Freiheit in Gefahr - Hans-Jürgen Papier - E-Book
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Freiheit in Gefahr E-Book

Hans-Jürgen Papier

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Beschreibung

Freiheit ist die Grundbedingung gelingender Gesellschaften. Diese Erfolgsformel scheint leichtfertig in Vergessenheit zu geraten. Mit Sorge beobachtet Hans-Jürgen Papier, wie unsere einst hart erkämpften Freiheitsrechte Stück für Stück beschnitten werden. Für den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gilt: Auch und gerade in Krisenzeiten, bei der notwendigen Sicherstellung von Gesundheit, beim Schutz vor Bedrohungen durch Terrorismus, Klimawandel und wirtschaftliche Krisen darf die Freiheit nicht aufs Spiel gesetzt werden. Hans-Jürgen Papier zeigt auf, welchen Herausforderungen wir uns heute gegenübersehen und welche Lösungen erforderlich sind, um unser legitimes Bedürfnis nach Sicherheit nicht gegen die Freiheit auszuspielen.

Für den Bundesverfassungsrichter selbst war das Prinzip der Freiheit stets Grundlage und Leitgedanke all der Entscheidungen, an denen er mitgewirkt hat; darunter einige wegweisende Urteile, die die Bürgerrechte in unserem Land gegen versuchte Übergriffe dauerhaft geschützt und gestärkt haben.

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Zum Buch:

Binnen Stunden können unsere Grundrechte suspendiert werden – dies hat die durch das Sars-CoV-2-Virus ausgelöste Pandemie uns vor Augen geführt. Hans-Jürgen Papier drängt beharrlich darauf, sich kritischer mit den Folgen dieser Entwicklung auseinanderzusetzen, die er für unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung befürchtet. Dabei hat die Pandemie nur Symptome verstärkt, die schon vorher wahrnehmbar waren: Der Freiheit, die wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs genießen, ist ihre selbstverständliche Gewissheit abgekommen.

Hans-Jürgen Papier untersucht die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Facetten der Freiheit, und zwar stets mit dem Bezug auf unsere Verfassung, deren oberster Zweck die Freiheit ist.

Er beobachtet besorgniserregende Verschiebungen im Hinblick auf das, was wir politisch als verhältnismäßig empfinden. Durch die sich rasant beschleunigende Globalisierung und unter dem Druck von Klimawandel und Digitalisierung sind unsere Grundrechte stark unter Beschuss geraten. Tendenz steigend: Die politische und gesellschaftliche Bereitschaft, Sicherheit, Gesundheits- oder Klimaschutz gegen die bürgerlichen Freiheitsrechte auszuspielen, wächst.

Papier warnt vor Gefahren, die sich im Zuge der Auseinandersetzung um Terrorgesetzgebung, in der Sozial-, Wirtschafts- und Gesundheitspolitik für die Freiheit ergeben, und er schlägt Lösungen vor, die es erlauben, die Freiheit des Einzelnen – den obersten Zweck der Verfassung – zu wahren und mit den Gemeinwohlbelangen in Einklang zu bringen. Dabei kommt er im Detail zu überraschenden Einsichten, während er mit Blick auf die Zukunft mahnt: Die Freiheit zu verteidigen wird für Politik und Gesellschaft zu einer immer wichtigeren Aufgabe – und zu einer wachsenden Herausforderung.

Zum Autor

Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier wurde im Februar 1998 zum Vizepräsidenten und im April 2002 zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. Wegweisend in seiner Amtszeit war unter anderem das Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung – ein weitreichender Richterspruch zum Schutz der Freiheitsgarantien der Bürger. Nach 12 Jahren schied Prof. Papier 2010 aus dem Bundesverfassungsgericht aus und nahm seine frühere Tätigkeit als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München wieder in vollem Umfang auf. Seit 2011 ist er emeritiert und nach wie vor in der Lehre tätig.

Hans-Jürgen Papier

Freiheit in Gefahr

Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können

Unter redaktioneller Mitarbeit von Holger Heiland

Wilhelm Heyne Verlag

München

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Annalisa Viviani

Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Stefan Linde

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie,

unter Verwendung eines Fotos von: Kay Blaschke / Penguin Random House Verlagsgruppe

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27480-1V001

www.heyne.de

Inhalt

Einleitung

Die Sache mit der Freiheit

Kapitel 1

Corona: Szenen einer Politik im Krisenmodus

Covid-19: Ein Virus hebelt unsere Grundrechte aus

Die Pandemie als Echtzeit-Labor: Politik basiert auf der Interpretation von Wissen

Zwischen Freiheit und Sicherheit: Die Verhältnismäßigkeit politischen Handelns

Schwierige Entscheidungen, fragwürdige Maßnahmen

Wenn Grundrechte zu Privilegien werden

Das Verstummen der Parlamente

Regieren und lavieren

Jenseits von Corona

Kapitel 2

Systemvergleiche

Das chinesische Modell

Neue Unübersichtlichkeit: Ein Einfallstor für Populisten

Starke Männer, Fake News und gespaltene Gesellschaften

Lehren aus der Rechtlosigkeit und ein Blick zurück über die Mauer

Kapitel 3

Rückblick: Wie der freiheitliche Verfassungsstaat entstand

Die Geburtsstunde der politischen Freiheit

Freiheit oder: Die Zähmung des Leviathan

Der Rechtsstaat: Von der Idee zur politischen Wirklichkeit

Das Grundgesetz: Einigkeit und Recht und Freiheit

Die Doppelfunktion der Grundrechte

Freiheit als Zweck der Verfassung

Kapitel 4

Meinungsfreiheit unter den Bedingungen der Digitalisierung

Meinungsfreiheit, Fake News und Demokratie

Meinungen, Schmähungen und Tatsachen

Grenzen der Meinungsfreiheit

Presse- und Rundfunkfreiheit – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Meinungsfreiheit im Internet

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz

»Cancel Culture« – Absagen statt aushalten?

