manchmal ein bisschen böse.
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Seitenzahl: 344
Veröffentlichungsjahr: 2018
Marie Reiners
Roman
»Als ich an jenem Morgen mit meiner Mischlingshündin Frieda spazieren ging, lag es plötzlich da – das perfekte Stöckchen. Wenn ich sage, da lag das perfekte Stöckchen, ist das allerdings nicht ganz korrekt. Es steckte. Und zwar im Auge eines Mannes, der mausetot war. Mein erster Impuls war, das Stöckchen rauszuziehen und zu werfen. Doch bei näherer Überlegung argwöhnte ich, dass dieses Verhalten merkwürdig auf andere wirken könnte. Also griff ich trotz inneren Widerwillens statt zum Stöckchen zum Handy und rief die Polizei an. Nach zwei Stunden auf dem Kommissariat durfte ich endlich gehen. Auf dem Weg nach Hause wollte ich etwas Tatar vom Rind kaufen und es mir dann bei einer Tasse Milch und einer kleinen Mahlzeit vor dem Fernseher gemütlich machen. Ich hatte den Toten gemeldet, und niemand würde sich mehr für mich interessieren. Ich sollte mich irren.«Bärbel Böttcher, 54, Tierpräparatorin, ledig, früh verwaist, keine Kinder, Hundehalterin, Eigenbrötlerin aus Überzeugung, schaut am liebsten Shoppingsendungen, will ihre Ruhe, aber es kommt anders … »Kraftvoll, frisch, mit hohem Tempo und schön skurril.« Jörg Maurer
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Marie Reiners, aufgewachsen im niederrheinischen Mönchengladbach-Rheydt, deswegen per se intime Kennerin von Tristesse und Tragikomik, schrieb bereits während ihres Studiums fürs Fernsehen. Sie entwickelte Sitcomfolgen für »Lukas« mit Dirk Bach, schrieb Serienbücher u.a. für »Die Sitte«, »Die Rosenheimcops«, »Der Ermittler«, »Morden im Norden« und erfand die Krimiserie »Mord mit Aussicht«, die mehrfach ausgezeichnet wurde und 2014 die meistgesehene deutsche Fernsehserie war. »Frauen, die Bärbel heißen« ist ihr erster Roman. Marie Reiners lebt in der Eifel und in Köln.Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung und abbildung: bürosüd, München
ISBN 978-3-10-403782-0
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[Motti]
Als ich an jenem [...]
Als endlich die Polizei [...]
Meine Eltern waren rechtschaffene [...]
Nachdem ich fast zwei [...]
Als ich aus dem [...]
Zu Hause empfingen mich [...]
Ich schaute gerne fern. [...]
Das Klingeln an der [...]
Als Erstes schlug mir [...]
Als ich wieder zu [...]
Meine Hände befreite Bambi [...]
Ich erwachte im Morgengrauen [...]
Im Haus herrschte Stille. [...]
Möglich, dass ich zwischenzeitlich [...]
Ich schloss die Türe [...]
Mit ihren Autoschlüsseln in [...]
Da ich keinerlei gesellschaftlichen [...]
Endlich fand ich den [...]
Als ich drei Stunden [...]
Am nächsten Morgen erwachte [...]
Danach ging ich mit [...]
Mich derart intensiv in [...]
Als ich hinunter in [...]
Die Male, an denen [...]
Mutter hatte den Klang [...]
Weil ich so vertieft [...]
Ich erkannte ihn sofort [...]
Ich begann zu weinen.
Bambis Frage war allerdings [...]
Es wurde allmählich voll [...]
Als anderthalb Kilo Rippchen [...]
Eine Stunde später lud [...]
Da war es wieder, [...]
Um mir weitere, noch [...]
Mit ihren Sachen über [...]
Bambi saß nackt auf [...]
Eine halbe Stunde später [...]
Ihre Anweisungen waren klar [...]
Ich hatte noch nie [...]
Nun stand ich also [...]
Draußen war es stockdunkel. [...]
Karin Wolter-Eppenhagens Vater Heinz – [...]
Als wir den dunklen [...]
Ich wusste nicht, ob [...]
Frieda und ich traten [...]
Ich versuchte, mich zu [...]
Als ich die Augen [...]
Ich war froh, dass [...]
Mit zwei großen Tüten [...]
Ich hatte mein Gulasch [...]
Zum ersten Mal in [...]
Es ging auf beiden [...]
Der zweite Abend in [...]
Diesmal machte ich mir [...]
2. Februar 1975
Es dauerte eine Weile, [...]
Zwei Stunden später, in [...]
16.2.1979
Ich schlug das Heft [...]
Am nächsten Morgen wachte [...]
Als ich mich endlich [...]
Wir standen im Bad [...]
Wir waren mitten in [...]
Ich reagierte schnell, aber [...]
»Also? Ist sie da [...]
In der Küche begann [...]
Wir hatten also unsere [...]
Ich sprang spontan auf [...]
Ich war so erleichtert, [...]
Ich besaß seit langem [...]
Über dem vielen Grübeln [...]
Sie kriegte sich gar [...]
Mit dem Knall schien [...]
Das war natürlich Unsinn.
Ich hockte auf dem [...]
Es regnete in Strömen, [...]
Die Scheibenwischer kamen kaum [...]
Wir waren am Bahnhof [...]
So oder so ähnlich [...]
An der Raststätte war [...]
Mit jedem Kilometer wurde [...]
Dank
»Wahre Freiheit hat man erst, wenn man mit dem Sex durch ist.«
Andy Warhol
»Wenn man acht langhaarige Katzen zusammenknotet, hat man noch lange keinen Perserteppich!«
Ingeborg Reiners
Als ich an jenem Morgen mit meiner Mischlingshündin Frieda spazieren ging, lag es plötzlich da – das perfekte Stöckchen. Um wirklich perfekt geworfen werden zu können, muss ein Stöckchen mehrere Bedingungen erfüllen: Es sollte nicht länger als circa siebzig Zentimeter sein, nicht mehr als maximal drei Zentimeter Durchmesser haben und aus festem, schwerem, nicht zu faserigem Holz sein, damit man sich keine Splitter einzieht. Ahorn zum Beispiel eignet sich hervorragend.
