Fremde - Barbara Stewen - E-Book

Fremde E-Book

Barbara Stewen

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Beschreibung

Sie geht ganz, ganz leise, denn sie fürchtet, dass Mutters Lächeln zerbricht, wenn auch nur ein falscher Laut in die Küche dringt, denn Mutter kann auch anders. Ein zerbrochener Kochlöffel zeugt davon. Tröstlich scheint ihm nun der Klang der Glocken, der sich mit dem Rauschen des Kornfeldes zu einem lauten Brausen, gleich einer letzten Symphonie vermischt und in einem aufbrausenden Stakkato endet. Mit letzter An strengung bricht aus dem Mund des Sterbenden der verzweifelte Aufschrei: Oh Gott! Dann fällt sein Gesicht auf die Seite. Wand an Wand lag ich als Kind mit Maden und Schmeißfliegen, die mit ihren schillernden Flügeln den Leichnam verließen, und von tausenden Kleinstlebewe- sen abgelöst wurden. Das ist furchtbar, denkt sie, aber auch spannend: Das große Fressen ist meistens nach etwa zwei Jahren beendet.

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Barbara Stewen

Fremde Schwester

Kriminalroman

Ruhrkrimi-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© Barbara Stewen 2023

Coverbild: © Barbara Stewens

© 2023 Ruhrkrimi-Verlag Uwe Wittenfeld, Mülheim/Ruhr

Druck: BoD Norderstedt

ISBN 978-3-947848-56-0

1. Auflage 2023

Coverbild: © Barbara Stewen 2022

Auch als E-Book mit der ISBN 978-3-947848-57-7 erhältlich.

Disclaimer:

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

www.Ruhrkrimi.de

Barbara Stewen wurde in Litauen geboren und wuchs in Westfalen auf.

Sie war Krankenschwester im In- und Ausland und Kriminalbeamtin im Ruhrgebiet. Sie erlernte Maltechnik bei dem Surrealisten Arnold Krause (1948 - 1987) und besuchte Seminare bei Markus Lüpertz. Ausstellungen im In- und Ausland folgten, so im Sommer 2021 im Regierungspräsidium in Köln.

Die Kunst und das Schreiben füllen neben der Familie einen Teil ihres Lebens aus.

Buchveröffentlichungen:

Fuchsteufelsmord, Ruhrpott-Krimi, 2019 Scylla Verlag

Der Puppenmörder, 2021 Ruhrkrimi-Verlag

Vom Bleiben und Schwinden

Lyrik und Prosa Bergischer Autoren 2018, Heider Verlag, Bergisch Gladbach

Ein Engel, so gut wie auch schön.

Eine Liebe im Kriegsjahr 1793

Biografie Königin Luise von Preußen

2013 im E. Humbert Verlag, Bodenheim.

Zahlreiche Lesungen eigener Kurzgeschichten folgten, in der Goethe Gesellschaft Bergisch Gladbach, dem ILC, Internationaler Lyzeum Club Köln e.V., im Rahmen der Kölner Literaturtage des VS, auf Literaturabenden der Art Factory, Köln, in Buchgeschäften und im Rahmen ›Offener Ateliers‹.

Barbara Stewen ist Mitglied im VS Schriftstellerverband Köln, in den Künstlerverbänden GEDOK Köln, BBK Bonn- Rhein-Sieg und im Arbeitskreis der Künstler Bergisch Gladbach.

In diesem Kriminalroman ermittelt die Sonderermittlerin Elisa Fuchs erneut mit Kriminalhauptkommissar Max Teufel.

Inhalt

Prolog7

Nacht8

Verstörende Nachrichten13

Tod im Kornfeld17

Reise in die Vergangenheit27

Der Fundort34

Mordtheorien der Sonderermittlerin42

Warten auf die Forensik45

Memento mori48

Die Engländer kommen53

Hello Blondie!61

Ein Held66

Motivsuche72

Max Teufel81

Flaßkamp spielt Theater89

Der verschwundene Colonel96

Der Zeuge102

Jagd nach dem schwarzen Biker115

Ratzke in Aktion118

Der Vogel ist ausgeflogen122

Ein Knopf einer Uniform130

Knocking on Hells Door133

Heimfahrt138

Elisa träumt140

Die fremde Schwester145

Seniorenheim ›Maria Zuversicht‹151

Kevin Ratzke155

Blutige Spur160

Waidmannsheil166

Der Altar im Wald168

Nachtgedanken172

Dienstbesprechung174

Die ungesühnte Tat184

Vater Ratzkes verborgenes Vermächtnis189

Das alte Backhaus194

Der Feuerteufel200

Der Einsatz204

Die Nacht der bangen Stunden207

Ein neuer Tag210

Verstrickungen212

Resümee213

Die Tat218

Herzkasper220

Is she a Lady?224

Epilog227

Personen der handlung

Sonderermittlerin Elisa Fuchs und Hauptkommissar Max Teufel. Ein starkes Team, sie kommen sich und dem Tod sehr nahe.

Hauptkommissar Bernd Brinkhues, genannt BB oder ›Löwe von Münster‹, fährt sich gerne mit den Fingern durch seinen dichten Haarschopf.

Oberkommissar Karl Kalthöner, genannt KK, ist Brinkhues Stellvertreter, putzt stets seine Brille und hat somit den Durchblick.

