Freefall – Die Wahrheit ist dein Tod - Jessica Barry - E-Book
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Freefall – Die Wahrheit ist dein Tod E-Book

Jessica Barry

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Beschreibung

Wenn dein Leben eine Lüge ist, kann die Wahrheit dich töten Als Einzige überlebt die 30-jährige Ally einen Flugzeugabsturz in den Rocky Mountains. Völlig auf sich gestellt kämpft sie sich durch die Wildnis. Doch jemand ist ihr auf den Fersen – jemand, der sicherstellen will, dass niemand das Unglück überlebt. Tausende von Kilometern entfernt kann Allys Mutter Maggie nicht glauben, dass ihre Tochter tödlich verunglückt sein soll. Jahrelang hatte sie keinen Kontakt zu ihr, jetzt setzt sie alles daran, mehr über ihre Tochter zu erfahren: Ally führte ein glamouröses Leben – aber wie viel davon war echt? Während sie in die Vergangenheit ihrer Tochter eintaucht, gerät Maggie selbst in größte Gefahr.   Nach dem SPIEGEL-Bestseller »Freefall« ist nun mit »Nachtflucht« ein weitere spannender Thriller bei dtv erschienen.

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Seitenzahl: 482

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Über das Buch

Ein Flugzeug stürzt über einem unwegsamen Gebiet in den Rocky Mountains ab. Einzige Überlebende ist die dreißigjährige Ally. Völlig auf sich gestellt, muss sie versuchen, sich durch die Wildnis zu kämpfen. Doch jemand ist ihr auf den Fersen – jemand, der ihr nicht helfen will. Ganz im Gegenteil. Tausende von Kilometern entfernt will Allys Mutter Maggie nicht glauben, dass ihre Tochter tot ist. Jahrelang hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihr, jetzt lassen ihr Trauer und Schuldgefühle keine Ruhe. Sie setzt alles daran, die Wahrheit herauszufinden – und was sie über das Leben ihrer Tochter in den letzten Jahren erfährt, lässt sie bis ins Innerste erschrecken.

 

 

 

 

Für meine Eltern, in Liebe und Dankbarkeit

Allison

Atme. Atme.

Ich öffne die Augen. Über mir ein Baldachin aus Bäumen. Ein Vogelschwarm starrt zu mir herunter und fliegt davon.

Ich habe überlebt.

Er vielleicht auch.

Ich muss nachsehen. Barfuß taste ich mich durch die Trümmer. Wo sind meine Schuhe? Egal. Überall verbogenes Metall. Eine Tragfläche klemmt in der Astgabel eines nahen Baumes. Das Cockpit sieht aus wie eine aufgeschlitzte Blechdose, darin zwei Reihen cremefarbener Ledersitze. Ich trete näher und spähe hinein.

Da ist er, über den Instrumenten zusammengesackt.

»Hallo?« Meine eigene Stimme überrascht mich. »Kannst du mich hören?«

Stille. Der Motor zischt. Das Kerosin tickt ins Gras.

Rein ins Cockpit. Das scharfgezackte Metall vermeiden. Er hält noch das Funkgerät in der Hand, das Kabel ist durchtrennt. Ich stoße ihn behutsam an. Sein Körper fällt gegen die Seitenwand.

Sein Gesicht ist weg.

Raus. Raus.

Ich würge, setze mich hin. Konzentrier dich.

Das sind die Fakten: Ich bin allein. Ich bin auf einem Berg. Das Flugzeug ist abgestürzt. Mein Körper ist mit Prellungen und Schnitten übersät, an meinem linken Bein klafft eine Wunde, die sich entzünden wird, wenn ich sie nicht bald reinige. Mein Finger ist verstaucht oder gebrochen und schwillt zusehends an. Ich habe fast nichts zu essen und zu trinken. Die Sonne steht noch hoch am Himmel, aber in ein paar Stunden wird es dunkel, und dann habe ich als einzigen Schutz ein verbogenes Metallungetüm, das jeden Moment explodieren kann.

Mir ist schlecht vor Angst. Am liebsten würde ich mich auf die grasbewachsene Böschung legen und meine schweren Lider schließen. Ich frage mich, wie es ist, wenn man stirbt. Wie beim Einschlafen, wenn man wegkippt und versinkt? Gibt es ein Licht, dem man folgen kann, oder nur die Dunkelheit?

Stopp.

Ich will nicht sterben. Ich brauche einen Plan.

Du musst los.

Die Stimme in meinem Kopf ist drängend, beharrlich.

Dumusstlosdumusstlosdumusstlos.

Am Leben bleiben.

Meine Reisetasche. In einem Baum. Runterholen. Den brennenden Schmerz in der Schulter ignorieren. Ich wühle mich durch die Sachen, die ich für ein Wochenende in Chicago zusammengepackt hatte. Raus mit den Cocktailkleidern, den Pfennigabsätzen, dem hauchdünnen BH und den beiden Spitzenhöschen. Sportkleidung. Gott sei Dank. Etwas Nützliches. Runter mit dem Baumwollkleid, der lächerlichen Unterwäsche, weg damit. Denk nicht an die Blutergüsse an deinen Beinen. Denk nicht an die Schnittwunden an deinen Hüften. Denk nicht an den schiefen kleinen Finger, der sich bedenklich blau färbt. Denk nicht an das Blut auf deinem weißen Kleid, deinem Bauch, deinen Oberschenkeln. Denk gar nicht nach. Beweg dich. Sportleggings an, Sport-BH, Socken, das T-Shirt, das du mal bei einem Halbmarathon bekommen hast.

Mein Handy. Ich muss mein Handy finden. Wo ist es? Ich blicke suchend über das Trümmerfeld. Nichts.

Beweg dich. Beweg dich. Die teure Flasche Parfum, Shampoo und Conditioner, Reinigungsöl, Reinigungsmilch und Peeling, die verschiedenen Lotionen für Körper, Gesicht, Hände, Augen: raus damit. Föhn und Lockenstab: weg. Moment. Die Kabel. Abreißen und mitnehmen. Die leere Tonerflasche, der Puder mit Kosmetikspiegel, die Minidose Haarspray. Alles nützlich. Vielleicht. Beiseitelegen. Raus mit dem Deo und dem Make-up und der Haarbürste. Der Lippenpflegestift kommt in ein Fach mit Reißverschluss. Die Tasche ist deutlich leichter geworden. Jetzt sein Koffer. Der Ärmel eines Turnbull-&-Asser-Oberhemds lugt durch einen Riss im Futter. Ein Ersatz-T-Shirt. Sein Harvard-Sweatshirt kommt mit. Denk nicht dran, wie sehr es nach ihm riecht. O Gott.

Du musst los.

Dann die Hightech-Windjacke. Ein Paar Socken. Das war’s.

Was sonst noch. Denk nach. Die Sachen halten dich am Leben.

Die Cockpitplane flattert von einem niedrigen Ast. Aufrollen. An der Tasche festbinden. Der Erste-Hilfe-Kasten klemmt hinter einem morschen Baumstumpf. Die Plastikdose ist zerbrochen, der Inhalt intakt: Jod, Wundbenzin, Verbände, Schere, Schmerzmittel, Antihistamin, Pinzette, Nähzeug, Klebeband.

Mein Blick bleibt an der Kabine hängen. Das Handy. Du musst noch mal rein. Da drin ist etwas zu essen. Wasser. Ohne das halte ich keine zwei Tage durch. Aus dem Motor steigt Rauch, schwarz und dick. Rein. Rein. Rein.

Die Plastiktüte. Genau da, wo ich sie gelassen habe, in der Kabine, hinter dem vorderen Sitz. Vier Powerriegel, eine Tüte Nussmischung, eine ungeöffnete Flasche Wasser. Die Dose Cola light. Einen Moment ist mir schwindlig. Meine Hand sucht den Boden ab und ertastet scharfkantiges Glas. Ich hole es hervor und blicke auf das, was von meinem Handy übrig ist. Ich versuche es einzuschalten, aber der zertrümmerte Bildschirm bleibt schwarz. Kaputt. Fuckfuckfuck. Ich stecke es trotzdem ein. Meine Augen tränen vom Rauch. Konzentrier dich. Konzentrier dich. Ich greife hinter den Rücksitz. Eine Fleecedecke, eine Rolle Klebeband, ein Seil. Ich greife noch mal hin. Ein metallenes Feuerzeug. Alles in die Tasche. Es dämmert allmählich. Ich muss los.

Raus. Raus. Raus, schreit mein Instinkt, aber ich zögere. Was ist mein Plan? Am Leben bleiben. Ich klettere hinaus, meide die scharfen Kanten, verdränge den Schmerz in meiner Schulter und das zerstörte Gesicht des Mannes, den ich kürzlich noch berührt habe.

Schneebedeckte Gipfel recken sich in einen dramatisch blauen Himmel. Unter mir sanft gewellte grüne Hügel, gesäumt von Bäumen und mit Wildblumen getupft. Das Land erstreckt sich ins Unendliche, bis zum Horizont. Keine Anzeichen von Menschen, nur ein Pfad. Er fällt ziemlich steil, aber gleichmäßig ab, ohne die abrupten felsigen Abgründe, die sich sonst überall auftun. Unten im Tal sehe ich einen dünnen Streifen Spiegelglas. Wasser. Der Plan. Der Weg ist der Plan.