Wenn ich sage, da lag das perfekte Stöckchen, ist das allerdings nicht ganz korrekt. Es steckte. Und zwar im linken Auge eines auch im Liegen hochgewachsen wirkenden Mannes, der mausetot war. Um sicher zu sein, stupste ich ihm leicht mit dem Fuß in die Seite. Nichts. Klarer Fall. Tot.
Mein erster Impuls war, die gallertartige Umrandung des Stöckchens zu ignorieren, es rauszuziehen und trotzdem zu werfen. Doch bei näherer Überlegung argwöhnte ich, dass dieses Verhalten merkwürdig auf andere wirken könnte. Immerhin lag hier eine menschliche Leiche. Übrigens die erste, die ich und Frieda hier bisher zu Gesicht bekommen hatten.
Also griff ich trotz Friedas erwartungsvollen Wedelns und meines eigenen inneren Widerwillens statt zum Stöckchen zum Handy und rief die Polizei an. Man bat mich zu warten und versprach, baldmöglichst zu kommen.
Ich betrachtete den toten Mann und stellte fest, dass es sich um ein MAMIL handelte. Wie Sie sicher wissen, ist MAMIL das Akronym für »middle aged men in lycra«, zu Deutsch »mittelalte Männer in Lycra«, die besonders im Frühjahr und Sommer in Scharen auftreten. Dieses Exemplar war überaus farbenprächtig, alle Schattierungen des Regenbogens waren auf seinem hautengen Rennradtrikot versammelt. Er sah freilich so aus, als hätte er das Radfahren nur als Wochenendsport betrieben, wenn ich sein kleines Bäuchlein und die dünnen Wadenbeine richtig deutete. Sein Rad, das ein paar Meter weiter im Wald lag, wirkte teuer, desgleichen der silberne Helm, der sicher auch einem Astronauten gut zu Gesicht gestanden hätte.
Ich wartete eine geschlagene Viertelstunde auf die Beamten. In der Zwischenzeit suchte ich im Unterholz nach einem Ersatzstöckchen für Frieda, aber keines erschien mir so ideal wie das im Auge des fremden Herrn steckende. Immerhin – ich fand im größeren Umkreis zwei augenscheinlich vor langer Zeit benutzte Kondome (aber die warf ich natürlich nicht!), einige vergilbte Zigarettenkippen und wiederum ganz in der Nähe der Leiche ein zartes silbernes Kettchen mit einem Anhänger in Form eines geschwungenen Vs, das mir aber nicht gefiel. Ich mag keinen Schmuck, schon gar nicht so einen filigranen Firlefanz, weswegen ich den hässlichen Halsschmuck weiter weg ins Dickicht trug und dort sorgfältig mit dem Fuß verscharrte.
Als endlich die Polizei eintraf, war es mit der Waldesruhe vorbei. Mir wurden alle möglichen Fragen gestellt, die mir noch nie jemand gestellt hatte – wann genau ich die Leiche gefunden hätte, ob ich irgendwen in der Nähe gesehen hätte, ob ich den Mann berührt hätte. Ich schnappte Gesprächsfetzen der Spurensicherungsbeamten auf, die der Meinung waren, mein Hund hätte den Tatort kontaminiert. So ein Unfug! Frieda war doch kein Bullmastiff, sondern nur ein mittelgroßer, braunbeige gescheckter Hund, sie war einfach nur herumgelaufen, das war ja wohl ihr gutes Recht. Vorsichtshalber erwähnte ich nicht, dass sie kurz das Gesicht des Mannes abgeleckt hatte, weil ich ahnte, dass auch das auf Missbilligung stoßen würde. Allerdings konnte ich mir nicht verkneifen, den ermittelnden Kommissar zu fragen, ob nach Abschluss ihrer Untersuchungen eine Chance bestünde, das Stöckchen bei der Polizei abzuholen. Er schaute mich mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck an und verneinte unnötig barsch meine höfliche Bitte. Dann wies er mich an, ihn aufs Kommissariat zu begleiten.
Dort ging die lästige Fragerei prompt weiter. Ich bereute jetzt schon heftig, dass ich das MAMIL nicht einfach liegen gelassen, sondern die Polizei angerufen hatte. Ich musste meine Personalien angeben, Bärbel Böttcher, 54, ledig, keine Kinder. Als er mich nach meinem Beruf fragte und ich ihm antwortete, dass ich arbeitssuchende Dermoplastikerin sei, wusste er wie die meisten nicht, was das ist. Schade, dass sich das Bildungsniveau auch bei Beamten im Sinkflug befand. Ich klärte ihn auf – ich stopfte Tiere aus. Früher hatte ich das lange Jahre freiberuflich für eine Firma gemacht, die hauptsächlich Jäger als Kunden hatte, nun machte ich es meist nur noch zu meinem eigenen Vergnügen. Wenn wir so durch den Wald streiften, fanden Frieda oder ich manchmal ein frisches totes Tier, das mich förmlich anzuflehen schien, es zu konservieren und damit unsterblich zu machen. Dann nahm ich es mit und präparierte es für seine neue Existenz.
In meinem Haus wohnten mittlerweile ganze Scharen von einheimischen Kleintieren, es waren auch Hunde und Katzen darunter, deren Abenteuerlust der Straßenverkehr ein Ende gesetzt hatte. Es war so ein friedvoller Anblick, wenn Frieda zwischen ihren früheren Artgenossen schlief, denn man konnte mit bloßem Auge nicht sofort unterscheiden, welches Tier noch in dieser Welt weilte und welches schon in seine konservierte Ewigkeit hinübergegangen war. Als hätte man dem Tod seinen Stachel genommen. Aber ich schweife ab, das passiert mir oft, wie Sie noch merken werden.
Es war klar, dass der Kommissar – Herr Lichtblau war sein Name – mich unsympathisch fand. Damit war er in guter Gesellschaft, das war ich gewohnt. Viele Leute lehnten mich ab – manche fanden, dass ich sonderbar roch, aber das blieb bei meinem Beruf nun mal nicht aus, andere stießen sich an meiner spröden Art. Ich hatte mich damit arrangiert, eine Einzelgängerin zu sein. Das war ich schon als Kind.