Kriminalkommissar Heinrich Nachtigäller singt nicht und bleibt stets auf der Spur.

Tim Flaßkamp, Kommissar Anwärter, spielt gerne Theater und ist ein wissbegieriges Plappermaul.

Susi Potthoff, Kommissarin, genannt Spusi Susi.

Colonel Geofferey Vernon, Military Reiter, ist angeblich nie in England angekommen.

Constantin Fuchs besucht Elisa und verursacht einen Herzkasper.

Klaus Ratzke warGefangenenaufseher und hat ein verhängnisvolles Vermächtnis hinterlassen.

Kevin Ratzke war oft allein ›zu Haus‹und ist auf die schiefe Bahn geraten. Er liebt Waffen und das Spiel mit dem Feuer.

Alwin Stöcker und Elena Gutzke arbeiteten während Elisas Kindheit auf dem Gut.

Prolog

Weiß wie Elfenbein schimmert ein Handgelenk,

das völlig verdreht neben dem Skelett liegt

und durch den grellen Lichtstrahl der Tatortlampe

kurz aufleuchtet. Ist das beim Sturz in die Tiefe geschehen,

oder haben die Ratten sich die Knochen zum Fraß herangezogen, fragt sich Elisa.

Nacht

Samstag, 13. September 1952

Düster wölbt sich der Nachthimmel über dem jahrhundertealten Gehöft. Nur ein schmaler Streifen giftigen Gelbschimmers erhellt den Horizont.

Blitze durchtrennen die Septembernacht nach der schwülen Hitze des Herbsttages. Sie beleuchten für Sekunden drei mächtige Eichen, die den westfälischen Bauernhof, seine Stallungen und Scheunen umsäumen.

Ächzend wiegen sich die mächtigen Baumkronen im Sturm, als das Krachen eines Donnerschlags die tiefschwarze Wolkenschicht zerreißt. Für Sekunden erhellen bizarre Blitzschläge die Finsternis, bilden Lichtbögen und zuckende Raster zwischen Himmel und Erde.

Verschrecktes Wiehern von unruhigen Pferden aus den Stallungen. Das Schlagen von Hufen auf dem steinigen Boden. Pfeilschnell schießt Hofhund Hektor mit rasselnder Kette erst kläffend, dann mit einem eigenartigen wehen Heulen aus seiner Holzhütte.

Im dunkelsten Winkel der Scheune beobachten grün schillernde Augen des Katers, genannt Zeus, den Schatten eines Menschen. Die Blicke der Katze folgen ihm wie Nadelstiche, als er in geduckter Haltung, sich immer wieder umsehend, über das Pflaster der Hofeinfahrt schleicht, bis hin zur alten Remise.

Knarzend dreht sich jetzt ein Schlüssel im rostigen Kastenschloss. Kater Zeus maunzt, macht einen Katzenbuckel, duckt sich und springt fauchend mit einem Satz ins Heu der Scheune, immer noch mit stechendem Blick auf die Remise.

Schwer sperrt sich die Eichentür gegen den Eindringling, so, als wolle sie niemanden hereinlassen. Es gelingt ihr nicht. Nach kräftigem Zerren und Rütteln von außen gibt sie dem Druck nach. Der von der Katze beobachtete Schatten drängt sich durch die Tür.

Hinter den verstaubten Fenstern der Remise blitzt das diffuse Licht einer Taschenlampe auf. Tanzende Lichtkegel im Innern des Raumes, erregte Gestik zweier Menschen und unverständliche Laute.

Dumpfe Stille, gefolgt von Rumpeln und Poltern.

Was jetzt passiert hätte nie geschehen dürfen.

Der laute Knall eines Schusses wird von einem erneuten Donnerschlag verschluckt.

Es scheint, als ob die Zeit sekundenlang still steht, bis einsetzender Sturzregen als Taufe des Bösen vom Himmel prasselt.

Wasserbäche vermischen sich mit einem blutigen Rinnsal, das unter der Tür der Remise sichtbar wird und sich schlierig in den Pfützen auflöst. Jetzt hütet die alte Remise ein dunkles Geheimnis, von dem nur ein Mensch weiß.

Im angrenzenden Wohnbereich des Hofes wälzt sich Elisa, die fünfjährige Tochter des Verwalters, unruhig hin und her.

Ein ohrenbetäubender Donnerschlag hat sie aus dem Schlaf gerissen. Aufrecht und mit zerzaustem Blondschopf sitzt sie in ihrem zerwühlten Bett und starrt angstvoll in die Nacht. Beim nächsten Blitzschlag stülpt sie sich bibbernd das schwere Daunenplumeau über den Kopf und betet: »Lieber Gott, bitte mach doch, dass das Gewitter …«, und da fällt ihr der Buchsbaumzweig ein, der über dem Weihwasserbecken hängt, direkt neben der Schlafzimmertür. Er ist gesegnet, und soll die Menschen bei Gewittern schützen, hat der Pfarrer gesagt. Sie springt auf und geht barfüßig zur Tür, taucht den Buchsbaumzweig in das Weihwasserbecken und zelebriert blitzschnell drei Kreuzzeichen.

Das Weihwasserbecken hat die Form eines Schutzengels. Lieblich und unergründlich schaut der Engel. Er erzittert beim erneuten, fürchterlichen Donnern, das die maroden Mauern erbeben lässt. Ein wenig Staub rieselt bei jeder Erschütterung aus dem Kalkgemisch, mit dem die Fachwerkwände getüncht werden, seit Jahrhunderten.

