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Weil er widerspenstig ist und eine kriminelle Vergangenheit hat, wird der achtzehnjährige Kolima zu den »Saboteuren« eingezogen, einer Spezialeinheit der russischen Armee für Aufträge hinter den feindlichen Linien. Er wird zum Scharfschützen ausgebildet. Seine Fluchtversuche werden vereitelt. Es folgen zwei Jahre Einsatz in Tschetschenien. Nach der Entlassung irrt er durch seine Heimatstadt Bender, schlaflos, voller Haß und Unrast, nicht ohne eine perverse Sehnsucht nach den klaren Verhältnissen des schmutzigen Krieges. Schließlich fährt er nach Sibirien, in der Hoffnung auf Besänftigung durch Einsamkeit und Natur. Nicolai Lilins „Freier Fall“ ist eine detaillierte und grausame Kriegserzählung, der schonungslose Bericht eines Tschetschenien-Kämpfers, der einerseits zwangsrekrutiert wurde, das Regime und dessen Krieg haßt – andererseits aber professionell und erfolgreich mitgemacht hat.
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2011
Nicolai Lilin
Freier Fall
Aus dem Italienischen von Peter Klöss
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel:
Caduta libera
© 2010 Giulio Einaudi editore s. p. a., Torino
Die Arbeit an der Übersetzung wurde gefördert durch ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds e.V.
Umschlagmotiv: Stefano Fusaro / www.libreidee.org
Das vorliegende Buch beruht auf wahren Begebenheiten, es ist ein verzerrtes Abbild des Erlebten.
Geändert habe ich neben den Namen der Personen, Einheiten und Orte auch die zeitliche Abfolge, in der sich die Ereignisse zugetragen haben.
L.
Suhrkamp eBook Berlin 2011
Deutsche Erstausgabe
© der deutschen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Berlin 2011
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels
ISBN 978-3-518-74780-3
www.suhrkamp.de
Daheim war’s mir zu langweilig, in Mamas Schoß,
Da rief mich eines schönen Frühlingstags das geliebte Vaterland zu den Waffen.
Jetzt ist mir nicht mehr langweilig, die Zeit fliegt schneller als eine Kugel ...
(russisches Soldatenlied)
Ein Bürger, der sich nach Erhalt des Einberufungsbescheids zum Wehrdienst nicht beim zuständigen Kommissariat meldet, ohne einen gesetzlich zulässigen Grund dafür vorbringen zu können, gilt als »Deserteur« und wird nach dem Gesetz der Russischen Föderation verurteilt.
(aus dem Gesetz über den Wehrdienst der Russischen Föderation, Artikel 31, Absatz 5)
Ich lief und ließ meinen Schatten auf die steinerne Straße fallen,
die Stiefel hatten meine Füße ruiniert, meinen Helm hätte ich am liebsten weggeschmissen,
der Gewehrkolben schlug gegen meine Arschbacken, und ich dachte an die Frauen ...
Ich stolperte über die Steine, fluchte so gut ich nur konnte.
E-eh, verdammt, die Armee bin ich, unsere Armee, das bin wirklich ich ...
(Aus Die Armee bin ich des russischen Liedermachers S. Trofimow)
Eine Tochter, die Nutte wird, bereitet der Familie weniger Schande als ein Sohn, der Soldat wird.
(Altes russisches Sprichwort)
Als ich achtzehn wurde, hatte ich schon jede Menge Geschichte erlebt. So wie die Welt, nur dass ihre Geschichte viel komplexer war als meine. Mein Heimatland war dabei, sich in ein Reich des Absurden zu verwandeln. Der Kapitalismus, den alle so sehr herbeigesehnt hatten, ließ weiter auf sich warten. Es regierte die Mentalität der Diebe, jener, die auf schnelles Geld aus waren, die schlauer sein wollten als Gott. Wie mein Großvater sagte: »Ein jeder versuchte Gott den Bart abzureißen und ihn sich selbst anzupassen.«
In Transnistrien wurde über nichts anderes geredet als die westliche Gesellschaft. Die USA und Europa waren das lebende Beispiel für wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand, alle wollten verwestlichen und glaubten, wenn sie Markenklamotten trügen, Fastfood äßen und ausländische Autos kauften, würde die Demokratie schon von allein kommen und sich in unserem schönen großen Vaterland etablieren. Es war wie eine ansteckende Krankheit, ein Fieber, dessen Ursprung und Natur sich niemand erklären konnte.
Die postsowjetische Gesellschaft hatte die Werte vernichtet, an die meine Eltern und Großeltern glaubten, jene Menschen, die mich erzogen hatten und die für mich die höchste Stufe menschlicher Weisheit verkörperten. Je mehr die West-Euphorie wuchs, desto unübersehbarer wurden unsere Tage vom Chaos beherrscht.
Und in diesen lustigen Zeiten wurde ich also, wie gesagt, achtzehn.