Raus. Raus. Raus. Ich springe vom Wrack hinunter.

Ich hieve mir die Tasche auf die Schultern, wobei ich vor Schmerz aufschreie, schiebe die Arme durch die Griffe und schnalle sie mit dem langen Riemen sicher um die Taille. Der Motor zischt endlich nicht mehr, raucht aber noch. Ich werfe einen letzten Blick auf die Lichtung und sehe Glassplitter und zerbrochenes Plastik und den Haufen Habseligkeiten, die ich weggeworfen habe.

Hier ist nichts mehr, was ich retten könnte.

Die Sonne geht unter. Du musst los.

Maggie

Es war früh am Morgen, der Himmel ein dunkles Rosa, das noch nicht zu Blau verblasst war. Im Hintergrund lief leise NPR, ein Becher Kaffee kühlte auf der Arbeitsplatte ab, und Barney strich um meine Beine, weil er auf ein zweites Frühstück hoffte. Die Dielenbretter knarrten wie eh und je unter meinen Füßen. Ich warf einen Blick auf die Rezeptkarte, obwohl das gar nicht nötig war. Ich backte seit Jahren dieses Brot und kannte das Rezept auswendig, aber Charles hatte es mit seiner kräftigen, sicheren Hand geschrieben, und daher hatte ich es beim Backen gern in meiner Nähe. Es gehörte zum Ritual.

Der Teig war warm und weich, ich dehnte und faltete ihn und spürte, wie er unter meinen Händen fest wurde. Eigentlich sollte ich keinen Teig kneten – es verschlimmert die Arthritis in meinen Fingergelenken –, doch ich backte jede Woche ein Brot, obwohl es inzwischen oft altbacken und schimmlig wird.

Es klingelte an der Tür. Ich achtete nicht darauf. Wenn ich jetzt aufhörte, würde das Brot misslingen. Außerdem waren meine Haare völlig zerzaust, und ich trug noch meinen Morgenmantel und die Pantoffeln von LL Bean, die mir Charles vor sechs Jahren geschenkt hatte. Vermutlich war es der Postbote. Er würde eine Paketkarte unter der Tür durchschieben und weiterfahren.

Es klingelte wieder. Seufzend wischte ich mir die mehlbestäubten Hände an einem Geschirrtuch ab. Ich kann nur hoffen, du hast einen guten Grund, dachte ich bei mir.

Als ich die Tür öffnete und Jim in seiner vollen Polizeichef-Montur vor mir stehen sah, glaubte ich zuerst, er wäre wegen Lindas Auflaufform gekommen. Sie hatte mir neulich eine Lasagne gebracht und wachte immer mit Argusaugen über ihre Backformen. Dann aber bemerkte ich sein Gesicht und die nervöse kleine Person in der zugeknöpften Uniform, die hinter ihm stand, und wusste, dass Jim nicht wegen einer Backform hier war.

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte er, nahm die Mütze ab und hielt sie über sein Herz. Jim Quinn und ich kannten uns seit der Highschool, wo er mir mit dem Bleistift gegen den Hinterkopf geschnippt und in Amerikanischer Geschichte bei mir abgeschrieben hatte. Er hatte noch nie um Erlaubnis gebeten, mein Haus zu betreten. Plötzlich sah ich nur noch seine Uniform und das glänzend polierte Abzeichen.

»Was ist los, Jim?«, fragte ich zu laut.

»Warum setzen wir uns nicht?« Er trat ein, die Polizistin folgte uns.

»Das ist Officer Draper«, sagte er.

»Freut mich«, erwiderte ich und nickte. Dann wandte ich mich wieder an Jim. »Nun sag schon, was los ist.«

Er ergriff meinen Ellbogen und führte mich zum Küchentisch. »Setz dich«, sagte er sanft, drückte mich auf den Stuhl und nahm mir gegenüber Platz. »Maggie, es hat einen Unfall gegeben.«

Mein Herz zog sich zusammen. »Ist es Linda? Geht es ihr gut?« Doch ich ahnte schon, dass er nicht wegen seiner Frau hier war.

Er schüttelte den Kopf. »Linda geht es bestens.«

Da wusste ich es. Einfach so. Alle Eltern wissen tief im Inneren, dass es passieren wird. Dass sie eines Tages einen Anruf bekommen oder es an der Tür klopft und ihre Welt in diesem Augenblick zu existieren aufhört.

»Ally«, sagte ich.

Er nickte und schaute mich aus wässrigen blauen Augen an. »Es war ein Flugzeugabsturz.«

Die Welt wurde weiß.

Allison

Das Gewicht der Tasche treibt mich rasch den Berg hinunter, das schwache Mondlicht lotst mich zwischen den Bäumen hindurch. Zweige schnappen mir gegen Arme und Beine. Einmal stürze ich schwer und schreie laut auf, komme aber wieder auf die Füße und renne weiter. Ich renne die ganze Nacht. Ich zwinge mich, nicht zurückzuschauen, nicht stehenzubleiben.

Kurz vor der Morgendämmerung erreiche ich das Wasser. Ich knie nieder und berühre es mit den Fingerspitzen. Geradezu schockierend kühl. Ich spritze mir etwas davon ins Gesicht. Das Wasser, das über meine Unterarme rinnt, ist hellrosa. Vom Blut. Der Durst überkommt mich wie ein Fieber. Es wäre so leicht, meine gewölbten Hände an den Mund zu führen und zu trinken.

Nein. Das Wasser könnte giftig sein. Ich habe nicht einen Flugzeugabsturz überlebt, um dann an Durchfall zu sterben. Ich fülle zwei leere Wasserflaschen und gebe einen Tropfen Jod dazu. Ich warte ab.

Ich schaue an meinem Körper hinunter. Der Schmerz ist wie ein Echo von etwas aus weiter Ferne, das in mir widerhallt.

Ich könnte eine Infektion bekommen, ich könnte verbluten. Ich könnte sterben. Auf vielerlei Weise.

Du musst am Leben bleiben.

Ich ziehe die Leggings aus. Der Schnitt an meinem linken Bein ist tief, unregelmäßig und sieht übel aus. Ich hole das Hemd aus der Tasche, reiße einen Streifen davon ab und tauche ihn in die Flasche mit Wundbenzin. Ich drücke den Stoff in den Schnitt. Der Schmerz bringt mich fast um, mein Atem geht stoßweise. Etwas Weißes blitzt auf – der Schnitt reicht bis zum Knochen.

Atme.

Sein Schädel, sein weißer Schädel. Den ich sehen konnte, weil sein Gesicht weg war.

Die Welt kippt zur Seite, ich kämpfe gegen die drohende Ohnmacht an.

Stopp. Atme. Konzentrier dich.

Ich drücke die Wundränder zusammen und lege einen Verband an. Das gibt eine hässliche Narbe.

Arme hübsche kleine Allison.

Ich ziehe die Leggings wieder an.

Es überläuft mich abwechselnd kalt und prickelnd heiß. Adrenalin, das durch meinen Körper schießt und verebbt. Ich hebe die Haare im Nacken hoch, und da bemerke ich, dass sie weg ist. Die Kette. Ich berühre meine Kehle. Spüre mein Herz unter der Haut hämmern.

Mein Magen zieht sich zusammen. Wie konnte ich so nachlässig sein? Sie war alles, was ich hatte, das Einzige, was zählte, und jetzt ist sie weg.

Ich schiebe den Gedanken beiseite. Es hat keinen Sinn – ich kann es nicht ändern. Es ist passiert.

Ich sehe auf die Uhr – ein dünnes Goldband mit diamantbesetztem Zifferblatt, absurd – und sehe, dass ich noch fünf Minuten warten muss, bis ich das Wasser trinken kann. Mein Vater sagte immer, es dauere volle dreißig Minuten, bis Jod Wasser gereinigt habe. Er brachte mir gern solche Dinge bei, praktische Dinge, auch wenn ich die Augen verdrehte und stöhnte, es sei doch völlig sinnlos, ich würde es niemals brauchen. Nun, ich habe mich geirrt.

Ich denke an die Powerriegel, den Beutel mit den Nüssen. Wieder zieht sich mein Magen zusammen. Ich müsste wirklich etwas essen, sehe aber nur die leere Stelle, wo sein Gesicht sein sollte. Ich schließe die Augen und atme.

Als ich die Augen öffne, sind sechs Minuten vergangen. Das Wasser ist jetzt sicher. Ich trinke beide Flaschen schnell hintereinander. Zu schnell. Ich kann es nur mit Mühe bei mir behalten. Das Wasser ist perfekt, kalt und schmeckt leicht metallisch. Ich fülle die Flaschen wieder auf. Gebe das Jod dazu. In die Tasche damit.

Beweg dich beweg dich beweg dich.