Der Buchsbaumzweig fällt auf die Erde und der Engel hinterher. Elisa erschrickt fürchterlich und flüchtet mit einem Satz ins Bett. Dann traut sie sich doch und schaut auf dem Fußboden nach. Der Engel übersieht mit seinem unergründlichen Lächeln, dass ihm jetzt die Zehen des linken Fußes fehlen. Elisa hängt ihn behutsam wieder an den Haken. Die Mutter wird es nicht merken, denkt sie mit klopfendem Herzen.

»Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!«, betet sie innig.

»Mit wem flüstert du denn? Sei doch endlich mal ruhig und lass mich schlafen, du alte Transuse. Es ist doch nur ein doofes Gewitter!«, schimpft ihre große Schwester, dreht sich um und schläft weiter.

Doch Elisa hört beängstigende Geräusche: das unruhige Schlagen der Pferdehufe, das gellende Bellen und jaulen Hectors und das unruhige Geschnatter des Federviehs. Alarmstimmung. Ihr Herz klopft noch immer wie wild.

Jetzt trommeln Regengüsse an die Fensterscheiben. Die alten Sprossenfenster sind nicht dicht. Morgen wird sie die kleinen Pfützen, die sich auf dem Boden bilden, aufwischen müssen. Morgen ist Sonntag … ach wäre es doch schon morgen.

Aber da ist immer noch ein anderes Geräusch, das sie beunruhigt. »Kommt es aus der Remise?«, fragt sie sich. Es ist ein Klopfen, so als ob jemand hereinkommen möchte. Oder ist es ein Stampfen auf erdigem Boden? Monoton, wie schwere Stiche eines Spatens, wenn der Vater festgefahrene Böden umgräbt, um danach mit der Egge darüber zu gehen und neue Pflanzen einzusetzen. Ein Feld gibt es neben meinem Schlafzimmer gar nicht, nur eine Remise. Da halten sich die Arbeiter immer gegen Mittag auf. Sie qualmen, schwatzen und machen ein Päuschen. Währenddessen werden in einem Kessel mit kochendem Wasser ihre Henkelmänner aufgewärmt und aus dem alten Radio dudeln Schlagerschnulzen, deren Sinn Elisa gar nicht versteht. Zum Beispiel: »Kann denn Liebe Sünde sein?«

Elisa versteht das Getue um die Liebe nicht, das die Arbeiter darum machen, auch nicht das augenzwinkernde Lachen und ihre Witze hinter hervorgehaltener Hand.

Elisa, stets neugierig, fühlt sich in der Remise sehr wohl. Sie versteht die Begeisterung der Arbeiter über das Gedudel aus dem alten Volksempfänger nicht.

Zur Mittagszeit zieht es sie eher zu den gut riechenden Henkelmännern der Männer. Manchmal darf sie vom Eintopf des Knechtes Alwin probieren. Wenn nicht, trollt sie sich, spielt in der Scheune oder im Backhaus, das einige Meter entfernt auf einer Wiese steht.

Mittelpunkt des Hofes ist für sie die große Tenne. Da ist immer was los. Hier laufen alle Gänge zusammen. Ein Ort, an dem gearbeitet, und an Festtagen gefeiert wird. Eine große Tür führt direkt zum Wohnbereich.

Vom Kirchturm ertönt die Glocke: Mitternacht, zwölf Schläge. So weit kann Elisa schon zählen.

Das Gewitter verzieht sich. Aus der Ferne sind nur noch grollende Geräusche zu vernehmen. Die Welt scheint wieder in Ordnung zu sein.

Elisa schließt die Augen, doch das seltsame Klopf- und Schabgeräusch hört nicht auf. Es bedrückt sie.

Zu allem Unglück werden jetzt auch noch die Ratten munter. Elisa vernimmt das verhasste Rascheln in den Weinranken der Außenfassade. Ratten, so hatte ihr Bruder Johann erklärt, kämen häufig durchs Regenrohr, das an der Schlafzimmerwand befestigt ist. Sie veranstalten dort Wettrennen, flitzen aus dem Wassergraben, der an der Vorderseite des Hauses vorbeiführt, und landen schlimmstenfalls in der stets blitzsauberen Milchkammer, in der auch ›gebuttert‹ wird.

»Schluss jetzt, blöde Ratten!«, sagt Elisa mit fester Stimme. Und dann übermannt sie der Schlaf. Doch das Klopfen und Stampfen aus der Remise begleitet sie bis in ihre unruhigen Kinderträume, in der ihre kleine Welt nicht mehr in Ordnung ist und ein kleiner Schutzengel seine Zehen verloren hat.

Verstörende Nachrichten

Montag, der 16. August 2004, 7:55 Uhr

Elisa Fuchs, Sonderermittlerin des K1 Gelsenkirchen, sitzt beim Frühstück in ihrem Haus im Kastanienweg im Bergischen Land. Gähnend reckt und streckt sie sich, bindet ihr wirres rotbraunes Haar hoch und geht ins Bad. Sie braucht eine Weile, denn sie hat eine unruhige Nacht hinter sich.

