Frauen, die Geschichte schrieben - Irma Hildebrandt - E-Book

Frauen, die Geschichte schrieben E-Book

Irma Hildebrandt

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Beschreibung

Dreißig Frauen aus vier Jahrhunderten, dreißig lebendige Geschichten, die unter die Haut gehen Malerinnen und Literatinnen, Kämpferinnen für den Frieden und für wissenschaftlichen Fortschritt: Irma Hildebrandt befreit all diese Frauen aus ihrem Schattendasein. Die Rede ist von Gutle Rothschild, der Stammmutter der gleichnamigen Bankdynastie, von Kaiserin Maria Theresia, von der hochbegabten Mathematikerin Mileva Einstein-Maric, die hohen Anteil am Physik-Nobelpreis ihres Ex-Mannes Albert Einstein hatte, von Claire Waldoff, der berühmtesten Chanson-Sängerin aus dem Berlin der zwanziger Jahre und vielen anderen mehr. Die Orte der Handlung sind die großen Metropolen Europas, darunter Wien, Zürich und Berlin.

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Seitenzahl: 485

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Inhaltsverzeichnis

VorwortKapitel 1 - Ruhm und Glanz um welchen Preis?Frauen und die Musik
Fanny Mendelssohn (1805–1847)Clara Schumann (1819–1896)Claire Waldoff (1884–1957)
Kapitel 2 - Die Blauen ReiterinnenFrauen und die Malerei
Marianne von Werefkin (1860–1938) - Gabriele Münter (1877–1962)
Kapitel 3 - Neues wagenFrauen und die Wissenschaft
Maria Sibylla Merian (1647–1717)Henriette Goldschmidt (1825–1920)Mileva Einstein-Marić (1875–1948)Anna Freud (1895–1982)
Kapitel 4 - Freiheit, Gleichheit, MenschlichkeitFrauen und die Politik
Maria Theresia (1717–1780) - Marie Christine (1742–1798)Lola Montez (1818–1861)Lina Morgenstern (1830–1909)Annette Kolb (1870–1967)
Kapitel 5 - Verbannt den Hanswurst von der Bühne!Frauen und das Theater
Caroline Neuber (1697–1760)Therese Giehse (1898–1975) - Erika Mann (1905–1969)Helene Weigel (1900–1971)
Kapitel 6 - Ums Überleben schreibenFrauen und die Literatur
Rahel Varnhagen (1771–1833)Bettine von Arnim (1785–1859)Else Lasker-Schüler (1869–1945)Hilde Spiel (1911–1990)
Kapitel 7 - Ich stelle mein Licht nicht unter den ScheffelFrauen und die Literatur
Katharina Elisabeth Goethe (1731–1808)Gudula Rothschild (1753–1849)
Kapitel 8 - Ich will wirken in dieser ZeitFrauen und ihre Söhne
Bertha von Suttner (1843–1914) - Adelheid Popp (1869–1939)Käthe Kollwitz (1867–1945)Grete Weil (1906–1999) - Sophie Scholl (1921–1943)Anne Frank (1929–1945)
BildnachweisCopyright

Vorwort

Geschichte – das zeigt jedes Geschichtsbuch und jedes Lexikon – wird von Männern geschrieben. Frauen kommen als Randfiguren oder im Umfeld berühmter Männer vor, obwohl sie zu allen Zeiten eigenständige Leistungen aufzuweisen hatten. Leistungen, die unter erschwerten Bedingungen erbracht wurden: schlechte Bildungschancen, eingeschränkte Berufsmöglichkeiten, Abhängigkeit vom Elternhaus oder Ehepartner, gesundheitliche Risiken durch häufige Schwangerschaften, fehlende Anerkennung in der Öffentlichkeit – der Gründe ließen sich noch viele nennen.

