Freiheit statt Kapitalismus - Sahra Wagenknecht - E-Book

Freiheit statt Kapitalismus E-Book

Wagenknecht Sahra

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Beschreibung

Der Kapitalismus versagt vor seinen eigenen Ansprüchen, sagt Sahra Wagenknecht. Sie nimmt Ludwig Erhard beim Wort: Wohlstand für alle! In ihrer Analyse unseres Wirtschaftssystems entwirft sie ein Zukunftsmodell, das dort weiterdenkt, wo die meisten Marktwirtschaftler auf halbem Wege stehen bleiben. Ein Plädoyer für politische Handlungsfähigkeit – Grundvoraussetzung für echten Wettbewerb, echtes Unternehmertum und echte Leistung. »Gute Krisenanalyse … Wagenknecht demaskiert die Mythen und Schwachstellen des globalen Hyperkapitalismus.« Max Otte »›Freiheit statt Kapitalismus‹ formuliert den Zweifel, den viele mit sich herumtragen.« DeutschlandRadio »Sahra Wagenknecht zeigt ein tieferes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge als viele Politiker aus Parteien, denen man gemeinhin Wirtschaftsnähe und -kompetenz zuspricht.« Handelsblatt

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Sahra Wagenknecht

Freiheit statt Kapitalismus

Über vergessene Ideale, die Eurokrise und unsere Zukunft

Über das Buch

Der Kapitalismus versagt vor seinen eigenen Ansprüchen, sagt Sahra Wagenknecht. Sie nimmt Ludwig Erhard beim Wort: Wohlstand für alle! In ihrer Analyse unseres Wirtschaftssystems entwirft sie ein Zukunftsmodell, das dort weiterdenkt, wo die meisten Marktwirtschaftler auf halbem Wege stehen bleiben. Ein Plädoyer für politische Handlungsfähigkeit – Grundvoraussetzung für echten Wettbewerb, echtes Unternehmertum und echte Leistung.

»Gute Krisenanalyse …Wagenknecht demaskiert die Mythen und Schwachstellen des globalen Hyperkapitalismus.« Max Otte

»›Freiheit statt Kapitalismus‹ formuliert den Zweifel, den viele mit sich herumtragen.« DeutschlandRadio

»Sahra Wagenknecht zeigt ein tieferes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge als viele Politiker aus Parteien, denen man gemeinhin Wirtschaftsnähe und -kompetenz zuspricht.« Handelsblatt

Über die Autorin

Sahra Wagenknecht, geboren 1969 in Jena, ist Politikerin und Publizistin und arbeitet an einer volkswirtschaftlichen Dissertation. Sie ist Mitglied der Partei Die Linke. Von Juli 2004 bis Juli 2009 war sie Mitglied des Europaparlaments. Seit Oktober 2009 ist sie Abgeordnete des Deutschen Bundestages und seit November 2011 Vize-Vorsitzende ihrer Fraktion, seit Mai 2010 stellvertretende Parteivorsitzende. 2008 erschien ihr Buch »Wahnsinn mit Methode«, 2011 die Erstausgabe von »Freiheit statt Kapitalismus«.

Vorwort

Wer möchte eigentlich noch im Kapitalismus leben? Wenn wir aktuellen Umfragen glauben, allenfalls noch eine Minderheit. Bei einer repräsentativen Erhebung des Meinungsforschungsinstituts emnid vom August 2010 gaben 88 Prozent der Bundesbürger an, dass sie sich eine »neue Wirtschaftsordnung« wünschen. Der Kapitalismus sorge weder für »sozialen Ausgleich in der Gesellschaft« noch für den »Schutz der Umwelt« oder einen »sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen«. In die gleiche Richtung weist eine Umfrage der Universität Jena vom Herbst 2010, nach der 45 Prozent aller Befragten und 52 Prozent aller unter Dreißigjährigen die Aussage unterstützen: »Der Kapitalismus richtet die Welt zugrunde.« Eine Allensbach-Umfrage vom Februar 2012 zeigt, wie gravierend sich die Auffassungen zu dieser Frage in den vergangenen zwanzig Jahren verändert haben. Während im Jahr 1992 immerhin noch 48 Prozent der Bundesbürger Kapitalismus mit Freiheit verbanden, tun dies heute nur noch 27 Prozent. Assoziationen von Kapitalismus mit Fortschritt sind im selben Zeitraum sogar von 69 auf 38 Prozent zurückgegangen.

Ein deutliches Zeichen für eine Gesellschaft im Aufwind ist es, wenn die Eltern daran glauben, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen selbst. Befindet sich ein System im Niedergang, verschwindet dieser Glaube nicht nur, er verkehrt sich ins Gegenteil. Wer traut dem Kapitalismus heute noch zu, dass er künftigen Generationen ein besseres Leben ermöglicht?

Selbst die Kapitalisten scheinen nicht mehr uneingeschränkt von ihrer Ordnung überzeugt zu sein. »Man kann durchaus sagen, dass das kapitalistische System in seiner jetzigen Form nicht mehr in die heutige Welt passt«, bemerkte im Winter 2012 der Chef des glamourösesten Treffens der kapitalistischen Entscheidungselite, der Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab.

Tatsächlich gibt es auch in Deutschland für die meisten Menschen immer weniger Grund, das bestehende Wirtschaftsmodell für attraktiv zu halten. Kein Arbeitsplatz ist mehr sicher, nicht einmal im Wirtschaftsboom, seit es als normal angesehen wird, dass Firmen auch bei bester Gewinnlage tausende Stellen streichen und die Dividenden im Gleichschritt mit der Zahl der Leiharbeiter steigen. Der Unterschied zwischen Aufschwung und Krise reduziert sich heute für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung auf den Wechsel zwischen Hartz-IV-Aufstockerleistungen und Hartz IV pur. Noch nie gab es in Deutschland so viele Millionäre und noch nie so viele Tafeln und Suppenküchen, vor denen sich in immer größerer Zahl die Ausgestoßenen und Fallengelassenen drängen. Darunter viele Kinder, denen diese Gesellschaft keine Chance geben wird. Noch nie war der Reichtum weniger so groß, aber auch noch nie die Zukunftsangst und Unsicherheit vieler.

Der heutige Kapitalismus lässt nicht allein Oben und Unten in einer Weise auseinanderklaffen, die jeden Menschen mit normal entwickeltem Sozialgefühl entsetzen muss. Er zerstört – systematisch, hartnäckig und brutal – auch die Mitte der Gesellschaft. Das reguläre Normalarbeitsverhältnis, welches Planungssicherheit und Perspektive gibt, existiert für junge Leute fast nicht mehr. Über die Hälfte aller neuen Jobs sind befristet, immer mehr werden so jämmerlich bezahlt, dass man von ihnen nicht leben kann. Wer ein kleines Unternehmen gründet oder führt, wird immer öfter vom Kreditgeiz der Banken in die Pleite getrieben. Egal, ob die Geschäftsidee ihn hätte tragen können oder nicht.

Der Privatisierungs- und Liberalisierungsirrsinn hat die Grundversorgung deutlich verschlechtert und teilweise außer Kraft gesetzt. Private-Equity-Haie kaufen Wohnungen und lassen anschließend die Häuser verrotten. Die auf Profit getrimmte Bahn wartet Gleise und Züge so schlampig, dass bei den geringsten Witterungsunbilden ein Verkehrschaos droht. Vier große Energiemonopolisten diktieren stetig steigende Preise und verzögern nicht nur nach Kräften die Energiewende, sondern machen sie mit ihren Renditeansprüchen auch zu einem fast unerschwinglichen Projekt. In privatisierten Krankenhäusern werden Kranke zum Gegenstand einer Gewinnkalkulation, die ihre Behandlung rechtfertigen muss. Der Weg zum nächsten Postamt ist lang geworden, seit es kein Amt mehr ist.

Statt in allen Bundesländern gleiche Bildungschancen zu gewährleisten, hat im deutschen Bildungssystem die Kleinstaaterei überlebt. Soziale Unterschiede werden eher zementiert als ausgeglichen. Seit Jahren wächst die Zahl derer, die die Schule verlassen, ohne je richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben und bei Goethes Faust eher an die geballte Rechte eines Boxers denken. Dass Theater, Bibliotheken und Schulen zu den ersten Sparopfern finanziell ruinierter Städte und Gemeinden gehören, liegt im Trend. Nicht nur die sogenannte Unterschicht, die ganze Gesellschaft ist bildungsfern geworden.

Einst sollte privatwirtschaftliches Eigentum – durch Markt und Wettbewerb gelenkt und durch Gesetze gezähmt – Wachstum und steigende Produktivität garantieren. Heute droht den Industrieländern eine auf Jahrzehnte stagnierende Wirtschaft, deren produktive Substanz allmählich erodiert. Denn das Geld, das zur Finanzierung von Produktneuheiten gebraucht würde, wird im weltweiten Casino verzockt.

So spielen die großen Banken mit dem Wohlstand von Millionen Menschen Russisches Roulette. Und niemand stoppt sie. All die großen Versprechungen der Politik zu Beginn der Finanzkrise: vergessen und verdrängt! Alle neuen Regeln: weichgespült von der Finanzlobby bis zur Wirkungslosigkeit. Stattdessen wird weiter spekuliert, weiter gewettet, weiter getanzt auf dem unheimlich grollenden Finanzvulkan, von dem jeder weiß, dass er bald wieder ausbrechen und das wirtschaftliche Leben unter seiner Lava ersticken wird.

Alle positiven Ideen der Marktwirtschaft sind tot. Wo gibt es denn noch wirklich offene Märkte und echten Wettbewerb? Stattdessen haben sich mächtige Global Player die Märkte und die Politik unterworfen. Sie diktieren ihren Lieferanten die Konditionen und scheren sich kaum noch um die Zufriedenheit ihrer Kunden. Anstelle überlegener Qualität wird Größe und Marktmacht angestrebt, statt zu investieren Unternehmensmonopoly gespielt. Die Rendite steigt, indem wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kleingespart wird. Mit sicheren Arbeitsplätzen verschwinden auch Fachwissen, Professionalität und Service. Gelder, die das Unternehmen für Forschung und Entwicklung bräuchte, werden im Shareholder-Value-Wahn ausgeschüttet und verbraten. Warum auch Gewinne ansparen, wenn man sich Subventionen vom Staat holen kann: für Forschung und Investitionen, oder auch für Kurzarbeit, wenn das wirtschaftliche Umfeld einmal trüber wird.