Gedankenpuzzle schwirren im Kopf herum, lassen sich nicht zu einer harmonischen Einheit zusammenfügen.

Eine Lösung scheint in weiter Ferne zu liegen. Nach einem aufwühlenden Wochenende, mit nicht endenden Diskussionen, haben sich Constantin und Elisa, einst ein Vorzeigepaar, vorläufig getrennt.

Constantin ist zu einer Dienstreise nach Südamerika aufgebrochen. Eine berufliche Chance für ihn.

Die Kinder sind schon aus dem Haus. Tochter Viola, die Kunstgeschichte in Bonn studiert, ist verheiratet und hat einen dreijährigen Sohn, Robertchen, der die ganze Familie erfreut und auf Trab hält.

Sohn Florian arbeitet als Sozialpädagoge in einer Jugendhilfeeinrichtung.

Elisas Kinder ahnen, dass sich ihre Eltern voneinander entfernt haben.

Als sich die Tür gestern hinter Constantin geschlossen hatte, begann Elisa wie wild zu malen. Aus den nassen, fließenden Farben entstanden im Farbverlauf zunächst Augen, die sie eindringlich anzusehen schienen.

Nichts verändern, denkt sie, das ist wie ein Geschenk. Manchmal malt man stundenlang, ehe das Gewünschte gelingt. Dies hier ist ein Glückstreffer, denn es bedarf nur noch weniger, zarter Pinselstriche zur Vollendung.

Sie schaute zu dem Bild, betrachtete die Augen, die sie aus dem Farbenmeer direkt anblickten, ihre Gefühle widerspiegelnd. »Ein Gesicht der Farben«, flüsterte sie, und sofort ging es ihr ein wenig besser.

Das war gestern.

Heute ist es wieder anders. Immer noch ist da dieser verrückte Herzschmerz, denkt Elisa, wenn sie die vergangenen fünfundzwanzig Jahre an sich vorbeiziehen lässt. Alles schien in Ordnung zu sein, bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich in einen Kriminalfall verwickelte. Es war der plötzliche Tod ihres Bruders, der vor zwei Jahren ihren Verdacht weckte, dass die Klärung des Falls durch die Gelsenkirchener Kripo unzureichend war.

Elisa recherchierte auf eigene Faust und trug schließlich zur Aufklärung bei. Sie kehrte als Kriminalbeamtin, als Sonderermittlerin, in ihren alten Beruf zurück.

Der Eifer, mit dem sie sich in die Fälle stürzte, missfiel ihrem Mann Constantin, er zog sich zurück, ging Gesprächen aus dem Weg, und dann hing der Haussegen schief.

»Ist das der einzige Grund?«, fragt sie sich.

Nein, wenn sie ehrlich ist, hat sie sich ein Jahr zuvor in den leitenden Ermittler der letzten gemeinsamen Kriminalfälle schwer verliebt.

Zunächst fand sie ihn, den Hauptkommissar Max Teufel, Leiter des K1 in Gelsenkirchen, arrogant. Sie kam zu der Überzeugung, dass er bei der Suche nach der Todesursache ihres Bruders von einem natürlichen Tod ausgegangen war und dass dadurch gravierende Fehler passierten.

Ungefragt klinkte sie sich privat ein, ermittelte undercover ohne Max Teufels Wissen und auf eigene Faust.

Doch dann wendete sich das Blatt. Max Teufel verliebte sich in seine Widersacherin Elisa Fuchs und befürwortete beim Behördenleiter, dass Elisa ihm in schwierigen Fällen als Sonderermittlerin zur Seite gestellt wurde.

Und aus der Zusammenarbeit wurde mehr, obwohl Elisa lange gegen ihre Gefühle für Max kämpfte. Vergeblich.

Nach dem letzten aufregenden Fall, mit Mord und einer Kindesentführung, hat sie mit Max glückliche Urlaubstage verlebt. Sie haben sich ihre Liebe gestanden.

Schon jetzt vermisst Elisa Max. Er verbringt mit seiner sechzehnjährigen Tochter Andrea Ferientage. Danach wird Andrea vierzehn Tage zu ihrer Mutter nach England reisen und Max und Elisa werden Zeit für sich haben.

Ganz in Gedanken versunken macht Elisa sich an diesem Morgen zunächst einmal einen starken Kaffee, gießt ihn in eine heiß ausgespülte alte Hotel-Silberkanne, damit er lange warm bleibt. Dieses Morgenritual lenkt sie von ihren Problemen ab. Sie schüttet Milch in ein kleines, dazu passendes Kännchen und bereitet sich ein Müsli aus einer frischen Banane, einem Apfel, Haferflocken und Joghurt zu. Sie gießt den Kaffee in ihre Lieblingstasse vom Flohmarkt, denn Elisa ist ein Flohmarktfan. Außerdem mag sie Kunst, malt, forscht und schreibt kulturgeschichtliche Essays.

Als der Tisch gedeckt ist, atmet sie auf, genießt ihr Frühstück, während sie nebenbei die Zeitungsmeldungen überfliegt. Ihr tägliches Morgenritual, das sie heute, nach dem Abschied von Constantin und ihrem inneren Zwiespalt, nachdenklich und ausgiebig zelebriert. Es soll sie fit für den Tag machen.