Kapitel 5

Der freiheitliche Verfassungsstaat und die Wirtschaftsordnung

Das Kapital des 21. Jahrhunderts: Big Data

Wenn zu viel freier Wettbewerb die Freiheit des Wettbewerbs bedroht

Eingriffe des Staates dürfen nicht zur Bedrohung des freien Wettbewerbs werden

Sicherung der Grundversorgung als Staatsaufgabe

Die Verfassung lässt Spielraum in Bezug auf unsere Wirtschaftsordnung

Ein Sonderfall: Die Energiewirtschaft

Staatliches Handeln: Zwischen zu viel und zu wenig

Der Datenkapitalismus als Bedrohung von Freiheit und Demokratie

Ungenutzte Gestaltungsspielräume

Kapitel 6

Freiheit und Verantwortung

Chancen und Risiken der Freiheit

Der Ruf nach einer neuen Kultur des Scheiterns

Regulierungsneigung und Überregulierung

Persönliche Verantwortung und zivilgesellschaftliches Engagement

Aufgaben des Staates und der Bürgerinnen und Bürger

Kapitel 7

Freiheit, Föderalismus, Selbstbestimmung

Die Bundesländer und ihre Eigenstaatlichkeit

Die Schwächung der Länder

Freiheit und Gleichheit in der Schule

Der DigitalPakt Schule und die Politik der offenen Hand

Neue Länder braucht das Land

Kapitel 8

Der Wert der Freiheit in der Europäischen Union

Integration als Staatsziel

Das Prinzip der Subsidiarität

Mehr Freiheiten und ihr Preis

Vervielfachter Grundrechtsschutz und Schutzlücken zwischen den Instanzen

In der EU wird es kompliziert

Kapitel 9

Freiheit und Daseinsvorsorge

Soziale Sicherheit als Staatsaufgabe

Altersarmut bekämpfen – aber bitte systemkonform und gleichheitsgerecht

Funktionieren sollte es schon …

Nehmen wir Nachhaltigkeit in die Verfassung auf!

Kapitel 10

Die Zukunft unserer Freiheit

Wie gefährdet ist unsere Freiheit?

Parlamentarische Demokratie und Autoritätshörigkeit

Globalisierung und Nationalstaat

Bildung als Menschenrecht und Voraussetzung von Freiheit

Freiheit braucht Kultur

Freiheit und ihre Voraussetzungen

Nachweise

Einleitung

Die Sache mit der Freiheit

Ob in Hamburg, München, Frankfurt oder Dresden, in Wustrow, Füssen, Mettmann oder anderswo – für uns Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland ist Freiheit vor allem eins: eine Selbstverständlichkeit. Selbst wenn den meisten von uns bewusst ist, dass wir nicht jede spontane Idee jederzeit sofort verwirklichen können, gehen wir doch davon aus, dass wir grundsätzlich die freie Wahl haben, das heißt in unseren Entscheidungen über die Gestaltung unseres Lebens und unseres Alltags frei sind. Selbstverständlich bestimmen wir, wo wir wohnen oder wann wir das Haus verlassen; mit wem wir einen Kaffee oder ein Bier trinken, selbstverständlich lassen wir uns nicht diktieren, wen wir lieben und mit wem wir befreundet sein sollen. Ob wir in die Kirche, die Moschee oder die Synagoge gehen, ist in unser eigenes Ermessen gestellt. Wie wir unsere Meinung bilden, sie äußern und verbreiten, ist unserer Entscheidung überlassen. Selbstverständlich sind uns auch die freie Wahl der Ausbildung, des Studiums, des Berufs, der Arbeitsstätte sowie das Recht auf freien Erwerb von Eigentum und nicht zuletzt das Recht auf freie Wahl der Partnerschaft anheimgestellt. Und reisen können wir im Großen und Ganzen, wie und wohin wir wollen.

Wie bedeutsam unsere Freiheit und die Grundrechte, die sie absichern, für unsere Lebensgestaltung sind, wird sofort und schmerzlich spürbar, wenn sie eingeschränkt werden. Genau diese Erfahrung machen wir in Deutschland seit Mitte März 2020, nachdem von einem Tag auf den anderen als Reaktion auf die pandemische Ausbreitung des neuartigen SARS-CoV-Virus öffentliches Leben und Wirtschaft in der Bundesrepublik flächendeckend heruntergefahren und die meisten unserer Freiheitsrechte, über die wir uns im Alltag kaum Gedanken machen, ausgesetzt oder stark eingeschränkt wurden. Diese Zeit der Restriktion war zwar zunächst nur von einer begrenzten Dauer, Lockerungen folgten, und die schrittweise Rückkehr in Richtung Normalität wurde angestrebt. Doch im Herbst 2020 folgte der nächste sogenannte Lockdown, und trotz aller Bemühungen und entgegen der ursprünglichen Beteuerungen der Regierenden war Ende April – sechs Monate später – immer noch kein Ende in Sicht. Es zeigte sich, dass der Weg bis zur Aufhebung aller Restriktionen auch mit Zulassung der ersten Impfstoffe noch einige Zeit in Anspruch nehmen würde.

Wie kein anderes Ereignis machte die Pandemie uns deutlich, dass es uns mit unseren Grundrechten beziehungsweise Freiheitsrechten in etwa so geht wie mit der Luft zum Atmen: Sind sie vorhanden, nehmen wir sie nicht wahr, fehlen sie, leiden wir unter diesem Mangel. Friedrich Schiller hat diese paradoxe Erfahrung bereits vor über zweihundert Jahren in Worte gefasst, als er schrieb: »… die schönsten Träume von Freiheit werden ja im Kerker geträumt.«1

Ist uns, weil wir als Gesellschaft so lange daran gewöhnt sind, frei zu sein, das Bewusstsein für Freiheit und ihren Wert abhandengekommen? Verstehen wir Freiheit nur noch im konsumistischen Sinn von Freisein in der Wahl von Konsumgütern? Haben wir, während wir uns ständig mit den neuesten Kleidermoden und Einrichtungstrends, Freizeit- und Reisemöglichkeiten beschäftigen und permanent aufgefordert sind, uns zwischen dieser und jener Bedürfnisbefriedigung zu entscheiden, aus den Augen verloren, dass Freiheit auch eine politische Dimension hat?

Vielleicht. Wir brauchen nur einen Blick auf die ehemalige DDR und die anderen untergegangenen Systeme des Ostblocks zu werfen: Dort war der Wunsch nach Reise- und Meinungsfreiheit die wesentliche Triebkraft für das Erstarken der Bürgerrechtsbewegungen; dazu herrschte aber auch in vielen anderen Bereichen des Lebens häufig schmerzlich empfundene Unfreiheit, so für viele etwa bei der Studien- und Berufswahl oder der Möglichkeit, sich außerhalb des bestehenden Parteiapparats mit seinen Hierarchien und Zwängen politisch zu betätigen. Und schauen wir uns um: Es gibt immer wieder Länder und Weltregionen, in denen die herrschenden Regime ihre Politik auf unmittelbare Gewalt oder religiöse Dogmen gründen. Im Iran oder im Königreich Saudi-Arabien, aber auch in Ägypten, dem Jemen, den palästinensischen Gebieten, Indonesien, Pakistan, Malaysia, dem Sudan und in Teilen weiterer afrikanischer Staaten existieren etwa islamische Religionspolizeien, die aus der Scharia abgeleitetes Recht zur Unterdrückung abweichender Meinungen durchsetzen, wobei die Anwendung von Körperstrafen keine Seltenheit ist. Insbesondere den Frauen werden hier viele von uns als selbstverständlich erachtete Rechte vorenthalten.