Persönliche Haftung, das Grundprinzip einer funktionierenden Wirtschaft, ist weiträumig außer Kraft gesetzt. Den Schaden tragen regelmäßig andere als die, die den Nutzen hatten. Entsprechend wenig Anlass zur Korrektur gibt es bei den Nutznießern.

Der Kapitalismus ist im Ergebnis all dessen keine Wirtschaftsordnung mehr, die Produktivität, Kreativität, Innovation und technologischen Fortschritt befördert. Heute verlangsamt er Innovation, behindert Investitionen und blockiert den ökologisch dringend notwendigen Wandel. Er verschleudert wirtschaftliche Ressourcen und lenkt menschliche Kreativität und Erfindungsgabe auf die unsinnigsten und überflüssigsten Betätigungen im Finanzbereich, die gleichwohl am höchsten bezahlt werden.

Die Regierenden Europas haben keine Ideen mehr, ebenso wenig wie die Ex-Regierenden, deren Opposition hohl und unglaubwürdig wirkt, weil sie sich in der Regel mit der Regierung in allen wesentlichen Fragen einig sind. Wie oft in niedergehenden Systemen besteht der letzte Ausweg überforderter Politiker in clownesker Realitätsverweigerung. So werden in Deutschland die Vernichtung von Millionen regulären Arbeitsplätzen und ihre Ersetzung durch immer mehr Billigjobs als »Jobwunder« gefeiert. Die europäische Rezession wird kleingeredet und wegprognostiziert, die Eurokrise von Gipfel zu Gipfel aufs Neue »überwunden«. Analysen, die auf hoffnungslos geschönten Annahmen beruhen, gaukeln uns vor, dass die Politik alles im Griff hat. Dass alles irgendwie gut enden wird. Vielleicht.

»Die Situation erinnert mich an die Endphase der DDR«, hat ein FDP-Politiker kürzlich über den Zustand seiner Partei gesagt. Das ließe sich durchaus auf den Kapitalismus insgesamt übertragen, der sich mit grotesken Ovationen feiert und dabei immer schamloser selbst belügt. Mangels Konkurrenz wird er das allerdings wohl länger durchhalten als einst die DDR.

Wo jede Lebensregung sich rechnen muss, bleiben Freiheit und Menschenwürde auf der Strecke. Demokratie stirbt, wenn Banken und Wirtschaftskonzerne ganze Staaten erpressen und sich die Politik kaufen können, die ihnen nützt. Der Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv geworden. Wir sollten unsere Intelligenz und Phantasie nicht länger auf die Frage verschwenden, wie wir ihn wieder jung, gesund und produktiv machen können. Viel dringender ist eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir eine Zukunft jenseits des Kapitalismus gestalten können.

Das klingt provokativ, ist auch so gemeint. Zugleich aber ist es eine Einladung zum Dialog zwischen echten, nämlich auch geistig liberalen Marktwirtschaftlern auf der einen und ebensolchen Sozialisten und Marxisten auf der anderen Seite. Nach Veröffentlichung meines Buches zur Finanzkrise (Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft, Berlin 2008) habe ich etliche positive Erfahrungen in der Diskussion mit offenen und fairen Marktwirtschaftlern gemacht, mit einigen Wirtschaftsprofessoren und Journalisten. Mit diesem Buch nun will ich die Diskussionsbasis verbreitern.

Ich weiß, für manche Pseudokonservative und Pseudoliberale bin ich immer noch der Gottseibeiuns, die finstere Kommunistin, die zurück will in die alte DDR. Ich habe auch deshalb zunehmend gespürt: Es wird Zeit, einen positiven Gegenentwurf zu schreiben, zumindest diesen Entwurf zu beginnen. Es wird Zeit, den typischen FDPlern, die von Ökonomie nicht mehr verstehen als die auswendig gelernten Sprüche aus ihren eigenen Wahlwerbungsprospekten, entgegenzuhalten, wie Marktwirtschaft tatsächlich funktioniert. Und es wird Zeit zu zeigen, wie man, wenn man die originären liberalen Ideen zu Ende denkt, direkt in den Sozialismus gelangt, einen Sozialismus allerdings, der nicht Zentralismus, sondern Leistung und Wettbewerb hochhält.

»Wir müssen es schaffen, die philosophischen Grundlagen einer freien Gesellschaft erneut zu einer spannenden intellektuellen Angelegenheit zu machen, und wir müssen ihre Verwirklichung als Aufgabe benennen, von der sich die fähigsten und kreativsten Köpfe herausgefordert fühlen. Wenn wir diesen Glauben an die Macht der Ideen zurückgewinnen, der die Stärke des Liberalismus in seinen besten Zeiten war, dann ist der Kampf nicht verloren.« Diese Aufgabe, die der liberale österreichische Ökonom Friedrich von Hayek 1949 seinen Anhängern ins Stammbuch schrieb, hat nichts an Aktualität verloren.

Allerdings kommt ihre Lösung heute nicht mehr dem noch von Hayek vertretenen falschen Liberalismus, sondern einem kreativen Sozialismus zu.

Sahra Wagenknecht, April 2012

WIE WIR DEM EURO UND EUROPA EINE ZUKUNFT GEBEN

Wie wir dem Euro und Europa eine Zukunft geben

»… dass sich die meisten Politiker immer noch nicht

darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter

der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von

ihnen beherrscht werden.«

Hans Tietmeyer, Präsident der Bundesbank, 1996

»Vom organisierten Geld regiert zu werden ist genauso

schlimm wie vom organisierten Verbrechen regiert zu

werden.«

Franklin D. Roosevelt, Präsident der USA, 1936

Europa ist zu einem Schlachtfeld geworden. Es ist ein Krieg, in dem keine Soldaten marschieren, keine Bomben fallen, keine nächtlichen Explosionen die Städte erschüttern. Es ist ein Krieg, der still zerstört und leise tötet, ein Krieg, dessen Verheerungen erst allmählich sichtbar werden, der aber deshalb nicht weniger brutal und gewaltsam ist. Es ist ein Verteilungskrieg. Er wird geführt von einer sehr schmalen, sehr reichen Oberschicht, die als Eigentümer und Anleger hinter den Banken, Hedge-Fonds und großen Wirtschaftskonzernen steht. Er richtet sich gegen den Rest der Gesellschaft, deren Zusammenhalt er systematisch untergräbt. Dieser Krieg hat Europa in die heutige schwere Krise gestürzt, und er wütet umso rücksichtsloser, je verzweifelter die Situation sich entwickelt.

Seine wichtigste Waffe sind virtuelle Zahlenbeträge in Computern, die wir Geldvermögen nennen und die ihre Eigentümer befähigen, sich ohne eigene Arbeit volkswirtschaftliche Werte anzueignen. Diese Vermögen, die sich in der Hand von etwa einem Prozent der europäischen Bevölkerung konzentrieren, wachsen im Ergebnis erfolgreicher Kriegsführung seit Jahren sehr viel schneller als die reale Wirtschaft, deren Wertschöpfung ihnen eigentlich zugrunde liegen sollte. Sie sichern ihren Inhabern wachsende Macht und immer größere Stellungsvorteile im Verteilungskrieg. Und mit den Vermögen wuchsen und wachsen die Schulden, die sich auf den Schultern der Allgemeinheit türmen.

Vergessene Ideen

Das Europa der Nachkriegszeit sollte ein Projekt des Friedens, der Demokratie, der Freiheit und gemeinsamer kultureller Traditionen sein. Der alte Kontinent, in den vergangenen Jahrhunderten so oft Schauplatz blutiger Kriege und grausamer Metzeleien mit ungezählten Toten, sollte zur erlebten und gefühlten gemeinsamen Heimat für die nächsten Generationen werden. Ausdrücklich als Gegenentwurf zum Modell eines ungezügelten Kapitalismus wurde erdacht, was sich damals – in wacher Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, an eskalierende Arbeitslosigkeit, Hunger und Massenelend – das »europäische Sozialmodell« nannte. Der große französische Staatsmann Charles de Gaulle forderte ein Wirtschaftssystem, in dem die »Schätze der Nation« nicht länger zum Vorteil und Profit weniger ausgebeutet werden können. In Deutschland erklärte Ludwig Erhard »Wohlstand für alle« zu seinem Ziel und gab an, die »alte konservative soziale Struktur«, die die Gesellschaft in wenige Superreiche und eine breite verarmte Unterschicht teilte, überwinden zu wollen. Weitgehende Chancengleichheit, unabhängig von der Herkunft, und soziale Absicherung bei Krankheit und im Alter waren die großen Versprechen der »sozialen Marktwirtschaft«. Nie wieder sollte Wirtschaftsmacht so groß werden, dass sie Märkte beherrschen und die Fundamente der Demokratie untergraben kann.

Alles vorbei und vergessen. Im Zuge der Agenda 2010 wurde in Deutschland die gesetzliche Rente zerschlagen und die Arbeitslosenversicherung durch demütigende, Armut verfestigende Hartz-IV-Almosen ersetzt. Die Qualität der Behandlung Kranker wurde zu einer Frage des persönlichen Kontostands gemacht. An die Stelle regulärer Beschäftigung traten Befristungen, Minijobs, Werkverträge und Leiharbeit. Ein ähnlicher Umbau der Gesellschaft hatte in anderen europäischen Ländern schon früher begonnen. Beispielhaft steht für ihn der Name der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, die mit eiserner Hand die Macht der britischen Gewerkschaften zerbrach und mit radikaler Deregulierung und Privatisierung die Ära des britischen Sozialstaates ebenso beendete wie die der englischen Industrie.

Der Thatcherismus hatte viele Nachahmer. »Wohlstand für alle« ist heute kein Leitmotiv der deutschen Politik mehr, ebenso wenig wie der europäischen. Vielmehr sinkt der Wohlstand der Mehrheit, die gesellschaftliche Mitte wird schmaler, und das Wiederentstehen einer verarmten Unterschicht von beträchtlicher Größe wird uns als neue Normalität verkauft. In vielen Ländern werden die Mittelschichten heute mit der Streitaxt brutaler Sparprogramme regelrecht zertrümmert. Banken und Regierungen, allen voran die deutsche, diktieren von Athen über Rom bis Dublin sinkende Löhne, sinkende Renten und die radikale Kürzung von Bildungs-, Gesundheits- und anderen öffentlichen Ausgaben.