Auf die Füße, dann die Tasche. Etwas in meiner Schulter ist verrutscht und knackt. Ein Haarriss vielleicht oder nur eine Verstauchung. Ich würde am liebsten weinen.

Doch dafür ist keine Zeit.

Ich springe von einem Stein zum nächsten. Jeder Schritt tut weh. Ist es besser, mich mit dem verletzten Bein abzustoßen oder auf ihm zu landen? Landen, beschließe ich. Ich erreiche das andere Ufer. Dahinter liegen die felsige Ebene und der Berg, der über ihr aufragt, und da drüben ist die Sonne, die den Berg in rosiges Licht taucht, während sie in den Himmel steigt.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, bis sie nach mir suchen. Aber sie werden irgendwann kommen, und darum muss ich weiter.

Ich muss nach Osten gehen, in den Sonnenaufgang hinein. Der Berg muss bestiegen werden.

Maggie

»Maggie. Maggie.«

Ich hörte die Stimme durch das Dröhnen in meinen Ohren. Mein Blickfeld war weiß, die Ränder aber verschwammen, wurden dunkler und vertrauter.

»Maggie.«

Es war Jim.

»Maggie, sie befand sich in einer viersitzigen Maschine, die aus Chicago kam. Man vermutet, dass sie irgendwo über den Rockys in Colorado abgestürzt ist.«

»Willst du damit sagen, dass meine Tochter tot ist?« Das war nicht meine Stimme. Da sprach jemand anders in einer Realität, die auch nicht meine war.

»Das wissen wir noch nicht«, sagte er. »Sie konnten die Absturzstelle noch nicht ausfindig machen, aber nach den Funksignalen zu urteilen, bevor die Verbindung abbrach …«

Das veränderte alles. Sie konnte noch am Leben sein. Die Hoffnung erblühte wie eine Sonnenblume in meiner Brust. »Woher weißt du überhaupt, dass sie in der Maschine war?« Vielleicht war sie gar nicht in Gefahr. Vielleicht war sie zu Hause, in Sicherheit.

»Ihr Name stand im Flugregister – ihrer und der des Mannes, der die Maschine geflogen hat. Ich habe die Unterlagen des Flughafens gesehen, sie hatten ein Foto von ihr in den Akten … Sie ist es.«

»Schon gut. Schon gut.« Mein Verstand kam in Gang. Meine Kleine wurde in den Bergen vermisst. Sie war verängstigt und allein und vermutlich verletzt. Aber nicht tot. »Wie kann ich euch helfen? Wir stellen einen Suchtrupp zusammen. Soll ich herumtelefonieren? Oder hinfliegen?«

Jim sprach ganz langsam. »Man sucht schon nach ihr, Maggie.«

»Aber wer?« Es gefiel mir nicht, dass Fremde nach ihr suchten. Sie würden nicht wissen, wie sie sie finden sollten, würden Fehler begehen, weil sie sie nicht so gut kannten wie ich. »Ich will wissen, wer da draußen nach meiner Tochter sucht. Sie ist ganz allein, Jim. Ich will ihre Namen erfahren.«

»Sie tun alles, was sie können, Maggie. Die Ranger suchen überall in den Bergen nach der Absturzstelle. Die örtliche Polizei ist auch eingebunden. Aber du musst mir zuhören. Es war ein Flugzeugabsturz. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie überlebt hat … ist nicht groß.«

Ich schaute ihn eindringlich an und sah die Traurigkeit in seinen Augen. »Sie ist am Leben«, sagte ich überzeugter, als ich mich fühlte. »Ally ist zäh. Ich bin mir sicher, dass sie noch lebt.«

Er nickte bedächtig. »Wir tun, was wir können, um sie zu finden. Das verspreche ich dir. Shannon, schau doch mal, ob du irgendwo Schnaps findest.«

Er dachte, ich stünde unter Schock. Ich sei nicht ganz bei mir. »Es geht mir gut, Jim«, fauchte ich.

»Er wird dir helfen.« Er drehte sich um und zeigte mit dem Finger. »Da oben, im Fach über dem Kühlschrank. Weiter nach rechts – genau, da ist er.«

Shannon hielt eine Flasche Baileys in die Höhe.

»Ist das alles, was da steht?«

Sie nickte.

»Mist, wo ist denn der Brandy? Ihr habt doch sonst welchen im Haus.« Er goss den Likör in meinen benutzten Kaffeebecher und drückte ihn mir in die Hand. »Trink.«

Ich kam mir vor wie ein Kind, das seine Milch bekommt. Zögernd nahm ich einen Schluck. Das Zeug war zu süß, wie ein Milchshake. Ich stellte den Becher auf den Tisch und legte die Hände auf die abgenutzte Platte. »Verdammt, wie schwer kann es denn sein, ein Flugzeug zu finden? Können die keinen Satelliten benutzen? Hubschrauber?« Ich versuchte, den Gedanken an Ally zu verdrängen, die verängstigt und allein dort draußen war. Das half mir nämlich überhaupt nicht. Fakten würden helfen. Ich musste die Fakten kennen.

»Es wird alles Menschenmögliche getan, das verspreche ich dir.«

Ich überlegte fieberhaft. Jim hatte gesagt, sie seien zu zweit im Flugzeug gewesen. »Wer war der Mann? Der Pilot, meine ich. Wie hieß er?«

Er rutschte auf dem Stuhl herum. »Sie suchen noch nach seinen nächsten Angehörigen, um sie zu verständigen.«

Aus dem Augenwinkel sah ich die kleine Polizistin, wie sie mit einem Küchenhandtuch auf der Arbeitsplatte herumwischte. Mich packte die Wut.

»Aber du weißt es? Du weißt es und sagst es mir nicht.«

»Ehrlich, Maggie, ich weiß nicht mehr als du.«

Ich stand auf, nahm der Frau das Tuch weg und bearbeitete damit eine kleine Stelle auf der Fläche. Der Teig auf dem Holzbrett fiel langsam in sich zusammen. »Ich muss weiterkneten«, murmelte ich vor mich hin. Es kam mir wie eine unerträgliche Verschwendung vor, den Teig wegzuwerfen. Ich bemehlte Hände und Brett und fing an, den Teig mit den Handballen von mir wegzudrücken und wieder zurückzufalten. Hin und her. Hin und her. Hin und her.

Jim stand auf und berührte meine Schultern. »Warum legst du dich nicht hin? Shannon kann dir einen Tee machen – würdest du mal Wasser aufsetzen?«

»Ich will mich nicht hinlegen, und ich will auch keinen Tee, vielen Dank, Shannon. Ich will diesen Teig zu Ende kneten, sonst geht er im Ofen nicht richtig auf.«

Jims Hände verkrampften sich, und ich hörte, wie er seufzte. »Maggie, lass den verdammten Teig. Bleib eine Minute sitzen und beruhige dich. Atme mal tief durch.«

Ich schoss herum. »Mein kleines Mädchen ist irgendwo da draußen, und du sagst mir, ich soll mich beruhigen?«

Jim sah mich lange an. »Es tut mir leid«, sagte er leise, »aber es ist nicht gut, wenn du dich so aufregst.«

Ich blieb still.

Er nahm seine Mütze und hielt sie in beiden Händen. »Ich rufe den Arzt an und erkundige mich, ob er dir etwas zur Beruhigung verschreiben kann. Ich werde Linda bitten, es unterwegs für dich abzuholen.«

»Jim, ich bin nicht verrückt. Meine Tochter ist mit dem Flugzeug abgestürzt. Es tut mir leid, wenn dir meine Reaktion unangenehm ist.«

Ich konnte ihm ansehen, dass er verletzt war, und schon tat es mir leid. Ich versuchte es noch einmal. »Hast du’s Linda schon erzählt?«

»Ich bin sofort hergekommen, aber ich dachte, du würdest –« Er seufzte. »Sie wird dir helfen wollen, und, falls ich das sagen darf, du brauchst jetzt dringend eine gute Freundin.«

In diesem Augenblick wollte ich keinen Menschen auf der Welt außer meiner Tochter sehen, aber ich wusste, es hatte keinen Sinn, mich gegen Linda Quinns Hilfsbereitschaft zu wehren. Ich nickte. »Sag ihr, sie soll kommen, wenn sie ein bisschen Zeit hat.«

»Ich fahre jetzt zu ihr.« Er nahm die Schlüssel vom Tisch. Er konnte es gar nicht abwarten, zu gehen, die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Sie wird sich beeilen. Bis dahin bleibt Shannon hier.«

Ich betrachtete die kleine Polizistin, die am Saum der Tischdecke herumfummelte. Sie lächelte nervös. Etwas an ihr – die runden, von langen Wimpern umrahmten Augen, der kecke Pferdeschwanz, ihre glatte, faltenlose Haut – beleidigte mich. Sie war so jung. Jünger als Ally. Welches Recht hatte sie, hier zu sein? »Ich komme allein zurecht«, sagte ich kühl.