Welche Freiheiten statthaft sind und für wen sie gelten, ist und war immer umkämpft und hängt von vielen Faktoren, wie dem Stand des Wissens und der Wissenschaften sowie den vorherrschenden gesellschaftlichen Einstellungen, ab. So verfügten die Bürger in den antiken Demokratien über ethisch wohlbegründete Freiheitsrechte, die sie vor tyrannischer Willkür und Unterdrückung schützten, was aber nicht für die Sklaven galt, die unter Zwang deren Wohlstand erarbeiten mussten. Sie hatte man aus dem philosophischen und rechtlichen Diskurs über die Freiheit ausgegrenzt, und so kamen sie auch nicht in den Genuss ihrer Segnungen. Wer meint, bei diesem Beispiel handle es sich um eine längst überholte Fragestellung, ein philosophisches und rechtliches Problem, das sich seit vielen Jahrhunderten erledigt habe, braucht nur in unser Nachbarland Schweiz zu schauen, das sich selbst als Musterland der Demokratie begreift und erst 1971 das Wahlrecht für Frauen eingeführt und somit das Recht auf politische Mitbestimmung auf den weiblichen Teil der Bevölkerung ausgeweitet hat.

Mich persönlich hat das Thema Freiheit mein gesamtes berufliches Leben begleitet. Als Staatsrechtswissenschaftler, insbesondere aber als Richter, als Richter des Bundesverfassungsgerichts und schließlich als dessen Präsident, war ich immer wieder damit befasst, zu untersuchen und zu beurteilen, was Freiheit für das Zusammenleben der Menschen bedeutet, wie sie in unserer Verfassung, dem Grundgesetz, verankert ist und unser Rechtssystem überhaupt erst begründet. Viele Male galt es dabei abzuwägen, wie die Spannungen ausbalanciert werden können und sollen, die sich ergeben, wenn staatlich garantierte Freiheitsrechte des Individuums gegenüber der Staatsgewalt mit Belangen des Gemeinwohls, etwa den ebenfalls wichtigen Sicherheitserfordernissen, in Konflikt geraten – wenn es zum Beispiel darum geht, das Leben von Bürgerinnen und Bürgern vor terroristischer Bedrohung oder den Folgen von Umweltzerstörungen und anderen Katastrophen zu schützen. Das ist selten eine leichte Aufgabe für die Entscheider – wie jetzt in der Corona-Pandemie beobachtet und erfahren werden kann. Ganz pauschal möchte ich aber schon an dieser Stelle sagen, dass die wesentliche Bedeutung der Freiheit für unsere staatliche Ordnung und unser Selbstverständnis immer als Maßstab genommen werden muss.

Was es bedeutet und wie entscheidend es ist, frei zu sein, erfuhr ich bereits in jungen Jahren. Aufgewachsen im West-Berlin des Kalten Krieges, habe ich den Mauerbau und viele weitere Aspekte des DDR-Unrechtsregimes aus nächster Nähe erlebt. Angesichts militärisch aufgerüsteter Grenzanlagen und langer Stunden Wartezeit im Transit bekam die Idee von Freiheit für mich eine besondere und persönliche Bedeutung. Ich erinnere mich noch heute, wie wir in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit unserem VW-Käfer bisweilen stundenlang am Grenzübergang Babelsberg auf die Einreise in die DDR oder, wenn wir, aus dem Bundesgebiet kommend, die DDR durchquert hatten, auf die Einreise in unsere Heimatstadt warteten. Hier mussten wir, als die Reihe endlich an uns war, unser gesamtes Gepäck ausladen, und die Grenzsoldaten durchsuchten akribisch den Wagen. Dabei hoben sie sogar die Rückbank wegen darunter vermuteter geschmuggelter Waren, Dokumente oder gar Republikflüchtlinge an. Selbstverständlich waren wir und insbesondere unsere Kinder immer froh, wenn wir das hinter uns hatten und an den Grenzsoldaten mit ihren Maschinenpistolen vorbei waren.

Hätte ich nur wenige Kilometer weiter östlich gelebt und meinen Bildungsweg statt in West-Berlin in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, absolvieren müssen, wäre mir das Studium der Rechtswissenschaft mit Sicherheit verwehrt gewesen, da meine Eltern nach DDR-Diktion nicht zur Arbeiterklasse gehörten. Als Sohn einer Bäckermeisterfamilie hätte ich wohl als Angehöriger der »Bourgeoisie« gegolten und als solcher aller Wahrscheinlichkeit nach nicht studieren dürfen. Nach meiner ersten juristischen Staatsprüfung 1967 in Berlin machte ich dort mein Referendariat und wurde Assistent bei Staatsrechtsprofessor Karl August Bettermann an der Freien Universität Berlin. Es war die Zeit der APO und der Studentenunruhen. Als Referendar hatte ich nur wenig direkte Berührungspunkte mit den Protesten. Ich erinnere mich aber, dass ganze Semester lang wichtige Lehrveranstaltungen ausfallen mussten, weil die Hörsäle verbarrikadiert waren. Für Studentinnen und Studenten hieß das unter anderem, dass Klausuren nicht geschrieben und Scheine nicht gemacht werden konnten, sie also in ihrem Fortkommen empfindlich behindert wurden. Professor Bettermann erging es wie vielen seiner Kollegen auch, er wurde bei den sogenannten Streiks mitunter sogar durch physische Gewalt an der Lehre gehindert. Heute wundere ich mich angesichts dieser Ereignisse manchmal, wenn es heißt, Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft nähmen rasant zu. Als 1967 der Besuch des Schahs von Persien bevorstand, der wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen international in der Kritik stand, herrschten in Berlin mancherorts durchaus bürgerkriegsähnliche Zustände; wenn man den Kurfürstendamm entlangfuhr, sah man an manchen Tagen rechts und links brennende Autos. So konnte man mitten im »Schaufenster des freien Westens« das Entstehen rechtsfreier Räume beobachten.