Besonders schwer hatten es Frauen in der Musik. Nicht als Interpretinnen – die Chansonsängerin Claire Waldoff begeisterte in den ›Goldenen Zwanzigern‹ das Publikum weit über Berlin hinaus –, aber als Dirigentinnen und Komponistinnen. Clara Schumann wurde als Wunderkind und Klaviervirtuosin gefeiert; als Komponistin stand sie im Schatten ihres Mannes Robert Schumann, wie Fanny Mendelssohn im Schatten ihres Bruders Felix stand, ohne dies allerdings als diskriminierend zu empfinden.

In der Malerei gelang immer wieder einzelnen Künstlerinnen der Durchbruch, so zu Beginn des 20. Jahrhunderts den ›Blauen Reiterinnen‹ Marianne von Werefkin und Gabriele Münter, die sich mit eigenwilligen Sehweisen und Maltechniken neben ihren stark prägenden Partnern Alexej von Jawlensky und Wassily Kandinsky in der Münchner Künstlergruppe ›Der Blaue Reiter‹ zu behaupten vermochten.

Auch Maria Sibylla Merian aus der berühmten Kupferstecherfamilie Merian hat sich mit farbenfrohen Blumen- und Schmetterlingsbildern aus Surinam einen eigenen Namen gemacht und mit ihrer Erforschung tropischer Insekten überdies schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts ihre wissenschaftliche Befähigung erwiesen. Die Erkenntnis, daß nur eine fundierte Bildung und Ausbildung Frauen zu selbständigen Leistungen befähigt, veranlaßte die Sozialpädagogin Henriette Goldschmidt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Leipzig nicht nur Kindergärten, sondern auch eine Frauenhochschule aufzubauen. Um diese Zeit begann Anna Freud mit dem Studium der von ihrem Vater Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse. Sie war später in Wien und London erfolgreich als Kindertherapeutin tätig. Weniger Anerkennung für ihre wissenschaftlichen Leistungen erhielt die Mathematikerin Mileva Einstein-Marić, Kommilitonin und spätere Ehefrau Albert Einsteins, der ihr und den Kindern zwar die Geldsumme des Nobelpreises überließ, ihre Mitarbeit an der Grundlagenforschung zur Relativitätstheorie aber nicht würdigte.

Nicht nur Geschichte, sondern Weltgeschichte schrieb Kaiserin Maria Theresia, die 1740, mit 23 Jahren, Herrscherin über das riesige Habsburgerreich wurde, sich mit mächtigen Gegnern wie dem Preußenkönig Friedrich II. herumschlagen mußte und nebenher 16 Kinder zur Welt brachte. Ihre Lieblingstochter Marie Christine zeigte weniger politische denn künstlerische Neigungen. Sie legte mit ihrem Gemahl Prinz Albert von Sachsen den Grundstein für die bedeutende Wiener Grafiksammlung ›Albertina‹. Auf unrühmlichere Weise schrieb die angeblich aus spanischem Adel stammende Tänzerin Lola Montez Geschichte. Sie verdrehte dem alternden Bayernkönig Ludwig I. so den Kopf, daß das empörte Volk 1848 ihre Ausweisung verlangte und der König abdankte. Während Lola Montez Geld verpraßte, kratzte Lina Morgenstern, die legendäre ›Suppenlina‹ in Berlin, jeden Pfennig zusammen, um für Bedürftige Suppenküchen einrichten zu können und die medizinische Versorgung für Verwundete aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zu gewährleisten. Für ein Ende der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich setzte sich die große Europäerin Annette Kolb schon vor dem Ersten Weltkrieg ein, nach dem Zweiten Weltkrieg dann für eine deutschisraelische Versöhnung – eine mutige Vorkämpferin für Völkerverständigung.