Jim umklammerte die Krempe seiner Mütze. »Da bin ich mir sicher, aber es wäre mir trotzdem lieber, wenn jemand bei dir bleibt. Nur bis Linda hier ist. Du hast einen furchtbaren Schock erlitten, und ich würde einfach –« Er schaute mich flehend an. »Bitte, damit ich beruhigt sein kann.«

Ich nickte. »Na schön.« Ich ließ den Teig in eine eingeölte Glasschüssel fallen, deckte ihn mit einem Geschirrtuch ab und stellte ihn zum Gehen in die Vorratskammer. Dort verharrte ich eine Minute, betrachtete die säuberlich eingeräumten Regale mit Mais, Olivenöl und Nudeln und lehnte den Kopf an die kühle Wand. Ich hörte die beiden im Raum nebenan über mich flüstern. Noch nie im Leben hatte ich mich so hilflos gefühlt.

Ich holte tief Luft und kehrte in die Küche zurück. Jim umarmte mich unbeholfen. »Ich melde mich, sobald ich etwas höre. Und was immer du brauchst, sag Bescheid.«

»Finde einfach nur mein Mädchen.«

Er nickte. »Bis bald. Shannon, du kümmerst dich um sie.«

Shannon nickte, und wir beide hörten, wie die Tür hinter ihm zufiel. Ihre Wangen waren rosig. Sie trug einen Claddagh am Ringfinger der rechten Hand, die Spitze des Herzens deutete nach außen. Am liebsten hätte ich sie geschlagen.

»Möchten Sie wirklich keinen Tee?«, fragte sie besorgt. »Oder noch Kaffee?«

Ich schüttelte den Kopf. »Mir geht’s gut, ehrlich. Sie können jederzeit gehen. Sie haben sicher Besseres zu tun.« Ich wusste nicht, wie lange ich ihr unschuldiges kleines Gesicht ertragen konnte, ohne zu schreien.

»Chief Quinn hat mir befohlen, hierzubleiben, also mache ich das auch.« Ihre Stimme klang fest, und sie sah mir die Überraschung wohl an. »Es ist mein erster Monat«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Ich will keinen Ärger mit dem Boss.«

»Verstehe.« Ich drehte mich um und stützte mich an der Spüle ab. Ich bemühte mich, ruhig zu atmen. Es war wichtig, dass sie meine Tränen nicht sah. Reiß dich zusammen, Margaret. Reiß dich um Himmels willen zusammen. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand. Eine Minute? Zehn?

Dann sagte sie: »Wissen Sie was?«

Ich drehte mich um. Ihr Gesicht verriet mir, dass sie die Risse in meiner Fassade bemerkte. »Ich warte einfach draußen vor der Tür. Wenn Sie was brauchen, rufen Sie. Und sobald Mrs Quinn hier ist, mache ich mich auf den Weg, versprochen.«

Das war freundlich von ihr, und ich wusste das Angebot zu schätzen. »In Ordnung«, erwiderte ich.

Sie ging nach draußen, ließ die Tür aber mit einem bedauernden »Vorschrift, Ma’am« angelehnt.

Ich hatte genügend Romane gelesen, um zu wissen, dass ich nun, da ich mit meinen Gedanken allein war, eigentlich auf die Knie fallen und einen archaischen Schrei ausstoßen sollte. Doch ich saß nur da und starrte ins Nichts und wartete darauf, dass das Telefon klingelte. Und mir dämmerte, dass ich vielleicht für immer warten würde.

Allison

Die Ebene erstreckt sich vor mir, ein endloser Teppich aus dürrem Gras und Wildblumen. Dicke Bienen taumeln träge von Blüte zu Blüte.

In der Ferne ragen die Berge auf. Wie weit ich auch gehe, sie kommen einfach nicht näher. Eine Wolke Mücken summt um meinen Kopf.

Ich denke an die Aussicht aus dem Flugzeug, ein Flickmuster aus Grün, nur gelegentlich von Fels und Schnee unterbrochen. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich von dort oben aussehe, von diesem blauen, wolkenlosen Himmel aus.

Diese Berge sind das Land der Götter und Giganten. Sie sind nur da, um mich daran zu erinnern, dass ich ein winziges Staubkorn bin, dass meine Zeit auf Erden kurz und flüchtig ist und diese Berge schon Äonen vor meiner Geburt da waren und auch noch hier stehen werden, lange nachdem ich zu Staub zerfallen bin.

Für einen Moment spüre ich etwas anderes als Schrecken.

Ich fühle Erleichterung.

Aber sie hält nicht an. Ich weiß, was mir bevorsteht.

»Verwischen Sie Ihre Spuren. Wenn er es herausfindet, wird er Sie jagen.« Seine Augen hatten sich in meine gebohrt, als er das sagte. »Genau wie die anderen. Sie haben keine Ahnung, wie mächtig die sind. Verstehen Sie das?«

Ich hatte genickt.

»Hören Sie mir gut zu. Sie müssen bereit sein, zu fliehen. Sollten Sie auch nur eine Sekunde glauben, dass die Ihnen auf der Spur sind, müssen Sie verschwinden.«

Das Handy. Mist, ich habe noch das Handy. Ich hole es aus der Tasche und werfe es auf den Boden, trete mit der Ferse darauf, einmal, zweimal, bis sich die Plastikabdeckung löst. Meine Finger tasten hektisch nach der SIM-Karte. Ich werfe die Reste des Handys in die eine Richtung, die SIM-Karte in die andere. Sie blinkt kurz im Sonnenlicht, bevor sie kreiselnd im Gebüsch landet.

Maggie

»Eine aus Maine stammende Frau wird nach einem Flugzeugabsturz vermisst. Allison Carpenter, 31, wurde zuletzt gesehen, als sie auf dem Midway Airport in Chicago eine einmotorige Maschine bestieg. Einige Stunden später sendete das Flugzeug einen Notruf. Man vermutet, dass es in den Rocky Mountains in Colorado abgestürzt ist. Rettungskräfte suchen nach Spuren des Wracks. Der Pilot, der vermutlich mit einer Privatlizenz flog, wurde noch nicht identifiziert. Gleich beantwortet Dr. Alan Phillips Ihre Fragen zu dem Virus, das derzeit in Bolivien grassiert, und widmet sich der Frage, die uns alle bewegt: Wird das Virus auch zu uns kommen?«

Ich schaltete das Radio aus. All die Jahre hatte ich mitverfolgt, wie das Leben anderer Menschen in den Nachrichten breitgetreten wurde, wie ihre Tragödien sich in Spektakel verwandelten, und jedes Mal hatte ich Mitleid, aber auch Erleichterung verspürt, weil es nicht um mich oder meine Familie ging … bis jetzt.

Linda musste jede Minute hier sein. Ich konnte ihr Auto schon hören, das mehrere Hundert Meter entfernt um die Ecke bog. Sie hatte den Wagen vor zehn Jahren von einer ehemaligen Mary-Kay-Vertreterin gekauft. Jim hasste ihn und konnte es gar nicht erwarten, dass er endlich den Geist aufgab, damit er ihr einen gediegenen Lincoln kaufen konnte, wie es sich für die Frau des Polizeichefs gehörte. Aber genau wie Linda war auch der rosa Cadillac unbezwingbar. Er fuhr noch immer, wenngleich der Motor unglaublich dröhnte und das Getriebe so kaputt war, dass man es in ganz Maine hörte. Und dann stand Linda in der Tür, die blonden Haare noch feucht von der Dusche.

»Maggie.«

Das reichte aus. Ich spürte, wie sich etwas in mir löste. Das Heulen, das ich in meinem Brustkorb gefangen hatte, brach sich Bahn. Sofort war sie bei mir und nahm mich in die Arme. Ich weiß nicht, wie lange ich schluchzte, hörte aber irgendwann, wie ein Motor ansprang und ein Wagen aus der Einfahrt rollte. Die kleine Polizistin hatte Wort gehalten. Linda schob mich in die Küche, wo ich auf einem Stuhl zusammensank.

Ich öffnete die Augen. Linda kauerte vor mir. »Was kann ich tun?« Sie wischte mir die Tränen mit dem Handrücken ab.

»Keine Ahnung.« Ich schaute sie an. »Wo ist sie, Linda? Wo ist sie?« Ich sah nichts als Ally, gefangen in scharfen, verbogenen Metalltrümmern. Mir war, als müsste ich mich übergeben.

»Schsch. Die finden sie, die finden sie.«

Wir blieben eine Weile so sitzen, während Linda mir über die Haare strich. Schließlich konnte ich wieder atmen.

»So, ich habe dir was zum Schlafen mitgebracht und zur Beruhigung, wenn du wach bist.« Sie wühlte in ihrer riesigen Handtasche und holte zwei orangefarbene Glasflaschen mit Tabletten heraus. Sie schüttelte die eine. »Ambien. Die sind für nachts, die hauen dich sofort um. Und diese hier sind für tagsüber.« Sie beugte sich zu mir. »Valium«, flüsterte sie, als könnte uns jemand hier drinnen hören. »Von damals, als Jim den Bandscheibenvorfall hatte.«

Ich nahm die Flaschen, ohne hinzusehen, und stellte sie hinter mir auf die Arbeitsplatte. Ich wusste jetzt schon, dass ich die Tabletten nicht anrühren würde. Medikamente zu nehmen war nie mein Ding gewesen, nicht einmal Kopfschmerztabletten. Charles hatte sich immer darüber lustig gemacht und gefragt, ob ich ohne sein Wissen zu den Siebenten-Tags-Adventisten übergetreten sei. Dabei behalte ich nur gern die Kontrolle über meinen Körper.