»Yesterday …«, klingt es aus dem Radio und Elisa will den Ton lauter drehen, sich nach dieser wehmütigen Melodie im Takt wiegen. Es schmerzt noch, dem Song zu lauschen, den sie auf einer Party vor über 25 Jahren zum ersten Mal gehört hat, nämlich an dem Abend, als sie Constantin kennengelernt hat. Sie schafft es nicht rechtzeitig, das Radio lauter zu stellen. Das Lied endet abrupt.

Schade, denkt sie, aber die darauf folgende Nachricht lässt nicht nur aufhorchen, sie schlägt wie eine Bombe ein:

»Mysteriöser Leichenfund auf einem Bauernhof. In einer Bauernschaft des Dorfes Schlossberg im Münsterland wurde eine Leiche entdeckt.«

Elisa lauscht angespannt. Schlossberg! Da hat sie ihre Kindheit verbracht. Aufgeregt folgt sie dem kurzen Bericht des Sprechers von Nachrichten NRW: »Beim Abbruch eines dreihundert Jahre alten Bauernhofes sind in einer Grube Überreste einer männlichen Leiche gefunden worden. Die Staatsanwaltschaft Münster wird die Ermittlungen aufnehmen. Nach ersten Erkenntnissen muss die bisher unbekannte Leiche, nur noch kenntlich als Gerippe, etwa 40 – 50 Jahre in der Vorratsgrube einer Remise des alten Hofes gelegen haben. Eine Vermisstenmeldung des unbekannten Toten liegt nicht vor.

Eine Sonderkommission unter dem Namen ›Remisentod‹ wird gebildet. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«

Elisa will sofort zum Hörer greifen, im zuständigen Präsidium in Münster anrufen, doch dann zögert sie.

Ich weiß doch gar nicht, ob das der Hof ist, der einmal mein Zuhause war, denkt sie. Es gibt dutzende alter Höfe in Schlossberg. Ich werde selber hinfahren, den Hof suchen und alte Erinnerungen aufleben lassen. Einige werde ich nie vergessen…

Da war doch der Todesfall des Strafgefangenen, der mit einer Gruppe Sträflinge für die Feldarbeit eingesetzt wurde. Wann war das? Das muss in den Fünfzigern gewesen sein. Doch der erschossene Strafgefangene wurde bestimmt ordnungsgemäß bestattet. Wer weiß, was sonst noch passiert ist, denkt sie und rüstet sich eilig für die Fahrt ins Münsterland. Doch die tragische Geschichte des Strafgefangenen geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ihre schwermütigen Gedanken vom Morgen sind wie weggefegt. Ihr sprichwörtliches Bauchgefühl setzt ein. Sie ist in ihrem Element. Sofort hat sie ein Bild vor Augen, so als wäre es gestern geschehen, der Tod im Kornfeld. Sie steigt in ihren Mini und braust los.

Tod im Kornfeld

August 1952

Der Gefangene lauscht dem metallenen Klang der Glocken der Dorfkirche, die zum Hochamt rufen.

Als er sich bückt, um eine Garbe zu binden, sieht er durch seine gespreizten Beine am Rande des Feldes die blitzblanken Lederstiefel des Aufsehers.

Er überlegt und checkt die Lage: Vor den Feldern verläuft ein Landwirtschaftsweg. Das angrenzende Kornfeld ist etwa zu einem Drittel abgemäht, rundherum schließen sich weitere schützende Felder an, deren meterhohe gelbe Weizenhalme wie ein wogendes Kornmeer wirken.

Weil ein Unwetter zu befürchten ist, soll die Ernte des Gutsherrn, dem die Ländereien gehören, noch heute mit Hilfe der Strafgefangenen eingefahren werden. Aus den Augenwinkeln bemerkt der Gefangene, dass der Aufseher zu dem Mannschaftswagen geht, der die Sträflinge hergefahren hat.

Mahnend ist der Klang der Glocken. Sie erinnern ihn an seine Kindheit und die friedlichen Sonntage zuhause, vor dem Krieg! Die Glocken geben den Ausschlag, locken ihn unüberlegt ins Feld.

Die Glocken, der Sonntag, die Sonne! Das bunte Kornfeld! Der Geruch des reifen Korns und des aufgewühlten Ackerbodens!

Der Wunsch nach Freiheit ist für einen Moment übermächtig geworden.

Er bricht aus der Kolonne aus und rennt auf das Weizenfeld zu.

»Stehen bleiben, oder ich schieße«, ruft der Aufseher mit lauter Stimme.

Ein Schuss pfeift über den Flüchtenden hinweg.

Er hebt die Hände hoch, will sich ergeben, doch da fällt schon der zweite Schuss. Der Läufer duckt sich intuitiv und flüchtet panisch tiefer ins Kornfeld.

Schlagartig spürt er, wie das Geschoss in seine Lunge dringt und etwas zerreißt. Er fühlt, dass tausend Blitze in seinem Kopf zucken, sieht Bilder, die surrend, wie in einem zu schnell gespulten Film, sekundenlang in seinem Erinnern auftauchen und wieder versinken.

Die Wucht des Schusses und der nun einsetzende, fürchterliche Schmerz werfen seinen gebückten Körper schlagartig zu Boden.

Er liegt mit dem Gesicht auf der von der Sonne verdorrten Erde. Um ihn wogt im Sommerwind ein schützender, beschirmender Wall, eine Wand aus Kornähren, Kornblumen, Klatschmohn und Ackerwinde. Ein Rauschen setzt ein.