Nach der Promotion 1970 und der zweiten juristischen Staatsprüfung 1971 habilitierte ich mich zwei Jahre später an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über die Grundrechtseingriffe und ihre Rechtsformen – ein Thema, das mich nicht mehr loslassen sollte – und nahm 1974 den Ruf der Universität Bielefeld auf die Professur für Staats- und Verwaltungsrecht an. Dort war ich später Mitbegründer und Erster Leiter des Instituts für Umweltrecht. 1992 erhielt ich den Ruf auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München, beschäftigte mich schwerpunktmäßig weiter mit deutschem und bayerischem Staats- und Verwaltungsrecht sowie öffentlichem Sozialrecht und damit mit der Frage, wie der gesellschaftliche Wandel und unsere grundgesetzlich-freiheitliche Verfasstheit sich gegenseitig beeinflussen.

Neben der akademischen Tätigkeit übernahm ich bereits früh mehr und mehr praktisch ausgerichtete juristische Ämter und Aufgaben, so von 1977 bis 1987 als Richter im Nebenamt am Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen. In einer Zeit, in der der Terrorismus des Deutschen Herbstes die Republik in Atem hielt, fällten wir dort Grundsatzurteile insbesondere zum Umweltschutz, in Rechtsgebieten also, die damals ganz neu erschlossen werden mussten.

In den Neunzigerjahren – von 1991 bis 1998 –, nach der friedlichen Revolution in der DDR und dem Fall der Mauer, war ich mit der Aufarbeitung des DDR-Unrechts befasst. Als Vorsitzender der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR konnte ich hier, anschließend an meine persönlichen Erfahrungen aus der Jugendzeit, ausführlich Einblick in die Strukturen und Verfahrensweisen dieses wenig freien Systems nehmen.

1998 wurde ich zum Richter und Vizepräsidenten sowie Vorsitzenden des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts gewählt und im Jahr 2002 nach dem Ausscheiden von Jutta Limbach zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. Vor allem infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika begann die Politik damals auch in Deutschland, die staatlichen Sicherheitsgesetze gewaltig auszubauen. Wesentliche Stichworte in diesem Zusammenhang lauteten: Großer Lauschangriff, Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchung, Luftsicherheitsgesetz, Rasterfahndung nach sogenannten Schläfern, anlasslose Erfassung von Kfz-Kennzeichen im öffentlichen Straßenverkehr und Telekommunikationsüberwachung durch die Nachrichtendienste. Als Richter und Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hatte ich darüber mitzuentscheiden, inwieweit diese Gesetze der neuen Sicherheitsarchitektur verfassungsgemäß waren. Mit einiger Genugtuung kann ich sagen, dass das Bundesverfassungsgericht damals sehr deutliche Zeichen für die Freiheit und gegen eine überbordende Sicherheitspolitik gesetzt hat.

Auch heute noch denke ich, dass wir unsere seit der Aufklärung erkämpften Freiheiten nicht leichtfertig verspielen sollten. Unsere Grundrechte – und damit die Freiheit und Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger – bilden das Rückgrat unserer Demokratie. Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit scheint mir auf die Dauer, allen Verfechtern autoritärer Maßnahmen und »illiberaler« Demokratieauffassungen zum Trotz, kaum erstrebenswert. Statt für Gerechtigkeit und Ausgleich zu sorgen, würde sie auf lange Sicht unweigerlich eine Herrschaft der Mehrheit oder einer straff organisierten Einheitspartei über die Minderheiten und politisch Andersdenkenden zementieren. Erst die rechtsstaatlichen Elemente unserer Verfassung sichern die Einzelnen vor staatlicher Willkür und garantieren ihnen ihre Freiheit. Hierfür bindet das Grundgesetz die Gesetzgebung (die Legislative), die vollziehende Gewalt (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative) gleichermaßen an die verfassungsmäßige Ordnung und an Recht und Gesetz. Einst als Provisorium in Reaktion auf die Erfahrungen aus der rechtlosen Terrorzeit des Nationalsozialismus für das freie Westdeutschland entworfen, hat das Grundgesetz nun bereits seit über siebzig Jahren für Stabilität und Rechtssicherheit gesorgt. Mit den in ihm enthaltenen Grundrechten verfügt es über einen Kanon fundamentaler und unverbrüchlich festgeschriebener Rechte, die den Kern unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung ausmachen. Sie definieren unsere Freiheit, und auch die EU ist auf ähnliche Grundwerte und die Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit gegründet.

Trotz dieser Absicherungen ist die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen für den Fortbestand und das Funktionieren unserer parlamentarischen Demokratie entscheidend. 1922 charakterisierte Thomas Mann in seiner Rede »Von Deutscher Republik« die »Freiheit« in der Demokratie folgendermaßen: Diese sei kein bloßer Spaß und kein Vergnügen, der andere Name für »Freiheit« laute vielmehr »Verantwortlichkeit«.2 Damit meinte er, dass der demokratische Staat nicht die Angelegenheit weniger ist, sondern dass er alle etwas angeht, dass jeder Bürger, jede Bürgerin Verantwortung für Staat und Verfassung trägt. Das gilt insbesondere für die heutige Jugend, die nicht der vielfach beschriebenen und beschrienen Politik- und Parteienverdrossenheit überlassen werden darf. Es gibt gute Gründe, der vermehrt kursierenden Einstellung, sich für die Freiheit zu engagieren, sei von gestern, entgegenzuwirken. Wer an Stelle von Verantwortung und Beteiligung opportunistisch auf starke Führung und einen zwar vielleicht wohlwollenden, notfalls aber autoritären Fürsorge- und Wohlfahrtsstaat vertraut, trägt zur Infantilisierung der Gesellschaft bei. Wer das nicht will, sollte sich klarmachen, dass Freiheit und Selbstbestimmung mündige Bürgerinnen und Bürger brauchen, eigenverantwortlich handelnder Menschen bedürfen. Das entspricht im Übrigen ganz dem Menschenbild des Grundgesetzes, das das Individuum als autonome Persönlichkeit begreift, das in der Gemeinschaft steht und ihr verpflichtet ist.