»Was kann ich sonst noch für dich tun? Hast du was gegessen? Ich habe einen halben Bananenkuchen dabei, frisch gebacken. Oder ich könnte dir ein Sandwich machen.«

Beim Gedanken an Essen drehte sich mein Magen um. »Nein«, sagte ich kopfschüttelnd, »vielen Dank.«

Sie tätschelte mir den Kopf, stand auf und setzte Wasser auf. »Ich mache uns Tee.«

»Du brauchst nicht hierzubleiben.« Ich hatte ihr immer noch den Rücken gekehrt. »Ich komme wirklich klar, auch wenn alle das anders sehen.« Plötzlich war es mir peinlich, dass ich so geweint hatte. Natürlich war sie meine beste Freundin, aber ich mochte es noch nie, wenn mich jemand weinen sah. Nicht einmal bei Charles war das anders.

»Was redest du denn da? Ich habe doch nichts vor.« Ich hörte zu, wie sie Tee machte, und starrte dabei auf einen Riss in der Wand. Seit wann war er da? Ich verspürte den Drang, mir im Keller einen Eimer Spachtelmasse zu holen und ihn sofort aufzufüllen. Das wäre wenigstens sinnvoll.

Linda stellte mir den Teebecher hin und setzte sich zu mir. Wir tranken ein paar Minuten schweigend. Barney sprang auf den Tisch und stieß mit der Nase gegen meine Wange. Ich streichelte sein langes orangefarbenes Fell. Er schnurrte zufrieden vor sich hin, bevor er hinuntersprang und an seinem leeren Napf schnupperte. Ich stand auf und bückte mich, um Futter nachzufüllen.

»Wusstest du, dass sie an diesem Wochenende unterwegs ist?«, wollte Linda wissen.

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Was sie wohl in Chicago gemacht hat? Ob sie geschäftlich dort war?«

Meine Schultern spannten sich an. »Das weiß ich nicht.«

»Und dazu in einem Privatjet. Ich kenne nur sehr wenige Leute, die in Privatjets fliegen. Vielleicht gehörte er einem Kunden.«

»Linda, bitte. Ich habe doch gesagt, ich weiß es nicht.« Meine zornige Stimme durchschnitt förmlich den Raum.

»Tut mir leid«, sagte sie kleinlaut und schaute in ihren Tee. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, dass ich dir so viele Fragen stelle. Natürlich willst du jetzt nicht darüber reden.«

Das war richtig, ich wollte nicht darüber reden, aber es steckte mehr dahinter. Ich konnte Lindas Fragen nicht beantworten, weil ich überhaupt nichts über Allys Leben wusste.

Ich hatte meine Tochter seit zwei Jahren weder gesehen noch mit ihr gesprochen.

 

 

 

 

Der Mann stand auf dem Felsvorsprung und starrte zu den Bergen hinüber. Die Nachmittagssonne schien heiß, er legte schützend die Hand vor die Augen.

Der Berghang war mit verbogenen Metalltrümmern bedeckt, die Luft roch schwer nach Kerosin. Er sah die Leiche im Cockpit, die bis auf das fehlende Gesicht sehr friedlich wirkte. Der Sitz daneben war leer, der Gurt wie eine Schlange auf dem Leder zusammengerollt.

Er ging im Kreis um das Wrack, zupfte einen Stofffetzen von einem Ast, scharrte mit dem Absatz in der aufgewühlten Erde. Viel war nicht übrig, aber für ihn reichte es.

Er holte das Handy heraus und wählte eine Nummer.

»Ich bin’s. Ich bin hier. Er ist tot.«

Er drehte sich um. Eine Leiche in der Maschine. Eine Reisetasche auf dem Boden, geöffnet, der Inhalt verstreut. Ein paar silberne High Heels, deren Absätze wie spitze Türme in den Himmel zeigten. Keine Spur von ihr.

»Ich bin mir sicher.«

»Nein, keine Spur.«

»Ja, Sir, wird gemacht.«

Er zündete eine Zigarette an und warf das Streichholz in den geborstenen Tank. Beißender Rauch drang ihm in die Lungen, er musste husten.

Ein letzter Blick auf das Wrack, das zu qualmen begann.

Er musste los.

Allison

Ich laufe den ganzen Tag ohne Pause. Das Gras geht in eine steinige Ebene über, die mich an eine Mondlandschaft erinnert. Ich bin umgeben vom Summen der Goldfliegen, die mich stechen, sobald ich stehenbleibe, um mir mit meinem T-Shirt den Schweiß abzuwischen. Die Sonne brennt unablässig auf mich nieder. Ich rationiere das Wasser, nehme nur winzige Schlucke und lasse sie auf der Zunge zergehen. Ich kratze mir die Stiche an den Armen blutig. Die Wunde an meinem Bein klebt an den Leggings fest. Die Luft ist so still, dass ich die Lederriemen knarren höre, wenn meine Tasche auf den Schultern herumrutscht, und unter meinen Füßen knirscht der Schotter. Adrenalin durchflutet mich in Wellen, elektrifiziert und erschöpft mich wieder. Ich gehe. Ich gehe. Ich gehe.

Als ich die Mondlandschaft hinter mir lasse, geht die Sonne unter. Ich sehne mich verzweifelt danach, in den Wald zu rennen, der vor mir liegt, meine letzte Energie in einem fieberhaften Sprint zu vergeuden, hinüber zu den Bäumen und der Illusion von Sicherheit, die sie bieten, aber ich zwinge mich, mein Tempo beizubehalten. Ich habe nicht genügend Essen oder Wasser, um meine Energie zu verschwenden. Sie reicht kaum zum Gehen.

Das Gras bildet zunächst nur braungrüne Büschel und wird dann üppiger. Bald ragen gewaltige Bäume über mir auf und halten die verbliebene Sonnenhitze ab. Die Luft fühlt sich jetzt frisch an, lebendig, und ich atme tief ein.

Ich habe seit sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen.

Mein Gesichtsfeld verengt sich, verschwimmt. In meinem Schädel sirrt es leise, und ich frage mich, ob die Außenwelt das hören kann. Ich starre Vögel an und Insekten und einen gelegentlich vorbeieilenden Hasen. Könnt ihr es hören?, würde ich gerne fragen, aber hier ist niemand, der meine Frage hört, geschweige denn das Sirren. Wenn im Wald ein Baum umfällt …

Mir wird schwindlig.

Seine Wimpern. Dicht und schwarz und geschwungen, die dünne Membran seines Augenlids, die im Schlaf pulsiert. Ich lag immer neben ihm und habe diese Wimpern bestaunt, lang wie die eines Neugeborenen und zum Himmel emporgebogen. Wovon träumst du?, flüsterte ich dann. Träumst du von mir? Sein Atem gab den Takt vor, und die Frage glitt in Wellen auf mich zu und wieder davon, rhythmisch und stetig und immer ohne Antwort. Träumst du von mir?

Ich bleibe mit dem Fuß an einem Ast hängen und stolpere.

Ich kann es mir nicht leisten, mich zu erinnern. Noch nicht.

Immer tiefer in den Wald, bis ich von Bäumen eingekreist bin. Ich finde eine ebene Stelle und breite die Plane aus, ziehe die Decke über mich und schlafe, noch bevor das letzte Licht erloschen ist. Ich träume nicht. Die Leere ist ein Geschenk.

Maggie

Um die Abendessenszeit schaute Linda nervös aus dem Fenster. Sie fuhr wegen ihres grauen Stars nicht gern im Dunkeln, und ich sagte ihr, sie solle heimfahren.

Zuerst empfand ich die Stille, die sich danach im Haus ausbreitete, als Segen, doch nachdem die Uhr ein paar Stunden getickt hatte und Barneys Pfoten über den Steinboden getappt waren, überkam mich Klaustrophobie. Alles, einfach alles in diesem Haus erinnerte mich an sie. Hier hatte sie ihre schmutzigen Fußballschuhe abgestellt. In dem Schrank dort lagen ihre bronzierten Babyschuhe. Das war der Becher, den sie Charles zum Vatertag geschenkt und aus dem seit zwei Jahren niemand mehr getrunken hatte. Im Garderobenschrank lag ein unbeholfen gestrickter Schal, den sie mir in ihrem ersten Jahr nach dem College geschenkt hatte, weil sie wenig Geld hatte, aber zu stolz war, um etwas von uns anzunehmen. Durch die Glastür gelangte man auf die Terrasse, auf der sie sich mit vier Jahren das Kinn aufgeschlagen und ich sie an mich gedrückt hatte, während sie schluchzte und das Blut zwischen meinen Fingern hindurchlief. Ich hatte Atme, atme in ihre kastanienbraunen Haare geflüstert. Sie war ein tapferes kleines Mädchen und hatte beinahe sofort aufgehört zu weinen, aber ich hatte weitergeflüstert. Auch ich hatte mich zum Atmen zwingen müssen.