Meine Eltern waren rechtschaffene Leute, die schon ziemlich alt waren, als ich zur Welt kam. Sie behandelten mich wie einen eigentlich unerwünschten Besuch, dem man aber aus Höflichkeit nicht sagt, dass er besser wieder gehen sollte. Sie zelebrierten diese Täuschung geduldig und recht geschickt, dennoch war das Gefühl, nicht willkommen, sondern nur geduldet zu sein, für mich stets präsent. Schlussendlich gingen sie, und ich blieb. Ich war vierzehn, als sie sich an einem lichtdurchfluteten, warmen Oktobertag einfach so in unser in der fensterlosen Garage befindliches Familienauto setzten und durch einen Schlauch Kohlenmonoxid ins Innere des Autos leiteten, bis sie – kirschrot im Gesicht, sonst war ihr Teint eher fahl gewesen – ihren letzten röchelnden Atemzug taten. So stellte ich mir das jedenfalls vor, ich war ja nicht dabei gewesen.
Da stand ich nun! Obwohl ich keine Erfahrung mit elterlichem Selbstmord hatte, war mir klar, dass die Behörden mich nun vermutlich ins Heim schicken würden, denn mit vierzehn war ich nach vorherrschender öffentlicher Meinung noch nicht alt genug, um auf mich selbst aufzupassen. Ich ahnte, was mich im Heim erwarten würde – ich hatte ja schon in der Schule Probleme mit meinen Klassenkameraden, das würde in einem Heim, wo ich tagein, tagaus anwesend sein müsste, sicher nicht besser werden.
Ich überlegte und entschied, dass vielleicht niemand sofort erfahren musste, was meine Eltern mir angetan hatten mit ihrem Entschluss, diese Welt zu verlassen.
Mein Vater hatte mir einmal in einer seiner seltenen Anwandlungen von väterlicher Zuwendung gezeigt, wie man ein Auto bedient. Da unseres zudem über ein Automatikgetriebe verfügte und ich also die Grundbegriffe des Fahrens kannte, beschloss ich, das Auto mit meinen toten Eltern darin von unserem Grundstück wegzufahren. Ganz bei uns in der Nähe gab es ein morastiges, völlig verwildertes Waldstück mit einem kleinen Tümpel in der Mitte, das so zugewachsen war, dass ich dort noch nie Jäger oder Spaziergänger gesehen hatte. Ich hatte es irgendwann mal beim Herumstreifen durch den Wald entdeckt und rechnete mir gute Chancen aus, dass dort in nächster Zeit niemand meine Eltern finden würde.
In der Zwischenzeit könnte ich erst mal so tun, als seien meine Eltern verreist. Ich musste nur ihre Koffer packen und nach außen hin so wirken, als sei alles in bester Ordnung. Gott sei Dank waren meine Eltern ebenso wenig wie ich gesellige Typen gewesen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass jemals jemand zu uns zu Besuch gekommen wäre. Manchmal kam der Briefträger vorbei, aber der war es gewohnt, dass er meine Eltern nie zu Gesicht bekam. Wurde tatsächlich mal alle Jubeljahre ein Päckchen geliefert, nahm immer ich es an.
Fast wäre dieser spontane Plan an dem nahezu undurchdringlichen Dickicht gescheitert, durch welches ich den großen Honda fahren musste, um ihn im Tümpel zu versenken. Aber nach drei Tagen harter Arbeit mit der Laubsäge und anderem Werkzeug meines Vaters hatte ich es geschafft. Es waren trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit drei sehr heiße Tage – die Stechmücken machten mich wahnsinnig, und auch meinen Eltern bekam die Hitze nicht.
In der Schule hatte ich angegeben, dass ich einen grippalen Infekt hätte, und eine schriftliche Entschuldigung meiner Mutter geschickt. Sie hatte eine sehr akkurate Handschrift, die leicht nachzumachen war.
Es war ein großartiges Gefühl, als der alte Honda mit meinen Eltern und ihren Koffern endlich langsam in das faulige, grünbraun schillernde Wasser rollte, bis nur noch das Heck herausschaute. Ich wusste um den weichen, schlammigen Untergrund des Gewässers, das sie, wie ich hoffte, mit der Zeit ganz verschlucken würde. Ich blieb noch ein wenig da, um sicherzugehen, und siehe da, nach drei Stunden war nur noch ein winziges Stück der Stoßstange sichtbar. Die kleinen Bläschen im schlickigen Wasser, die beim Einsinken entstanden, platzten nach kurzer Zeit immer aufs Neue mit einem leisen, schmatzenden Geräusch. Dieses kaum hörbare, aber dennoch satte Ploppen vermittelte mir eine Ahnung von Sicherheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Endlich verstand ich den Sinn eines Gedichts, das ich irgendwann mal in der Schule auswendig lernen musste – und jedem Abschied wohnt ein Zauber inne. Oder so ähnlich.
Nachdem ich noch die freigesägte Stelle mit Totholz aufgefüllt hatte und endlich wieder im Haus war, sank ich erschöpft auf dem Sofa zusammen und schlief fast zwanzig Stunden. Als ich aufwachte, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, wirklich zu Hause zu sein. Niemand war mehr da, der mir subtil vermittelte zu stören. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Was ich dann auch die nächsten vier Jahrzehnte tat. Ich ging einigermaßen regelmäßig in die Schule – übrigens außer den notwendigen Einkäufen mein einziger Kontakt zur Außenwelt –, streute das Gerücht, dass es aufgrund des fortgeschrittenen Alters meiner Eltern mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten stehe, rief aber mit verstellter Stimme die Schulsekretärin an, wenn ich es für nötig befand, den Anschein zu erwecken, dass sie meine schulische Laufbahn verfolgten. Zudem kümmerte ich mich um alle behördlichen Dinge, indem ich auch die Schrift meines Vaters nachahmte, und hatte im Großen und Ganzen meine Ruhe. Mir kam zugute, dass mein Vater ein sehr sparsamer Mann gewesen war, der Bankinstituten grundsätzlich misstraute und deshalb alles Geld und auch erkleckliche andere Vermögenswerte zu Hause aufbewahrte.