Kämpferisch gaben sich Frauen auch auf der Bühne: Erika Mann, Thomas Manns Älteste, und die gefeierte Charakterdarstellerin Therese Giehse, die mit der ›Pfeffermühle‹, ihrem scharfzüngigen politischen Kabarett in Zürich, allabendlich für Saalschlachten mit schweizerischen NS-Anhängern sorgten. Oder Brechts Frau Helene Weigel, die als überzeugende Mutter Courage den Marketenderinnenkarren über Europas Bühnen zog. Schon im 18. Jahrhundert hatte eine Frau Theatergeschichte geschrieben: Caroline Neuber, die als Prinzipalin einer Wandertruppe den volkstümlich derben Possenreißer, den ›Hanswurst‹, von der Bühne verbannte.

Auch Bettine von Arnim, geborene Brentano, provozierte mit ihren Sozialanklagen und ihrem Einsatz für Verfemte die Obrigkeit und König Friedrich Wilhelm IV. – gleichzeitig führte sie im Berliner Dachstubensalon der Rahel Varnhagen geistreiche Gespräche mit berühmten Zeitgenossen. Die Goethe-Verehrerin pflegte auch Kontakte zu dessen Mutter Katharina Elisabeth Goethe, die nur zu gerne über ihren geliebten ›Hätschelhans‹ berichtete und sich berichten ließ. Provozierender noch als Bettine von Arnims unkonventionelles Verhalten waren ein Jahrhundert später die Bürgerschreckauftritte der großen Lyrikerin Else Lasker-Schüler, eine aus dem Deutschen Reich Vertriebene wie die Wiener Literatin Hilde Spiel, wie die Münchner Schriftstellerin Grete Weil – beschämende jüdische Emigrantenschicksale. Von diesen Diskriminierungen ahnte Gudula Rothschild noch nichts, als sie mehr als ein Jahrhundert zuvor ihre fünf Söhne mit der Ermahnung zu Sparsamkeit und Gottesfurcht in die Metropolen Europas entließ und damit das Fundament des Rothschildschen Bankimperiums legte.

»Ich will wirken in dieser Zeit« – ein Ausspruch der politisch engagierten und friedensbewegten Künstlerin Käthe Kollwitz, der auch von Bertha von Suttner, der ersten Friedensnobelpreisträgerin, oder von Adelheid Popp, der Fürsprecherin österreichischer Arbeiterinnen, stammen könnte. »Wirken in dieser Zeit« – die junge Widerstandskämpferin Sophie Scholl bezahlte ihren Einsatz mit dem Leben. Aber ihre mutige Tat wirkt fort, beispielhaft für die heutige junge Generation, wie auch der Überlebenswillen des Mädchens Anne Frank, das im KZ Bergen-Belsen umgekommen ist und das als Vermächtnis ein Tagebuch hinterlassen hat mit der Eintragung: »Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein!«

Kapitel 1

Ruhm und Glanz um welchen Preis?

Frauen und die Musik

Ist Komponieren Männersache?

Fanny Mendelssohn

1805–1847

Im Großen Brockhaus (1971) ist dem Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy eine ganze Spalte gewidmet, samt Bild und Werkverzeichnis. Die ebenfalls komponierende Schwester Fanny wird nur in einem Nebensatz als »musikalisch begabt« und Gattin des märkischen Malers Wilhelm Hensel erwähnt. Kein Wort von ihren Kompositionen, einem immerhin beachtlichen Œuvre, kein Wort auch davon, daß Bruder Felix sechs ihrer Lieder seinem eigenen Werk einverleibte. Meyers Konversationslexikon von 1895 war da schon gerechter und registriert Fanny als »begabte Komponistin, deren Arbeiten teils unter ihres Bruders, teils (nach ihrem Tode) unter ihrem eigenen Namen erschienen sind«. Auch auf ihr »Trio für Klavier, Violine und Violoncell« wird hingewiesen. Während die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz die Komponistin mit einer Ausstellung zum 125. Todestag ehrte, ist sie in der umfassenden, seit 1947 erscheinenden Enzyklopädie »Die Musik in Geschichte und Gegenwart« gar nicht vertreten. – Reichte ihre musikalische Begabung doch nicht aus, sie an der Seite ihres Bruders unter die namhaften Komponisten einzureihen? Hätten dann aber die von ihr komponierten, von Felix unter op. 8 und op. 9 vereinnahmten Lieder nicht durch geringere Qualität herausstechen müssen? – Es bleiben Fragen.