Hellas ausgeplündert

Was dabei im Besonderen der griechischen Bevölkerung zugemutet wird, ist geschichtlich allenfalls mit der Ausplünderung militärisch besetzter Länder nach einem verlorenen Krieg vergleichbar. Lohnkürzungen in der privaten Wirtschaft um mehr als 20 Prozent – nominal! –, drastische Eingriffe in erworbene Rentenansprüche, Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und die Streichung der staatlichen Gesundheitsausgaben um fast die Hälfte –, solche Brutalität gab es in Europa zu Friedenszeiten noch nie. In einem Land, das einst einen mit Deutschland vergleichbaren Lebensstandard hatte, sterben heute chronisch Kranke, weil der Staat ihre Medikamente nicht mehr bezahlt. Die Wirtschaft versinkt in Agonie, Monat für Monat gehen tausende Unternehmen bankrott. Jeder zweite junge Erwachsene ist arbeitslos. Eine ganze Generation startet ohne ausreichenden Lebensunterhalt, ohne Hoffnung und Zukunft ins Leben. Familien der früheren Mittelschicht verlieren erst ihre Arbeit und dann ihre Wohnungen, weil das gekürzte Arbeitslosengeld nicht ausreicht, auch nur die Miete zu zahlen, und ohnehin nach einem Jahr gnadenlos endet. Mütter und Väter, die einst im Wohlstand lebten, müssen Angst haben, ihre Kinder nicht mehr ernähren zu können. Viele ziehen zurück zu ihren Eltern oder Großeltern, von deren Renten oft mehrere Generationen leben. Immer mehr sind auf Essensspenden und Armenküchen angewiesen. Die Obdachlosigkeit steigt beängstigend.

Dass Griechenland, die Wiege der europäischen Kultur und Philosophie und die erste Demokratie in Europa, in den Debatten unserer Zeit fast nur noch als Synonym für Schlendrian, Faulheit und Trickserei vorkommt, ist für sich ein untrügliches Zeichen für den Verfall all dessen, was in einem großen historischen Sinn unter europäischen Werten zu verstehen wäre.

Ohne Aischylos und Sophokles kein modernes Drama, kein Shakespeare, Molière oder Schiller. Ohne Platon und Aristoteles kein Descartes und kein Hegel. Aber wer denkt heute, wenn von Griechenland die Rede ist, noch an Sophokles oder Platon? Oder an Solon, den Begründer, und Perikles, den klugen Gestalter der griechischen Demokratie? Heute geht es nicht mehr um Kunst, Geist oder Demokratie. Es geht nur noch um Haushaltsdefizite, Schuldenberge und Sparprogramme, um verlorene Milliarden und die Ansprüche der Gläubiger.

Sparguillotine statt europäischer Werte

Die griechische Katastrophe ist sicher die schlimmste in Europa, aber ein Einzelfall ist Griechenland nicht. Auch in anderen Ländern geht die Sparguillotine rücksichtslos auf öffentliche Leistungen, Mindestlöhne und Kündigungsschutzbestimmungen nieder. Während die Kaufkraft der Beschäftigten in Deutschland bereits seit über einem Jahrzehnt infolge schwacher Tarifabschlüsse und einer wachsenden Zahl von Hungerlohnjobs dahinschmilzt, sind die Reallöhne 2011 erstmals in der gesamten Eurozone eingebrochen. Armut lange nicht mehr gekannten Ausmaßes grassiert auch in Irland, Spanien oder Portugal. In Italien wird der Lebensstandard der Bevölkerung durch die Reformen des von keinem Italiener gewählten Ministerpräsidenten und Ex-Goldman-Sachs-Beraters Monti spürbar abgesenkt.

Der Fiskalpakt: griechische Verhältnisse für Europa

Der maßgeblich von der deutschen Regierung diktierte Fiskalpakt bedroht, wenn er je eingehalten werden sollte, ganz Europa mit griechischen Verhältnissen. Gemessen an der im Vertrag festgeschriebenen Neuverschuldungsgrenze waren die Ausgaben der europäischen Staaten 2011 um 235 Milliarden Euro zu hoch. Und was die deutsche Regierung gern verschweigt: Auch der vermeintliche Musterschüler verfehlte das Defizitkriterium klar. Selbst in einem konjunkturell guten Jahr wie 2011, in dem die Steuereinnahmen weit über den Prognosen lagen, hätten die Ausgaben für Bildung, Soziales oder Gesundheit in Deutschland um mindestens 20 Milliarden Euro gekappt werden müssen. Und das obwohl schon heute viele Kommunen unter dem Spardruck verzweifeln, in Krankenhäusern Pflegenotstand herrscht und das Bildungssystem, das die Basis unseres künftigen Wohlstands sein sollte, chronisch unterfinanziert ist.

Würden die europäischen Staaten gar das ebenfalls im Fiskalpakt festgeschriebene Gesamtschuldenlimit von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung ernsthaft anpeilen, müssten bei gleichbleibenden Einnahmen in den nächsten 20 Jahren gigantische 2,8 Billionen Euro aus den öffentlichen Budgets herausgehackt werden. Derartige Sparziele würden den Staat als relevante Ordnungsinstanz gegenüber Wirtschaft und Markt endgültig erledigen. In einer solchen Zwangsjacke gibt es keine öffentliche Gewährleistung eines Mindestmaßes an sozialer Absicherung und Ausgleich mehr, obwohl das deutsche Grundgesetz genau dies zwingend vorschreibt.

Alte Ressentiments kehren zurück

Wenn die europäische Politik nur noch die Krise und die Brutalität eint, mit der sie den Staaten wahnwitzige Kürzungsprogramme aufzwingt, sollte sich niemand wundern, dass das europäische Projekt von vielen mittlerweile als Fluch empfunden wird. Aus zerstörten Lebenschancen wächst Hass. Neue Demütigung weckt die Erinnerung an alte. Während verzweifelte Griechen auf den Straßen Athens deutsche Fahnen verbrennen und auf den Titelseiten rechtsgerichteter griechischer Zeitungen Angela Merkel mit Hakenkreuz abgebildet wird, mokiert sich der deutsche Stammtisch über »faule Südländer«, die besser allein klarkommen sollten. Und dem Stammtisch sekundieren Politiker großer deutscher Parteien und nicht wenige angeblich seriöse Medien. Dass der Vorschlag, souveräne Länder über einen Sparkommissar unter deutsches Protektorat zu stellen, nicht von rechtspopulistischen Underdogs, sondern von bundesdeutschen Spitzenpolitikern in die Debatte gebracht wurde, sollte jeden, der nicht ganz geschichtsvergessen ist, schaudern lassen.

Aber kann es anders gehen? Ist es nicht eherne Verpflichtung, Schulden, die man aufgenommen hat, eines Tages auch zurückzuzahlen? Kann ein Land dauerhaft über seine Verhältnisse leben? Und haben nicht Staaten, die anderen helfen, auch ein Recht zur Aufsicht und Kontrolle, damit die bereitgestellten Milliarden nicht im Nirwana verschwinden? Sind sie es nicht ihren Bürgern schuldig, die das Steuergeld sauer erarbeitet haben?

Der heutige europäische Diskurs lebt von Lügen. Wurde Griechenland je geholfen? Wie kann es dann sein, dass das Land heute ungleich ärmer, die Wirtschaft ungleich desolater, die Arbeitslosigkeit ungleich höher und die Verzweiflung der Menschen ungleich größer ist als zu Beginn der vermeintlichen »Rettung«?

Übrigens ist auch der griechische Staat ungleich bankrotter. Denn obwohl zwischen Mai 2010 und Ende 2011 immerhin 73 Milliarden Euro an sogenannten Hilfsgeldern aus dem ersten Kreditpaket für Griechenland überwiesen wurden, sind die griechischen Staatschulden um weitere 50 Milliarden Euro angeschwollen. Daraus mögen einige nach der Logik schwäbischer Hausfrauen folgern, dass die Griechen nicht genug gespart haben. In Wahrheit rührt das Elend und auch der weitere Anstieg der Staatsschulden gerade daher, dass die gewissenlos korrupte griechische Politelite das Land exakt so brutal zu Tode gespart hat, wie es ihr die europäischen Geldgeber aufgegeben haben.

Die Härte des Sparkurses lässt sich an Zahlen ablesen. Immerhin haben die Griechen ihr öffentliches Defizit, die Zinszahlungen herausgerechnet, von 10,6 Prozent der Wirtschaftsleistung 2009 auf nur noch 2,4 Prozent 2011 abgesenkt. Das Minus im deutschen Staatshaushalt war nicht selten höher. Einschließlich Zinszahlungen ist das griechische Defizit allerdings deutlich weniger gesunken, nämlich nur von 15,8 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 9,3 Prozent. Eine Ursache für die unverändert anwachsende Staatsschuld sind also nicht zuletzt die extrem hohen Zinsen, zu denen sich Griechenland 2009 und in den ersten Monaten 2010 refinanzieren musste und die in der Folgezeit treu bedient wurden. Inzwischen sind allein die fälligen Zinsen für einen Großteil der griechischen Neuverschuldung verantwortlich.

Tödliche Spirale

Es gibt aber einen noch wichtigeren Grund für die beharrlich steigende griechische Schuldenquote. Er besteht darin, dass die griechische Wirtschaft durch die radikalen Sparprogramme in eine tiefe Depression gestürzt ist und in nur zwei Jahren 11 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit verloren hat. Mit der Krise aber brechen auch die Steuereinnahmen weg und machen den fortgesetzten Kampf um Absenkung der Defizite zu einer tödlichen Spirale aus Ausgabenkürzungen, verstärktem wirtschaftlichen Niedergang und neuen Streichlisten. Am Ende dieses Trauerspiels kann nur die Zahlungsunfähigkeit eines rücksichtslos ausgeplünderten Landes stehen.

Griechenland ist damit ein erneutes trauriges und mahnendes Exempel für die gar nicht so neue Erkenntnis, dass ein Land – anders als die schwäbische Hausfrau – sich aus Schulden nicht heraussparen kann. Wäre es die ehrliche Sorge um eskalierende Schulden, die die europäische Politik umtreibt, müsste sie spätestens nach dieser Erfahrung den Sparprogrammen von Rom bis Madrid Einhalt gebieten und den Fiskalpakt in den Reißwolf werfen. Aber nichts dergleichen geschieht. Der gleiche Kurs, der Griechenland ins Elend gestürzt hat, soll Armut, Verzweiflung und Angst offenbar über den ganzen europäischen Kontinent verbreiten.

Die versteckten Profiteure

Wer gewinnt bei diesem Wahnsinn? Da nicht nur die Bevölkerung verarmt, sondern am Ende auch große Teile der Staatsschulden abgeschrieben werden müssen, scheint es auf den ersten Blick nur Verlierer zu geben. Die Profiteure bleiben gern unsichtbar, aber es gibt sie. Zu Beginn seiner »Rettung« hatte der griechische Staat etwa 300 Milliarden Euro Schulden, die von Banken, Versicherungen, Hedge-Fonds und vermögenden Anlegern gehalten wurden. Anfang 2012 hatte der griechische Staat 360 Milliarden Euro Schulden, von denen sich aber nur noch 200 Milliarden in privater Hand befanden.