Als ich endlich volljährig war, schrieb ich den Brief, von dem ich gewünscht hätte, sie hätten ihn mir tatsächlich hinterlassen, und ging damit zur Polizei. Ich behauptete, meine Eltern seien aus einem dreiwöchigen Urlaub in den Alpen nicht wieder zurückgekehrt und ich hätte auf der Suche nach einer Erklärung dafür schließlich dieses Schriftstück im Schreibtisch meines Vaters vorgefunden, an mich adressiert. Ich hatte lange an dem Schreiben gefeilt, und die Beamtin, die den Brief las, schaute mich nach der Lektüre mitleidig an, bevor sie aufstand und mich in den Arm nehmen wollte. Ich machte mich so steif wie möglich, was sie auf meine Trauer schob. Der Inhalt besagte, dass meine Eltern beschlossen hätten, nicht mehr zurückzukehren, und deutete ihren geplanten Selbstmord an. Ich hatte mich als Alleinerbin eingesetzt – es gab ja auch keine weiteren Familienangehörigen – und am Schluss noch mal beteuert, dass sie diese Entscheidung lange und sorgsam überlegt hätten, mich liebten, haha, und mir für mein weiteres Leben alles Gute wünschten. Natürlich gab es Nachforschungen, aber nachdem sie mehrere Jahre als vermisst galten, bekam ich schließlich die amtliche Bestätigung, dass man sie für tot erklärt hatte.
Das war vielleicht einer der glücklichsten Momente meines Lebens.
Nachdem ich fast zwei Stunden im Büro von Kommissar Lichtblau festgehalten worden war, durfte ich endlich gehen. Immerhin hatte man mir zwischendurch belegte Brote und Kaffee angeboten, es war ja früher Morgen gewesen, als ich das Stöckchen fand, und man konnte davon ausgehen, dass ich noch nichts gegessen hatte. Mein Hinweis, dass ich keinen Käse mochte und nur Fleisch aß, wurde allerdings ignoriert, so dass ich auf das fragwürdige Frühstück dankend verzichtete. Außerdem konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie unruhig Frieda mittlerweile sein musste, sie kannte es ja nicht, mit jemand anderem als mit mir zusammen zu sein. Zu meiner Verwunderung machte Frieda, die so lange in die Obhut einer jungen Polizistin gegeben worden war, aber einen durchaus entspannten Eindruck. An den Resten in dem improvisierten Hundenapf – ein schmuddeliger Plastikbehälter, der offenbar mal griechischen Salat enthalten hatte, denn es klebte noch ein kleiner schwarzer Olivenstein am Rand – konnte ich erkennen, dass sie das Käsebrot, das man zunächst mir offeriert hatte, nicht verschmäht hatte. Ich mochte es nicht, wenn ein Fremder meinen Hund fütterte, das machte ich der jungen Frau unmissverständlich klar, obwohl mir bewusst war, dass sie sowieso nicht die Gelegenheit haben würde, ihren Fehler zu wiederholen.
Man bot mir sogar an, mich nach Hause zu fahren, aber ich lehnte ab. Ein bisschen Laufen hatte noch niemandem geschadet. Ich nahm mir vor, auf dem Weg nach Hause in der Metzgerei vorbeizuschauen, etwas Tatar vom Rind zu kaufen und es mir dann bei einer Tasse Milch und einer kleinen Mahlzeit gemütlich zu machen.
Kommissar Lichtblau hatte sich an mir die Zähne ausgebissen. Außer den Tatsachen, die sowieso offenkundig waren, hatte er nichts weiter erfahren. Mir doch egal, wenn er der Meinung war, ich sei seltsam. Mit dem MAMIL konnte er mich nicht in Verbindung bringen, und mir war auch völlig gleichgültig, warum der Radler tot im Wald gelegen hatte. Schlussendlich konnte ich sogar den Verlust des perfekten Stöckchens verschmerzen – es war vermutlich am anderen Ende ziemlich spitz gewesen, und das wiederum hätte beim Werfen ein gewisses Risiko mit sich bringen können. Bei meiner Arbeit war es gefährlich, Verletzungen an den Händen zu haben, es hätte Leichengift in die Wunde gelangen können, und jeder wusste, was das für schreckliche Folgen haben konnte. Wie hatte meine Mutter immer gesagt – kein Ding ist so schlecht, als dass es nicht auch eine gute Seite hätte. Meine gute Seite hatte sie allerdings niemals entdeckt, und wenn doch, darüber geschwiegen.
Als ich aus dem Kommissariat trat, war es fast Mittag. Der Himmel war perlgrau, die Sonne wirkte sonderbar verwaschen, wie durch blindes Fensterglas scheinend. Am Nachmittag sollte es ein Gewitter geben, hatte der Wetterfrosch im Radio gesagt, aber jetzt würde ich noch trockenen Fußes nach Hause kommen, wenn ich mich etwas beeilte.
Ich war kaum zwanzig Schritte weit gekommen, als mich ein junger Mann ansprach. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, obwohl sein Haar schon schütter war, was er durch eine höchst alberne Art, die Haare zu frisieren, zu verbergen versuchte. Der Seitenscheitel saß genau über seinem linken Ohr, und er hatte sich an dieser Seite die Haare so lang wachsen lassen, dass er sie bis zum anderen Ohr rüberkämmen konnte. Ich hatte mal gelesen, dass man diese Frisur als Overcomb bezeichnete. Dieser Makel hielt ihn aber überhaupt nicht davon ab, mir gegenüber höchst selbstbewusst, ja, ich möchte sagen, dreist aufzutreten.
Frieda wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Sie war Fremden gegenüber sehr aufgeschlossen; vermutlich erhoffte sie sich von ihnen Streicheleinheiten oder Leckereien. Oft wünschte ich mir, sie wäre etwas reservierter oder sogar offensiv ablehnend. Aber andererseits eckte man mit einem bissigen Hund auch leicht an, und das versuchte ich stets zu vermeiden. Dennoch – ich überlegte ernsthaft, Friedas Schwanz bis zur Wurzel zu kupieren, damit nicht jeder sofort sah, dass mein Hund völlig ungefährlich war. Trotz ihres wild wackelnden Hinterteils, für dessen Beweglichkeit jede Salsatänzerin wahrscheinlich gemordet hätte, hielt der Fremde Abstand zu ihr; anscheinend lagen ihm Hunde nicht.