Gesellschaft und Wirtschaft sind heute gezwungen, einer sich im Großen wie im Kleinen radikal verändernden Welt zu entsprechen. Das Recht muss die dafür nötigen Anpassungsprozesse unterstützen, kann aber das Sicheinstellen nicht vollziehen, sozusagen den Menschen abnehmen. Es entwickelt weder einen Lebensplan noch eine Vollversicherung, weder für die einzelnen Bürger noch für die Gesellschaft im Ganzen. Statt einen trügerischen und letztlich lähmenden Glauben zu verstärken, dass es so weitergehen werde wie bisher und dass alles Liebgewonnene bis in alle Zukunft gesichert sei, sollte die Rechtsordnung – jedenfalls auch und vermehrt – wieder zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative ermutigen und diese sichern. Von dieser Eigenverantwortlichkeit lebt unser Gemeinwesen. Das vorliegende Buch versteht sich als Plädoyer für ihre Stärkung.

Dass die hier geforderte Selbstbestimmung und Verantwortung der Einzelnen für das eigene Handeln wieder aufleben kann, hat meines Erachtens mehrere grundsätzliche Anforderungen an Staat und Gesetzgebung zur Folge. Zum einen muss die Politik den permanenten Krisenbewältigungsmodus hinter sich lassen. Gesetzgebung darf kein Feld persönlicher Profilierung sein, wie das stellenweise bei der Einführung von Maßnahmen zur Einhegung der Corona-Pandemie zu beobachten war. Generell sollte die Rechtsetzung nicht weiter überregulieren. Nicht jede aktuell auftretende Fragestellung braucht ein neues Gesetz. Die konsequente Anwendung geltenden Rechts wäre vielfach die richtigere Entscheidung, auch wenn sie nicht dazu beiträgt, die eigene Politiker-Persona – letztlich zu Unrecht – ins Rampenlicht zu rücken. Stattdessen wäre die Forderung zu stellen, lieber weniger, dafür aber handwerklich bessere und absehbar nachhaltige Gesetze zu schaffen, die auch tatsächlich umgesetzt werden können.

Zum anderen müsste der Gesetzgeber beziehungsweise die gesetzgebende Gewalt, wenn sie die grundgesetzlich verankerten Freiheitsrechte stärken will – wozu sie durch unsere Verfassung verpflichtet ist –, zwingend dafür sorgen, dass die hierfür nötigen sogenannten Grundrechtsvoraussetzungen erhalten bleiben oder geschaffen werden. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger müssen die Möglichkeiten und reellen Chancen erhalten, ihre verbrieften Grundrechte auch wahrzunehmen, und zwar in ökonomischer wie sozialer Hinsicht und, besonders wichtig für die Zukunftsfähigkeit unserer rechtsstaatlich-liberalen Demokratie, im Hinblick auf – nicht zuletzt politische – Bildung. Ohne diese Grundsteine für gesellschaftliche Mitwirkung bleiben alle Forderungen nach mehr Initiative, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Einzelnen politische Rhetorik.

Kapitel 1

Corona: Szenen einer Politik im Krisenmodus

Covid-19: Ein Virus hebelt unsere Grundrechte aus

Das Virus SARS-CoV-2, was, aus dem Englischen übersetzt, »schweres – akutes – Atemwegssyndrom-Coronavirus Typ 2« heißt, wurde Ende 2019 in der chinesischen Stadt Wuhan zuerst entdeckt und beschrieben. Am Abend des 27. Januar 2020 tauchte, wie die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 29. Januar berichtet, die erste Infektion in Deutschland auf: Ein Mitarbeiter des Automobilzulieferers Webasto im bayrischen Landkreis Starnberg hatte sich auf einer Schulung im eigenen Haus, zu der eine Kollegin aus Schanghai geladen war, angesteckt. Weitere Mitarbeiter erkrankten, die Firma stellte für zwei Wochen den Betrieb ein, und Ende Februar konnten alle Infizierten aus den Krankenhäusern, in denen sie isoliert und behandelt worden waren, als genesen entlassen werden. Ebenfalls Ende Februar wurden jedoch weitere Infektionen und Infektionslinien in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen bekannt, wenig später, am 11. März, stufte die Weltgesundheitsorganisation WHO die sich weltweit verbreitende, vom Coronavirus verursachte Krankheit COVID-19 als Pandemie ein. Zu diesem Zeitpunkt waren die Infektions- und Todeszahlen vor allem in Italien und Spanien bereits stark angestiegen. In Italien, aber auch in New York gab es sehr schnell in den Krankenhäusern zu wenig Intensivbetten, Beatmungsgeräte und Fachpersonal, um alle schwer Erkrankten zu behandeln. Es zeigte sich, dass die Pandemie nicht nur die dem Virus ausgesetzten Menschen bedrohte, sondern auch das gesamte Gesundheitswesen.

Situationen wie in Italien oder auch in New York wollte man in Deutschland unbedingt vermeiden. Am Abend des 12. März appellierte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Anschluss an ein Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder an die Bevölkerung, »wo möglich auf Sozialkontakte zu verzichten«. Sie bezeichnete die Lage als außergewöhnlich, sogar in noch stärkerem Maße als während der Finanzkrise der Jahre 2008/2009, und sprach erstmals von einer gesundheitlichen Herausforderung, auf die es vonseiten der Medizin und Wissenschaft noch kaum Antworten gebe. »Ganz besondere Situationen erfordern auch besondere Maßnahmen. Das ist alles andere als irgendwie eine kleine Facette in einem Lauf der Geschichte, sondern es ist ein Einschnitt, der uns sehr viel abverlangt.«3

Am 16. März beschlossen der Bund und die Länder sogenannte Leitlinien für ein einheitliches Vorgehen, das die massive Einschränkung unseres Alltagslebens zur Folge hatte. Der Einzelhandel, der nicht auf die Befriedigung des täglichen Bedarfs ausgerichtet war, musste schließen – offen blieben Lebensmittelläden, Lieferdienste und Getränkeläden, Apotheken, Zeitungsverkaufsstellen, Bau- und Gartenmärkte, in einigen Bundesländern auch Buchhandlungen. Geschlossen wurden Spielplätze, Freizeit- und Sporteinrichtungen sowie Festspielhäuser und Kulturstätten aller Art; Gottesdienste wurden ausgesetzt, Zusammenkünfte in Vereinen, Volkshochschulen und Musikschulen sowie anderen Bildungseinrichtungen verboten, ebenso Busreisen. Besuche in Krankenhäusern und Altenheimen konnten nur noch stark eingeschränkt stattfinden, die Öffnung von Gaststätten wurde auf die Zeit von 6.00 bis 18.00 Uhr begrenzt. Reisen sowie nächtliches Beherbergen waren nur unter eng gefassten Bestimmungen erlaubt.