Eva Weissweiler, die Fannys aufschlußreiche Briefe und ihr »Italienisches Tagebuch« herausgebracht hat, glaubt, den Grund für Fannys geringen Bekanntheitsgrad – neben der allgemein üblichen Unterschätzung weiblicher Komponisten – bei der Familie Mendelssohn-Bartholdy auszumachen: Eine professionelle Komponistin im Hause hätte dem als Wunderkind geltenden Felix den Rang ablaufen können, es mußte deshalb alles vermieden werden, was seinen Ruhm beeinträchtigte. Außerdem hatten die Mendelssohns schon einmal Ärger mit einem unbotmäßig emanzipatorischen Frauenzimmer gehabt, mit Dorothea Mendelssohn, die ihren Mann verließ, um Friedrich Schlegel zu heiraten, und mit ihm auch noch zum katholischen Glauben übertrat.

Felix Mendelssohn selbst hat das Komponieren seiner Schwester in keiner Weise gefördert, ja, alles darangesetzt, ihr den Weg in die Öffentlichkeit zu verbauen. Das beeinträchtigte aber das herzliche, geradezu innige Verhältnis der Geschwister nicht, in das auch die jüngere Schwester Rebecka und der Bruder Paul einbezogen wurden. Von klein auf erlebten sie diese enge, nach außen abgeschirmte Familiengemeinschaft, die begünstigt wurde durch den Entschluß der Eltern, die Geschwister statt in einer allgemeinen Schule zu Hause durch ausgesuchte Privatlehrer unterrichten zu lassen. So erhielten Fanny und der vier Jahre jüngere Felix nicht nur eine sorgfältige musikalische Früherziehung, sondern auch eine fundierte Unterweisung in Mathematik und Sprachen, in Zeichnen und Tanz, wie dies in jüdischliberalen Häusern üblich war.

Daß der Vater Abraham Mendelssohn, der sein Hamburger Bankhaus unter der Napoleonischen Besatzung hatte aufgeben müssen und mit seiner Familie nach Berlin übergesiedelt war, seine vier Kinder 1816 in der Neuen Kirche evangelisch taufen ließ, geschah wohl mehr, um ihnen eine erfolgreiche Zukunft nicht zu verbauen. Hieß es doch in einem Votum des preußischen Finanzministeriums aus demselben Jahr: »Der Übertritt der Juden zur christlichen Religion muß erleichtert werden, und mit dem sind alle staatsbürgerlichen Rechte verknüpft. Solange der Jude aber Jude bleibt, kann er keine Stellung im Staate einnehmen.« – Sechs Jahre später trat auch der Vater zum Christentum über und nahm den Familiennamen Bartholdy an – ein Schritt, den die Kinder später als opportunistisch auslegten und der ausgeprägt jüdischen Familientradition nicht würdig fanden. Mutter Lea war eine Enkelin Daniel Itzigs, des Bankiers Friedrichs des Großen, und gleichzeitig Oberlandesältesten der preußischen Juden. Nicht weniger imponierend der Großvater väterlicherseits, der Philosoph und Kaufmann Moses Mendelssohn, ein Freund Lessings und der Toleranz, dessen Haus Treffpunkt der Berliner Künstler und Intellektuellen war.