Ich brauchte ein bisschen, bis ich begriff, was der junge Mann mit dem einbetoniert scheinenden Grinsen eigentlich von mir wollte. Ich war nicht gewohnt, dass mich Männer auf offener Straße ansprachen, und dachte zunächst, er täte dies aus irgendeiner seltsamen sexuellen Motivation heraus. Dabei kleidete ich mich niemals aufreizend, sondern trug immer lange Hosen und hochgeschlossene Blusen, selbst im Sommer, und signalisierte auch sonst meines Wissens nicht, dass ich ein erotisches Interesse an meiner Umwelt haben könnte. Auch mein Äußeres war nicht besonders auffällig – ich war eher klein, hatte glattes, dunkles, an den Schläfen allmählich ergrauendes Haar, war stämmig gebaut und verfügte über so gut wie keine Brüste. Sex interessierte mich nicht; die paar Male, bei denen ich mich als gerade Volljährige mit Männern eingelassen hatte, um mich nicht völlig unbeliebt zu machen, hatten mich zu der Erkenntnis gebracht, dass der allerorts so beliebte und sagenumwobene Geschlechtsverkehr nichts weiter als eine klebrige und seltsam riechende Angelegenheit war, auf die ich gut verzichten konnte.
Aber um körperliche Interessen ging es dem jungen Mann zu meiner Erleichterung auch nicht; es stellte sich heraus, dass er Lokalreporter war, und da er illegal den Polizeifunk abhörte, hatte er Wind von dem Leichenfund bekommen.
Er hatte vor dem Revier gewartet, und als er mich herauskommen sah, richtig vermutet, ich könne eine Zeugin sein.
Da mir niemand gesagt hatte, dass ich über meinen Fund Stillschweigen bewahren müsse, und ich keinen anderen Weg sah, den Mann wieder loszuwerden – schließlich wollte ich nicht nass werden, der Himmel zog sich schneller zu, als ich es für möglich gehalten hätte –, sagte ich ihm das wenige, das ich wusste. Seiner Miene war zu entnehmen, dass ich für ihn ein Glücksfall war, aber ich gedachte nicht, mich noch länger mit ihm zu unterhalten. Ich war allerdings nicht schnell genug, ihn davon abzuhalten, ein Foto von mir und Frieda zu schießen. Gott, wie ich diese Handykameras hasse. Früher war ein Foto eine große Sache; man brauchte eine richtige Kamera und überlegte dann auch gut, ob man Abzüge machen lassen würde, denn schließlich kostete das auch eine Kleinigkeit. Heute knipste alle Welt wie von Sinnen alles, was da war – digitaler Müll, wenn Sie mich fragen.
Während ich nun meine Schritte eilig nach Hause lenkte – ich hatte noch diverse Portionen Tatar in der Tiefkühltruhe, davon würde ich eine auftauen und auf meinen Metzgereibesuch verzichten –, tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass die Polizei vermutlich sowieso eine Pressekonferenz abhalten würde und sich dann niemand mehr für mich interessierte.
Ich sollte mich irren.
Zu Hause empfingen mich meine ausgestopften Tiere mit ihrem üblichen Gesichtsausdruck der Resignation. So gut ich als Dermoplastikerin auch war, es wollte mir einfach nicht gelingen, so etwas wie Freude oder Erwartung in die tierischen Gesichter zu legen. Andererseits war das vielleicht auch eine nicht realisierbare Aufgabe – Tiere verfügen über wesentlich weniger Gesichtsmuskeln als der Mensch, so dass ihre Mimik naturgemäß eingeschränkter ist. Allerdings war Frieda in ihrem lebendigen Zustand durchaus in der Lage, freudig zu wirken; wieso schaffte ich das also nicht bei ihren toten Freunden? Immer und immer wieder hatte ich es versucht, und ich kann Ihnen sagen, dass solch ein ständiger Misserfolg sehr frustrierend ist. Ich war sogar einmal so weit gegangen, mit Nähmaschinenmotor, Batterie, Kugelgelenk und diversen Drähten den Schwanz eines toten Hundes so zu konstruieren, dass er wedeln konnte. Trotzdem wirkte es ziemlich unnatürlich, wie ich mir eingestehen musste.
Doch jetzt wollte ich mich nicht weiter mit negativen Gedanken belasten. Es war ein anstrengender Morgen gewesen, ich hatte etwas Ruhe nötig. In meiner Werkstatt im Keller lag noch ein toter Fuchs, den ich vorgestern gefunden hatte. Ich hatte ihn nicht eingefroren, weil ich eigentlich sofort mit der Arbeit an ihm beginnen wollte. Und jetzt wurde es wirklich höchste Zeit.
Nach einigen Stunden friedvollen Arbeitens am Kadaver des Wildtiers, der bereits erste Verwesungsmerkmale aufwies, aber noch verwendbar war, bekam ich Appetit. Jetzt eine schöne Tasse heiße Milch mit einem Schuss Anislikör und dazu mein Tatar, das schien mir eine verlockende Aussicht zu sein. Der Leichenfund vom Morgen und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten schienen bereits in weiter Ferne zu liegen.
Ich machte es mir also mit einem Tablett im Wohnzimmer vor dem Fernseher bequem.
Ich schaute gerne fern. Fast all mein Wissen über die gegenwärtige Welt bezog ich aus dieser Quelle. So hatte ich erst unlängst eine Sendung geschaut, in der es um das Radfahren als Massensport ging, weswegen ich den toten Mann auch so rasch hatte als MAMIL identifizieren können. Aber am liebsten mochte ich die Verkaufskanäle. Ich konnte stundenlang zuschauen, wenn sich ältere Männer mit bunten Messern blitzschnell durch Dutzende von Zwiebeln hackten oder ältere Frauen an noch älteren und oft übergewichtigen Geschlechtsgenossinnen rumzupften, um beispielsweise die Vorteile eines Strick-Büstenhalters, einer waschmaschinenfesten Komplettpaillettierung oder einer Apparatur zur Entfernung von überflüssigen Haaren zu demonstrieren. Nicht, dass ich je so einen Unfug gekauft hätte. Aber mich erfüllte klammheimliche Freude, wenn mir so plastisch vor Augen geführt wurde, wie dumm die Menschen waren und wie gut ich daran tat, nicht an ihrem wuseligen haarigen Leben teilzunehmen. Diesmal allerdings wurde nur ein Bastelset beworben, und wie ich dem aufgeregten Gezwitscher des eindeutig homosexuellen Moderators entnahm, konnte man mit den vorgestellten Karten individuelle Grußbotschaften herstellen.