Eine weitere Bund-Länderrunde am 22. März setzte schließlich ein umfassendes Kontaktverbot an die Stelle von weiteren Ausgangsbeschränkungen. Bürgerinnen und Bürger hatten nun ihre sozialen Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren. Für den öffentlichen Raum wurde ein Mindestabstand zwischen den Menschen von 1,50 Metern, besser 2 Metern definiert und ein Aufenthalt nur allein, mit einer weiteren Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet. Möglich blieben der Weg zur Arbeit, die Notbetreuung von Kindern, die Teilnahme an erforderlichen Terminen, individueller Sport und Bewegung an der frischen Luft. Größere Feiern – auch in privaten Räumen – und kulturelle Events wurden untersagt, Gastronomiebetriebe wurden nun ganz geschlossen, nur Take-away von Speisen und Getränken blieb gestattet. Die Einhaltung von Hygienevorschriften war zwingend, und wirksame Infektionsschutzmaßnahmen wie Maskentragen waren Pflicht.

Trotz der Rigorosität, mit der diese Leitlinien in unsere Grundrechte eingriffen, war die Akzeptanz in der Bevölkerung durchgehend hoch und blieb es auch über den ersten Lockdown hinaus; so hielten auch im Spätsommer noch deutlich über die Hälfte der Deutschen (59 Prozent) das staatliche Vorgehen zur Bekämpfung der Pandemie für angemessen; mehr als einem Viertel (28 Prozent) der Befragten gingen die Einschränkungen sogar nicht weit genug. Nur elf Prozent empfanden die Maßnahmen der Umfrage zufolge als übertrieben.4

Die Pandemie als Echtzeit-Labor: Politik basiert auf der Interpretation von Wissen

Die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschland ist mit der Corona-Pandemie in erster Linie infolge der Verbote und Einschränkungen in Berührung gekommen, die sie in ihren als selbstverständlich erachteten, rechtlich garantierten Freiheiten beschnitten haben. Nach unserer Verfassung – dem Grundgesetz – ist das Volk der Souverän im Staat und damit Träger der höchsten Gewalt. Er übt diese Gewalt mittels der von ihm gewählten Repräsentanten aus, also der Organe der Gesetzgebung (Bundestag und Bundesrat), der vollziehenden Organe (Regierungen und Verwaltungen) sowie der Gerichte. Letztere wachen darüber, dass politische Entscheidungen mit geltendem Recht übereinstimmen. Die Regierungen und Verwaltungen sind nach diesem Modell verpflichtet, so zu handeln, wie sie es gegenüber dem Souverän, also dem Volk, als vernünftig und richtig begründen können und wie es dem Willen der gewählten Vertretung des Volkes – sprich: dem Parlament –, der sich in den verabschiedeten Gesetzen manifestiert, entspricht.

Damit Volksvertreter sachgerecht und im Sinne ihrer Wähler wie der Allgemeinheit entscheiden können, gründen sie ihre Positionen einerseits auf ein möglichst umfassendes Wissen davon, wie die Welt und die Verhältnisse in ihr beschaffen sind und welchen Platz wir in ihr einnehmen, andererseits auf einen Wertekanon, der sich für die Gesellschaft aus diesem Wissen ergibt und der mit den Veränderungen des Wissens ebenfalls Anpassungsprozesse durchläuft. Eine ihrer Hauptaufgaben ist es daher, sich zu informieren: über den Stand des aktuell verfügbaren Wissens und über die Einstellungen und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger, die sie vertreten. Als im März 2020 und in der Folgezeit über die Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspolitik beraten wurde, hatte man so gut wie keine verlässlichen Erkenntnisse über geeignete und erforderliche Maßnahmen. Denn tatsächlich war das Virus zu diesem Zeitpunkt neuartig und noch kaum erforscht. Trotzdem musste in kurzer Zeit darüber entschieden werden, was zu tun sei.

Wenn es um Infektionskrankheiten geht, ist in Deutschland in erster Linie das Robert-Koch-Institut dafür zuständig, die Politik mit Daten, Fakten und Hinweisen zu versorgen. Die Bundeskanzlerin ließ sich unter anderem auch von Christian Drosten, Virologe an der Berliner Charité, beraten, der mit seinem Coronavirus-Update beim NDR früh zu einem der Meinungsführer in Sachen Pandemie avancierte. Der Virologe Hendrik Streeck von der Universität Bonn, der in Heinsberg (NRW) mit einem Forscherteam eine Studie zur Ausbreitung des Virus durchführte, leitete aus den Ergebnissen ebenfalls Forderungen an die Politik ab, denen im Frühjahr 2020 der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet folgte. So gab es nach Ankunft des Virus in Deutschland recht bald eine relativ gesicherte Faktenbasis: Es lagen Zahlen vor, die zeigten, dass sich viele Menschen infizierten, von denen einige starben, und es gab bestimmte Erkenntnisse über das Virus selbst und die möglichen Wege seiner Verbreitung wie seines Nachweises. Gleichzeitig herrschte unter den Wissenschaftlern keine Einigkeit darüber, welche Schlüsse aus den verfügbaren Fakten zu ziehen waren. Das Wissen, das der Medizin in dieser Phase der Pandemie zur Verfügung stand, wurde von der Zunft unterschiedlich interpretiert. Und je nachdem, welcher Interpretation ein Politiker folgte, fiel die Entscheidung für einen langen, strengen Lockdown oder für weniger rigide Maßnahmen und möglichst frühe Lockerungen.

Durch ihre Omnipräsenz in den Medien gewährte die Corona-Pandemie in gewisser Hinsicht einen so noch nicht da gewesenen Echtzeit-Einblick in das Entstehen und Anwachsen von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Erkenntnis. Tageszeitungen und die Nachrichtenformate sowie Sondersendungen in Rundfunk und Fernsehen lieferten jeden Tag die aktuellen Fallzahlen und Entwicklungen; Experten wie die schon genannten Virologen Christian Drosten und Hendrik Streeck deuteten sie in den Tagesthemen oder dem heute journal. Dabei mussten zwar für sicher gehaltene Einsichten immer wieder korrigiert und Folgerungen präzisiert werden; dennoch entstand mit der Zeit eine solider werdende Basis an Pandemiewissen. Begriffe und Modelle aus der Virologie fanden über die Wissenschaftscommunity hinaus Verbreitung, wie zum Beispiel die als R-Wert bekannt gewordene Reproduktionszahl. Sie gibt an, wie viele Personen ein COVID-19-Infizierter in einem definierten Zeitraum ansteckt, und lässt so Rückschlüsse auf die Entwicklung des Pandemiegeschehens und seine Dynamik zu. Gleiches gilt für die Einsicht in die Notwendigkeit von Hygienemaßnahmen: Häufiges Händewaschen, Desinfizieren, Abstandhalten und – nachdem es zunächst nicht als zielführend angesehen worden war – das Tragen von Mund-Nasen-Schutz haben sich als Standards durchgesetzt, deren Verletzungen, wo sie nicht geahndet werden, zumindest als grobe Unhöflichkeit gelten. Das Masketragen halten mittlerweile die meisten Experten wie der Großteil der Bevölkerung für den wichtigsten Schlüssel zur Eindämmung der Pandemie.