Einige Käfer huschen verschreckt über den Boden und verschwinden hastig im Dickicht der Halme.

Der Verletzte spürt sein warmes Blut, das in einem erneuten Schwall aus dem offenen Mund quillt, um dann augenblicklich vom trockenen Ackerboden aufgesogen zu werden.

Während der Erntearbeit, zu der er mit einigen Kameraden aus dem nahe gelegenen Strafgefangenenlager abkommandiert worden war, hat er die Glocken schon einmal vernommen, nämlich als sie morgens um 7 Uhr zur ersten Messe riefen.

Er ist noch so jung. Nach dem Krieg hat er keinen Fuß mehr auf die Erde bekommen und ist in sogenannte schlechte Gesellschaft geraten.

Zwei Jahre sollte er noch verbüßen. Für ihn eine zu lange Zeit. Er wollte nicht mehr warten.

Er wollte frei sein!

An diesem heißen, sonnigen Sonntagmorgen, umgeben von wogenden Kornfeldern und einer idyllischen Bauernschaft, schien ihm dieses Fleckchen Land wie ein Paradies auf Erden, sofern man sein Leben nicht hinter Gittern verbringen muss. Hier draußen spielte sich für ihn das volle Leben ab.

Noch einmal erlebt er die letzten Minuten seines Lebens, wie in einem zu schnell gespulten Film.

Der Aufseher mit dem Gewehr im Anschlag, der lauernde Blick aus den Augenwinkeln. Er erinnert sich auch an die Kutschen der Bauern, die ratternd über den Feldweg zur Kirche fuhren, die sonntäglich angezogenen, fröhlich schnatternden Kinder in weißen Schürzen aus Voile, die jungen, hübschen Frauen in den luftigen, modisch geblümten Sommerkleidern mit Puffärmeln. Alle strebten der Dorfkirche zu, vorbei an den gepflegten Bauerngärten, die von dichten, hohen Hecken umgeben waren.

Und er sah sie noch einmal vor sich, die Frau des Verwalters, in die er sich verliebt hatte. Oder nicht? Sie erinnerte ihn an seine Mutter, war immer freundlich zu ihm, und schenkte ihm, wenn sie mit Kaffee zum Feld kam, manchmal mit einem Zwinkern, eine zweite Tasse ein.

Er nahm in diesen letzten Minuten alles noch einmal intensiv wahr: Die Bienen, die sich summend auf den Kornblumen niederließen, die Pferdefliegen, die den Ackergaul umschwirrten, um dann von seinem langen Schweif ungeduldig verjagt zu werden.

Er sah Vögel, die gierig über dem Feld kreisten, sich bereithielten, das gedroschene, heruntergefallene Korn zu stibitzen.

Tröstlich scheint ihm nun der Klang der Glocken, der sich mit dem Rauschen des Kornfeldes zu einem lauten Brausen, gleich einer letzten Symphonie, vermischt und in einem aufbrausenden Stakkato endet. Mit letzter Anstrengung bricht aus dem Mund des Sterbenden der verzweifelte Aufschrei: »Oh Gott!«

Dann fällt sein Gesicht auf die Seite.

Eine Blutlache gibt dem blassen, nun friedlichen Antlitz des jungen Mannes einen erschreckenden Rahmen.

Die Fensterscheiben des sonntäglichen Stübchens im alten Bauernhof klirren, als der erste Schuss fällt. Der Knall zerreißt jäh die sonntägliche Idylle.

Fast synchron setzen Elisas Eltern mit erschrockenen Minen die Kaffeetassen des Sonntagsgeschirrs ab. Der kostbare Kaffee – alltags gibt es Muckefuck - schwappt über und hinterlässt eine braune Lache auf der weißen Untertasse und ertränkt im Nu das bunte Blümchenmuster des Geschirrs.

Da fällt der zweite Schuss.

Der Vater springt so vehement auf, dass der schwere Eichenstuhl umkippte. »Da ist was passiert!«, poltert er, denn als Gutsverwalter ist er für alles verantwortlich, was auf dem Hof und den Ländereien geschieht. Er rennt nach draußen, läuft auf das Feld zu, stürmt mitten in den aufgeregten Lärm, die entsetzten Schreie und das ratlose Stimmengewirr.

Die Mutter und Elisa mit ihren Geschwister, Anna, Otto und Johann, sitzen zunächst noch erschreckt und wie gelähmt mit offenem Mund auf ihren Stühlen.

Bewegung kommt nur in die Fliegen, die sich unbemerkt über Honig, Marmelade, Schinken und Sonntagsstuten hermachen, nicht fürchtend die Fliegenklatsche und das klebrige Insektenband, das unter der niedrigen Holzdecke hin- und herschwankt.

»Da ist einer erschossen worden!«, ruft Elisas Bruder Otto folgerichtig und stürmt mit Johann zur Tür. Ein Abenteuer für die heranwachsenden Jungen.

Bald hat sich auch die Mutter von dem Schrecken erholt und verbietet sofort den Mädchen mit Angst erfüllter, hysterisch klingender Stimme, auch nur einen Schritt vor die Tür zu tun.

»Solche Schüsse haben wir doch im Krieg oft gehört!«, mault Anna großspurig, ihre Angst verbergend.