Von den bis zu diesem Zeitpunkt ausgezahlten 73 Milliarden Euro vermeintlicher Griechenland-Hilfen wurden 70 Milliarden allein dafür verwandt, auslaufende Anleihen zum vollen Nennwert zu tilgen und fällige Zinszahlungen zu begleichen. Anleihen also, die am Markt mit einem Wertabschlag von 60 bis 70 Prozent gehandelt wurden, konnten die Gläubiger so in 100 Prozent bares Geld verwandeln, ein blendendes Geschäft für die Finanzbranche. Auch für die griechischen Staatsanleihen im Wert von etwa 70 Milliarden Euro, die die EZB und die nationalen Notenbanken zwischen 2010 und Ende 2011 aufgekauft haben, wurden den Banken gute Preise gezahlt.

Bei dem im Frühjahr 2012 beschlossenen neuen Griechenlandpaket von 130 Milliarden soll sogar ein extra eingerichtetes Sperrkonto garantieren, dass sich kein müder Euro etwa nach Athen verirrt. Die Summe ist erneut nahezu ausschließlich zum Freikaufen der Banken und Anleger bestimmt. Läuft bei der sogenannten »Gläubigerbeteiligung« alles nach Plan, wird Griechenland zwar am Ende immer noch über 300 Milliarden Euro Schulden haben, davon werden sich allerdings nur noch gut 60 Milliarden Euro in privater Hand befinden. Für den Rest bürgt dann der europäische Steuerzahler. Der Begriff »Gläubigersanierung« wäre daher angebrachter gewesen.

Milliarden wechseln den Besitzer

Hätte sich Griechenland bereits im Mai 2010 für zahlungsunfähig erklärt, wären die Verluste der Finanzbranche und der privaten Anleger groß und die Verluste der europäischen Steuerzahler klein gewesen. Mit jeder freigegebenen Kredittranche aus den vermeintlichen Griechenlandhilfen wurden die potentiellen Verluste der Finanzbranche und der privaten Anleger geringer und die potentiellen Verluste der europäischen Steuerzahler größer. Schon 2010 war klar, dass die griechischen Schulden und die Zinssätze viel zu hoch waren, um auf Dauer bedient werden zu können. Aber jeder Monat, um den die Hilfspakete den Staatsbankrott aufgeschoben haben, hat sich für die Banken, Hedge-Fonds und Spekulanten ausgezahlt. Denn in jedem Monat wurden Zinsen kassiert, die sonst nicht geflossen, und Anleihen zurückbezahlt, die andernfalls wertlos gewesen wären.

Wenn der griechische Staatsbankrott schließlich kommt, wird von verlorenem Steuergeld und verbrannten Milliarden die Rede sein. Aber diese Milliarden sind nicht verbrannt. Sie haben nur den Besitzer gewechselt. Was früher dem Staat gehörte, gehört jetzt der Finanzindustrie und ihren Aktionären und Anlegern. Zahllose Euros in ihren Vermögensportfolios hat die »Eurorettung« auf jeden Fall gerettet.

Die »Hilfen« für Irland und Portugal beruhen auf derselben Logik. Ebenso die aller Länder, die künftig noch auf die zwei großen Rettungsfonds – den ESFS und den ab Sommer 2012 einsatzbereiten ESM – zurückgreifen werden. Wer glaubt, der europäische Rettungsschirm würde eine europäische Transferunion nach dem Vorbild des deutschen Länderfinanzausgleichs begründen, irrt. Es ist viel schlimmer. Tatsächlich zahlt der deutsche Steuerzahler statt griechischer Renten oder portugiesischer Sozialausgaben internationalen Banken die Extremzinsen, die sie auf Anleihen dieser Länder nur deshalb verlangen können, weil deren Zahlungsfähigkeit ständig infrage steht. Und er übernimmt einen immer größeren Teil ihrer Schulden, damit der Staatsbankrott, auf den der explosive Mix aus hohen Zinsen, radikalem Sparen und Wirtschaftsrezession unweigerlich hinausläuft, für den Finanzsektor am Ende verschmerzbar ist.

Das ist in etwa so, als wenn es in der Bundesrepublik weder einen Haftungsverbund noch einen Länderfinanzausgleich gäbe, Bayern und Baden-Württemberg allerdings den dadurch zu Pleitekandidaten gewordenen finanzschwächeren Bundesländern – etwa Bremen und Berlin – sehr viel Geld dafür überweisen würden, die eskalierenden Zinsen auf ihre Schulden zu bezahlen und, wo nötig, auslaufende Kredite zu tilgen. Um den Irrsinn auf die Spitze zu treiben, könnten sie von Bremen und Berlin auch noch die Einrichtung eines Sperrkontos verlangen, um sicherzustellen, dass die »Hilfsgelder« auf keinen Fall zweckentfremdet – also etwa für Bremer Schulen oder Berliner Kita-Plätze – verwandt werden. Dieses System wäre allerdings nicht nur verrückt. Es würde für Bayern und Baden-Württemberg auf Dauer auch teurer werden als der heutige Finanzausgleich.

Bankenrettung Teil II: Eine neue große Bad Bank

Aber der Wahnsinn hat Methode. 2008/2009 hatten die europäischen Staaten im Zuge der ersten großen Rettungsaktion den Banken Verluste aus Giftpapieren, die auf verbriefte Privatkredite zurückgingen, im Volumen von mehreren Billionen Euro abgenommen. Die meisten Finanzhäuser kamen in der Folgezeit schnell wieder auf die Beine und machten 2010/2011 erneut Milliardengewinne, während die aus dieser Aktion entstandenen Schulden den Staaten noch heute wie Mühlsteine am Hals hängen. Im Ergebnis wurden die Anleihen mehrerer Eurostaaten selbst zu Giftpapieren. Der daraufhin gegründete Eurorettungsschirm ist eine große staatliche Bad Bank, die der Finanzbranche dabei helfen soll, absehbare Verluste aus diesen staatlichen Giftpapieren auf die noch zahlungsfähigen Euroländer abzuwälzen. Die Eurorettung ist schlicht Teil II der großen Bankenrettung. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie die Staatsverschuldung noch weiter in die Höhe treibt und die Anleihen von immer mehr Ländern zu Giftpapieren macht. Irgendwann dürfte kein solventer Retter mehr zur Verfügung stehen. Der Crash wird auf diesem Weg also nicht verhindert, sondern nur hinausgeschoben. Es wird teure Zeit gekauft. Zeit, in der die Allgemeinheit ärmer und die Banken und Vermögenden reicher werden.

Wer lebt über seine Verhältnisse? Schulden ohne Wohlfahrt

Einer Studie zufolge wachsen die Finanzvermögen deutscher, schweizerischer und österreichischer Millionäre um aktuell 8 Prozent pro Jahr, die der Milliardäre um 10 Prozent.1 Die Volkswirtschaften dieser Länder wuchsen seit der Jahrtausendwende im Schnitt um 1 Prozent pro Jahr. Die Löhne stiegen gar nicht, in Deutschland sanken sie sogar um etwa 5 Prozent. Die Renten wurden um 10 Prozent entwertet. Wer lebt über seine Verhältnisse? Die Allgemeinheit? Hat sie das je irgendwo in Europa getan?

Wer die Staatsschuldenkrise auf unverantwortliches Ausgabeverhalten der Staaten zurückführt und fordert, sie endlich zum Sparen zu zwingen, sollte miterwähnen, dass es nur einen staatlichen Ausgabeposten gab, der in den letzten Jahren unverantwortlich aus dem Leim gegangen ist: Ausgaben zur Rettung einer maroden Finanzindustrie, welche sich in Geschäftsmodelle verrannt hat, die in schöner Regelmäßigkeit existenzgefährdende Verluste herbeiführen. Offenbar ist es nicht der Staat, der nicht wirtschaften kann, sondern die Banken. Dass diesem Missstand allerdings durch gekürzte Renten, gestrichene Gesundheitsausgaben und gesenkte Mindestlöhne abzuhelfen ist, steht nicht zu erwarten.

Naheliegender wäre es, den Tollheiten der Banker einen Riegel vorzuschieben. In vielen Fällen wäre das sogar im Wortsinn angebracht. Keine Branche ist in den vergangenen Jahrzehnten so stark gewachsen wie der Finanzsektor. Und keine ist im Gros ihrer Betätigungsfelder volkswirtschaftlich überflüssiger. Vieles ist hochexplosiv und gemeingefährlich. Aus einstigen Finanziers der Realwirtschaft sind selbstherrliche Wettbuden geworden. Krude Finanzpapiere, Staatsanleihen, Öl und Mais – alles taugt und dient als Material für ihre Hochrisikospiele. »Finanzielle Massenvernichtungswaffen« hat der Großinvestor und Hedge-Fonds-Manager Warren Buffett solche Wetten schon vor zehn Jahren genannt. Aber mit ihnen lässt sich prächtig Geld verdienen – solange man nicht haften muss, wenn sie am Ende detonieren. Deshalb pflegen die Banken ihren Gewinn schnell in Form von Boni und Dividenden auszuschütten. Damit bloß keine Geldpolster da sind, wenn die Party vorüber ist. Denn für größere Verluste die Allgemeinheit in die Pflicht zu nehmen, ist fester Bestandteil des Geschäftsmodells.

Wenn ein Faktor am Anstieg der öffentlichen Verschuldung unbeteiligt war, dann ist es ausgerechnet der am meisten der Verantwortung geziehene: der Wohlfahrtsstaat. Tatsächlich ist das Gros der staatlichen Schulden zu einer Zeit entstanden, in der der Sozialstaat in Europa nicht aufgebaut, sondern abgerissen wurde. Die Bundesrepublik brauchte 50 lange Jahre, um eine Staatsverschuldung in Höhe von 1 Billion Euro zu erreichen. In diese 50 Jahre fielen die Etablierung eines umfassenden Sozialstaats und die mit erheblichen Kosten verbundene deutsche Wiedervereinigung. Die zweite Billion öffentlicher Schulden kam in einem Zeitraum von nur 15 Jahren hinzu. Das waren die Jahre der Agenda 2010, der Riester-Rente und der Hartz-IV-Gesetze. Besonders schnell stiegen die öffentlichen Schulden in Deutschland übrigens, nachdem CDU und SPD die »Schuldenbremse« erfunden hatten – eine wirklich überzeugende Werbung für ein Konzept, an dem heute ganz Europa genesen soll!