Eines Frühlingsmorgens, als ich das Haus verließ, fand ich im Briefkasten einen weißen Zettel mit einer roten Zeile, die schräg über das Blatt lief, von einer Ecke zur anderen. Darauf stand, dass die Russische Föderation mich auffordert, mitsamt Ausweis zur Musterung zu erscheinen. Dies sei die dritte und letzte Aufforderung, und wenn ich mich nicht innerhalb von drei Tagen einstelle, drohe mir eine Verurteilung wegen, so wörtlich, »Verweigerung der Pflichterfüllung gegenüber dem Vaterland in Form des Militärdienstes«.
Ich hielt den Wisch für lächerlich, eine reine Formalität, ohne Bedeutung. Ich ging nach Hause, nahm meinen Ausweis und machte mich, ohne mich auch nur umzuziehen, in Hauslatschen auf den Weg zu der angegebenen Adresse, am anderen Ende der Stadt, wo sich eine alte russische Militärbasis befand.
Am Eingang zeigte ich den Wachposten meinen Brief, und sie öffneten schweigend das Tor.
»Wohin muss ich gehen?«, fragte ich einen.
»Immer geradeaus, ist sowieso egal ...«, antwortete mir ein Soldat ohne große Begeisterung und sichtlich genervt.
Idiot, dachte ich noch und ging zu einem Büro mit dem Schild: »Abteilung Wehrdienst und Neuzugänge«.
In dem Büro war es stockfinster, man konnte fast nichts erkennen. Ganz hinten war ein kleines Fenster in der Wand, ein Schalter, durch den ein schwaches gelbes, deprimierendes Licht sickerte. Zu hören war nur das Klappern einer Schreibmaschine.
Als ich näher kam, sah ich eine junge Frau in Uniform, die an einem kleinen Tisch saß, mit einer Hand auf der Schreibmaschine tippte und in der anderen ein Teeglas hielt. Sie nippte an dem heißen Tee und pustete häufig in das Glas, damit er schneller abkühlte.
Ich lehnte mich über den Tresen und reckte den Kopf: Da sah ich, dass die Frau unter dem Tisch eine aufgeschlagene Zeitschrift auf den Knien hielt und in einem Artikel über russische Musikstars las, mit dem Foto einer Sängerin, die auf dem Kopf eine Krone mit Pfauenfedern trug. Das deprimierte mich noch mehr.
»Hallo, entschuldigen Sie bitte, ich habe das hier bekommen«, sagte ich und hielt ihr den Zettel hin.
Die Frau drehte sich zu mir um und sah mich einen Augenblick so verwirrt an, als wüsste sie gar nicht, wo sie sich befand und was hier vorging. Offensichtlich hatte ich sie aus ihren Gedanken und Träumereien herausgerissen. Rasch nahm sie die Zeitschrift und legte sie umgekehrt hinter die Schreibmaschine, so dass ich sie nicht sehen konnte. Dann stellte sie das Teeglas ab und nahm mir ohne aufzustehen schweigend das Blatt mit der roten Zeile aus der Hand. Einen Augenblick starrte sie darauf und fragte dann mit gespenstischer Stimme:
»Papiere?«
»Welche Papiere, meine?«, fragte ich plump und zog meinen Pass und den Rest aus der Hosentasche.
Sie sah mich genervt an und sagte gepresst:
»Na, meine wohl kaum.«
Sie nahm meine Papiere entgegen und legte sie in einen Tresor. Dann holte sie ein Formular aus einem Regal und begann es auszufüllen. Vorname, Familienname, Geburtsdatum und -ort, Wohnanschrift. Dann kamen persönlichere Fragen. Nachdem sie auch noch die Personalien meiner Eltern aufgenommen hatte, sagte sie:
»Schon einmal verhaftet worden, schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten?«
»Also, ich bin noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, aber das Gesetz offensichtlich schon mal mit mir ... Verhaftet wurde ich schon x-Mal, ich weiß nicht, wie oft. Und im Jugendgefängnis war ich zweimal.«
Bei diesen Worten ging eine Veränderung in ihr vor. Sie zerriss das Formular, das sie gerade ausfüllte, und nahm ein anderes, größeres, über das schräg eine rote Zeile lief, wie bei meinem Brief.
Wir fingen wieder von vorne an, noch einmal sämtliche Personalien, diesmal jedoch auch Details meiner Vorstrafen: Nummer des betreffenden Paragraphen und Datum des Urteils. Dann war der Gesundheitszustand dran: Krankheiten, Impfungen, ob ich Alkohol oder Drogen konsumierte, ob ich Zigaretten rauchte. Eine Stunde ging das so ... Da ich nicht mehr genau wusste, wann ich verurteilt worden war, erfand ich einfach irgendwelche Daten und bemühte mich, zumindest ungefähr den Monat zu treffen.
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