Elisa hat sich hinter Vaters großem Eichensessel versteckt, schaut aber neugierig über die Mähne des Löwenkopfes, der den repräsentativen Sessel, ein Erbstück vom Großvater, ziert.

So kann sie gut in den Garten spähen, über die hohe Hecke, die das Unglücksfeld vom Haus trennt.

Die Szenen, die sich abspielen, erinnern Elisa an ein Kasperle-Theater. Sie sieht nur Köpfe, die sich hin und her bewegen. Die Körper werden von der Hecke verdeckt.

Sie erspäht das rotbackige Gesicht des Dorfpolizisten, der solch ein Tschako trägt, wie der Polizist in Johanns Kasperle-Theater, der aber hier gar nicht weiß, was in solch einem schlimmen Fall zu tun ist.

Der dicke Polizist, ›Tschimmeg‹ genannt, wird im Dorf oft belächelt, doch nicht wegen seines gewaltigen Körperumfanges, sondern weil die Gesetzesbrecher schneller sind als er.

Wenn er mit seinem Fahrrad unterwegs ist, stoßen sich die Kinder grinsend an und rufen:

»Guckt mal, der Tschimmeg, der hat doch in seiner Pistolentasche bloß wieder ne Speckseite und ne Stulle versteckt!« Dann schwillt dem Dorfpolizisten der Hals und er schreit: »Ihr bösen Bengel, wartet nur, bis ich euch mal erwische!«

Dabei droht er jedes Mal mit seinem Schlagstock, wodurch das Fahrrad bedrohlich ins Schwanken gerät, die Kinder kreischend auseinanderstieben und dem Polizisten grinsend nachschauen, weil sein breites Hinterteil zu beiden Seiten des spitzen Ledersattels herunterhängt.

Autos nahen, fahren auf das Feld zu. Sie bahnen sich vorsichtig den Weg durch die Menschenansammlung und verscheuchen Neugierige.

Ob das Hochamt heute ausfällt, und die Kirche leer bleibt?, fragt sich die kleine Elisa.

Die Stimme ihres Vaters ist unüberhörbar. Er scheint die Sache zu regeln, so wie er immer alles regelt, denkt sie beruhigt.

Sie sieht, teilweise durch die angrenzende Hecke verdeckt, Köpfe mit Uniformmützen, die sich hin-und herbewegen.

Jetzt sind die Männer bestimmt auf dem Hof eingetroffen, denkt sie. Sie kann nur Stimmen vernehmen.

Eine Prozession uniformierter Männer nähert sich dem Hof. Sie sammeln sich zwischen den Ställen und der Remise. Inmitten der Gruppe, mit erhobenem Haupt, steht der Aufseher in seiner olivfarbenen Uniform. Elisa kann ihn nicht erkennen. Ob er neu ist?, fragt sie sich gespannt. Sie steigt auf den Stuhl, um besser sehen zu können und hört, dass ein Motor anspringt. Sie sieht ein dunkles Auto, das Ähnlichkeit mit einem Lieferwagen hat. Es entfernt sich in Richtung Landstraße. »Ein Leichenwagen?«, flüstert sie mit zitternder Stimme und schaudert.

Das Feld wird weiträumig abgesperrt.

Elisa schleicht in die Küche und sieht sich um. Die Mutter ist nicht zu sehen. Schnell entwischt sie, trotz des Verbotes der Mutter, durch die Ställe, erreicht die Tenne und späht durch das große Hoftor.

Da steht der Aufseher. Er hat sich an die alte Scheunenwand gelehnt, die aus rauen Backsteinen besteht und hält eine Kippe in der zitternden Hand. Sein Gesicht ist kreidebleich, bildet einen Kontrast zur braunroten Mauer.

Die Uniformmütze ist in den hager aussehenden Nacken gerutscht. Das dunkelblonde, penibel gescheitelte Haar des kleinen, eher schmächtigen Mannes, hängt nun strähnig in seiner schweißnassen Stirn. Sie ist an der Stelle, die bei der Arbeit vom Schirm der Uniformmütze verdeckt wird, kalkweiß. Das Gesicht, wettergegerbt, hat den Ton blassen Milchkaffees angenommen.

Das ist nicht der freundliche Mann, der sonst die Gefangenen auf dem Hof beaufsichtigt und ihre kindlichen Fragen geduldig beantwortete.

»Kann ich auch ins Gefängnis kommen?«, hat sie ihn einmal gefragt.

»Nein, wenn du immer lieb bist und tust, was Mama und Papa sagen, nicht«, hatte er freundlich grinsend geantwortet und über ihre widerspenstigen Locken gestrichen. »Noch bist du ein kleiner Engel.«

Ein lauter, barscher Ruf vom Hof: »Ratzke, wo bleiben Sie? Die Polizei hat auch nicht ewig Zeit!« Der Aufseher gibt sich einen Ruck, wirft die Kippe weg, und setzt die Uniformmütze gerade. Er streift Elisa mit einem unfreundlichen Blick und raunt: »Was machst du denn hier, kleine Göre? Das ist nichts für neugierige Blagen!«

Die Stimme des Mannes ist jetzt, bei der Befragung der Vorgesetzten hart, fast schneidend.