Geschenke für Gutbetuchte:Der europäische Steuersenkungswettlauf

Die Schulden in den meisten europäischen Ländern haben sich ähnlich entwickelt wie in Deutschland. Sie haben sich in den zurückliegenden 15 Jahren verdoppelt und sind seit 2008 steil angestiegen. Neben der Bankenrettung ist auch die aktuelle Verfasstheit Europas ein Grund dafür. Die europäischen Verträge seit Maastricht haben zwar einen einheitlichen Binnenmarkt mit freiem Waren- und Kapitalverkehr und im Euroraum sogar mit gemeinsamer Währung etabliert. Es wurde aber auf jede europäische Angleichung der direkten Steuern verzichtet. Dieses Nebeneinander unterschiedlichster Steuersysteme in einem gemeinsamen Währungsraum lud Konzerne und Anlagekapital zur Steuervermeidung geradezu ein und setzte Länder mit überdurchschnittlichen Sätzen unter Druck. Die Folge war ein europaweiter Steuersenkungswettlauf, der den alten Kontinent mehr und mehr zu einem Steuereldorado für Unternehmen, Spitzenverdiener und Vermögende werden ließ.

Heute ist die Zahlung von Steuern zweifelhaftes »Privileg« der kleinen Leute, während sich Konzerne und Millionäre aus der Finanzierung der Gemeinwesen weitgehend verabschiedet haben. Die daraus resultierenden Einnahmeausfälle wurden teils durch Ausgabenkürzungen und steigende Verbrauchssteuern, großenteils aber durch steigende Verschuldung ausgeglichen.

Ganz im Trend wurden auch in Deutschland zwischen 2000 und 2010 eine Reihe von Steuerreformen zum Vorteil der Oberschicht durchgesetzt. Der Spitzensteuersatz sank um mehr als 10 Prozentpunkte und die Konzernsteuern sogar auf weniger als die Hälfte ihres ursprünglichen Werts. Kapitalerträge sind seit Einführung der Abgeltungssteuer gar nicht mehr einkommenssteuerpflichtig und die Erbschaftssteuer wurde bis zur Bedeutungslosigkeit ausgehöhlt. Im Ergebnis verringerten sich die öffentlichen Einnahmen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt um fast drei Prozentpunkte. Das bedeutet, dass Bund, Länder und Gemeinden heute 75 Milliarden Euro pro Jahr weniger einnehmen, als sie es mit den Steuergesetzen von 1998 tun würden.

Bedenkt man, dass im gleichen Zeitraum auch erhebliche Steuererhöhungen zulasten der Normalbürger beschlossen wurden, etwa bei der Mehrwertsteuer und anderen Verbrauchssteuern, dürfte die Entlastungswirkung der Steuerpolitik für die Oberschicht sogar bei gut 100 Milliarden Euro jährlich liegen. 100 Milliarden, die der öffentlichen Hand Jahr für Jahr fehlen und die als zusätzliche Einnahmen auf die Konten der Gutbetuchten fließen! Auch diese Steuerpolitik ist Teil des europäischen Verteilungskrieges. Auch sie hat ihr Scherflein dazu beigetragen, die Allgemeinheit ärmer und die großen Unternehmen und Vermögenden reicher zu machen.

Mindeststeuersätze statt maroder Einnahmen

Die Einnahmebasis der öffentlichen Haushalte wurde so immer maroder. Wer dafür Verantwortung trägt, sollte rot anlaufen, wenn er das Wort Schuldenbremse auch nur in den Mund nimmt. Die Unredlichkeit des Fiskalpaktes liegt nicht zuletzt darin, eine Fiskalunion in Europa vorzugaukeln, die er gar nicht etabliert. Denn eine echte Fiskalunion wäre keine Sparunion, sondern hätte diesen gravierenden Konstruktionsfehler der Eurozone zu überwinden: den Verzicht auf eine koordinierte Steuerpolitik. Dabei müssten die nationalen Steuersätze nicht exakt angeglichen werden. Festgelegte Untergrenzen für die Besteuerung von Gewinnen, Kapitalerträgen und Vermögen, die zu unterschreiten keinem Land gestattet wäre, wären hinreichend. Vorausgesetzt, dass diese Untergrenzen deutlich höher wären als die durchschnittlichen Steuersätze, die nach anderthalb Jahrzehnten Steuerdumpingwettlauf heute in der Eurozone gelten.

Der sogenannte Fiskalpakt dagegen will durchaus nichts daran ändern, dass die einzelnen Länder sich mit ihren Steuergesetzen Konkurrenz machen. Er wird ihre Spielräume, die Einnahmen durch eine vernünftige Steuerpolitik zu erhöhen, gerade bei Kapital- und Vermögenssteuern, nicht vergrößern. Aber um jeden Preis – sogar den des Verlusts ihrer Haushaltssouveränität! – sollen die Staaten verpflichtet werden, ihre Schulden zu reduzieren. Wer solche Verträge konstruiert, der will nicht Schulden bremsen. Er will einen Ausverkauf öffentlicher Verantwortung.

Das »Diktat der leeren Kassen«

Es ist nicht Dummheit, es ist Kalkül. Der Spiegel zitierte kürzlich den früheren Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Berater der Bundesregierung und Gründungsmitglied des Sachverständigenrates, Herbert Giersch, Lehrer und Lehrbuchschreiber für zahllose Generationen deutscher Volkswirte. Dieser plädierte in den neunziger Jahren freimütig dafür, den Staat auf dem Wege von Steuersenkungen so arm zu machen, dass »das Diktat der leeren Kassen« und »ein Defizit, das als anstößig gilt« am Ende einen radikalen Abbau öffentlicher Leistungen ermöglicht, ohne dass sich dagegen noch erheblicher Widerstand regt.2 Dieses Programm geht heute europaweit in seine letzte Phase.

Ein altes Bonmot lautet, die Staatsschulden seien schlicht die nicht gezahlten Steuern der Reichen. Mit Rücksicht auf die Bankenrettung müsste man heute ergänzen: Die Staatsschulden sind die nicht mehr gezahlten Steuern und die verlorenen Finanzwetten der Reichen. Und für diese Schulden sollen heute Rentner, Beschäftigte, Arbeitslose oder Kleinunternehmer mit ihrer sozialen Existenz bezahlen?

Schuldenerlass statt Schuldknechtschaft

Schulden, die auf die geschilderte Weise zustande gekommen sind, muss man nicht bedienen, sondern streichen. Nicht nur in Griechenland, europaweit. Das ist keine kühne Phantasie, sondern jahrtausendealte Praxis. Die Geschichte der privaten und öffentlichen Schulden ist eine Geschichte von Schuldenerlassen. Schon im Babylonischen Reich und in der Antike wurden bei nahezu jedem Machtwechsel private Schulden gestrichen, um den Betroffenen einen Neuanfang zu ermöglichen. Als das Römische Reich diese Praxis beendete, war es bald selbst am Ende und begann, ökonomisch und politisch zu zerfallen.

Kreditgeber der Krone oder der öffentlichen Hand mussten über Jahrhunderte immer wieder ihre Ansprüche in den Wind schreiben. Für die Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs gibt es sogar eine marktwirtschaftliche Begründung. Zinsen sind der Preis für Risiko. Die Banken haben die hohe Verschuldung Griechenlands und anderer Eurostaaten freiwillig finanziert. Niemand hat sie dazu gezwungen. Und sie haben an den öffentlichen Schulden gute Zinsen verdient. Welcher Markwirtschaftler kann sich beschweren, wenn das Risiko, dessen Preis die Staaten jahrzehntelang zahlen, irgendwann eintritt?

Es gibt aber nicht nur eine marktwirtschaftliche Begründung, sondern auch eine rechtliche. Sind etwa die erworbenen Rentenansprüche eines griechischen Pensionärs weniger wert als die Zinsansprüche einer Bank? Ist der Wohlstand, ja die soziale Existenz ganzer Völker nachrangig im Vergleich zu den Forderungen ihrer Kreditgeber? Schuldknechtschaft, die Versklavung eines säumigen oder zahlungsunfähigen Schuldners, war im alten Rom Teil der Rechtsordnung. In modernen Staaten ist Schuldknechtschaft verboten und unter Strafe gestellt. Wo der einzelne Mensch nicht versklavt werden darf, soll die Versklavung ganzer Länder rechtmäßig sein? Als die griechische Polizeigewerkschaft dazu aufrief, die Vertreter der Troika zu verhaften, war das vermutlich rechtskonformer als alles, was die griechische Regierung in den letzten zwei Jahren getan hat.

Die Schuldenmaschine

In Wahrheit führt kein Weg an einer Entschuldung der Staaten vorbei. Der Grund ist schlicht, dass es heute im Vergleich zur Wirtschaftsleistung viel zu viele Schulden gibt. Die Deregulierung des weltweiten Finanzsektors hat nämlich nicht nur gemeingefährliche Zockergeschäfte mit Währungen, Lebensmitteln und Rohstoffen möglich gemacht. Sie hat den Finanzhäusern auch die Möglichkeit gegeben, das unvermeidliche Schmiermittel solcher Geschäfte in nahezu unbegrenzter Größenordnung selbst herzustellen: Kreditgeld. Nur deshalb konnte das Finanzsystem jahrelang ein globales Schuldenwachstum finanzieren, das das realwirtschaftliche Wachstum um ein Vielfaches übertraf.

Besonders schnell wuchsen dabei zunächst nicht die öffentlichen, sondern die privaten Schulden, also die von Konsumenten und Unternehmen. Bei Ersteren wurden so die Konsumausgaben stabilisiert und Nachfrageausfälle wegen stagnierender Löhne ausgeglichen. Bei Letzteren ging es vor allem um die Finanzierung von Übernahmen und Aktienrückkäufen, was die Banken und Aktionäre reich machte, aber die Produktivität mitnichten erhöhte. Die Kluft zwischen realer Wirtschaftsleistung und Schuldenberg wurde dadurch Jahr um Jahr größer. In der Finanzkrise 2008 eskalierte dieser Widerspruch zum ersten Mal, und die seither verfolgte Politik lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Sie tut alles, um eine Entwertung von Schulden zu verhindern. Auf Dauer kann das nicht gut gehen.

Wenn ein Markt ein Gut in größerer Menge produziert hat, als es Abnehmer dafür gibt, wird dieses Gut irgendwann entwertet. Der Finanzmarkt hat in den letzten Jahrzehnten weit mehr Schulden produziert, als realwirtschaftlich tragbar sind und sich aktuell refinanzieren lassen. Eine Politik, die sich mit allen Mitteln gegen eine Entwertung der Schulden stemmt, muss am Ende scheitern und versagt vor der Aufgabe, die Entwertung politisch zu gestalten. Genau darin bestünde aber ihre Verantwortung.