Mit diesen Vorbildern vor Augen wuchsen die Kinder auf. Fanny und Felix erhielten gemeinsam Klavierunterricht bei Ludwig Berger, einem strengen Lehrmeister, der ihnen so viel abforderte, daß für Spiel und Zerstreuung keine Zeit blieb. Alle vier Geschwister sangen außerdem in der Chorschule der Berliner Singakademie mit, hier wurde Fannys Liebe zur Musik Bachs und Händels geweckt. Komposition lernten Fanny und Felix bei Carl Friedrich Zelter, dem Brieffreund Goethes, der allerdings nur ein mäßiger Pädagoge war. So beklagte denn Fanny später immer wieder ihre mangelhafte kompositorische Ausbildung. Während die Eltern in Bruder Felix alle Hoffnungen setzten und er sich bei besten Lehrern auch im Ausland weiterbilden konnte, nützten ihr die »Bachschen Fugenfinger«, die der Mutter früh auffielen, wenig. Daß sie die meisten Beethoven-Sonaten und Bachschen Klavierwerke auswendig spielte und im Alter von zwölf Jahren das ganze »Wohltemperierte Klavier« beherrschte, zählte nicht. Sie war ein Mädchen und sollte sich nach dem Willen des Vaters zu ihrem »eigentlichen Beruf, zum einzigen Beruf eines Weibes, zur Hausfrau bilden«. Nicht daß Vater Abraham ihr das Klavierspiel und auch das Komponieren verboten hätte, aber es durfte stets »nur eine Zierde, niemals Grundbaß« ihres Tuns sein.

Für Fanny aber, die schon mit vierzehn ihr erstes Lied komponiert hat, ist die Musik mehr als eine Zierde. Immer weitere Lieder entstehen nach Texten klassischer und romantischer Autoren – Goethe bedankt sich bei »dem lieben Kinde« für ein vertontes Gedicht mit den Versen »Wenn ich mir in stiller Seele/ Singe leise Lieder vor...«. Die junge Komponistin wagt sich nun auch an Stücke für Violine und Violoncello, zwei Klaviersonaten und ein Klavierquartett. Den wachsenden Erfolg ihres Bruders nimmt sie stolz und ohne Neid zur Kenntnis, kopiert zu Hause seine Noten, während er auf Konzerttournee ist, und berichtet ihm in langen Briefen nach Paris oder London von Familienalltag und Freizeitvergnügen  – wozu auch das Baden in der Spree gehört –, vom Musikleben Berlins und den von ihr eingerichteten »Sonntagsmusiken«. Sie finden im elterlichen Haus, dem Palais von der Recke in der Leipziger Straße 3, statt. Fanny spielt Zeitgenössisches, das sie nicht selten als matt und lahm empfindet und »im Durchspielen fast verschimmelte«, aber dann erholt sie sich bei den Motetten ihres geliebten Meisters. Sie kenne keinen eindringlicheren Prediger als den alten Bach, schreibt sie, »wenn er so in einer Arie die Kanzel besteigt und sein Thema nicht eher wieder verläßt, bis er seine Gemeinde durch und durch erschüttert oder erbaut und überzeugt hat«. Schon 1829 hatte sie sich zu der Wiederentdeckung und Aufführung der Matthäus-Passion durch ihren Bruder begeistert geäußert: »Wie alle Sänger schon von den ersten Proben ergriffen waren und mit ganzer Seele an das Werk gingen, wie sich die Liebe und Lust bei jeder Probe steigerte und wie jedes neu hinzutretende Element, Sologesang, dann Orchester, immer von Neuem entzückte und erstaunte, wie herrlich Felix einstudierte und die Proben von einem Ende zum Andern auswendig akkompagnierte, das sind lauter unvergeßliche Momente.«