Schließlich ging die Sonne auf.

So wie Jims Schritte vor der Tür klangen, wusste ich, was er mir gleich sagen würde. Der langsame, schwere Tritt seiner Schuhe auf den Steinen verriet mir alles, was ich wissen musste.

Ich riss die Tür auf. »Sie ist tot, oder?«

Einen Moment lang war er verblüfft, dann wurde sein Gesicht weich, und er nickte. Nur ein Mal.

Ich hatte damit gerechnet, dass ich hysterisch werden, zu seinen Füßen zusammenbrechen und heulen und schreien würde, aber in mir war nur Stille, als schwebte ich mehrere Zentimeter über meinem eigenen Kopf. Ich trat beiseite, um ihn einzulassen, und sah ihm nach, als er in die Küche ging.

Ich selbst blieb auf der Schwelle stehen. »Wo ist sie?«

»Sie haben das Flugzeug am Hang des Electric Peak gefunden. Es sieht aus, als hätte der Pilot die Höhe falsch eingeschätzt. Sie können mehr sagen, wenn sie den Flugschreiber gefunden haben.«

Ich spürte, wie ich nickte, als wäre dies die normalste Sache der Welt, als hätte ich schon immer damit gerechnet, was wohl auch der Fall war. Wann immer ich ihr im Schulbus oder auf dem Flughafen oder in Autos, die von fremden Jungs gesteuert wurden, hinterhergewinkt hatte, hatte ich damit gerechnet, sie nie wiederzusehen, und das war nun geschehen. »Wann kann ich sie sehen?«

Er rieb sich den Nacken. »Es kann eine Weile dauern, bis alles geregelt ist. Es wird eine Untersuchung geben, und wer weiß schon, wie lange sich das hinzieht …«

Er trat von einem Fuß auf den anderen, und ich ahnte, dass er mir etwas verschwieg.

»Wann kann ich meine Tochter sehen, Jim.« Es war keine Frage mehr.

Seine Augen waren klein und rot gerändert. »An der Absturzstelle hat es gebrannt … Eine Explosion beim Aufprall, wie vermutet wird. Es gab nicht viel …« Er schüttelte den Kopf. »Der Schaden ist gewaltig.«

Ich sah verbrannte Erde und geschmolzenes Metall, versengte Haare und brennendes Fleisch. »Entschuldigung.« Ich rannte zur Toilette und erbrach meinen Morgenkaffee. Bräunliche Flüssigkeit spritzte auf das weiße Porzellan, die Säure brannte in meiner Kehle. Mein kleines Mädchen, mein wunderbares kleines Mädchen. Ich erinnerte mich, wie sie als Kind ausgesehen hatte, ein Lächeln so breit wie der Mond, das nun vor mir zerfiel. Wie konnte ich noch am Leben sein, wenn meine einzige Tochter tot war, zerfetzt auf irgendeinem Berg am anderen Ende des Landes? Was konnte es bedeuten, dass ich noch am Leben war, dass mein Herz nicht im selben Augenblick aufgehört hatte zu schlagen wie das ihre? Welche Mutter konnte weiterleben, wenn ihr Kind tot war? Ich spuckte in die Toilette, legte die Stirn an den kühlen Rand der Schüssel und zwang mich, ruhig zu atmen.

Als ich zu Jim zurückkam, schaute er mit ausdrucksloser Miene auf seine Hände. »Es tut mir leid. Das hätte ich dir nicht sagen sollen. Das war unnötig.«

»Nein, ich will nicht, dass du mir irgendetwas vorenthältst. Ich will genau wissen, was passiert ist. Jede verdammte Einzelheit.« Fakten. An ihnen konnte ich mich festhalten, als wären sie eine Boje mitten im Ozean. »Weiß man schon, wie der Pilot hieß?«

»Sie suchen noch nach Angehörigen. Weißt du, ob sie mit jemandem zusammen war? Hatte sie einen Freund?«

»Sie hat niemanden erwähnt.« Was in gewisser Weise stimmte.

Er nickte. »Hatte sie irgendwelche … Ich weiß nicht, wie ich es am besten formulieren soll. War Allison in Schwierigkeiten?«

»Was meinst du?«

»Na ja. Drogen, Alkohol, so in der Art.«

»Ally hat nie viel getrunken, und von Drogen weiß ich nichts, aber –« Mehr sagte ich nicht. Ich kannte meine Tochter nicht. Ich kannte sie schon eine ganze Weile nicht mehr. »Warum fragst du?«

»Nur so, im System sind ein paar Sachen aufgetaucht – egal, es scheint schon länger her zu sein. Vergiss es einfach.«

Ich verschränkte die Arme. »Du verschweigst mir doch nichts, oder?«

»Natürlich nicht.« Jim Quinn war immer ein schrecklich schlechter Lügner gewesen.

»Wird es – ist etwas von ihren Sachen übrig? Das ich bekommen könnte?«

Er schaute mich an, und die Traurigkeit in seinen Augen hätte jeden fertiggemacht. Eine Sekunde lang hasste ich ihn dafür. Ich wollte seine Traurigkeit und sein Mitleid nicht. Ich wollte nur harte, scharfe Fakten. »Die Suche läuft noch. Es geht um die Identifizierung …« Er hielt inne. »Wie gesagt, es gibt eine Untersuchung, daher kann es dauern, bis sie irgendetwas freigeben. Aber ich sorge dafür, dass du es so bald wie möglich bekommst.«

Es. Meine Tochter war jetzt nur noch ein Ding. Was würde Jim wohl tun, wenn ich jetzt anfing zu schreien? Ein langes, lautes Geheul. Vermutlich würde er den Arzt rufen, damit er mich ruhigstellte. Oder Linda mit ihrer Tasche voller Medikamente.

Er starrte auf seine Handrücken und seufzte. »Sie wollen ein Foto von Allison haben.«

»Wieso? Sie hatten doch eins am Flughafen.«

»Ich meine die Medien. Wir bekommen ständig Anrufe von Fernsehsendern, die eins haben wollen, und wenn wir es ihnen nicht geben, suchen sie sich eins im Internet.« Er hielt inne. »Ich dachte, du möchtest es lieber selbst aussuchen.«

Ein Foto von Allison. Meiner Tochter. Das alle sehen würden. Ich stellte mir Menschen vor, die auf ihrem Sofa saßen und darüber sprachen, wie hübsch sie sei, wie jung, so eine Schande. Wie sie sie bemitleideten. Und mich. Es machte mich wütend. Aber ich wusste, Jim hatte recht. »Okay«, sagte ich leise. »Ich sehe mal, was ich finde.«

Gut, dachte ich mir. Ja. Das war eine Aufgabe. Eine kleine Aufgabe, die ich bewältigen konnte.

Ich ging die unebenen Holzstufen in den Keller hinunter und schaltete die nackte Glühbirne ein. Sie flackerte kurz, bevor ihr trübes Licht die Betonwände beleuchtete. Ich hatte den Keller immer zu einer Bibliothek oder einem Spielzimmer umbauen wollen, aber Charles hatte darauf bestanden, ihn als Werkstatt zu benutzen. Jetzt stand die Werkbank verlassen in der Ecke, darauf ein Durcheinander alter Elektrowerkzeuge, und daneben hing an einem Wandhaken unerklärlicherweise ein kompletter Imkeranzug. Charles hatte seine Hobbys geliebt. Der Steinboden war kühl unter meinen nackten Füßen. Schneeschuhe und Langlaufski zwischen Zeltpfosten und Campingkochern. Jeder Zentimeter war mit Kartons vollgestellt, einige geöffnet, die meisten nicht. Ich schlängelte mich hindurch, bis ich fand, was ich suchte. Einen kleinen Karton, auf den mit schwarzem Filzstift »Fotos 2004–2016« gekritzelt war. Nach 2016 hatte es kaum noch Anlässe gegeben, Fotos zu machen.

Zurück in der Küche schlitzte ich den Deckel mit der Schere auf und schaute hinein. Jim beobachtete mich schweigend. Oben auf dem Stapel lag ein Foto von Charles und Allison, die sich lachend im Schnee umarmten. Ich drehte es um. 24.12.2011. Heiligabend. Wir waren auf dem Weg zum Auto gewesen, weil wir in der Kirche das Weihnachtssingen hören wollten, als Ally plötzlich im Vorgarten stehengeblieben und rücklings in den Schnee gefallen war. Zuerst dachte ich, sie wäre gestolpert – sie war an Schnee nicht mehr gewöhnt –, doch dann erkannte ich, dass sie einen Schnee-Engel machte. Ehe ich mich versah, lag auch Charles auf dem Rücken und bewegte Arme und Beine wie Scheibenwischer. Als sie aufstanden, hinterließen sie zwei perfekte Engel im Schnee, und ich fotografierte die beiden mit Allys neuem iPhone. Sie hatte das Bild am selben Tag ausgedruckt und in den Weihnachtsbaum gesteckt, um uns am Morgen zu überraschen. Es war ein wunderbares Weihnachtsfest gewesen.