Währenddessen fungierten Talkshows wie Anne Will oder Hart aber fair in der ARD als Labore, in denen live beobachtet werden konnte, wie die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zwischen Experten und Entscheidungsträgern diskutiert und abgewogen wurde. Auch, wenn nicht immer klar zu unterscheiden war, ob alle geforderten Einlassungen strikt zur Sache gemeint waren oder ob es – etwa bei den beiden konkurrierenden Landesvätern Armin Laschet und Markus Söder – um die Profilierung der eigenen Politiker-Persona ging. Fakt ist, das Ringen darum, die notwendigen Schutzmaßnahmen und die damit verbundenen Zumutungen auszubalancieren, fand in breit geführten öffentlichen Diskussionen statt und im Mittelpunkt der Überlegungen standen immer wieder einige der entscheidenden Punkte.

Zwischen Freiheit und Sicherheit: Die Verhältnismäßigkeit politischen Handelns

Am 26. April sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel einen Satz, der in der Folge zu Recht viel zitiert wurde: »Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen, das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.«5 Diese Aussage enthält den Kern der Debatten um Lockdown oder Rückkehr zur Normalität – und darüber hinaus eine entscheidende Frage politischen Handelns in freiheitlich demokratisch verfassten Gesellschaften überhaupt: nämlich die nach der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel im Hinblick auf die Lösung eines Problems.

Sicherlich geht es hinsichtlich der Gefahren von Corona tatsächlich um Leben und Tod, was einschneidende Eingriffe auch in Freiheitsrechte rechtfertigt. Es muss auf der anderen Seite aber immer mitbedacht werden, was diese Eingriffe und die über Wochen und Monate durchgehaltenen Maßnahmen anrichteten: im Hinblick auf die Wirtschaft und den drohenden Anstieg der Arbeitslosigkeit, aber auch zum Beispiel auf zu Hause isolierte Kinder. Das bedeutet, was einmal als richtig erkannt und beschlossen worden ist, muss auch in der Folge weiter auf seine Auswirkungen und deren Verhältnismäßigkeit hin beobachtet werden. Oder allgemeiner formuliert: Wenn der Staat in das Leben der Menschen eingreift, führt das fast notgedrungen zu Spannungen zwischen den Polen der Freiheit und Sicherheit. Solche Spannungen treten in allen möglichen Lebensbereichen auf, und jedes Mal muss ein überzeugender Ausgleich zwischen ihnen erreicht werden.

Darauf verpflichtet schon das Grundgesetz durch zwei Maximen, die in jeder Gesetzgebung und im Handeln aller staatlichen Akteure berücksichtigt und ausbalanciert werden müssen. In Artikel 2 Absatz 2 heißt es zum einen: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Hieraus ergibt sich auch die Verpflichtung des Staates, sich bei Gesundheits- und Lebensbedrohungen schützend vor bedrohte Personen und ihre Rechtsgüter zu stellen, etwa bei Epidemien, großen Unfällen oder Naturkatastrophen.

Zum anderen lautet der folgende Satz desselben Absatzes: »Die Freiheit der Person ist unverletzlich.« Wie die Sicherheit sind auch die Freiheits- und Menschenrechte nach dem Grundgesetz Verfassungsgüter von höchster Relevanz. Aus diesem Grund stehen sie in den Artikeln 1 bis 19 als garantierte Grundrechte an exponierter Stelle der Verfassung. Sie sind darüber hinaus ihrem Wesensgehalt nach geschützt, was so viel heißt, wie dass sie ihrem Sinn nach nicht verändert werden und ihre allgemeine Bedeutung nicht verlieren dürfen. Legislative, Exekutive und Judikative sind ihrer Wahrung verpflichtet und an sie und das aus ihnen abgeleitete Recht gebunden.

So ist es zwar unter bestimmten Voraussetzungen – beispielsweise und vor allem aufgrund von Gefahr für Leib und Leben – grundsätzlich erlaubt, Freiheiten einzuschränken, wie durch die unterschiedlichen Lockdowns geschehen. Immer muss dabei aber geprüft werden, ob die ergriffenen Maßnahmen Wirkung zeigen und ab wann sie wieder gelockert oder aufgehoben werden können. Wenn abzusehen ist, dass gewählte Maßnahmen mehr Folgeschäden nach sich ziehen, als dies im Hinblick auf den Schutz, den sie wirklich bieten, verhältnismäßig erscheint, ist es Zeit gegenzusteuern. Dabei müssen Gesetzgeber und die Behörden die ergriffenen Freiheitseinschränkungen stets rechtfertigen, nicht aber die Lockerungen, die Freiheiten wiederherstellen.

Aus der doppelten Schutzfunktion unserer Grundrechte ergeben sich grundlegende Anforderungen an den Staat, auf die ich in Kapitel 3 »Rückblick: Wie der freiheitliche Verfassungsstaat entstand« näher eingehe. Zum einen handelt es sich dabei um einklagbare Freiheits- und Abwehrrechte der Einzelnen gegen den Staat, zum anderen begründen ebendiese Freiheitsrechte des Einzelnen auch Schutzpflichten des Staates für die Bürgerinnen und Bürger, die in ihren Grundrechten durch Dritte (etwa durch Terrorrangriffe) oder durch objektive Ereignisse – wie Katastrophen oder Epidemien – bedroht werden.