Wenn mich etwas nicht interessierte, dann individuelle Grußbotschaften. Oder überhaupt Grußbotschaften. Ich beschloss spontan, den Kanal zu wechseln. Und kniff irritiert kurz die Augen zu, als ich plötzlich mich im Fernseher sah. Ja, wirklich mich – eine Verwechslung schien ausgeschlossen. Jedenfalls sah die Frau aus wie ich und trug genau die Kleidungsstücke, die ich noch immer anhatte, lange graue Hosen und eine kurzärmelige, bis oben zugeknöpfte rotkarierte Bluse. Da ich das trotzdem nicht glauben konnte, ging ich kurz zum großen Dielenspiegel und betrachtete mich, nur um ganz sicherzugehen, dass das wirklich ich war.
Als ich zurückkam, wurden bereits andere Bilder gezeigt. Diesmal von einem Mann, der mir vage bekannt vorkam, aber ich brauchte eine Weile, bis mir klarwurde, dass es der Mann mit dem Stöckchen im Auge war. Eigentlich brachte mich Frieda auf diesen Gedanken – sie bellte nämlich kurz auf, als sie den Fremden sah. Und da erinnerte ich mich wieder, wie sie sein Gesicht abgeleckt hatte. Ja gut; hätte ich das gemacht, wäre mir die Ähnlichkeit vermutlich auch gleich aufgefallen, da musste sich Frieda also gar nichts drauf einbilden, dachte ich. Im Fernsehen trug der Mann einen Anzug und Schuhe und sah viel wichtiger aus als in seiner bunten Lycra-Pelle. Ein bisschen wie diese Politiker, die man ständig in der Werbung sah, wenn Wahljahr war, und auch sonst viel zu oft. Aber die Stimme im Fernseher behauptete, er sei ein bekannter Schauspieler. Ansgar Wonnemuth, so hieß er angeblich, und er war der Hauptdarsteller in der bereits seit achtzehn Jahren laufenden ZDF-Serie »Alles außer Austern«. Darin, erfuhr ich jetzt, verkörperte er einen Tierarzt, der so gut wie keine leidende Kreatur nach Hause schicken mochte, auch wenn eine Heilung fast aussichtslos schien. Der Titel der Serie sollte vermutlich nahelegen, dass kranke Austern weniger Glück bei ihm hatten, und das wiederum war wohl humorvoll gemeint. Wer’s mag, dachte ich.
Sosehr ich Tiere schätzte – so was guckte ich nicht, schon wegen des ganzen gefühligen Geschwätzes. Und weil man sich im Fernseher jetzt fragte, wer wohl Wonnemuths Mörder sei und was das Opfer getrieben haben mochte, um irgendwann tot in einem einsamen Waldgebiet zu liegen, schaltete ich wieder um. Keine Sekunde zu spät, denn jetzt war Gott sei Dank die Grußkartenwerbung vorbei, und es wurden Putzschwämme vorgestellt, die wahre Wunder vollbringen sollten. Der stiere Blick, den der ebenfalls homosexuelle Moderator beim anschaulichen Wischen mit den Schwämmen aufgesetzt hatte, erinnerte mich vage an die Mimik meiner drei »Liebhaber«, die mich damals, vor so vielen Jahren, bestiegen hatten. Waren sie vielleicht auch gleichgeschlechtlich veranlagt und deshalb so desinteressiert an mir gewesen? Das würde ich wohl nicht mehr klären können, aber es kümmerte mich auch nicht sonderlich. Ich nahm einen langen Schluck aus meiner Milchtasse und einen großen Happen vom noch immer eiskalten Tatar, schob das Kissen ein wenig tiefer in meinen Rücken und machte mich auf zwei Stunden Schwämme gefasst. Ja, so konnte man es aushalten.
Das Klingeln an der Haustür war ein dermaßen seltenes Geräusch, dass ich zunächst annahm, der rote Schwamm, der gerade gezeigt wurde, wäre die Quelle des schrillen Geläuts. So viel, wie der konnte, hätte es mich nicht gewundert. Andererseits – warum sollten Schwämme klingeln? Eine Frage, die mich noch beschäftigte, als ich schon auf dem Weg zur Haustür war, vor der Frieda bereits laut bellend wartete.
Ich schaute durch den Spion. Draußen stand eine junge, reichlich aufgetakelte Frau. Ich hoffte, dass sie wieder weggehen würde, schließlich kannte ich sie nicht. Aber darauf nahm sie keine Rücksicht – immer und immer wieder klingelte sie, und jetzt behauptete sie auch noch durch die Tür, sie wisse, dass jemand zu Hause sei. Ja, natürlich konnte sie Frieda hören, aber Hunde machten bekanntlich selten Türen auf. Doch dann rief sie, sie habe mich durch den Spion gesehen und ich solle unverzüglich aufmachen. Irgendwie erinnerte mich ihre herrische Aufforderung an meine Mutter. Die gab auch den lieben langen Tag Befehle, meistens meinem Vater, aber fast genauso häufig auch mir. Und da ich eine gehorsame Tochter war, folgte ich stets automatisch, ohne mir Gedanken über den Sinn zu machen. Demzufolge öffnete ich zu meiner eigenen Überraschung tatsächlich die Tür.
Als Erstes schlug mir ihr Geruch entgegen. Süßlicher Blumenduft – vielleicht Rose oder Jasmin – mit einer Kopfnote Moschus. Manchmal riecht totes, aber noch frisches Rotwild so. Überhaupt hatte sie viel von einem Reh, das sah ich jetzt. Sie war schlank, ihre Haare waren mittelbraun mit einem kupfrigen Schimmer, und sie hatte riesige braune Augen, die noch größer wirkten, weil sie an beiden Augen am oberen Lidrand einen samtbraunen Strich aufgetragen hatte. Ich fragte mich, ob wohl hinten auf ihrem engen beigen Rock eine weiße Blume prangen würde, aber das würde ich niemals feststellen können, weil ich nicht die Absicht hatte, sie hineinzubitten, nur um sie von hinten zu sehen. Ich schaute sie ablehnend an.