Ich legte das Foto beiseite. Ich musste rigoros vorgehen, konnte mir nicht erlauben, sämtliche Erinnerungen noch einmal zu durchleben. Ich blätterte durch die Kreuzfahrt zu den Bermudas, die Charles und ich nach seiner Pensionierung unternommen hatten; den Campingausflug mit seinen Freunden in die White Mountains; ein Wochenende am Cape. Fotos von uns mit Ally, als wir sie in Kalifornien besucht hatten, sie sonnengebräunt, mit weißen Zähnen und glücklich, ich und Charles blass und mit Jetlag, aber erleichtert, weil es ihr so gut ging. Ich sehe noch ihre Wohnung, nur zehn Minuten vom Strand entfernt und bis zum Bersten mit ihren ebenso sonnengebräunten und weißzähnigen Freundinnen gefüllt. Alle machten Praktika oder ihren Masterabschluss, verliebten und trennten sich. An unserem letzten Abend in San Diego hatten Charles und ich sie zu ihrem Lieblingsmexikaner eingeladen. Wir hatten uns lächelnd zurückgelehnt, während die Mädchen über die Fajitas herfielen, als hätten sie wochenlang gehungert. Charles schaffte es, nur leicht zu zucken, als die Rechnung kam, und ich weiß noch, wie stolz ich auf meine kleine Familie war, als ich am nächsten Morgen ins Flugzeug stieg. Ich legte ein Foto von dieser Reise beiseite. Ally im hellblauen Baumwollkleid und mit schimmernden dunklen Haaren, wie sie in die Sonne lächelt. Meine Augen wanderten zu den übrigen Fotos. Hier war eins vom 4. Juli 2015, Charles am Strand, während hinter ihm ein Feuerwerk erglühte. Er schaute nicht in die Kamera, man sah seine streichholzdünnen Beine in der Hose und die resignierte Haltung seiner Schultern. Ich legte es weg.

Ich starrte auf meine Hände, die auf dem abgenutzten Holztisch ruhten, die Knöchel wund und geschwollen. Ich drehte langsam meinen Ehering. Ich hatte ihn so lange nicht abgenommen, dass ich mir kaum vorstellen konnte, wie mein Finger ohne ihn aussähe. Die Haut darunter wäre sicher blass und glänzend und würde eine Rille aufweisen, wo der Ring ins Fleisch gedrückt hatte. Er war mir seit Jahren zu eng, aber man konnte ihn nicht weiten, ohne das zartgoldene Gitterwerk zu zerstören. Ganz abgesehen davon, dass ich ihn gar nicht mehr abbekam. Sie würden ihn mir vom Finger schneiden müssen, bevor sie meine Leiche verbrannten, aber keine Minute früher.

Jim ergriff meine Hand. Ihr warmer Druck überraschte mich. Wie lange war es her, dass jemand meine Hand genommen und festgehalten hatte?

Charles hatte man nicht den Ring vom Finger schneiden müssen. Ich hatte ihn abgestreift, bevor sie ihn wegbrachten. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihn mit dem Ring zu begraben, aber er hatte sich für eine Einäscherung entschieden, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass der Ring schmolz. Er war aus billigem Gold, wir waren arm gewesen, als wir geheiratet hatten. Also hatte ich ihn von seinem Finger gestreift und auf meinen Daumen gesteckt und dort war er geblieben, bis ich ihn zu Hause in meinen Schmuckkasten gelegt hatte, neben die Opal-Ohrringe, die Charles mir zum dreißigsten Hochzeitstag geschenkt hatte und die ich nie zu tragen wagte, weil ich sie nicht verlieren wollte. Ich musste den Ring für ihn aufbewahren. Falls er doch zurückkäme.

Ich hätte Ally nicht sagen können, dass ich ihn behalten hatte, weil ich tief im Herzen glaubte, ihr Vater käme irgendwann zu mir zurück. Dann hätte sie mir erklärt, dass Verleugnen ein natürlicher Bestandteil des Trauerprozesses sei, ich aber irgendwann loslassen müsse. Ally ist sehr rational. In dieser Hinsicht kommt sie ganz nach mir (von dem magischen Denken über meinen toten Mann einmal abgesehen), obwohl sie es ungern zugeben würde. Sie wollte immer wie ihr Vater sein, große Träume von den Sternen träumen, statt hier unten auf der Erde Fakten in kleinen, säuberlichen Kästchen abzulegen, so wie ich es tat. Wer konnte es ihr verdenken?

Ich vermutlich. Ein bisschen. Das gebe ich zu.

Ich nahm das Foto, auf dem sie in ihrem blauen Kleid lächelte, und spürte einen Schmerz. Einen tief sitzenden, uralten Schmerz, den ich seit dem Tag ihrer Geburt empfunden hatte – dem Tag, an dem sie ihre Flugbahn aus meinem Orbit in die Welt angetreten hatte.

Ich reichte Jim das Foto. »Sie können das hier verwenden. Es ist ein paar Jahre alt, aber so sehr kann sie sich ja nicht verändert haben.«

Er betrachtete es einen Moment lang. »Sie hatte immer ein wunderschönes Lächeln.«

Ich blickte auf das Foto. »Das hat sie von ihrem Vater.«

Er steckte das Foto in die Hemdtasche und stand auf. »Ich weiß, du möchtest allein sein, und ich will dich auch nicht drängen, aber –«

Ich hob die Hand, um ihn zu bremsen. »Linda kann kommen, wann immer sie möchte.«

Er nickte. »Ich bin sicher, sie kommt gleich vorbei. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.« Er ging zur Tür. »Und, Maggie? Schalte am besten den Anrufbeantworter ein. Die Medienleute werden sich hier melden, sobald die Nachricht sich verbreitet. Das sind Aasgeier.«

Bei der Vorstellung, mit Reportern über Ally zu sprechen, drehte sich mir der Magen um. Ich wollte nicht, dass sie auch nur das kleinste bisschen von ihr bekamen. Ich wollte sie ganz für mich allein. »Danke, Jim. Für alles.«

»Ich wünschte, ich könnte dir besser helfen.« Dann ging die Tür hinter ihm zu, und das Haus war wieder still.

Ich saß am Küchentisch und spürte die Schwere in meiner Brust. Es war, als würde mein Brustkorb Rippe für Rippe auseinandergerissen. Barney strich mir um die Knöchel, doch ich konnte mich nicht überwinden, ihn zu streicheln. Ich konnte gar nichts mehr tun.

Die Uhr tickte. Ich fragte mich, ob es möglich war, mir selbst die Haut abzureißen, mich irgendwie aus ihr zu befreien und meine alten Knochen und mein verwüstetes Herz zurückzulassen.

Ich schaute zur Arbeitsplatte und sah die kleinen Pillenflaschen auf dem Schneidbrett stehen. Ich nahm das Valium, kippte erst eine Tablette in die Handfläche, dann noch eine. Ich schluckte sie ohne Wasser, spürte sie in meiner Kehle kratzen, lehnte mich zurück und wartete, bis das Gefühl verging.

Linda kam, als die Pillen zu wirken begannen. Sie trat ein, ohne anzuklopfen, und nickte, sowie sie meine glasigen Augen bemerkte. »Gut gemacht.« Sie setzte sich zu mir und ergriff meine Hände. Die Medikamente taten ihre Wirkung. Ich fühlte fast nichts, bis auf die wenigen Momente, in denen der Schmerz zu mir durchdrang.

»Wissen sie schon etwas?«, fragte Linda nach einer Dreiviertelstunde. So lange hatte sie vermutlich in ihrem ganzen Leben noch nicht geschwiegen.

Ich schüttelte den Kopf. »Es gibt eine Untersuchung.« Meine Zunge fühlte sich schwer an.

»Das ist gut. Dann hast du wenigstens Gewissheit. Gibt es etwas Neues über den Piloten?«

Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« Ich ließ Ally schon wieder im Stich. So wie wir alle. Dort draußen gab es Antworten, aber ich konnte sie nicht finden. Ally brauchte Fakten, und ich hatte mich absichtlich betäubt. Ich war schwach.

»Jim hat gesagt, sie seien noch dabei, die Angehörigen zu ermitteln, aber sie können seinen Namen ja nicht ewig zurückhalten. Die Presse wird ihn ohnehin bald rauskriegen.«

Wie aufs Stichwort klingelte das Telefon. Wir saßen ganz still da und horchten auf den Anrufbeantworter. Er war immer noch von Charles besprochen: »Hier sind die Carpenters, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton – Piep!« Eigentlich müsste ich ihn neu besprechen – Linda hatte mir sogar angeboten, es zu übernehmen, weil ich meine eigene Stimme nicht leiden kann –, aber ich konnte die Ansage nicht löschen. Wir hatten nie eine Videokamera besessen, also war dies alles, was mir geblieben war. Ein Scherz auf einem Anrufbeantworter.