Trotz ihrer grenzenlosen Bewunderung für den Bruder entwickelt Fanny auch ein waches und zunehmend kritischeres Bewußtsein für die Schwachstellen seiner Kompositionen. Sie lebt in seinen Werken wie in ihren eigenen; so schreibt sie ihm am 17.2.1835 nach Düsseldorf, sie fände in seinen kleinen geistlichen Musiken eine Art von Gewohnheit, die sie »nicht gern Manier nennen möchte«, etwas Übereinfaches, aber nicht Natürliches. Im selben Brief mißt sie ihre eigene Kompositionstätigkeit mit nüchterner Selbsterkenntnis an der des Bruders: »Ich habe nachgedacht, wie ich eigentlich gar nicht excentrische oder hypersentimentale Person zu der weichlichen Schreibart komme? Ich glaube, es kommt daher, daß wir gerade mit Beethovens letzter Zeit jung waren, u. dessen Art u. Weise, wie billig, sehr in uns aufgenommen haben, u. die ist doch gar zu rührend u. eindringlich. Du hast das durchgelebt u. durchgeschrieben, u. ich bin drin stecken geblieben, aber ohne die Kraft, durch die Weichheit allein bestehn kann u. soll ... Es ist nicht sowohl die Schreibart, an der es fehlt, als ein gewisses Lebensprinzip, u. diesem Mangel zufolge sterben meine längern Sachen in ihrer Jugend an Altersschwäche, es fehlt mir die Kraft, die Gedanken gehörig festzuhalten, ihnen die nötige Consistenz zu geben. Daher gelingen mir am besten Lieder, wozu nur allenfalls ein hübscher Einfall ohne viel Kraft der Durchführung gehört.«

Nicht mangelnde Begabung zeigt sich in dieser selbstkritischen Beobachtung und dem Bekenntnis zur »kleinen Form«, sondern Unerfahrenheit und Unsicherheit. Typisch ein Schreiben Fannys an einen Freund und Musikverleger, der sie um eine Komposition gebeten hatte: »Hierbei erfolgt das Musikstück ... Verzeihen und rügen Sie alle darin vorkommenden weiblichen u. dilettantischen Pferdefüße, ein Dilettant ist schon ein schreckliches Geschöpf, ein weiblicher Autor ein noch schrecklicheres, wenn aber Beides sich in einer Person vereinige, wird natürlich das allerschrecklichste Wesen entstehn.« – Eine Demut, die fast schon kokett klingt, wenn man Umfang und Vielseitigkeit Fannys bisheriger Kompositionen betrachtet, die aber verständlich wird, wenn man bedenkt, wie wenig davon publiziert werden konnte. Erst kurz vor ihrem Tod gelingt es Fanny, einen Teil ihrer Lieder beim Berliner Musikverlag Bote & Bock zu veröffentlichen. Und wie leicht hätte sich Felix, inzwischen Leiter des Gewandhauses und des Konservatoriums in Leipzig, für sie einsetzen können!

Sie nimmt ihm die Zurückhaltung nicht übel. Sie nimmt ihm nichts übel, liebt ihn, so wie er ist, von Kindheit an, und daran ändert ihre Ehe mit dem zum königlichen Hofmaler avancierten Künstler Wilhelm Hensel nichts, den sie auch aufrichtig liebt. Kurz vor ihrer Heirat bekennt sie Felix, sie sei »glücklicher als ich je es zu werden dachte, denn ich träumte und fürchtete, eine solche Verbindung würde mich von Dir loßreißen, oder doch entfernen, u. es ist, wo möglich, gerade das Gegenteil ...« Selbst an ihrem Hochzeitsmorgen, dem 3. Oktober 1829, sind ihre Gedanken bei Felix in London, und sie beteuert ihm in einem Brief ihre immerwährende Verbundenheit: »... ich werde Dir morgen, und in jedem Moment meines Lebens dasselbe wiederholen können, und glaube nicht, Hensel damit Unrecht zu thun.« Auch die Musik solle in ihrer Ehe nicht zu kurz kommen, versichert sie Felix: »Habe ich nun erst ein gutes Stück im Ehestande gemacht, dann bin ich durch, und ich glaube an ein ferneres Fortschreiten.«