»Frau Böttcher?«, fragte sie zaghaft.
Offenbar hatte sich ihre Autorität mit der Aufforderung, die Tür zu öffnen, vollständig verbraucht. Auf ihre Frage antwortete ich nicht – schließlich wohnte ich alleine, also wer bitte, wenn nicht Frau Böttcher sollte ich sonst wohl sein?
»Ich bin Valerie Wonnemuth«, sagte sie und streckte mir eine schmale, gepflegte Hand entgegen.
Ich musterte sie weiter, ohne mich zu rühren oder etwas zu sagen. Im Hintergrund hörte ich, dass jetzt die gelben genoppten Schwämme dran waren. So ein Scheibenkleister, ich hätte wirklich zu gern gewusst, welche Wunder die vollbringen konnten, stattdessen stand ich in der Haustür und musste mich mit einem menschlichem Bambi abgeben, dem meine Frieda winselnd und wedelnd um die hohen Schuhe strich, anstatt es wegzujagen oder wenigstens zu verbellen. Die großen braunen Augen wurden feucht.
»Sie haben heute Morgen meinen Mann gefunden«, wisperte sie und erwartete klar erkennbar endlich eine Reaktion von mir.
Ich durchforstete meinen Kopf nach einer angemessenen Erwiderung, aber mir wollte nichts einfallen, deswegen beschränkte ich mich auf ein Nicken.
»Bitte«, kam es flehend vom Bambi. »Die Polizei hat mir bislang so gut wie nichts erzählt. Aber Sie können mir doch sicher sagen, unter welchen Umständen mein Mann …?«
Sie ließ das Wort »Mann« einfach so in meinen Hausflur wehen und verstummte. Ob sie wohl wieder verschwinden würde, wenn ich ihr erzählte, was sich zugetragen hatte? Immerhin hatte ich bereits sowohl diesem Kommissar als auch dem Reporter mit der albernen Frisur die Geschichte erzählt, und von Letzterem hatte sie wahrscheinlich auch meinen Namen erfahren und dann meine Adresse nachgeschlagen.
»Er lag tot im Wald und hatte ein Stöckchen im Auge«, sagte ich spröde. Und weil ich nicht ganz so kurz angebunden wirken wollte, ergänzte ich: »Ein ganz tolles Stöckchen, ideal für meine Frieda zum Werfen, ich hoffe, die Polizei überlässt es mir, wenn sie es aus der Leiche rausgezogen und untersucht haben. Herzliches Beileid.«
Letzteres war mir noch gerade so eingefallen, das sagten die Leute doch, wenn jemand gestorben war, und ich war stolz, dass ich die Geistesgegenwart besessen hatte, diese Floskel noch anzuhängen. Aber mehr hatte ich jetzt wirklich nicht mitzuteilen, also schloss ich die Tür wieder. Beziehungsweise wollte ich sie schließen, aber die Frau stellte jetzt doch tatsächlich ihren hochhackigen wildledernen Schuh in meinen Türspalt!
»Darf ich vielleicht ganz kurz hereinkommen?«, säuselte sie freundlich, musterte mich dabei allerdings mit einem merkwürdig abschätzenden Blick.
Nein, auf gar keinen Fall durfte sie das, das wäre ja noch schöner, und genau das sagte ich ihr auch in aller Deutlichkeit, während sie plötzlich in ihrer beigen Handtasche wühlte, den Fuß aber in der Tür ließ. Wollte sie etwa jemanden anrufen, der ihr zur Hilfe eilen sollte, oder was suchte sie in ihrer Tasche? Das Ding, das sie schließlich herauszog, sah tatsächlich aus wie ein sehr altes Handy, aber obwohl meines bereits auch schon über sieben Jahre alt war, wusste ich doch, dass die neuen Mobilfunkgeräte viel kleiner waren als das klobige schwarze Teil, das sie mir jetzt entgegenhielt. Oder nein – sie hielt es mir gar nicht entgegen, sondern führte es mit einer schnellen, gänzlich unerwarteten Bewegung an meinen nackten Oberarm. Mir fiel noch auf, dass ihre Augen plötzlich trotz der samtbraunen Striche ganz schmal geworden waren und …
Meine Welt explodierte. Mein ganzes Ich war nur noch Schmerz und Zittern und Schwärze und Krampf. Das Letzte, was ich hörte, war Friedas hohes Fiepen, das sie nur dann ausstieß, wenn sie Angst bekam.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden des Hausflurs. Die Haustür war geschlossen. Frieda saß neben mir und leckte mein Gesicht. Als sie sah, dass meine Augen offen waren, hörte sie auf. Sie wusste genau, dass ich es nicht mochte, abgeleckt zu werden, noch nicht mal von ihr. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Gliedmaßen gehorchten mir nicht, außerdem hatte ich schlimme Schmerzen in den Muskeln. Was war geschehen? Das, was ich normalerweise am meisten an Tieren schätzte, nämlich, dass sie nicht sprechen konnten, war jetzt von Nachteil. Frieda hätte mir sicher sagen können, was in der Zwischenzeit passiert war.
Ich horchte. Und hörte neben der Schwammwerbung Poltern aus meiner Werkstatt unten im Keller. War diese Frau etwa in mein Haus eingedrungen? Aber warum? Was wollte sie von mir?
Ich wurde so wütend wie selten in meinem Leben. Wenn diese Frau sich einbildete, einfach so hier einbrechen zu können, dann hatte sie sich getäuscht. Ich schaute auf meinen Arm. Dort, wo mich das seltsame Ding berührt hatte, registrierte ich kleine dunkelrote Flecken, die wie Brandmale aussahen, ganz ähnlich den Stigmata, die vornehmlich mit Marienerscheinungen einhergingen, glaubte man der Presse und den Katholiken.
Mit der mir eigenen Selbstdisziplin rappelte ich mich mühsam hoch und versuchte, die Krämpfe, die immer noch anfallsartig meinen Körper malträtierten, zu ignorieren. Schließlich gelang es mir, mich aufzurichten und einige wankende Schritte Richtung Keller zu tun. Wie lange war ich überhaupt ohnmächtig gewesen?