Wer Schulden streicht, wird unvermeidlich auch Vermögen vernichten. Die entscheidende Frage ist: wessen Vermögen? Eine besonders freche Verdrehung der Realität steckt hinter der These, dass wir mit den Staatsschulden in Wahrheit unser aller Geldvermögen retten. In Wahrheit hat die untere Hälfte der Bevölkerung in Deutschland und Europa überhaupt kein relevantes Geldvermögen. Sie zahlt also nur und gewinnt gar nichts. Viele aus der oberen Hälfte haben kleine Vermögen: Sparguthaben, Riesterkonten, Lebensversicherungen. Dieses Vermögen ist tatsächlich bedroht, wenn alles weitergeht wie bisher, denn dann wird es irgendwann einen unkontrollierten Währungscrash geben. Eine kontrollierte Entschuldung der Euroländer dagegen muss – und sollte – keinen von ihnen treffen. Denn es gibt wenige, die mehr als genug besitzen, um für die anfallenden Verluste aufzukommen.

In Deutschland verfügten 2010 allein 829.900 Millionäre über ein Geldvermögen von zusammen 2,2 Billionen Euro. Mittlerweile dürfte es noch mehr geworden sein. Die Gesamtverschuldung von Bund, Ländern und Kommunen liegt bei 2 Billionen Euro. Auf europäischer Ebene sind die Verhältnisse ähnlich. Die reiche Oberschicht allein besitzt mehr Vermögen, als die Staaten an Schulden aufgetürmt haben. Das Prinzip der Haftung besagt, dass, wer den Nutzen hatte, auch den Schaden tragen soll. Die Oberschicht verdankt ihr rasantes Vermögenswachstum eben jener neoliberalen Agenda, die auch die Schulden der Staaten eskalieren ließ. Es ist nur legitim, sie mit ihrem Vermögen jetzt auch für die Konsequenzen haften zu lassen. Wenn einem Vermögen keine ausreichende Wertschöpfung, sondern ein Berg fauler Kredite gegenübersteht, dann hatte das Vermögen ohnehin nie den Wert, der ihm zugeschrieben wurde. Seine Entwertung ist ebenso konsequent wie die der Schulden.

Zentralbankkredite statt Bankenmacht

Wer finanziert dann die staatlichen Defizite der Zukunft? Tatsächlich war das in der Geschichte nach Schuldenstreichungen nie ein dauerhaftes Problem. Und noch wichtiger: Mit einer koordinierten Steuerpolitik und einer Streichung der Altschulden würden viele Euroländer gar keine roten Zahlen mehr schreiben. Es wären also gar keine Defizite mehr da, die finanziert werden müssten. Trotz Steuerdumping wiesen die meisten Eurostaaten zwischen 2000 und 2008 einen sogenannten Primärüberschuss aus. Die Einnahmen waren also höher als die Ausgaben, nur die Zinszahlungen haben den öffentlichen Saldo ins Negative gekippt. Erst die Krise hat die meisten Staaten in reale Defizite getrieben.

Es gibt einen einfachen Weg, öffentliche Defizite zu finanzieren, ohne die Demokratie erneut den Diktaten der Banker auszuliefern: Man muss der Europäischen Zentralbank nur gestatten, das zu tun, wofür Zentralbanken einst gegründet wurden: den Staaten Kredit zu geben.

Das heutige Geldsystem ist paradox und widersinnig. Die Europäische Zentralbank ist eine öffentliche Institution. Ihr ist erlaubt, was allen anderen verboten ist: Geld zu drucken. Gegenwärtig druckt sie so viel Geld wie noch nie. Die genaue Menge bestimmen die Banken, die sich dieses Geld bei ihr in beliebiger Größenordnung leihen dürfen und dafür einen vernachlässigbar geringen Zinssatz zahlen. So haben sie sich an einem Tag kurz vor Weihnachten 2011 den gewaltigen Betrag von 500 Milliarden Euro für drei Jahre zu einem Zinssatz von nur 1 Prozent geliehen.

Aber die Europäische Zentralbank braucht keine heiligen Feiertage, um für die Banken den Weihnachtsmann zu spielen. Ende Februar 2012 gab es noch einmal über 500 Milliarden Euro fast geschenkt. Und das wird nicht die letzte diesbezügliche Aktion der EZB gewesen sein. Mit diesen Milliarden dürfen die Banken machen, was sie wollen: spekulieren, Aktien oder Rohstoff-Futures kaufen, oder auch in Staatsanleihen investieren.

Die Staaten selbst dagegen dürfen sich bei ihrer Zentralbank kein Geld leihen. Nicht nur keine 500 Milliarden, nicht einmal bescheidene Beträge. Beim aktuellen Sparprogramm in Griechenland geht es um 3,3 Milliarden Euro, die unter schlimmsten Schmerzen aus dem Land herausgepresst werden. Wenn die Deutsche Bank 3,3 Milliarden braucht, muss sie sich noch nicht einmal die Boni ihrer Manager sparen. Sie geht einfach zur EZB, verpfändet ein paar halbseidene Papiere und bekommt das Geld fast umsonst. Auch die griechischen Banken dürfen das. Nur der griechische Staat darf es nicht. Ebenso wenig wie irgendein anderer Staat der Eurozone.

Die Inflationslüge

Um zu verhindern, dass die Europäische Zentralbank nicht nur die Banken, sondern auch die Staaten direkt finanziert, wurde in den Europäischen Vertrag von Lissabon sogar extra ein Verbotsartikel aufgenommen, der Artikel 123. Als Grund für diesen Widersinn wird in der Regel angeführt, dass die Finanzierung öffentlicher Defizite über die Notenbank Inflation erzeugen würde.

Tatsächlich sind historische Beispiele, die das belegen, rar. Die japanische Notenbank hat in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten japanische Staatsschulden von vielen Billionen Yen aufgekauft und finanziert – dennoch hatte Japan nicht mit Inflation, sondern mit einer hartnäckigen Deflation zu kämpfen. Die amerikanische Notenbank Fed hat seit Beginn der Finanzkrise 2008 US-Staatspapiere im Wert von etwa 1,6 Billionen Dollar erworben. Und auch in den USA gibt es keine Anzeichen einer inflationären Preisentwicklung. Für die deutsche Hyperinflation der zwanziger Jahre, die immer wieder als Beispiel angeführt wird, waren im Gegensatz dazu nicht die Druckerpresse, sondern der verlorene Krieg und die Reparationen verantwortlich, die Zahlungsansprüche begründet hatten, die die deutsche Wirtschaftsleistung weit überstiegen.

Wenn die Nachfrage schneller wächst als das Güterangebot, entsteht in der Regel Inflation. Da Geld in einem Papiergeldsystem, wie wir es heute haben, prinzipiell unbegrenzt vermehrbar ist, sind solche Systeme immer inflationsanfällig. Entscheidend ist allerdings nicht, wie viel Geld im Umlauf ist, sondern wie viel Geld tatsächlich Nachfrage nach realen Gütern und Leistungen schafft. Wäre es anders, würde angesichts der gewaltigen Geldmengen, die die Europäische Zentralbank augenblicklich in den Markt pumpt, im Euroraum längst Hyperinflation grassieren. Wahr ist allerdings: Wenn die Staaten auf ähnlich unlimitierte Weise von der EZB mit Geld vollgepumpt würden wie heute die Banken, dann bestünde reale Inflationsgefahr.

Ein vernünftiges Defizitkriterium

Das heißt jedoch nicht, dass Inflation die zwangsläufige Folge ist, wenn öffentliche Defizite über die Notenbank finanziert werden. Natürlich müssen sich Notenbankkredite an Staaten in eng umrissenen Grenzen bewegen. Als ihr sinnvollster Gegenstand bieten sich wachstumsfördernde, Wohlstand vermehrende Investitionen an. Sie würden unmittelbar dazu führen, dass nicht nur die Nachfrage, sondern auch die Wirtschaftsleistung wächst. Ein vertraglich fixiertes, die Konjunktur berücksichtigendes Defizitkriterium, das den nicht zu überschreitenden Prozentsatz in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt festlegt, wäre bei direkter Notenbankfinanzierung auf jeden Fall notwendig.

In einer Krise allerdings ist die private Nachfrage in der Regel zu niedrig, um die Wirtschaft auch nur annähernd auszulasten. Unter solchen Bedingungen sind öffentliche Defizite unerlässlich, um eine Abwärtsspirale und den mindestens ebenso gefährlichen Gegensatz von Inflation zu vermeiden: Deflation. Wenn die Staaten ihre Defizite über die Notenbank finanzieren könnten, entstünden daraus nahezu keine Zinsansprüche, die das staatliche Budget in der Zukunft belasten würden. Damit sinkt der künftige Verschuldungsbedarf beziehungsweise verschwindet ganz.

Wer also Sorge hat, dass ein vertraglich fixiertes Defizitkriterium wieder nicht eingehalten würde, sollte bedenken: Die Gefahr einer uferlosen Notenpresse ist in dem heutigen System ungleich größer als nach den hier vorgeschlagenen Veränderungen. Gerade, weil die Staaten dann weit weniger Kredit brauchen würden und die Zentralbank diese Kreditbedürfnisse direkt bedienen könnte.

Heute tut sie es indirekt und muss deshalb ungleich mehr Geld zur Verfügung stellen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die aktuellen gewaltigen Geldemissionen nicht zuletzt den Zweck verfolgen, die Refinanzierungsbedingungen der Staaten zu verbessern und so ihre Zahlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Das Kalkül ist, dass von dem vielen Geld, mit dem man die Banken überschwemmt, ein gewisser Teil zusätzlich in Staatsanleihen investiert wird. Dass das Kalkül aufgeht, zeigt die Entwicklung der langfristigen Zinsen etwa auf italienische Staatsanleihen, die von 7 Prozent im letzten Herbst auf gut 5 Prozent gesunken sind. Auch die Finanzierungssituation Spaniens hat sich etwas entspannt.

Das Problem ist eben nur, dass die Banken darüber entscheiden, wie viel von dem ihnen bereitgestellten Geld sie überhaupt an die Staaten weiterreichen. Im ganzen Jahr 2010 hätten alle Eurostaaten zusammen etwa 300 Milliarden Euro benötigt, um ihr Primärdefizit zu finanzieren. Aktuell aber werden die Banken mit 500 Milliarden Euro im Zweimonatsrhythmus zugeschüttet. Nur einen Bruchteil davon geben sie an die Staaten weiter, während der größte Teil in spekulative Geschäfte ohne jeden volkswirtschaftlichen Nutzwert kanalisiert wird. Ganz abgesehen davon, dass auch Zinsen von 5 Prozent für italienische oder spanische Staatsanleihen für diese Länder langfristig nicht tragbar sind, wenn die Wirtschaft stagniert und die Inflation bei etwa 2 Prozent liegt. Solche Zinsen bedeuten eine stetig weiter ansteigende Gesamtverschuldung.