Zum Komponieren bleibt ihr nun allerdings wenig Zeit. Die Gartenwohnung im elterlichen Palais muß eingerichtet werden, der Sohn Sebastian wird nach einer schwierigen Schwangerschaft geboren, später folgen zwei Fehlgeburten. Aber statt seiner Schwester Mut zu machen, schreibt ihr Felix vorwurfsvoll: »Wenn ich mein Kind zu päppeln hätte, so wollte ich keine Partitur schreiben ... Aber im Ernst, das Kind ist noch kein halbes Jahr alt, und Du willst schon andere Ideen haben als Sebastian?« – Sie hat andere Ideen. Geradezu euphorisch wagt sie sich nun auch an große Werke. Während ihr Mann in seinem Atelier malt und seine Schüler unterrichtet, schreibt sie einen Reigen für achtstimmigen Chor a cappella, eine Orchesterouvertüre, die Kantate »Hiob« und ein biblisches Oratorium. All diese Werke kommen bei den »Sonntagsmusiken« im elterlichen Palais unter ihrer Leitung zur Aufführung. Eine Notlösung zwar – Ersatz für öffentliche Konzerte –, aber keine schlechte, Bettine von Arnim und Heinrich Heine, Franz Liszt und Clara Schumann sitzen im Publikum, und die Komponistin Johanna Kinkel bescheinigt Fanny nicht nur die Qualität der Kompositionen, sondern vor allem eine ungewöhnliche Intensität des Dirigierens.

1839 bricht Fanny gemeinsam mit Mann und Sohn für ein Jahr nach Italien auf, ins Land der Sehnsucht deutscher Künstler und ihrer eigenen Kinderträume. Doch sie fällt angesichts der antiken Ruinen und üppigen Vatikankirchen nicht in die übliche romantische Schwärmerei, davor bewahrt sie ihr nüchterner Verstand und das Heimweh nach dem ordentlichen Berlin. Trotzdem löst sie sich unter dem Einfluß französischer Freunde, ihres Verehrers Charles Gounod vor allem, langsam von ihren preußischen Wertvorstellungen, genießt die freiere Luft und Ungezwungenheit des Umgangs und die Komplimente, die man ihr und ihrem Werk macht. Von dieser Wertschätzung läßt sie sich auch nach ihrer Rückkehr ins herbstlich trübe, politisch unruhige Berlin weiter beflügeln. Im eigenwilligen Zyklus »Das Jahr« schlägt sich Erinnerung an römische Lieblingsplätze und mediterrane Landschaft nieder, während das Italienjahr bei ihrem Mann keine Spuren hinterläßt. Er bleibt der königstreue Preuße mit konservativer Kunstauffassung, den Fontane in den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« so trefflich charakterisiert als »eine Verquickung von Derbheit und Schönheit, von Gamaschentum und Faltenwurf, von preußischem Militarismus und klassischem Idealismus ... die Seele griechisch, der Geist altenfritzisch, der Charakter märkisch«.

Fanny hat sich damit abgefunden, daß von Hensel und seinem Kreis keine Impulse ausgehen, sie lebt die letzten Jahre zurückgezogen in der Leipziger Straße und komponiert noch einige Arbeiten für Klavier. Am 14. Mai 1846 erleidet sie während der Probe zu einer Sonntagsmusik einen Gehirnschlag.

41 Jahre alt ist sie nur geworden. Mit ihrem plötzlichen Tod fällt das Familiengefüge auseinander, erst jetzt wird allen bewußt, wie sehr sie Mittelpunkt, Herz war. Wilhelm Hensel ist zu keiner Arbeit mehr fähig, vernachlässigt seinen Sohn und macht Schulden. Felix, vom Verlust der Schwester tief verstört, stirbt wenige Monate später und wird neben ihr auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof bestattet. Er hinterließ ein schwermütiges Streichquartett in f-Moll für Fanny, der er in einem Brief an seinen Schwager Wilhelm späte Abbitte leistet:

»Du hast meine Schwester sehr glücklich gemacht, ihr ganzes Leben hindurch, so wie sie es verdiente. Das danke ich Dir heut, und so lange ich atme, und wohl noch darüber hinaus – nicht mit bloßen Worten, sondern mit bitterer Reue darüber, daß ich nicht mehr für ihr Glück getan habe, daß ich sie nicht mehr gesehen, nicht mehr bei ihr gewesen bin ... vielleicht können wir hier auf Erden, und dann immer mehr, derer würdig werden, die das beste Herz und den besten Geist hatte, den wir je gekannt und geliebt haben.«

Ruhm und Glanz um welchen Preis?