Es klickte, und eine tiefe, geschmeidige Stimme erfüllte den Raum. »Hallo, Mrs Carpenter, hier ist Leon Terzi vom ›Boston Herald‹. Mein Beileid zu Ihrem Verlust. Ich würde gern mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen, falls Sie einen Moment Zeit für mich haben – sie scheint eine ganz besondere Frau gewesen zu sein. Ich schreibe einen Artikel über den Absturz und bin mir sicher, dass unsere Leser gerne Ihre Erinnerungen an Allison teilen würden. Sie erreichen mich unter 612/5554923.«

Linda und ich hörten, wie der Anrufbeantworter verstummte. »So ein Arschloch«, sagte sie, stand auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. »Was mache ich da eigentlich?« Sie schaltete sie wieder aus. »Lass uns was Richtiges trinken.«

»Nein, danke«, winkte ich ab. Sie machte die Kaffeemaschine wieder an und holte zwei Becher aus dem Schrank. Ich war noch benebelt vom Valium, merkte aber, dass ich allmählich wieder klarer sehen konnte. Ich spürte das Gewicht meiner Hände und Füße, und das Zimmer bewegte sich synchron mit meinen Augen. Ich hätte verdammt gern etwas getrunken und noch eine dieser kleinen blauen Pillen eingeworfen, aber das Telefon hatte mich wachgerüttelt. Ich war wieder ich selbst und durfte mich nicht vor dem Schmerz verstecken. Er sollte über mich hinwegbranden wie die Wellen am Strand.

Meine Tochter ist tot.

Meine Tochter ist tot.

Meine Tochter ist tot.

»Der Mann hat wirklich Nerven, hier anzurufen«, sagte Linda, setzte sich wieder an den Tisch und trank einen Schluck Kaffee. Ich konnte riechen, dass sie Baileys statt Milch hineingeschüttet hatte. »Ich rede mit Jim, ob man da etwas unternehmen kann.«

»Ich gehe einfach nicht ans Telefon«, sagte ich. Das hätte ich ohnehin nicht getan, aber so fiel mir die Entscheidung leichter.

»Und schau auch keine Nachrichten. Das brauchst du dir nicht anzutun. Wenn du möchtest, bringe ich dir ein paar Filme. Oder die Sendung über Jane Austen auf PBS, von der ich dir erzählt habe.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht nötig.«

»Ich bleibe heute Abend trotzdem bei dir. Um dir Gesellschaft zu leisten.«

Arme Linda. Sie wollte mir unbedingt helfen, aber ich hatte nichts zu bieten. Ich war auf einer Insel, die sie nicht erreichen konnte. Das konnte niemand.

»Du solltest wirklich nicht allein sein –«

Ich seufzte. Sie würde nicht lockerlassen. »Ich weiß, du möchtest mir helfen, und dafür liebe ich dich, aber ich wäre wirklich gern allein.«

Ich sah, wie ihr Gesicht in sich zusammenfiel, und erkannte, dass ich sie gekränkt hatte, aber ich konnte es nicht ändern. Der Gedanke, dass jemand – selbst sie – in meinem Haus saß und mir beim Trauern zusah, war mir unerträglich. Ich brauchte keine Zeugen. Ich selbst war Zeugin genug.

Sie schob ihren Stuhl zurück und fing an, im Kühlschrank zu wühlen. »Dann mache ich dir wenigstens was fürs Abendessen, bevor ich gehe. Ich kann dich doch nicht vor Hunger sterben lassen.« Sie erstarrte. »Tut mir leid«, sagte sie leise.

»Du darfst das Wort ›sterben‹ ruhig aussprechen«, entgegnete ich, obwohl es mich dabei kalt überlaufen hatte. »Das ist in Ordnung.«

Sie schoss herum. »Nein, das ist es nicht, und ich wünschte, ich könnte – ich wünschte –«

»Ich weiß.« Ich stand auf und ging zu ihr. Legte ihr die Hand auf den Rücken. Ihr Rückgrat war ein bisschen gekrümmt, genau wie meins, und ich spürte die Wärme, die sie ausstrahlte.

»Es tut mir leid«, sagte sie und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich weiß, nicht ich sollte weinen. Ich sollte stark sein, aber ich fühle mich so – so –«

»Du sollst einfach nur du selbst sein.« Ich rieb ihr den Rücken. Ich war jetzt sehr müde, und mein Arm war schwer, als ich ihn hin und her bewegte. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

»Und ob«, sagte Linda mit blitzenden Augen. »Jemand sollte sich dafür entschuldigen, warum also nicht ich? Du hast das alles nicht verdient, Maggie. Auch Charles hat nicht verdient, was mit ihm geschehen ist, und Ally genauso wenig.«

Meine Augenlider waren auch schwer, und ich fragte mich, wie mein Körper sich überhaupt noch aufrecht halten konnte. Es war, als drückte ein Stiefel von oben auf meinen Kopf und presste mich langsam, aber sicher in die Erde.

»Niemand hat irgendetwas verdient«, sagte ich schließlich. Und diese Wahrheit war so überwältigend, dass meine Knie unter mir nachgaben.

Allison

Halbwach, im morgendlichen Dämmerlicht, rieche ich feuchten, süßlichen Mulch und grauen Rauch. Einen Moment lang glaube ich, ich wäre wieder in meinem Kinderzimmer. Ich höre, wie mich meine Mutter unten an der Treppe ruft, mir Pfannkuchen und Orangensaft verspricht. Ich spüre das Gewicht der Decke, den weichen Pelz des Plüschhundes, der in meinem Bett schläft, den glatten, kühlen Kissenbezug an meiner Wange.

Ich öffne die Augen. Über Nacht hat sich ein Leichentuch aus Nebel über mich gesenkt. Ich setze mich auf, alle Muskeln in meinem Körper protestieren, und ziehe mir die Decke um die Schultern. Ich zittere. Ich fühle mich, als wäre mein Körper in wenigen Stunden um hundert Jahre gealtert. Ich kann mich gar nicht erinnern, wie es war, keine Schmerzen zu empfinden. Die Nacht war kälter als erwartet, meine Finger und Zehen kribbeln, als das Blut wieder zu pulsieren beginnt. Mein Kopf fühlt sich schwer an, als wäre er mit Sand gefüllt, und mein Mund ist trocken und schmeckt nach Metall.

Ich bin am Leben.

Ich muss Wasser finden, bevor ich weitergehe. Meine Vorräte sind fast erschöpft, ohne Wasser kann ich unmöglich einen Berg besteigen.

Ein papierdünnes Lachen dringt aus meinen Lungen. Einen Berg besteigen. Herrgott noch mal.

Ich rolle meine Leggings hoch und inspiziere die klaffende Wunde am Oberschenkel. Der Verband ist mit dunklem Blut verkrustet, die Ränder sind schmutzig. Ich muss ihn wechseln. Ich ziehe ihn vorsichtig ab, aber es tut trotzdem höllisch weh. Der Schnitt sieht entzündet aus, die Haut darum ist blass und ein bisschen angeschwollen. Ich hole das Wundbenzin heraus und wappne mich. Ich könnte schwören, dass das Blut ein bisschen brodelt, als es sich mit dem Alkohol verbindet, aber vielleicht will auch nur mein Gehirn den Schmerz irgendwie bewältigen. Ich verbinde die Wunde wieder und verdränge die Frage nach der letzten Tetanus-Impfung.

Mein Finger unter der Schiene hat sich violett verfärbt, ist aber weniger geschwollen und schmerzhaft. Entweder er heilt, oder die Nerven sind geschädigt. Noch etwas, an das ich lieber nicht denken möchte.

Ich hole die Tüte mit den Nüssen aus der Tasche. Plötzlich bin ich wahnsinnig hungrig, aber ich kann es mir nicht leisten, viel zu essen. Ich knabbere an einer Paranuss und stelle mir vor, sie sei ein Bagel. Nicht dass ich mir in meinem früheren Leben einen Bagel erlaubt hätte.

Mein früheres Leben – dazu ist es schon geworden, sepiafarben und zwischen Buchseiten gepresst, ein Ort, an dem ich Kohlehydrate als Feinde betrachtet habe. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich auf der Landebahn stand, während mir die intensive Hitze in den Ohren summte, oder wie die Wohnung aus Glas und Stahl aussah, von der man auf den Strand blickte, aber ich spüre nichts, nur die schreckliche Angst, die wieder heranschleicht. Sie könnten irgendwo da draußen sein und nach mir suchen.

Beweg dich.

Es ist noch früh, die Sonne scheint schwach durch die Bäume. Die Wildblumen sind noch eingerollt, nur die Spitzen ihrer Blütenblätter lugen zwischen den Blättern hervor. Gestern kommt mir wie ein Traum vor – ein eindringlicher, erschreckender Albtraum –, und heute ist es ähnlich. Alles ist wie benommen. Unwirklich.

Ein Streifenhörnchen bleibt dicht vor mir sitzen, seine Backen mahlen schnell, dann verschwindet es in einem Laubhaufen. Ich steige über einen umgefallenen Baumstamm, dessen Unterseite mit blaugrünem Moos bewachsen und mit winzigen Pilzen gepunktet ist. Die Luft riecht jetzt frischer. Und dann höre ich ein leises Plätschern. Wasser.