Geschäftsinteressen statt Inflation

Doch zurück zum Thema Inflation. Dass staatliche Defizitausgaben Inflation verursachen sollen, wenn sie niedrig verzinst oder zinslos über die Zentralbank finanziert werden, und keine Inflation, wenn das gleiche Defizit zu höheren Zinsen über die privaten Banken finanziert wird, die das Geld auch von der Zentralbank haben, ist eine krude Logik. Tatsächlich geht es um etwas anderes: nicht um Inflation, sondern um Interessen.

Es gibt genau einen Grund, der gegen Zentralbankkredite an Staaten spricht: das Geschäftsinteresse der privaten Banken, die an der Zinsdifferenz zwischen Notenbankkredit und Staatsanleihe prächtig verdienen. Aktuell erleben wir in Europa, wie sie die Macht, über den von den Staaten zu zahlenden Zinssatz zu entscheiden, auch dafür nutzen, die Politik in ihrem Sinne zu steuern. Hätten die Staaten das Recht, auf Kredite der EZB zurückzugreifen, müsste sich keiner mehr um hysterische Finanzmärkte und ihre erratischen Ausschläge, um Kettenreaktionen oder die Noten der Rating-Agenturen scheren.

Während Notenbankkredite das System der staatlichen Defizitfinanzierung auf eine rationale Grundlage stellen würden, ist die heutige Geldflutung der Banken alles andere als ungefährlich. Zum einen, weil sie den Finanzsektor immer weiter aufbläht und stärkt. Zum anderen aber auch, weil aus ihr langfristig ebenfalls Inflation entstehen kann. Solange die Geldflut der Zentralbanken ausschließlich den spekulativen Finanzkreislauf antreibt, mit ihr also nur Aktien, Anleihen und Derivate gekauft werden, scheint das die Preise normaler Güter unberührt zu lassen.

Aber auch Rohstoffzertifikate und Lebensmittelfutures sind Finanzpapiere. Wird deren Wert spekulativ in die Höhe getrieben, steigen auch die realen Preise von Öl, Reis oder Soja. Die extreme Verteuerung elementarer Lebensmittel 2008 hatte keinen anderen als diesen Grund: Sie war spekulationsgetrieben. Für die aktuellen Spitzenpreise an deutschen Tankstellen ist die Geldpolitik der EZB zumindest mitverantwortlich. Ein Finanzmarktboom kann auch schnell die Preise von Anlageimmobilien mit nach oben ziehen, wie das in Deutschland gerade geschieht. Was aber teuer gekauft ist, will sich anschließend auch höher verwerten. Steigende Mieten sind vorprogrammiert.

Interessant ist auch, mit welcher Verve sich die Inflationshysteriker mit der Frage notenbankfinanzierter Staatskredite befassen, während sie die Folgen von Oligopol- und Monopolbildung auf unregulierten Märkten in der Regel nicht einmal im Blickfeld haben. Wenn aber Märkte nur noch von wenigen großen Unternehmen beherrscht werden, wie das heute in Europa auf vielen Märkten der Fall ist, wächst die Gefahr, dass auf steigende Nachfrage nicht mit einer Ausweitung der Produktion, sondern mit steigenden Preisen reagiert wird.

Auch die Gefahren einer forcierten Privatisierungspolitik sind selten ein Thema in den Inflationsdebatten, obwohl nach Veräußerungen öffentlichen Eigentums in den meisten Fällen die Preise steigen und nicht etwa sinken. Dafür gibt es Gründe. Zu ihnen gehören die deutlich höheren Renditeansprüche privater Unternehmen und die in der Regel weit höheren Managementgehälter. Beides wird in der Folge auf die Preise umgelegt. Dennoch wird in Europa seit langem Druck gemacht, öffentliche Leistungen zu privatisieren, und dieser wird aktuell noch verstärkt.

Es gibt also manche Entwicklung im heutigen Europa, die die Gefahr steigender Preise in sich birgt. Aber darum ging es nie, wenn gegen Direktkredite der EZB an die Staaten Stimmung gemacht wurde. Es ist genau so, wie der amerikanische Ökonom Michael Hudson formuliert: Die These von der »Unabhängigkeit der Zentralbank« war nie etwas anderes als die euphemistische Umschreibung dafür, einen für die Allgemeinheit zentralen Bereich – die Geld- und Kreditwirtschaft – dem Finanzsektor zu überlassen.

Zu einem Programm für ein neues demokratisches Europa gehört also neben der Streichung der Altschulden der Staaten auf jeden Fall auch die Streichung des Artikels 123 des Lissabon-Vertrags und das Recht der Staaten, ihre Defizite in einem bestimmten Rahmen direkt bei der Europäischen Zentralbank zu finanzieren. Da die Europäische Zentralbank eine öffentliche Institution ist, könnte das zinsfrei geschehen, da die Staaten andernfalls nur an sich selbst Zinsen zahlen würden.

Zentral für die Allgemeinheit ist natürlich nicht nur die Kreditversorgung der Staaten, sondern auch die der Wirtschaft. Zu gewährleisten, dass für sinnvolle Investitionen und Innovationen ausreichend Kredit zur Verfügung steht, ist von allgemeinem Interesse. Finanzstabilität ist ein öffentliches Gut. Deshalb gehört der Finanzsektor letztlich insgesamt nicht in die Hände unverantwortlicher Renditejäger, sondern in die öffentliche Hand. Zumal es auch nur dann eine echte Chance gibt, die Banken zu verkleinern, strikt zu regulieren und wieder zu dem zu machen, was ihre Aufgabe wäre: Diener der Realwirtschaft zu sein.

Deregulierung statt gemeinsamer Standards:Nur der Fitteste überlebt

Im genauen Gegensatz zu diesen Anforderungen werden heute immer größere Bereiche des öffentlichen Lebens der profitorientierten Ökonomie überlassen. Ein armer Staat ist auch ein abhängiger Staat, einer, der den Markt nicht mehr ordnen kann, sondern sich ihm unterordnen muss. Der Markt aber wird nicht zu einem geeinten Europa, er muss zu einem immer tiefer gespaltenen Europa führen. Schon die Ordoliberalen wussten, dass unregulierte Märkte nicht ausgleichen, sondern polarisieren, dass sie stets den Starken stärker und den Schwächen schwächer machen und so Gegensätze vergrößern, statt sie verschwinden zu lassen.

Es ist der entscheidende Fehler der europäischen Integration, spätestens seit Beginn der neunziger Jahre, dass auf Deregulierung gesetzt wurde, wo einheitliche Regeln notwendig gewesen wären, und auf den Markt, wo es einer abgestimmten Politik bedurft hätte.

Griechenland hatte im Norden einst eine funktionierende Landwirtschaft und es hatte einen industriellen Sektor. Die Landwirtschaft wurde durch EU-Subventionen zum Verschwinden gebracht, die die Bauern motivierten, ihre Flächen nicht mehr zu bestellen. Das war kein Versehen, sondern lag im Interesse der großen europäischen Agrarexporteure, die Griechenland fortan mitbeliefern konnten. Die griechische Industrie wurde unter dem Druck der überlegenen Konkurrenz, insbesondere aus Deutschland, in die Knie gezwungen. Auch das war kein Versehen. Für die großen Industriekonzerne, die den griechischen Markt übernahmen, war es ein gutes Geschäft. Aber ein Land, das immer weniger selbst produziert und immer mehr Produkte im Ausland kauft, muss sich immer stärker verschulden.

Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich in vielen der heutigen Defizitländer. Früher gab es Mittel, mit denen Staaten eine unterlegene Wirtschaft schützen konnten. Es gab Zölle oder spezielle Steuern, die Importe gegenüber der heimischen Produktion benachteiligten. Es gab Kontrollen des Kapitalverkehrs, mit denen Konzerne gezwungen werden konnten, ihre Profite im Land zu reinvestieren. Aber nach den Gebetsbüchern des Neoliberalismus durfte es all das in der Europäischen Union nicht mehr geben. Nur der Fitteste sollte überleben. Nach Einführung des Euro entfiel auch noch die letzte Möglichkeit, auseinanderklaffende Produktivitätsentwicklungen auszugleichen: die Abwertung der eigenen Währung.

Lohnentwicklung und außenwirtschaftliche Ungleichgewichte

Also blieb fortan nur noch der Fitteste übrig. Was sich nicht behaupten konnte, verschwand. Das war keine »kreative Zerstörung«, die Neues beförderte, sondern eine, die Leere hinterließ. Eine der Absurditäten der jüngeren europäischen Geschichte besteht darin, dass sich das Lohnniveau in den einzelnen Ländern nach Einführung der gemeinsamen Währung viel stärker auseinanderentwickelt hat als je zuvor. Während Deutschland unter dem Druck der Agenda 2010 ein Jahrzehnt sinkender Reallöhne einleitete, konnten kämpferische Gewerkschaften in Südeuropa weiterhin akzeptable Lohnerhöhungen durchsetzen. Das bedeutete nicht nur, dass die Kosten der Unternehmen immer stärker divergierten und es deutschen Exporteuren immer leichter fiel, Wettbewerber aus anderen Ländern auszustechen. Es bedeutete auch volkswirtschaftlich ein wachsendes Konsumniveau und daher hohe Importe in den südlichen Ländern, und ein stagnierendes Konsumniveau und somit vergleichsweise wenige Importe in Ländern wie Deutschland. Die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euroraum mussten damit eskalieren.

Kapazitäten, die einmal vernichtet sind, entstehen nicht deshalb wieder, weil jetzt auch in Südeuropa die Löhne sinken. Auch die Wiedereinführung nationaler Währungen in den schwächeren Ländern ist kein Reset-Button, mit dem sich die Situation Ende der neunziger Jahre wiederherstellen ließe. Sie würde vielmehr zu wechselkursbedingter Hyperinflation in den betreffenden Ländern und unerschwinglichen Importpreisen führen, ohne dass zunächst eigene Anbieter zum Ersatz vorhanden wären. Sehr wahrscheinlich würde ein solcher Weg Europa endgültig auseinandersprengen. Handlungsfähiger würden die Staaten dadurch nicht, vielmehr würden ihre Währungen noch mehr zum Spielball der Finanzmärkte.