Er steht Elisas Vater und einem Polizisten aus der Kreisstadt Rede und Antwort:

»Ich habe den Kerl schon einmal verwarnt! Ich wollte in die Beine schießen, da hat er sich, als er das Kornfeld erreichte, blitzartig gebückt ...!« Jetzt zittert die Stimme des Aufsehers doch ein wenig. Er erwähnt nicht, dass der Gefangene die Hände gehoben hatte. Hat er es nicht bemerkt? Er lügt, denkt Elisa.

»Na, na, Haltung junger Mann, Sie waren doch mal Soldat! Ist noch gar nicht so lange her!«

»Kopf hoch, mein Lieber, Sie haben nur ihre Pflicht getan!«, schnarrt ein anderer Mann, wohl der leitende Polizeibeamte im Kommandoton.

Der Aufseher wendet sein Gesicht ab und dreht den Kopf, um sich Schweiß von der Stirn zu wischen. Elisa sieht für einen Moment seine kalten Augen, in denen keinerlei Verzweiflung zu erkennen ist.

Er beginnt zu reden, den Gefangenen in ein schlechtes Licht zu stellen: »Hatte mehr Augen für die Weiber als für die Arbeit«, erwähnt er abschätzig.

»Weiber?«, fährt Elisas Vater ihn an. »Wie meinen Sie das?«

»Entschuldigung, aber er hat immer um Ihre Frau schön getan … Sie ist ja auch …«

»Ich muss doch sehr bitten, junger Mann! Ihr Ton gefällt mir gar nicht! Reißen Sie sich am Riemen!«, donnert Elisas Vater.

»Nein, nein, Herr Degenhardt, so war das nicht gemeint«, jetzt bettelt der Aufseher fast. »Ich bin etwas durcheinander, der Konrad war …«

»Konrad?«

»Ja, der Erschossene. Er heißt Konrad Schulze.« Seine Augen ziehen sich zu Schlitzen zusammen. »Er war auch mehr hinter den Mägden her, zum Beispiel die Margret…«,

»Schluss jetzt, was hat das mit der Sache zu tun!«, ruft Elisas Vater zornesrot. »Ihr Dienst ist für heute hier beendet. Wegen des Todesfalles will ich ein Nachsehen mit Ihnen haben. Das Gericht wird entscheiden. Bringen Sie jetzt umgehend die Gefangenen vom Hof. Tun Sie nur Ihre Pflicht, ehe noch mehr passiert. Für heute ist Schluss. Wenn solch ein Benehmen noch einmal passiert – immerhin ist ein junger Mensch gestorben - werde ich mich in der Strafanstalt über Sie beschweren.«

Mit hochrotem Kopf geht Elisas Vater ins Haus und knallt die schwere Eichentür ins Schloss, so dass wieder etwas Kalk aus den Fugen rieselt, wie es seit dreihundert Jahren, bei jeder Erschütterung geschieht.

Elisa hört durch das geöffnete Fenster, dass ihr Vater aufgeregt mit der Mutter spricht. »Stimmt das wirklich, Franziska?«

Die Stimme der Mutter ist leise, verhalten. Elisa kann die Worte nicht verstehen.

»So ein unverschämter Kerl!«, hört sie noch den Vater sagen, und dann knallt schon wieder eine Tür im Haus.

Unangenehm berührt und betreten schaut Elisa zur Seite, entfernt sich von dem Aufseher, kann seine Nähe nicht mehr ertragen.

Erst jetzt begreift sie in vollem Maße, was geschehen ist.

Ein Mann ist erschossen worden, doch einen Mörder hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Sie schaudert.

Neugierig, wie sie ist, hat sie die Gefangenen, die zur Erntezeit geholt wurden, oft gesehen.

Einige schenkten ihr ab und zu ein Lächeln, wenn sie in dem Gefangenentransportwagen auf den Hof holperten, und Elisa dort gerade die Hühner fütterte oder mit ihrem kleinen Hund Möhrchen spielte. Vielleicht kenne ich den Erschossenen sogar, denkt sie und versucht sich einige Gesichter vor Augen zu rufen.

Ein Antlitz lässt sie nicht los: das Antlitz eines jungen Mannes, mit Augen von einem intensiven Blau. Der hatte ihr schon einmal freundlich zugerufen:

»Na, Kleene, wie heeste denn?«

Dieser Mann, so überlegt Elisa, hatte stets zum Gefangenentransport gehört.

Er hatte ihr einmal erzählt, dass er in Berlin wohnt und dort seine Mutter auf ihn wartet. Einmal bemerkte sie auf seinem Unterarm eine Tätowierung in Form eines Ankers.

Obwohl ihre Neugier geweckt war, scheute sie sich, dem Mann weitere Fragen zu stellen. Die Mutter hatte eindrücklich betont, dass sie sich von den Gefangenen fernzuhalten habe. Basta!

Jedoch auf die freundliche Frage des Gefangenen nach ihrem Namen legte sie zunächst nur schüchtern den Kopf zur Seite, lächelte den Mann scheu an, drehte verlegen an ihrem Schürzenzipfel und hauchte kaum hörbar »Elisa«. Danach rannte sie blitzschnell weg.

»Lieber Gott«, betet sie nun: »Bitte, lass den Mann mit dem Anker auf dem Arm nicht tot sein!«

Doch ganz tief im Herzen weiß sie, dass sie diesen blauäugigen und tätowierten Mann nie mehr wieder sehen wird.

Reise in die Vergangenheit