Schwierige Entscheidungen, fragwürdige Maßnahmen

Wie beschrieben setzten der Staat und seine zuständigen Organe mit dem Ziel, Leib und Leben von Bürgerinnen und Bürgern zu schützen, im März und dann erneut ab November 2020 fundamentale Grundrechte weitgehend außer Kraft, in einem für unsere rechtsstaatlich verfasste Demokratie bislang einmaligen Ausmaß. Das betraf vor allem anderen die allgemeine Handlungsfreiheit und die klassische Bewegungsfreiheit. Zusätzlich wurden weitere als grundlegend angesehene Rechte ausgesetzt oder erheblich beschnitten: Das Verbot, Gottesdienste abzuhalten, schränkte die Religionsfreiheit ein, insbesondere die Freiheit der Religionsausübung. Ebenfalls nur drastisch limitiert konnten die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit in Anspruch genommen werden – und das in einer Situation, die in ihrer Brisanz geradezu dazu aufzufordern schien, politisch Stellung zu beziehen. Die Aufzählung lässt sich fortsetzen: Von der Kunstfreiheit über die Freiheit von Forschung und Lehre bis zur Berufs- und Eigentumsfreiheit nach Artikel 12 und 14 des Grundgesetzes haben die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in beinahe alle Bereiche des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens eingegriffen.

Verständlicherweise mussten die Akteure zunächst davon ausgehen, dass alle Menschen im Land ansteckungsverdächtig sein konnten. Das war und ist der Grund für flächendeckende Verbote. Wenn sich jedoch Grundrechtseinschränkungen in einem solchen Ausmaß über eine längere Zeit hinziehen, gerät der liberale Rechtsstaat in Gefahr. Dann wird das ganze System von Freiheitlichkeit suspendiert.

Auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen folgten absehbar wirtschaftliche und soziale Härten, die in ihren Auswirkungen überhaupt noch nicht vollständig ermessen worden sind. Eingriffe in Berufs- und Unternehmerfreiheit, Kontaktverbote und Betriebseinschränkungen bis hin zur Schließung – und zwar nicht nur für Tage, sondern teilweise über Monate, ja über ein Jahr hinaus – haben vom Handels- und Dienstleistungssektor über Hotel- und Gaststättengewerbe bis zu Veranstaltern im kulturellen Bereich viele Unternehmen und Selbstständige schwer getroffen. Für beträchtliche Teile der Belegschaften musste Kurzarbeit angemeldet werden, wenn nicht gar Arbeitsplatzverluste zu beklagen waren; Selbstständige und Freiberufler mussten um Aufträge und Einkommen fürchten und Unternehmer und Künstler um ihre Einnahmen oder gar ihre Existenz.

Die staatlichen Schutzmaßnahmen stellten schwerwiegende Eingriffe in wirtschaftlich relevante Grundrechte dar; durch die Betriebsschließungen wurde Gewerbetreibenden gewissermaßen ein Sonderopfer zum Wohl der Allgemeinheit abverlangt. Das sind zwar keine klassischen Enteignungen, dennoch bedeuten sie einen ähnlich schweren Eingriff in das Eigentum und die Berufsfreiheit. Aus verfassungsrechtlicher Sicht müssten solche Maßnahmen durch gesetzlich geregelte Ausgleichs- oder Entschädigungsansprüche abgefedert werden. Diese Problematik wurde in politischer Hinsicht zunächst dadurch entschärft, dass Bund und Länder mit Finanzhilfen oder Kreditgewährungen reagiert und die benötigten Mittel in ihren Haushalten – gewissermaßen freiwillig – bereitgestellt haben.

Dennoch habe ich die Verhältnismäßigkeit einiger Maßnahmen von Anfang an infrage gestellt. Sie schien mir etwa beim Beherbergungsverbot oder der Einführung von Sperrstunden damals nicht gegeben. Es fehlten belastbare Beweise dafür, dass ein Übernachten in Hotels oder der Aufenthalt in Restaurants nach 22 oder 23 Uhr faktisch dazu beitrugen, die Ausbreitung des Virus zu befördern, oder dass die Maßnahmen dabei halfen, das Infektionsgeschehen einzudämmen. In jedem Fall stellen diese Maßnahmen erhebliche Eingriffe in die Berufsfreiheit der Gastwirte und Hoteliers, aber auch in die allgemeine Handlungsfreiheit der Gäste dar.

In den Herbstferien 2020 traten in verschiedenen Bundesländern Regelungen in Kraft, die, gelinde gesagt, äußerst verwirrend waren und nicht gerade dazu angetan schienen, das Vertrauen in die Stimmigkeit der Entscheidungen der Politik zu stärken. So war es in manchen Ländern Reisenden aus sogenannten Corona-Hotspots eines anderen Bundeslandes verboten, in den Hotels zu übernachten. In Bayern zum Beispiel durften Reisende aus Berlin nicht in Hotels übernachten, Reisende aus einem bayerischen Hotspot dagegen durften sich im Freistaat ungehindert bewegen und die Nacht in Hotels verbringen. Zudem führte die Hotspotregelung zur Stigmatisierung der von ihr betroffenen Personen.

Dabei hatte man schon im Juni erlebt, wie nach dem Corona-Ausbruch in einer ortsansässigen Tönnies-Fleischfabrik die Bewohnerinnen und Bewohner des gesamten Kreises Gütersloh unter Generalverdacht gestellt worden waren. Das ging teilweise so weit, dass Fahrzeuge mit Kennzeichen dieses Kreises in anderen Regionen Deutschlands beschädigt wurden. Hier musste ein Gericht einschreiten, um die stigmatisierenden Regeln für einen gesamten Kreis aufzuheben. Das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht begründete seine Entscheidung vom 6. Juli damit, dass das Land nach dem Corona-Ausbruch bei Tönnies nach einer gewissen Zeit eine differenziertere Regelung hätte erlassen müssen. Ein Lockdown für den gesamten Kreis sei nicht mehr verhältnismäßig gewesen und auch nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz zu vereinbaren.

Bei aller Kritik gab es viele Entscheidungen, die vernünftig getroffen wurden, weil das Wissen, das zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Verfügung stand, in angemessener Weise mit unseren Wertvorstellungen in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Das ließ sich beispielsweise bei der Frage gut beobachten, wie der Schutz insbesondere von älteren Menschen und solchen mit Vorerkrankungen gegen die Schäden abgewogen werden sollte, die durch diesen Schutz ökonomisch entstehen und viele in ihrer Existenz bedrohen.

So wurde immer wieder überlegt, ob man sich, statt die Grundrechte aller zu beschneiden, nicht besser für eine sogenannte Umkehrisolation entscheiden sollte. Das hätte bedeutet, die Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote auf die Gruppen zu beschränken, die am stärksten von den Gefahren durch das Coronavirus betroffen schienen. Verfechter dieser These argumentierten, dass dadurch die Allgemeinheit und vor allem die Wirtschaft unter Umständen viel weniger stark belastet worden wären und die vordringlichen Schutzziele dennoch hätten erreicht werden können.