Die Pianistin und Komponistin

Clara Schumann

1819–1896

Die Nachwelt soll uns ganz wie ein Herz und eine Seele betrachten.

ROBERT SCHUMANN

Spätestens seit ihr Bildnis Briefmarken und Geldscheine schmückt und ein Intercityzug ihren Namen trägt, ist Clara Schumann auch jenen ein Begriff, die nichts mit Musik und schon gar nichts mit Frauenmusik zu tun haben. Ein Wunderkind. Eine virtuose Pianistin. Aber mehr noch als ihre musikalische Begabung weckt ihr provozierend zwiespältiges Leben Interesse: die Abhängigkeit vom ehrgeizigen, omnipotenten Vater, die ertrotzte und spannungsgeladene Ehe mit Robert Schumann, die durch ständige Schwangerschaften erschwerte Karriere, die nie völlig ausgeleuchtete Beziehung zu Johannes Brahms …

Stoff für Illustriertenstories, für Romane und wissenschaftliche Aufarbeitungen. Ein durch Tagebücher und Briefwechsel, durch Presseunterlagen und Äußerungen von Zeitgenossen außergewöhnlich gut dokumentiertes Leben – und doch läßt sich aus all den authentischen Zeugnissen kein einheitliches Clara-Schumann-Porträt zeichnen. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich, wie sehr subjektiv empfundene Sympathie oder Antipathie ein Persönlichkeitsbild bestimmen, selbst wenn die Darstellungen auf »objektiven« Zitatenquellen beruhen. In den Biographien von Nancy Reich, Eva Weissweiler oder Dieter Kühn tritt uns eine andere Clara Schumann entgegen, als wir sie aus dem alten dreibändigen Werk von Berthold Litzmann oder – aus unseren Tagen – von Beatrix Borchards »biographischer Collage« kennen, und die Lektüre der verschiedenen Biographien kann zu einer eigenen »Collage«, einer eigenen spannenden Annäherung an die Musikerin führen.

Zweifellos erweist sich schon das so idealistisch begonnene gemeinsame Ehetagebuch der Schumanns mit den edlen, aber im Alltag nicht durchgehaltenen Vorsätzen als Interpretationsklippe, und es stellt sich die grundsätzliche Frage: Nehmen wir Clara Schumanns Eintragungen, auch ihre Briefe, als Schlüssel zu ihrer Persönlichkeit, oder mißtrauen wir den wirkungsvoll gesetzten Worten? Fest steht: zur Ikone oder – anderes Extrem – zur seelenlosen Klaviermaschine hochstilisiert hat sie erst die Nachwelt. Kein weibliches Klischee, das man ihr nicht angedichtet hätte: die treusorgende Gattin und sich verausgabende Künstlerin mit den Kindern am Rockzipfel auf der einen Seite und auf der anderen, der feministischen, die Musikerin, die Männerbastionen stürmt und ein emanzipiertes, unabhängiges Leben führt – aufopfernde Entsagung hier, Triumph weiblichen Durchsetzungsvermögens dort – Wunschvorstellungen, Idealbilder beides. Da kann der Gegenschlag nicht ausbleiben. Eva Weissweiler, die Herausgeberin des Briefwechsels von Clara und Robert Schumann, führt ihn mit sezierender Schärfe. Kann man den von ihr vorgezeichneten Linien einer gefühlskalten, ichbezogenen Clara Schumann folgen? Wo liegt die Wahrheit?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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