Aus dem Wohnzimmer drang dumpf die Stimme des Moderators, der sich mittlerweile über orangefarbene Schwämme ausließ. Zehnmal zehn Zentimeter, mit zwei unterschiedlichen Oberflächen. Ideal für Küche und Bad, aber auch fürs Auto. Das sagte mir jetzt wenig über die Zeit, die vergangen war. Auf jeden Fall aber weniger als zwei Stunden, denn sonst wären schon die Steppschuhe mit Luftsohlen dran gewesen, ich hatte den Programmhinweis auf die nächste Sendung gesehen.
Ich hielt inne, als ich federleichte Schritte auf der Kellertreppe hörte, die näher kamen, und richtig, da erschien auch schon Bambi im Rahmen der Kellertür. Aber sie hatte sich verändert. Alles Weiche, Zarte, Anmutige war aus ihrem Gesicht verschwunden, jetzt war es bleich mit eckigen Kanten und roten Flecken. Ich war nicht sicher, ob das durch den Besuch in meiner Werkstatt kam, deren Anblick nichts für schwache Mägen war, oder aber durch meinen unverhofften Anblick, denn vielleicht hatte sie ja nicht damit gerechnet, dass ich so bald wieder aufstehen würde. Ich sah sofort, dass sie in der rechten Hand immer noch dieses Ding hielt, das mir solche Schmerzen zugefügt hatte und es vermutlich wieder tun könnte. Also rührte ich mich nicht und schaute sie nur an.
»Man hat mir bei der Polizei gesagt, dass Sie verrückt sind, aber dass Sie derartig irrsinnig sind, war mir nicht klar«, waren die leisen Worte, die sie zu mir sagte, bevor sie mit ihren raschen Bambischritten auf mich zueilte und wieder das Ding an meinen Arm hielt. Ich versuchte zwar, sie abzuwehren, aber ich hatte die Kontrolle über meinen Körper immer noch nicht vollständig wiedergewonnen, und sie war schnell und behände.
Als ich zum zweiten Mal aufwachte, saß ich auf meiner Couch, und meine Hände und Füße waren mit dem festen Garn, mit dem ich normalerweise Tierhäute zunähte, festgebunden. Die Schmerzen rasten nur so durch meinen Körper, noch schlimmer als beim ersten Mal, und ich konnte zunächst kaum etwas sehen, weil mir meine Augenlider nicht gehorchten. Minuten vergingen, bis ich wieder meine Umgebung erkennen konnte. Ich stellte fest, dass ich mich erbrochen hatte. Ein Brei aus Milch und Tatar klebte auf meiner guten karierten Bluse, und das, was auf dem Boden gelandet war, schlappte gerade Frieda auf. Frieda schätzte rohes Fleisch fast so sehr wie ich, bekam es aber nur selten von mir, ich hatte noch nie gerne geteilt.
Sie saß vor mir auf dem niedrigen gekachelten Couchtisch, den mein Vater vor vielen Jahren im Versandhandel bestellt hatte, weil er nicht gerne in Geschäfte ging. Als der Tisch dann schließlich geliefert wurde, waren meine Eltern enttäuscht; so hatten sie sich ihn nicht vorgestellt, sie hatten auf mehr Holz und weniger Kacheln spekuliert. Aber mit den Jahren gewöhnten sie sich an ihn – mehr als an mich, musste ich ehrlicherweise zugeben. Manchmal war ich fast eifersüchtig auf diesen Tisch gewesen, konnte mich aber nach ihrem Weggang trotzdem nicht entschließen, einen neuen zu kaufen. Vielleicht auch, weil ich ebenso ungern wie mein Vater in einen Laden ging, und wie sehr man sich bei Versandhausbestellungen vertun kann, hatte ich ja damals miterlebt.
Ein gepresstes Keuchen drang aus dem schmalen Brustkasten meines Gegenübers, wie wenn ein Kitz, von einem Hund gehetzt, sich endlich in trügerische Sicherheit gebracht hat und verschnauft. Ich entnahm ihrem Atmen, dass es wohl sehr anstrengend für sie gewesen war, mich von der Diele ins Wohnzimmer zu schleifen und hier zu positionieren. Ich hatte sie definitiv unterschätzt! Ich war nämlich wie erwähnt kein Leichtgewicht, ich würde sogar denken, dass ich beträchtlich schwerer war als sie, auch wenn sie größer war als ich. Da ich in meiner gegenwärtigen Situation sowieso nichts anderes tun konnte, als schweigend dazusitzen, tat ich genau dies, darauf wartend, dass sie wieder das Gespräch eröffnen würde. Doch sie sagte zunächst nichts, und so saßen wir beide eine Weile stumm da. Frieda hatte mittlerweile den Linoleumboden blitzblank geleckt und sprang nun neben mich auf die Couch, um auch meine Bluse abzuschlecken. Erstaunlicherweise hatte meine dumme Hündin begriffen, dass ich sie nicht daran hindern können würde, weil ich gefesselt war. Das würde später auf jeden Fall noch Konsequenzen haben, diesmal war ihr Schwanz wirklich fällig, nahm ich mir vor.
Als sich die Atmung der Frau endlich beruhigt hatte, schaute sie mich an. Ihr Blick wirkte ebenso angewidert wie hart.
»Wo ist sie?«, fragte sie mit schneidender, hoher Stimme. Wovon um alles in der Welt redete sie? Offenbar sprach mein ahnungsloser Gesichtsausdruck Bände, denn sie fügte unaufgefordert hinzu: »Die Kette? Die silberne Kette?«
Ein erneuter Krampf zuckte jäh durch meinen Körper, der mir aber immerhin Zeit gab, über ihre Frage nachzudenken. Silberne Kette? Meinte sie etwa das geschmacklose kleine Ding, das ich in der Nähe des toten Mannes gefunden und danach ein paar Dutzend Meter weiter wieder sorgfältig verscharrt hatte? Das war jedenfalls die einzige silberne Kette, die ich in letzter Zeit gesehen hatte.
Der Krampf ebbte langsam ab, aber ich entschied, dass ich durchaus noch ein paar Sekunden weiter so tun könnte, als hielte er an. Woher wusste sie, dass eine Kette im näheren Umfeld der Leiche gelegen hatte? Sollte sie etwa ihr