Die einzige Alternative sind billige Kredite, die klug in eine Reorganisation der Wirtschaft investiert werden. Angesichts der gigantischen Milliardenbeträge, mit denen heute jongliert wird, wären dafür relativ bescheidene Summen ausreichend. Ein Investitionsprogramm von 30 Milliarden Euro entspräche in Griechenland 10 Prozent der Wirtschaftsleistung und könnte, gut angelegt, dem Land einen Neustart ermöglichen.

Europäische Wirtschaftspolitik statt europäische Wirtschaftsregierung

Wenn Europa als Einheit überleben soll, darf es nicht dem Markt überlassen, sondern muss politisch gestaltet werden. Und das nicht, wie bisher, im Interesse der Banken und großen Unternehmensgruppen, sondern im Interesse der europäischen Bevölkerung. Das beinhaltet ausdrücklich nicht den Ruf nach einer europäischen Wirtschaftsregierung, die die Souveränität der Mitgliedstaaten außer Kraft setzen würde. Über das italienische Bildungssystem muss in Italien und über portugiesische Gesundheitsausgaben in Portugal entschieden werden. Das Haushaltsrecht gehört zu den elementaren Rechten eines nationalen Parlaments und darf ihm, ohne die Demokratie in ihren Grundfesten zu zerstören, nicht genommen werden.

Zwar sind längst auch viele Regierungen ihrer Bevölkerung fremd geworden und bereit, gegen Mehrheiten Politik zu machen. Noch weit mehr würde das aber für eine Brüsseler Behörde gelten, die schon gar keiner demokratischen Kontrolle unterläge. Noch mehr Kompetenzen an das Europäische Parlament abzugeben, wäre ebenfalls keine gute Idee. Ein Vielvölkerparlament, in dem die Abgeordneten noch nicht einmal eine gemeinsame Sprache sprechen und das weit weg von ihren Ländern und Wahlkreisen liegt, wird in viel geringerem Maße von der Öffentlichkeit beaufsichtigt als die nationalen Parlamente. Es wird immer dem Bürger ferner, abgehobener und damit leichter durch zahlungskräftige Lobbys steuerbar. Schon heute liegt der Grad der Beeinflussbarkeit durch interessierte Wirtschaftskreise, ja der Käuflichkeit und Korrumpierbarkeit, in Brüsseler Institutionen weit über dem auf nationaler Ebene Üblichen.

Noch mehr Entscheidungsbefugnisse nach Brüssel oder gar nach Frankfurt oder Berlin zu verlagern, wäre daher keine Lösung, sondern das Ende der Demokratie. Europa braucht keine machtvollkommenen Kommissare oder Zentralbanker, die in die einzelnen Länder hineinregieren, sondern vertraglich festgelegte Regeln und Standards, die für alle Länder gelten und eingehalten werden müssen. Solche mit Mehrheit vereinbarten, dann allerdings verbindlichen gemeinsamen Leitlinien der Wirtschaftspolitik wären die demokratische Alternative zu einer den nationalen Regierungen übergeordneten Europäischen Wirtschaftsregierung. Ohne eine abgestimmte Wirtschaftspolitik aber kann die Europäische Währungsunion nicht auf Dauer überleben.

Es ist erschreckend, in wie vielen keineswegs zentralen Bereichen es heute detailwütig festgelegte europäische Normen gibt. Ausgerechnet in den elementarsten Fragen wurde dagegen bis heute darauf verzichtet. Das betrifft nicht nur europäische Mindeststeuersätze als Alternative zum Steuersenkungswettlauf. Ähnliche Verabredungen sind auch in der Lohnpolitik unabdingbar. Die goldene Regel der Lohnpolitik, Löhne mit der Produktivität plus Inflationsrate steigen zu lassen, sollte als europaweite Untergrenze gelten. Überschussländer wie Deutschland könnten verpflichtet werden, ihre Löhne um mehr als diesen Level anzuheben, um die Sünden der Lohnpolitik der Vergangenheit auszugleichen.

Das europäische Sozialstaatsmodell war bisher nie Gegenstand europäischer Verträge. Vielmehr haben diese ihm Schritt für Schritt die Grundlage entzogen. Wenn Europa einmal das werden soll, als das es einst in den Proklamationen und Erklärungen gestartet ist, braucht es eine völlig neue vertragliche Grundlage. Eine solche zu schaffen wäre die Aufgabe der Gegenwart, wenn Europa eine gemeinsame Zukunft haben soll.

Neoliberaler Orkan

Es gibt also ein Programm zur Lösung der Eurokrise. Wenn es nicht umgesetzt wird, liegt das nicht daran, dass es nicht funktionieren würde. Es liegt daran, dass ihm starke Interessen entgegenstehen: die Interessen der Profiteure des heutigen Systems. Als 2008 die Finanzmärkte in sich zusammenstürzten, schienen sie auch den Glauben an den Segen unregulierter Märkte unter sich zu begraben. Viele haben damals ein Ende des neoliberalen Zeitalters prophezeit, eine Rückverschiebung der Gewichte von der Wirtschaft zum Staat, von der Deregulierung zur Regulierung. Diese Hoffnung war verfrüht. Das Gegenteil geschieht. Statt einer Überwindung der »neoliberalen Hegemonie« fegt ein neoliberaler Orkan über Europa hinweg, der jahrzehntelang erkämpfte öffentliche Leistungen und soziale Rechte mit einer Wucht zertrümmert, die er ohne das »Diktat der leeren Kassen« nie hätte entfalten können. Er zerstört alles, was von dem einstigen europäischen Sozialmodell noch übrig war. Wenn wir ihn weiter wüten lassen, steht Europa eine schlimme Zukunft bevor.

Wo nur noch der Profit regiert, bleibt auch kein Raum für Demokratie. Hatten Ludwig Erhard und die Ordoliberalen mit Verve für einen Staat plädiert, der stark genug ist, der Wirtschaft Regeln aufzuzwingen, gilt heute eine Politik als modern, die sich ihre Regeln von den Finanzmärkten diktieren lässt. »Marktkonforme Demokratie« hat die deutsche Kanzlerin diese Unterwerfung unter die Herrschaft der Banken und Spekulanten genannt. Regierungen, deren Credo darin besteht, das Vertrauen der Finanzmärkte zu gewinnen, sollten sich allerdings im Gegenzug über das schwindende Vertrauen ihrer Wähler nicht wundern. Mit diesem schwindet aber nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern in die demokratischen Institutionen insgesamt.

Störfaktor Demokratie

Finanzmärkte mögen Berechenbarkeit. Autoritäre Staaten mit korrupten Führungen sind viel berechenbarer als demokratische. Demokratie kann daher schnell zum Störfaktor werden. In zwei europäischen Ländern wurden mittlerweile Regierungen allein durch die Banken gestürzt. Die Wähler wurden nicht gefragt. Was das Ende des griechischen Ministerpräsidenten Papandreou besiegelte, war nicht seine Korruptheit und auch nicht der rücksichtslose Sparkurs, den er in seinem Land exekutierte. Sein politisches Todesurteil war die Idee, statt der europäischen Banken die griechische Bevölkerung über die Zukunft Griechenlands entscheiden zu lassen. Dass er daraufhin in der europäischen Presse zum Sinnbild eines unzurechnungsfähigen Verrückten wurde, zeigt an, wie tief der Stellenwert demokratischer Ideen in Europa bereits gesunken ist.

Auch Wahltermine verbürgen Unsicherheit, die es möglichst kleinzuhalten gilt. Etwa dadurch, dass – wie in Griechenland – sich alle größeren Parteien auf exakt das gleiche Programm verpflichten müssen. In Deutschland müssten sie es nicht, aber sie tun es trotzdem.

Wahlen, in denen es nichts mehr zu entscheiden gibt, sind keine Werbung für die Demokratie. Was als Farce empfunden wird, wird irgendwann auch nicht mehr verteidigt. Wie groß wird der öffentliche Aufschrei dann noch sein, wenn die Finanzmärkte irgendwann verlangen, den Störfaktor Demokratie ganz auszuschalten?

Vorsorglich wurde in einer amerikanischen Zeitschrift bereits die Möglichkeit erörtert, in Griechenland eine Militärdiktatur zu errichten. Es ist tatsächlich kaum vorstellbar, dass eine derart brutale Politik gegen die eigene Bevölkerung auf Dauer innerhalb demokratischer Strukturen durchsetzbar ist. Als der berüchtigte Hungerkanzler Brüning in den dreißiger Jahren die deutsche Wirtschaft in den Untergang sparte, waren die Tage der Weimarer Republik bald gezählt. Daher möge niemand glauben, dass derartige Dammbrüche heute folgenlos bleiben. Weit wahrscheinlicher ist, dass sie irgendwann das Gesicht ganz Europas zur hässlichen Fratze verzerren werden.

Die postdemokratische und postsoziale Gesellschaft, auf die wir zusteuern, ist Kapitalismus pur. Ein Kapitalismus ohne Mäßigung, ohne Rücksichten, ohne Fesseln. Ein Kapitalismus, der noch etwa einem Prozent der Bevölkerung nützt und die Lebensqualität aller anderen untergräbt, die der Beschäftigten genauso wie die von kleinen und mittleren Unternehmern. Ein Kapitalismus, der längst nicht nur sozial, sondern auch vor seinen eigenen Ansprüchen versagt. Ein Kapitalismus, mit dem wir uns nicht abfinden dürfen.

Fazit

»Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt«, schrieb Goethe, zeitlebens ein Bewunderer der griechischen Kunst und Literatur. Dieser »Traum des Lebens« hat in dem politischen und wirtschaftlichen Europa der Gegenwart keinen Platz mehr. Auf keinem der endlosen Eurogipfel der letzten Jahre waren die Traditionen des klassischen Humanismus und der europäischen Aufklärung und der daraus ableitbare Anspruch auf menschenwürdige – dem Menschen würdige! – Verhältnisse in Europa ein Thema. Stattdessen wurden und werden Programme beschlossen, die den Wohlstand ganzer Länder zerstören, Millionen Menschen in Armut und Verzweiflung stürzen und Europa immer tiefer spalten.

Die europäischen Staatsschulden sind nahezu ausschließlich Produkt der neoliberalen Ära. Sie entsprechen den nicht mehr gezahlten Steuern der Reichen und den verlorenen Finanzwetten der Banken. Schulden, die auf diese Weise entstanden sind, muss man nicht bedienen, sondern streichen. Für die Verluste sollten jene Vermögen haften, die ihr schnelles Wachstum ebenfalls der neoliberalen Ära verdanken, die Vermögen der Oberschicht.